2 Was sind das für Männer?
Marion Reinhold 1994
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Zum sexuellen Mißbrauch gehört mehr, als <nur> die sexuellen Übergriffe. Sexueller Mißbrauch beginnt, wie wir gesehen haben, bereits im Kopf des Mißbrauchers, mit der Absicht, sich einem Kind sexuell zu nähern. Zum sexuellen Mißbrauch gehören auch die Reaktionen der Mitmenschen, wenn der sexuelle Mißbrauch aufgedeckt wird.
Um das ganze Problem richtig verstehen zu können, sollten wir es von allen Seiten betrachten. Folgen wir also dem zeitlichen Ablauf und beschäftigen wir uns jetzt zunächst mit der Frage: Was bringt Männer dazu, Kinder sexuell zu mißbrauchen? Auf der Suche nach einer Antwort stößt man zwangsläufig auf andere Fragen, wie z.B.: »Warum werden so viele Frauen von Männern vergewaltigt, mißhandelt oder mißachtet? Warum zeigen Männer so viel mehr gewalttätiges und aggressives Verhalten als Frauen? Warum sind so viele Männer kaum in der Lage, sich, wie die meisten Frauen, in andere Menschen einzufühlen, Rücksicht zu nehmen und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen?«
Daß sexuelle Gewalt vorwiegend von Männern ausgeht, muß etwas mit den unterschiedlichen Lebensbedingungen und Verhaltensweisen von Männern und Frauen zu tun haben.
Die verschiedenen Welten der Männer und Frauen
Bereits im Kindergarten kann man Verhaltensunterschiede zwischen Jungen und Mädchen feststellen. Wenn Kinder dort wegen ihrer Schüchternheit und Ängstlichkeit auffallen, sind das meistens Mädchen. Wenn Kinder wegen störendem, aggressivem oder antisozialen Verhalten auffallen, sind es meistens Jungen. Diese Tendenz, daß Männer eher aggressiv und Frauen eher ängstlich reagieren, findet man auch bei Erwachsenen wieder.
Bittet man Menschen, ihre Stärken und Schwächen zu beschreiben, sprechen viele Frauen als erstes sehr ausführlich über ihre Schwächen und erwähnen ihre Stärken nur kurz und fast etwas verschämt. Dies vermittelt den Eindruck, als wollten Frauen ihren Mitmenschen signalisieren »Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, denn ich bin ungefährlich«. Auf diese Weise stellen Frauen mit anderen Menschen schnell eine Atmosphäre des Vertrauens und der Nähe her, die ihnen das nötige Gefühl von Sicherheit gibt. Männer verhalten sich eher umgekehrt. Sie sprechen meistens als erstes sehr ausführlich über ihre Stärken und tun sich schwer, anderen ihre Schwächen zu offenbaren. Die Botschaft, die sie anderen durch dieses Verhalten vermitteln, lautet: »Nimm dich vor mir in acht und laß dir nicht einfallen, mich anzugreifen oder zu verärgern.« Durch diese fast drohende Imponierhaltung verschaffen sich Männer Respekt und damit das nötige Gefühl von Sicherheit.
In Belastungssituationen wird dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern kritisiert werden, reagieren sie darauf oft mit Scham, Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und unsicherem Verhalten. Männer dagegen reagieren auf Kritik meistens mit Wut, Gegenvorwürfen und aggressivem Verhalten. Befaßt man sich mit psychischen Krankheitsbildern, dann stellt man fest, daß Ängste und Depressionen (beides Zustände der Hilflosigkeit), öfter bei Frauen auftreten, während auffälliges Sexualverhalten, antisoziales und aggressives Verhalten, Drogen- und Spielsucht (also Zustände mangelnden Verantwortungsgefühls), häufiger ein Problem von Männern ist. Während in psychiatrischen und psychotherapeutischen Einrichtungen mehr Frauen als Männer Hilfe suchen, sind die Gefängnisse überwiegend mit Männern gefüllt. Die Neigung aggressiv zu reagieren bringt Männer offensichtlich stärker in Gefahr, zu Tätern zu werden. Dagegen geraten Frauen durch die Neigung, sich selbst für andere aufzuopfern statt energisch die eigenen Interessen zu vertreten, leichter in eine Opferrolle.
Woher kommen diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Hier wirken sowohl biologische als auch soziale und kulturelle Faktoren zusammen. Ähnlich wie bei den Tieren wird auch das menschliche Verhalten durch die unterschiedlichen Geschlechtshormone von Männern und Frauen beeinflußt.
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Dabei verleiten die Androgene, also die männlichen Sexualhormone, Männer zu einem aggressiveren, risikoreicheren Verhalten. Das menschliche Verhalten ist aber auch sehr stark durch Lernerfahrungen und die Erziehung geprägt, die bei Männern und Frauen ziemlich unterschiedlich ausfallen. Bereits Neugeborene werden sofort nach ihrer Geburt durch die Brille der vorgegebenen Geschlechtsrollen wahrgenommen. Töchter werden als klein, hübsch, zerbrechlich, schwach und empfindsam wahrgenommen, während Jungen als entschlossen, aufmerksam, kräftiger und mutiger erlebt werden, obwohl objektiv keiner dieser Unterschiede vorhanden ist. Erwachsene reagieren sehr unterschiedlich auf ein schreiendes Baby, je nachdem ob es als Junge oder Mädchen ausgegeben wird. Das Schreien eines angeblichen >Mädchens< wird eher als Angst interpretiert und führt dazu, daß das Baby auf den Arm genommen wird. Das Schreien eines angeblichen >Jungen< wird als Ärger gedeutet, was dazu führt, daß das Schreien des Babys ignoriert oder gar bestraft wird.
Diese unterschiedliche Einschätzung und Behandlung von Jungen und Mädchen im Säuglingsalter wird den Kindern nicht gerecht, denn die allgemeine Vorstellung, daß Jungen körperlich und psychisch robuster seien als Mädchen, ist falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Bereits im Mutterleib sterben weitaus mehr männliche als weibliche Feten ab. Jungen sind generell anfälliger für Erkrankungen, entwickeln sich bis zur Pubertät körperlich, seelisch und verstandesmäßig deutlich langsamer als Mädchen und benötigen daher viel mehr Fürsorge von ihren Eltern als Mädchen. Die auf den Geschlechtsrollen ruhende Vorstellung der Eltern von einem robusten Jungen verhindert möglicherweise, daß Jungen die für sie nötige Unterstützung und Zuwendung bekommen.
Jungen sind aber auch in einer anderen Hinsicht größeren Belastungen ausgesetzt als Mädchen: Eine Vielzahl von Studien zeigen, daß Eltern sich wesentlich stärker darum bemühen, ihren Söhnen männliches Verhalten anzuerziehen, als ihren Töchtern weibliches Verhalten nahezubringen. Jungen werden für mädchenhaftes Verhalten viel schärfer kritisiert als Mädchen für jungenhaftes Benehmen. Für Mädchen beginnt der Druck zur Weiblichkeit erst ab der Pubertät. Sie haben als Kinder in dieser Hinsicht mehr Verhaltensfreiräume als Jungen.
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Da Jungen vorwiegend von Frauen (Mutter, Kindergärtnerin, Lehrerin) betreut werden, fehlen ihnen zudem die nötigen Vorbilder für männliches Verhalten, was das Lernen der eigenen Geschlechtsrolle noch anstrengender macht als für Mädchen. All dies kann letztlich sehr leicht zu einer Überforderung von Jungen führen. Dies zeigt sich sehr deutlich daran, daß, im Gegensatz zum Erwachsenenalter, sehr viel mehr Jungen als Mädchen Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen entwickeln und zur Psychotherapie gebracht werden müssen.
Aber Jungen haben auch Vorteile aus ihrer Geschlechtsrolle, denn sie werden viel stärker als Mädchen ermutigt, ihre Umgebung unabhängig zu erforschen. In einer Studie an vierjährigen Kindern fand man, daß die Mütter ihren Söhnen viel früher selbständiges Verhalten (z.B. die Straße selbständig überqueren, ohne vorherige Abmeldung länger von zuhause entfernt spielen dürfen oder unbeaufsichtigt mit einer Schere hantieren) erlaubten, als dies die Mütter von Töchtern taten. Dies geschah, obwohl die Jungen häufiger impulsiv und unreifer waren als die Mädchen.
Mädchen werden von ihren Eltern bis ins Erwachsenenalter hinein als hilfs- und liebesbedürftiger eingeschätzt als Jungen und daher mehr ermutigt, sich die Hilfe der Eltern zu holen oder die Nähe der Eltern zu suchen. Mädchen übernehmen oft das Urteil ihrer Eltern und werden so daran gehindert, ein Gefühl für ihre eigene Tüchtigkeit zu entwickeln. Indem Mädchen mehr Hilfe und Unterstützung aufgedrängt bekommen als sie brauchen, erzieht man sie zur Abhängigkeit von anderen. Die Geschlechtsrollen scheinen zu begünstigen, daß Mädchen eher unterschätzt und in ihrer Entwicklung zur Selbständigkeit behindert werden, während Jungen durch überhöhte Erwartungen der Umwelt eher überfordert sind und mit ihren Bedürfnissen nach Schutz und Wärme zu kurz' kommen.
Wie entwickeln sich Jungen im ungünstigsten Fall in solch einem Erziehungsklima? Wenn Menschen überfordert und frustriert werden, reagieren sie oftmals gereizt, feindselig oder aggressiv auf andere, die ihnen unterlegen sind. Auf diese Weise kann man sich einen Moment lang überlegen und mächtig fühlen und dadurch seinen Druck abreagieren. Genau das tun auch viele Jungen, wenn sie den Leistungsdruck und die Erwartungen von außen nicht mehr ertragen können.
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Sie fangen dann oft an, andere Kinder zu schlagen und zu quälen, stören den Schulunterricht, lügen und stehlen. Sie verhalten sich aggressiv und unsozial, und die männliche Rolle gibt ihnen dazu die nötige Erlaubnis. Jungen werden in dieser Hinsicht durch ihre Geschlechtsrolle außerordentlich verwöhnt. Ein Mädchen wird für gewalttätiges und unsoziales Verhalten öfter und eindeutiger zurechtgewiesen. Bei einem Jungen gilt Aggressivität eher als normal und bis zu einem gewissen Grad sogar als erwünscht: »Lieber einen Jungen, der zeigt, daß er sich durchsetzen kann, als einen jammernden Weichling, der vor allem Angst hat.« Daß hinter dem gewalttätigen und zerstörerischen Verhalten von Jungen keine männliche Überlegenheit, sondern oft Hilflosigkeit und innere Verzweiflung stecken, scheint kaum jemand zu begreifen. Die stärkere Aggressivität von Männern kommt also auch daher, daß sie bereits als Kinder lernen, frustrierende und überfordernde Lebenssituationen durch unsoziales und aggressives Austoben für sich erträglicher zu machen. Sie sind als Kinder einem anstrengenderen Erziehungsklima ausgesetzt und ihnen ist aggressives Verhalten eher erlaubt.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den Geschlechtern ist, daß Frauen viel mehr Wert auf das legen, was andere über sie denken und sagen als Männer. Frauen fühlen sich daher stärker an soziale Regeln gebunden und scheinen sich auch mehr Mühe zu machen, sich in andere einzufühlen. Das hat unter anderem auch etwas mit den unterschiedlichen Lebensumständen von Männern und Frauen und ihren Möglichkeiten, Selbstbestätigung zu bekommen, zu tun. Frauen beziehen ihr Selbstwertgefühl vorwiegend aus harmonischen Beziehungen zu anderen Menschen und dem Gemocht-Werden. Männer dagegen beziehen Selbstwertgefühle vorwiegend aus ihrer Leistungsfähigkeit im Beruf oder Sport und der Position, die sie dort einnehmen. Solange Frauen nicht berufstätig sind, stellen die Gefühlsbindungen zu Familienangehörigen oft ihre einzige Quelle der Selbstbestätigung dar. Dagegen können ihre Ehemänner Selbstwertgefühl zusätzlich noch aus ihrem Beruf und dem Kreis ihrer Kolleginnen beziehen. Verheiratete Männer sind daher weniger auf eine harmonische Partnerbeziehung angewiesen und können viel mehr ihrer Wünsche in der Ehe durchsetzen als ihre Frauen.
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Wenn sie mal Streit mir ihrer Frau haben, ist das für verheiratete Männer nicht so schlimm, weil sie sich ja durch ihre Erfolge bei der Arbeit wieder aufrichten können. Da Frauen mehr Angst davor haben, ihren Partner zu verlieren und damit die wichtigste Quelle ihrer Selbstbestätigung, bemühen sie sich meist stärker um eine gute Partnerschaft. Die Amerikanerin Shere Hite befragte 4500 Frauen zum Thema Partnerschaft und Liebe. 96 Prozent der befragten Frauen waren der Meinung, daß sie ihrem Mann sehr viel mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung, Anteilnahme, Fürsorge, Liebe, Trost, Unterstützung, Rücksichtnahme und Selbstaufopferung geben als sie von ihm zurückbekommen.
Wenn Frauen ihre Unzufriedenheit über diese ungleiche Partnersituation anzusprechen versuchen, zeigen viele Männer Unverständnis, versuchen diesen Gesprächen auszuweichen oder fangen an zu streiten. Männer verstehen oft nicht, warum ihre Frauen so unzufrieden sind, weil sie selbst durch ihren Beruf genügend Selbstbestätigung erfahren und die Bedürfnisse der nichtberufstätigen Frau nicht nach vollziehen können. 95 Prozent der Frauen, die von Shere Hite befragt wurden, berichten von gefühlsmäßigen Kränkungen durch ihren Partner wie z. B., daß er ihre Gefühle nicht als wahr akzeptiert, sondern sich darüber lustig macht; daß er seine Sichtweise der Dinge als die richtige hinstellt und von seiner Frau erwartet, daß sie nicht fühlen soll, was sie fühlt; daß er ihr gegenüber einen arroganten Tonfall anschlägt, sie abwertend als unvernünftig, hysterisch, zickig, feministisch oder zu anspruchsvoll bezeichnet; daß er sich in Gesellschaft eher auf die Seite anderer Männer als auf die Seite seiner Frau schlägt. Wenn Frauen daraufhin ihre Bemühungen um den Mann zurücknehmen und sich nicht mehr als >Gebende< oder >Liebende< verhalten, signalisieren ihnen die Partner häufig, daß mit ihnen etwas nicht in Ordnung sei. 84 Prozent der befragten Frauen glauben, daß die Liebe, die sie von ihren Ehemännern bekommen, hauptsächlich darin besteht, von ihren Männern gebraucht zu werden.
Wenn Frauen sich keinen Zugang zu anderen befriedigenden Quellen der Selbstbestätigung verschaffen können, wie z. B. der Berufstätigkeit, dem Aufziehen von Kindern oder intensiven Freundschaften außerhalb ihrer Ehe, reagieren sie aufgrund dieser unfreiwilligen emotionalen Hungersnot in ihrer Ehe zwangsläufig mit Depressionen, Ängsten oder anderen psychischen Erkrankungen.
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Auch außerhalb einer Partnerbeziehung haben Frauen im Umgang mit Männern oft die schlechteren Karten: Kinder entwickeln ihre Lebenspläne aufgrund dessen, was sie um sich herum erleben; Mädchen stellen sich in erster Linie vor, wie sie sich als Erwachsene einmal fürsorglich um kleine Kinder kümmern werden und Jungen malen sich aus, wie sie als Erwachsene einmal berufstätig sein oder sich in risikoreichen Situationen bewähren werden. Entsprechend konzentrieren sich Kinder verstärkt auf die Fertigkeiten, die sie später einmal brauchen werden: auf die Fähigkeit, harmonische Beziehungen herzustellen oder auf die Fähigkeit, Konkurrenten auszustechen und Feinde zu besiegen.
Angeregt und unterstützt durch Erwachsene und Gleichaltrige üben sie dies in ihren Spielen entsprechend ein. Während Mädchen auf diese Weise immer besser lernen, sich in andere einzufühlen und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, lernen Jungen gerade das Gegenteil, nämlich sich möglichst unempfindlich für das Leid anderer zu machen, um so die eigenen Interessen möglichst gut durchsetzen zu können. Diese unterschiedliche Vorbereitung von Jungen und Mädchen auf ihr zukünftiges Erwachsenendasein wirkt sich dann auch im Berufsleben entsprechend aus. Da für Frauen das harmonische Miteinander auch im Beruf sehr wichtig ist, schrecken sie oft davor zurück, ihre Kräfte mit anderen zu messen. Da sich Frauen außerdem unweiblich fühlen, wenn sie Erfolg haben oder energisch auftreten, überlassen sie ihren männlichen Kollegen den Kampf um die gutbezahlten beruflichen Positionen.
Die unterschiedlichen Lernerfahrungen als Kind und die sich daraus entwickelnden verschiedenen Lebenssituationen von Männern und Frauen haben weitreichende Folgen: Frauen sind in ihrem Selbstwertgefühl mehr oder weniger geschwächt und fühlen sich Männern häufig unterlegen; Männer werden dazu verführt, sich zu überschätzen und sich Frauen überlegen zu fühlen.
Ungünstige Lebensbedingungen scheinen die Gegensätze zwischen den Geschlechtern noch weiter voranzutreiben: So fand man in einer Studie an Psychiatriepatienten, die in ihrem Leben körperlichen oder sexuellen Mißhandlungen ausgesetzt gewesen waren, daß die Männer deutlich stärker zu Gewalttaten und Straftaten neigten und häufiger unter unkontrollierbaren Wutausbrüchen litten.
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Frauen dagegen reagierten deutlich stärker mit Passivität, zogen sich ängstlich und depressiv von anderen zurück und richteten ihren Ärger gegen sich selbst, indem sie sich Schmerz und Verletzungen zufügten oder Selbstmordversuche unternahmen. Männer verarbeiten frustrierende und kränkende Lebensbedingungen offensichtlich anders als Frauen: Männer suchen die Schuld für ihr Leiden vorwiegend bei anderen Menschen und entwickeln sich durch ihre übertriebene Gegenwehr zu Tätern. Frauen suchen die Schuld für ihr Leid in erster Linie bei sich selbst. Sie bestrafen sich, indem sie sich von anderen verletzen lassen und entwickeln sich so zu den bevorzugten Opfern gerade der Männer, die jemand zum Abreagieren ihrer Wut und Verletztheit brauchen.
Wenn wir uns im folgenden mit den Männern befassen, die Kinder sexuell mißbrauchen, werden wir einiges von dem bisher Beschriebenen wiederfinden.
Was für Menschen sind die Mißbraucher?
Bei Männern, die sexuelle Übergriffe machen oder auf andere Weise gewalttätig sind, fällt auf, daß sie sich nur schwer in ihre Mitmenschen hineinversetzen können. Viele dieser Männer wuchsen in Familien auf, in denen sie gefühlsmäßig vernachlässigt, leistungsgemäß überfordert, manchmal körperlich und seelisch mißhandelt oder sexuell mißbraucht wurden. Andere wurden von ihren Eltern mit einer Fürsorge überschüttet, die ihnen mehr schadete als nützte. Die meisten konnten nicht lernen, tiefere gefühlsmäßige Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen und sich für deren Wohlergehen mitverantwortlich zu fühlen. Manche sehnen sich nach menschlicher Wärme und haben gleichzeitig Angst davor. Viele haben Probleme, mit anderen Erwachsenen zurechtzukommen, weil ihnen viele Umgangsformen und Verhaltensmöglichkeiten fremd sind. Manche fühlen sich ständig von ihren Mitmenschen angegriffen und drangsaliert und sind daher ausgesprochen mißtrauisch.
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Viele dieser Männer merken nicht, daß sie durch das rücksichtslose Durchsetzen ihrer eigenen Interessen ihre Mitmenschen verletzen und gegen sich aufbringen. Sie verstehen dann nicht, warum sie so unbeliebt sind und kaum Freunde haben. Sexuelle Übergriffe, ob sie sich nun gegen Frauen oder gegen Kinder richten, werden nicht nur allein aus rein sexuellen Bedürfnissen heraus begangen, sondern dahinter stecken oftmals auch zu kurz gekommene Wünsche nach Intimität und Nähe, aber auch nach Macht und Kontrolle sowie nach einer Bestätigung als Mann. Es gibt drei Typen von Mißbrauchern:
Der gewalttätige Mann
Vernachlässigung und Mißhandlungen durch die eigenen Eltern, Verlassenheitserfahrungen sowie viele persönliche Kränkungen und Mißerfolge im beruflichen und privaten Bereich verstärken die Angst, als Mensch und Mann unzulänglich zu sein. Männer mit solchen Erfahrungen neigen leicht dazu, ihre Männerrolle zu übertreiben. Aus Angst, als Mann nicht ernstgenommen zu werden, reagieren manche Männer ausgesprochen jähzornig und aggressiv. Da sie so stark mit ihren eigenen Ängsten und Problemen beschäftigt sind, ist es ihnen kaum möglich, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und Mitleid mit ihnen zu empfinden. Sie haben daher wenig Skrupel, ihre körperliche Kraft gegen Schwächere einzusetzen und so ihre eigenen Wünsche mit Gewalt durchzusetzen. Sie reagieren ihre Unzufriedenheit und ihren Frust dadurch ab, daß sie ihre Familie tyrannisieren, Frau und Kinder prügeln und mißhandeln oder Frauen vergewaltigen. Damit gehen sie aber auch in den Augen ihrer Geschlechtsgenossen in ihrer Männlichkeit eindeutig zu weit.
Der pädophile Mann
Er gehört zu einer kleinen Gruppe von Männern, die sich als Beziehungspartner ein Kind, meist einen Jungen, wünschen und sich von Kindern sexuell angezogen fühlen. Diese Männer verabscheuen in der Regel Gewalttätigkeiten, fühlen sich im Umgang mit erwachsenen Männern und Frauen oft unterlegen, können sich wenig durchsetzen oder wissen nicht, wie man Freunde gewinnt. Sie fühlen sich zu Kindern hingezogen, weil die einem Erwachsenen viel Respekt entgegenbringen, also ungefährlich sind und »noch nicht so verdorben wie die Erwachsenen«.
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Es gibt Vermutungen, daß etwa die Hälfte der pädophilen Männer in einem Beruf arbeiten, wo sie viel Kontakt mit Kindern haben, z.B. als Lehrer, Erzieher, Pfarrer, Jugendgruppenleiter, Trainer usw.
Bis heute ist noch unbekannt, welche Erfahrungen und möglicherweise auch biologischen Ursachen genau dazu führen, daß ein Mann pädophil wird. Vermutlich werden diese Männer in ihrer psychischen Entwicklung sehr früh sehr stark gestört, indem sie als Kind entweder derart emotional vernachlässigt und gekränkt oder aber so überbehütet werden, daß sie sich in der Welt der Erwachsenen gefühlsmäßig nur schwer zurechtfinden.
Sie mögen zwar an ihrer Oberfläche gut funktionieren, sind aber in mancher Hinsicht psychisch auf der Stufe eines Kindes stehengeblieben und suchen daher den Kontakt zu einem Seelenverwandten, also einem Jungen, um dessen Freundschaft und Anerkennung sie sich oft sehr bemühen. Diese Männer haben wegen ihrer sexuellen Kontakte zu Kindern selten ein schlechtes Gewissen, weil sie glauben, ihre Begegnung verlaufe für das Kind auf einer gleichberechtigten Ebene ab. Da sie meist Gewalttätigkeiten verabscheuen und die Zuneigung des Kindes nicht verlieren wollen, zwingen sie selten ein Kind zu etwas, was es nicht will. Um ein Kind zur Duldung sexueller Übergriffe zu bringen, ist Gewaltanwendung oft auch gar nicht nötig: Ein gefühlsmäßig ausgehungertes Kind wird für ein bißchen Zuwendung vieles tun, was man von ihm verlangt.
Der scheinbar <normale> Mann
Die meisten Männer aber, die sich sexuell an Kindern vergehen, gehören weder zu den besonders gewalttätigen noch zu den pädophilen Männern, obwohl sie mit beiden Gruppen gewisse Ähnlichkeiten haben. Sie wirken auf ihre Mitmenschen völlig unauffällig und normal. Sie haben zwar Kontakte zu Gleichaltrigen, gehen aber keine engeren Freundschaften ein und vertrauen sich selten jemandem an. Sie sind meist verheiratet, haben aber Angst vor den sexuellen Forderungen ihrer Partnerinnen und davor, als Mann zu versagen. Wirklich stark, mächtig und überlegen können sich diese Männer eigentlich nur noch bei Kindern fühlen.
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Oft ist eine berufliche, private oder finanzielle Krise der Auslöser für ihre sexuellen Übergriffe auf Kinder, meist Mädchen. Diese Männer sind sich des Unrechts, das sie begehen, voll bewußt und haben nach dem Mißbrauch oft Scham- und Schuldgefühle, manchmal sogar Selbstmordgedanken. Im Grunde benutzen diese Männer beim sexuellen Kindesmißbrauch die gleiche Strategie, wie sie auch bei anderen Männern üblich ist: Um nach Mißerfolgen und Enttäuschungen ihr männliches Selbstwertgefühl wieder aufzubauen, suchen sie den Kontakt zu Menschen, bei denen sie sich überlegen und mächtig fühlen und sich über Sex etwas Trost verschaffen können.
Die Neigung eines Mannes zu sexuellen Übergriffen auf Kinder und Frauen scheint durch verschiedene Faktoren verstärkt oder verringert zu werden. Diese Neigung zu sexueller Gewalt wird umso größer:
je männlicher ein Mann sein will, aber je weniger er diesem Ideal der Männlichkeit von seiner natürlichen Wesensart her entspricht;
je mehr Kränkungen oder Mißhandlungen er von anderen Menschen erfährt und je mehr Mißerfolg er in seinem Leben schon einstecken mußte;
je weniger Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen er besitzt und je weniger gut er daher mit Menschen umzugehen gelernt hat, so daß es im Kontakt mit anderen oft zu Spannungen und Konflikten kommt.
Das Vier-Schranken-Modell
Nach den Vorstellungen des amerikanischen Forschers David Finkelhor kann ein Mann erst dann zum sexuellen Mißbraucher werden, nachdem er folgende vier Schranken überwunden hat:
1. Schranke: Normalerweise haben Männer kein sexuelles Interesse an Kindern. Der erste Schritt in Richtung Mißbrauch besteht also darin, daß ein Mann den Wunsch entwickelt, Sex mit einem Kind haben zu wollen.
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2. Schranke: Selbst wenn in Männern dieser Wunsch entsteht, schützt sie immer noch ihr schlechtes Gewissen davor, diesem Wunsch nachzugeben. Um seine sexuellen Wünsche in die Tat umsetzen zu können, muß der Mißbraucher seine moralischen Bedenken und Skrupel ablegen.
3. Schranke: In unserer Kultur, wie in vielen anderen, ist Sex zwischen Kindern und Erwachsenen verboten und wird entsprechend bestraft. Da sich der Mißbraucher dem Kind also nur heimlich sexuell nähern kann, muß er im Alltag geeignete Momente für seine sexuellen Übergriffe finden und arrangieren können.
4. Schranke: Schließlich muß der Mißbraucher nur noch den Widerstand des Kindes überwinden. Durch eine entsprechende Auswahl des Kindes und durch sein eigenes Verhalten versucht er den Widerstand möglichst gering zu halten. Erst jetzt kann es zu offensichtlichem sexuellem Mißbrauch kommen.
An diesem 4-Schranken-Modell wird deutlich, wie verschwindend klein der Beitrag des Kindes zum sexuellen Mißbrauch ist, wenn es sich z.B. nicht getraut, dem Mißbraucher Widerstand zu leisten, oder wie gering der Beitrag einer Mutter ist, wenn sie es nicht schafft, gegen ihren Mann vorzugehen, der die Tochter sexuell mißbraucht. Das Verhalten der Kinder bekommt erst dann eine entscheidende Bedeutung, wenn der Mißbraucher skrupellos geworden ist und bereits diese vier Schranken durchbrochen hat. Dies macht sehr deutlich, bei wem die Verantwortung liegt.
Befassen wir uns nun etwas genauer damit, wie es kommt, daß manche Männer diese schützenden Schranken durchbrechen.
1. Schranke: Was Männer zu Kindern hinzieht
Männer, die sich minderwertig und unzulänglich fühlen, von anderen Erwachsenen nicht ernstgenommen werden und daher sehr zurückgezogen leben, sind von Kindern besonders angezogen, weil sie sich hier nicht bedroht, sondern eher überlegen fühlen können. Psychisch unreife Männer suchen die Nähe von Kindern, weil sie mit ihnen auf einer vergleichbaren Entwicklungsstufe stehen und darum mit Kindern besser zurechtkommen als mit Erwachsenen.
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Wenn ein Mann im Umgang mit Frauen sehr schüchtern, unerfahren oder ungeschickt ist und sich vor engeren Kontakten mit Frauen fürchtet, kann er sich aus diesem Grund Kindern zuwenden. Wenn Männer sexuelle Probleme haben, wie z. B. einen vorzeitigen Samenerguß, mangelnde oder ausbleibende Steilheit des Gliedes, dann haben sie oft auch Angst, sich bei Frauen zu blamieren. Mit einem Kind als Sexualpartner gibt es diese Angst nicht, denn Kinder stellen beim Sex aufgrund ihrer Unwissenheit keinerlei Ansprüche.
Männer können Kinder aus verschiedenen Gründen als sexuell erregend erleben. Von Männern wird erwartet, daß sie beim Sex führend und überlegen sind. Um dies erfüllen zu können, suchen sich die meisten Männer Frauen, die kleiner, schwächer, jünger und sexuell unerfahrener sind als sie selbst. Diesem Prinzip weiter folgend finden manche Männer Kinder sexuell anziehend.
Manche Männer kennen keinen Unterschied zwischen Zuneigung und Sex. Für sie ist beides das gleiche. Darum mißverstehen sie die Wünsche von Frauen und Kindern nach Zuwendung, Liebe und Geborgenheit oft als ein sexuelles Interesse und verhalten sich entsprechend.
Andere Männer erlauben sich, sexuelles Interesse an Kindern zu haben, weil sie es bei anderen beobachtet haben. So erwecken die sexualisierten Darstellungen von Kindern in der Werbung und die eigentlich verbotenen Kinderpornos den Eindruck, Sex mit Kindern sei etwas ganz Normales und werde von vielen Männern gemacht.
Wieder andere Männer erleben Kinder deshalb als sexuell erregend, weil sie früher im Beisein eines Kindes aus irgendwelchen Gründen sexuell erregt wurden und seither immer wieder sexuell erregt werden, wenn sie mit einem Kind zusammentreffen. Es ist, wie wenn der Körper dieses Mannes die Gegenwart eines Kindes automatisch als Signal für Sex mißversteht. Der Mann sucht dann auch von sich aus den Kontakt zu Kindern, um sich sexuell zu erregen. Schätzungsweise 20% der Mißbraucher wurden selbst als Kind sexuell mißbraucht. Möglicherweise ist sexueller Kindesmißbrauch für diese Männer eine Art Selbstheilungsversuch. Vielleicht möchten sie unbewußt ihre bittere Erfahrung als wehrloses Opfer dadurch ausgleichen, daß sie nun selbst zum allmächtigen Mißbraucher werden.
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Wenn der sexuelle Kontakt zu Frauen verbaut ist, werden Kinder manchmal als sexuelle Ersatzpartner benutzt. Bei Ehekonflikten verweigern sich die Eheleute meist Sex und jede Zuneigung. Um diesen Mangel auszugleichen wenden sich manche Männer verstärkt den Kindern zu, die ihnen Vertrauen und Zuneigung entgegenbringen.
Sehr strenggläubigen Christen ist die Selbstbefriedigung oder der außereheliche Geschlechtsverkehr verboten. Bei Menschen, die sich an diese Wertvorstellungen sehr stark gebunden fühlen oder bei Priestern, denen eine sexuell enthaltsame Lebensform vorgeschrieben ist, stauen sich dann sexuelle Energien, die nach einem Ventil suchen. Sexuelle Bedürfnisse können sich dann bevorzugt dort entwickeln, wo die Betroffenen am wenigsten mit ihrer sexuellen Entgleisung gerechnet haben, etwa im Umgang mit Kindern. Hinter der überstrengen Befolgung religiöser Vorschriften kann sich zudem auch eine schwerwiegende Selbstunsicherheit oder eine Angst vor sexuell getönten Situationen verbergen, so daß die Betroffenen lieber den Kontakt zu Kindern als zu Erwachsenen suchen. Durch den Umgang mit Kindern können die Männer dann den sexuellen Charakter ihrer Handlungen besser vor sich selbst verleugnen.
2. Schranke: Wodurch ein Mißbraucher seine Skrupel verliert
Wie kann ein Mann sein Gewissen und sein Verantwortungsgefühl vergessen und skrupellos seinen sexuellen Interessen an Kindern nachgehen? Verschiedene Umstände können diese Entwicklung erleichtern: Psychische Belastungen und Krisen im Leben eines Mannes machen ihn anfällig für Fehlreaktionen. Viele Männer betäuben ihre Sorgen und ihren Ärger mit Alkohol. Dadurch werden aber auch die moralischen Skrupel herabgesetzt, so daß es leichter zum sexuellen Mißbrauch kommen kann. Auch aufgrund einer psychischen Störung kann ein Mann unfähig sein, sein Temperament und seine Gefühlsimpulse zu beherrschen, was sich z.B. darin äußert, daß er ständig Anfälle von Jähzorn oder Zerstörungswut hat.
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Oder der Mann ist unzurechnungsfähig, weil er geistig stark abgebaut hat, geistig zurückgeblieben oder geisteskrank ist und Zwangs- und Wahnvorstellungen hat. Wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden, können auch bestimmte Familiensituationen den sexuellen Mißbrauch von Kindern begünstigen oder die Inzestschranke innerhalb der Familie herabsetzen.
Schließlich gibt es in unserer Kultur einige rechtliche und gesellschaftliche Einstellungen und Werte, die sexuelle Übergriffe auf Kinder erleichtern bzw. entschuldigen helfen: In unserer Gesellschaft dürfen Kinder in der Werbung sexuell aufreizend dargestellt werden. Dies vermittelt manchen Männern den Eindruck, daß sexuelles Interesse an Kindern normal und erlaubt ist. Eine ähnliche Wirkung hat die Kinderpornographie. Eine Handelskette für Sexartikel in den USA fand heraus, daß sich 80% der Männer, die sich Kinderpornos ansehen, auch selbst sexuell an Kindern vergreifen. Kinderpornos schauen sich meist die Männer an, die bereits sexuelles Interesse an Kindern entwickelt haben. Durch die Pornos holen sie sich die Erlaubnis, Sex mit Kindern haben zu dürfen. Alle Einwände gegen den Sex mit Kindern beurteilen sie aufgrund der Kinderpornos als die kleinkarierten Ansichten sexuell verklemmter Spießer.
In der Bevölkerung und im Strafrecht neigt man dazu, betrunkenen Menschen für ihre Straftaten mildernde Umstände zu geben. Das geschieht auch bei Sexualstraftätern. Es ist aber sehr fraglich, ob es sinnvoll ist, Alkohol als Entschuldigungsgrund für sexuelle Übergriffe gelten zu lassen. Die meisten Betroffenen und viele andere Frauen haben den Eindruck, daß die Strafen für Sexualstraftäter sowieso viel zu gering sind angesichts des Schadens, den diese Männer anrichten. Sie verlangen eine deutlichere Ächtung sexueller Gewalt. Es ist allerdings fraglich, ob längere Gefängnisstrafen das richtige Mittel sein können, um Männer zukünftig von solchen Straftaten abzuhalten.
Die Vorstellung, wie ein <richtiger> Mann zu sein hat, ermuntert und erlaubt es Männern, ihre Wünsche relativ rücksichtslos und, wenn es sein muß, auch mit Gewalt durchzusetzen. Ein richtiger Mann muß hart sein, d.h. er darf nicht zuviel Mitgefühl für andere Menschen übrig haben, damit er nicht von seinem Vorhaben abgebracht werden kann. Männer sind oft in Gefahr, sich selbst und ihre Rechte zu überschätzen, so daß es leicht auch zu sexuellen Übergriffen und sexuellem Mißbrauch kommen kann.
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Kindererziehung ist in unserer Kultur immer noch überwiegend Frauensache. Viele Männer fühlen sich für ihren Nachwuchs nicht zuständig, was bereits bei der Empfängnisverhütung anfängt. Väter widmen ihren Kindern täglich im Durchschnitt nicht mehr als 10 Minuten ihrer Zeit und haben daher auch oft völlig falsche Vorstellungen darüber, was Kinder können und was nicht. Viele wissen nicht sehr viel über die sexuelle und psychische Entwicklung von Kindern und schätzen daher schnell manche Situationen falsch ein. Dies zeigt sich z.B. auch darin, daß die meisten Väter viel strenger und ungeduldiger sind als die Mütter und die Kinder auch häufiger schlagen, vermutlich meist aus eigener Hilflosigkeit. Ihr mangelndes Verständnis und ihre oft schwache Gefühlsbindung zu ihren Kindern läßt diese Männer leichter zu Mißbrauchern werden.
3. Schranke: Was Männern den Zugang zu Kindern erleichtert
Wenn ein Mann Sex mit einem Kind haben will, muß er dazu die passenden Gelegenheiten suchen und arrangieren. Unter den folgenden Umständen ist es ihm besonders leicht möglich, ein Kind sexuell zu mißbrauchen: Wenn das Kind wenig beaufsichtigt wird und viel Zeit allein verbringen muß, z.B. weil beide Eltern arbeiten gehen, hat es der Mißbraucher leicht, sich diesem Kind immer wieder zu nähern, ohne daß die Eltern etwas davon merken. Dies gilt besonders dann, wenn auch der Mißbraucher viel Zeit und oft Gelegenheit hat, mit dem Kind ungestört allein zu sein, z.B. weil er Frührentner ist und seine Frau arbeiten gehen muß. Auch der Platz, wo das Kind schläft, kann so eingerichtet sein, daß sexuelle Übergriffe leicht und im geheimen möglich sind, wenn z.B. das Kind mit dem Mißbraucher im gleichen Zimmer oder gar im gleichen Bett schläft.
In der Regel suchen Kinder mehr Trost und Hilfe bei ihren Müttern als bei ihren Vätern, vor allem wenn es um das peinliche Thema Sexualität geht. Wenn es aber Spannungen zwischen der Mutter und ihrer Tochter gibt oder die Mutter ihr Kind abweisend und gefühlskalt behandelt, wird das Kind ihr nichts von dem sexuellen Mißbrauch erzählen können.
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Ob das Kind sich in diesem Fall hilfesuchend an den Vater wendet, ist fraglich. Ein Mißbraucher kann sich diese Familiensituation zunutze machen, da hier die Gefahr der Aufdeckung relativ gering ist. Wenn der Mißbraucher der eigene Vater des Kindes ist, kann die Mutter als schützender Elternteil außer Gefecht gesetzt sein, weil sie z.B. von ihrem Mann unterdrückt wird oder gefühlsmäßig und finanziell von ihm abhängig ist. Eine Mutter, die krank oder wegen ihrer Berufstätigkeit nicht zu Hause ist, bekommt oft gar nicht mit, was dort abläuft.
Wenn die Familie des Kindes sehr isoliert lebt, wird das Kind außer den Eltern wenig Menschen kennen, denen es von seiner Not erzählen und Hilfe erbitten kann. Dies ist dann wichtig, wenn die Eltern in ihrer Schutzfunktion versagen oder der Mißbrauch innerhalb der Familie stattfindet. Manche Eltern sind unfähig, ihr Kind vor dem Mißbraucher zu schützen, weil sie psychisch krank sind und nicht einmal für sich selbst richtig sorgen können, oder weil sie von dem Mißbraucher in irgendeiner Weise abhängig sind und sich darum nicht gegen ihn zu wehren trauen.
Es gibt aber auch Eltern, die ihre Kinder selbst skrupellos gegen Bezahlung für einige Stunden an interessierte Männer verkaufen. In unserer Kultur ist die Familie und das Privatleben anderer Leute etwas Unantastbares, d.h. nur wenige Menschen greifen ein, wenn Eltern ihre Kinder offensichtlich schlecht versorgen oder mißhandeln.
4. Schranke: Was Kinder wehrlos macht
Ob der Mißbraucher mit einem Kind leichtes Spiel hat oder nicht, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wenn ein Kind von seinen Eltern nicht die Zuneigung, Aufmerksamkeit und Nestwärme bekommt, die es für eine gesunde psychische Entwicklung braucht, ist es aufgrund seiner Anhänglichkeit und Liebesbedürftigkeit besonders gefährdet, Opfer sexuellen Mißbrauchs zu werden.
Klaus, ein pädophiler Mann, sprach auf der Straße bevorzugt die Kinder und Jugendlichen an, bei denen er den Eindruck hatte, daß sie aus dem Elternhaus oder dem Heim weggelaufen sind. Oder er freundete sich mit Kindern an, die von ihren Eltern vernachlässigt wurden.
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Er hatte die Erfahrung gemacht, daß es mit diesen Kindern am wenigsten Schwierigkeiten gab. Die Kinder waren froh über die Zeit, die sie bei ihm verbringen konnten, und die Eltern kümmerten sich wenig darum, wo ihr Kind war.
Wenn der Mißbraucher auf diese Weise zur wichtigsten Bezugsperson eines Kindes wird und dabei teilweise Elternfunktionen übernimmt, geraten die Kinder in einen inneren Zwiespalt: Einerseits fühlen sie sich einsam oder von ihren Eltern abgelehnt und darum tut es ihnen gut, von einem Erwachsenen Aufmerksamkeit zu bekommen. Andererseits reagieren Kinder auf sexuelle Kontakte überwiegend mit Scham, Schuldgefühlen, Angst, Ekel, Hilflosigkeit und Zorn. Wie sollen sie die sexuellen Übergriffe des Mannes stoppen, ohne gleichzeitig die Zuneigung dieser für sie so wichtigen Person zu verlieren?
Manche Kinder suchen nach einem sexuellen Übergriff von sich aus immer wieder den sexuellen Kontakt zu ihrem Mißbraucher, weil er ihnen dafür Aufmerksamkeit, Zuwendung, Begünstigungen, Belohnungen oder angenehme körperliche oder gefühlsmäßige Erlebnisse verschafft. Gerade diese auch als angenehm erlebten Seiten des sexuellen Kontaktes führen später im Erwachsenenalter meist zu besonders starken Selbstzweifeln und Schuldgefühlen. Kinder empfinden gegenüber ihrem Mißbraucher häufig auch Liebe, Mitleid und das Bedürfnis, ihn zu beschützen. Für diese Kinder ist der Mißbraucher tatsächlich ein Gewinn angesichts ihrer ungünstigen Lebenssituation. Neben dem Mißbraucher muß man hier auch den Eltern Rechenschaft abverlangen, warum sie ihre Kinder nicht ausreichend mit Nestwärme versorgen.
Brave, schüchterne und ängstliche Kinder mit wenig Selbstbewußtsein, die alles tun, was Erwachsene ihnen sagen, sind besonders gefährdet, sexuell mißbraucht zu werden. Ein Vater, der seine älteste und seine jüngste Tochter sexuell mißbraucht hatte, wurde bei der Gerichtsverhandlung gefragt, warum er denn die mittlere Tochter ausgelassen habe. Er erklärte darauf: »Als ich das erste Mal in ihr Zimmer kam, sah sie mich wütend an und sagte: <Ich weiß genau, was Du willst und wenn Du nicht sofort wieder gehst, sag ich es der Mama.> Ich wußte, daß sie tun würde, was sie sagte, und darum habe ich sie in Ruhe gelassen.«
Dieses Beispiel zeigt, daß Kinder durch ein entschiedenes und selbstbewußtes Auftreten manchmal sexuelle Übergriffe abwehren können. Dazu sind Kinder nicht in der Lage, wenn ihnen nie erlaubt wurde, Erwachsene zu kritisieren oder ihnen zu widersprechen. Schüchterne Kinder tun sich auch besonders schwer, über ihren sexuellen Mißbrauch zu reden und sich dadurch Hilfe zu holen. In den USA gehen darum besonders geschulte Fachleute in die Grundschulen und spielen dort den Kindern in kleinen Theaterstücken vor, was sie bei sexuellen und anderen Übergriffen tun können.
Vielen Kindern fehlt das Verständnis für das, was mit ihnen in der Mißbrauchssituation passiert, weil sie noch zu jung oder sexuell wenig aufgeklärt sind. Erst später wird ihnen klar, welch ein Unrecht ihnen in diesen Momenten angetan wurde. Je früher und je besser aber Kinder über Sexualität Bescheid wissen und je selbstverständlicher sie darüber sprechen können, desto besser können sie sexuelle Übergriffe in ihren Anfängen erkennen und verhindern. Viele Kinder rutschen aus Unwissenheit oder aus Neugier in den schleichenden sexuellen Mißbrauch hinein.
Die meisten Kinder übernehmen von ihrer Umgebung die Vorstellung, daß es peinlich ist, über sexuelle Dinge zu sprechen. Schon aus diesem Grund sind Kinder eher geneigt, über ihren sexuellen Mißbrauch zu schweigen. Wollen Kinder später die sexuellen Kontakte beenden, können sie von ihrem Mißbraucher damit erpreßt werden, daß sie doch von Anfang an mitgemacht und diese Dinge doch selbst gewollt haben. Gegen solch eine Argumentation können sich Kinder kaum wehren und viele glauben, daß sie tatsächlich selbst an allem schuld sind. Kinder ohne Selbstvertrauen lassen sich besonders leicht einschüchtern und zur weiteren Geheimhaltung der sexuellen Übergriffe veranlassen.
Diese Beispiele zeigen, daß das Erziehungsklima, in dem die Kinder aufwachsen, mit darüber entscheidet, wie groß das Risiko von Kindern ist, sexuell mißbraucht zu werden. Darum befassen wir uns im folgenden Kapitel mit den Familienstrukturen und dem Elternhaus sexuell mißbrauchter Kinder.
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Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden