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9  Angelika — ein typisches Beispiel aus der Psychotherapie 

 

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In einer Studie fand man, daß Frauen und Männer, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, zwei- bis vierfach so oft eine Depression, eine Suchterkrankung, eine Angst- oder Zwangsstörung entwickeln als andere Mensch­en. Damit verständlich wird, wie diese verschiedenen Störungsbilder entstehen, werden diese später einzeln be­schrieben. 

Zuvor aber soll am Beispiel von Angelika dargestellt werden, wie sexueller Mißbrauch und psych­ische Störungen zusammen­hängen und wie die psycho­therapeutische Hilfe aussehen kann.

Angelikas Beschwerdebild

Angelika ist 48 Jahre alt, seit 12 Jahren geschieden, hat einen erwachsenen Sohn und lebt allein. Nachdem sie bereits vor Jahren eine Psychotherapie gemacht hat, kommt sie nun mit dem Vorsatz, dieses Mal über ihren sexuellen Mißbrauch zu sprechen. Sie glaubt, daß ihre Schwierigkeiten, mit sich und anderen Menschen zurechtzukommen und sich auf eine Partnerbeziehung einzulassen, sehr stark auf ihren sexuellen Mißbrauch zurückzuführen sind. Neben ihren Beziehungsproblemen leidet Angelika auch unter einer Vielzahl anderer Störungen wie z. B. Depressionen, psychogene Schmerzen, Migräne, Eßstörungen und sexuelle Probleme. Diese werden im folgenden beschrieben.

Sexuelle Probleme

Angelika denkt nicht gern an ihren sexuellen Mißbrauch zurück, weil damit schmerzvolle Erinnerungen und äußerst unangenehme Gefühle verbunden sind. Sie fühlt sich wegen dieser Erlebnisse schuldig, obwohl sie vom Verstand her weiß, daß sie keine Schuld hatte.

Sie kommt sich beschmutzt und wertlos vor, wie von einem unsichtbaren Makel behaftet. Seit ihrem sexuellen Mißbrauch ist Angelikas Sexualleben selbst in ihren besten Zeiten durch Schuldgefühle, Ängste und eine verminderte Genußfähigkeit beeinträchtigt, so daß sie sogar bei der Selbstbefriedigung, die sie ganz selten versucht, nur schwer sexuell erregt wird und niemals einen Höhepunkt erreicht. Sie hat das Gefühl, keine richtige Frau und schon wegen ihres sexuellen Mißbrauchs unnormal zu sein.

Beziehungsprobleme

Wegen ihrer sexuellen Schwierigkeiten möchte Angelika nach ihren beiden gescheiterten Ehen keine neue Partner­beziehung mehr eingehen. Sie ist überzeugt, daß Männer immer nur am Sex und wenig an ihr als Mensch interessiert sind. Aus diesem Grund geht sie Männern seit Jahren aus dem Weg und lebt lieber allein. Ihre wenigen Freundschaften mit Frauen sind eher oberflächlich und auf gelegentliche gemeinsame Freizeitgestaltung beschränkt.

Angelika fällt es schwer, die Erwartungen anderer Menschen zu enttäuschen. Sie hat große Angst vor Kritik und vermeidet daher jede Auseinandersetzung. Es gelingt ihr selten, ihre eigenen Interessen zu vertreten und ihre Wünsche durchzusetzen. Meist weiß sie gar nicht so recht, was sie selbst will, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt ist, was andere von ihr wollen. Angelika ist ständig bemüht, Konflikte mit Menschen zu vermeiden und sich so vor Kränkungen zu schützen. Sie ist überzeugt, daß sie in einer Auseinandersetzung nur immer die Verliererin sein kann. 

Vor männlichen Autoritäten wie z. B. ihrem Chef oder ihrem Vermieter hat sie große Angst und wagt es nicht zu widersprechen. So ist es ihr unmöglich, sich ihrem arbeitswütigen Chef zu entziehen, der von ihr erwartet, daß sie auch nach Büroschluß mit ihm weiterarbeitet. Obwohl sie diese Überstunden nie abfeiern kann und auch kein Geld dafür bekommt, gelingt es ihr selten, pünktlich nach Hause zu gehen. Wenn sie doch einmal rechtzeitig aus dem Büro kommt, weil sie zu einem Arzttermin muß, bekommt sie deswegen ein schlechtes Gewissen. Auch gegen ihren Vermieter, der ihr öfters ungerechte Vorhaltungen macht und sich auf unverschämte Weise in ihr Privatleben einmischt, kann sie sich nicht abgrenzen.

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Depressionen

Angelika leidet seit ihrer Jugend unter Depressionen, die sich durch den Auszug ihres Sohnes vor einem Jahr und den Veränderungen in ihrem Beruf besonders verschärft haben. Sie ist jetzt oft niedergeschlagen und fühlt sich wertlos, dumm und unattraktiv. Seit ihr alter Chef, der ihr viel Verständnis entgegenbrachte und sie wegen ihrer beruflichen Leistungen schätzte, vor kurzem in Rente ging, macht ihr die Arbeit keinen Spaß mehr.

Zwar gibt sich Angelika die größte Mühe, den übertriebenen Leistungsansprüchen ihres neuen Chefs zu entsprechen; da sie sich aber aufgrund ihrer Depressionen nur schlecht konzentrieren kann, öfter etwas vergißt und nicht mehr so leistungsfähig ist, wird sie von ihrem ungeduldigen Chef wiederholt kritisiert. Dies aber deprimiert Angelika noch mehr und macht sie so nervös, daß ihr dadurch noch mehr Fehler passieren. Aus Angst vor der Kritik ihres Chefs treibt sie sich zu Höchstleistungen an, mit denen sie sich auf Dauer überfordert. Wenn sie Feierabend hat, fühlt sie sich derart erschöpft, daß sie nur noch ihre Ruhe möchte. 

Dann bleibt oft der ganze Haushalt liegen und es fehlt ihr die Energie, sich ein richtiges Essen zu machen. Von ihren Freundinnen hat sie sich total zurückgezogen. Sie hat weder Kraft noch Lust, jemanden zu treffen oder anzurufen. Meist nimmt sie nicht einmal mehr das Telefon ab. Sie sitzt zu Hause, fühlt sich hundeelend und fragt sich ständig, wie alles weitergehen soll. Manchmal denkt sie daran, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Nachts kann sie oft nicht schlafen, so daß sie sich morgens wie gerädert fühlt und am liebsten nicht zur Arbeit ginge. Dabei tut ihr die Arbeit noch ganz gut, denn die lenkt sie wenigstens etwas ab. Richtig schlimm wird es erst am Wochenende oder im Urlaub, wenn sie allein ist und ihre Einsamkeit spürt.

Psychogene Schmerzen und Migräne

Neben den Depressionen leidet Angelika zunehmend stärker unter wiederkehrenden Schmerzzuständen in Rücken, Armen und Beinen und unter Migräneanfällen, von denen sie nach erfolglosen ärztlichen Behand­lungen annimmt, daß sie psychisch bedingt sind. Sie merkt, daß diese Körperbeschwerden besonders häufig auftreten, wenn sie vermehrten Streß und Ärger im Beruf hat oder sich im Privatleben ausgenutzt oder ohnmächtig gemacht fühlt. Aufgrund dieser Beschwerden muß sie sich in letzter Zeit immer öfter krankschreiben lassen.

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Eßstörungen

In Phasen besonders starker Belastetheit treten gelegentlich auch ihre >Freßanfälle< wieder auf, unter denen sie früher stark gelitten hat. Sie ißt dann vor allem am Wochenende sehr viel und kann erst aufhören, wenn ihr der Bauch vom Essen spannt und wehtut.

Angelikas Lebensgeschichte

Angelika wird während des Krieges als uneheliches Kind geboren, nachdem ihre Mutter erfolglos versucht hat, sie abzutreiben. Angelika ist unerwünschter Anlaß für die spätere Eheschließung ihrer Eltern. Ihre Mutter, die aus einem ärmlichen und lieblosen Elternhaus stammt, muß sich und ihr Kind in der Kriegszeit allein durchbringen. Der Vater ist als Soldat im Krieg und kommt erst vier Jahre nach Kriegsende als ein völlig fremder Mensch aus der Gefangenschaft zurück. Die nun fünfjährige Angelika, die von ihrer Mutter wenig Nestwärme erfahren hat, stößt auch bei ihrem verschlossenen und gefühlskalten Vater auf Gleichgültigkeit und Ablehnung

Der Vater, der anfangs keine Arbeit findet, flüchtet zunehmend in den Alkohol und reagiert immer unberechenbarer. Das Geld, das er schließlich verdient, gibt er größtenteils für sich selbst aus, d.h. für Alkohol und andere Frauen. Dies führt zu ständigem Streit zwischen den Eltern. Wenn der Vater betrunken nach Hause kommt, schikaniert er seine Frau damit, daß er sie mitten in der Nacht aus dem Bett holt und sie anschreit, sie solle ihm etwas zu essen machen und ihm Gesellschaft leisten. Er nimmt keinerlei Rücksicht darauf, daß sie am anderen Tag wegen ihrer Arbeit sehr früh aufstehen muß. Mehrfach muß Angelika mitansehen, wie der Vater die Mutter verprügelt und würgt, ohne daß sie etwas dagegen tun kann. Sie fürchtet sich vor den unberechenbaren Launen ihres Vaters und geht ihm nach Möglichkeit aus dem Weg. Sie sorgt dafür, daß sich ihre Geschwister ruhig verhalten, wenn er im Hause ist.

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Als Älteste wird Angelika oft für das verantwortlich gemacht, was ihre jüngeren Geschwister angestellt haben. Sie hat kaum einmal Zeit, ihre Schulaufgaben zu machen, muß sich ständig um ihre Geschwister und den Haushalt kümmern, während die Mutter den Unterhalt für die Familie verdient. Angelika ist deshalb in der Schule ziemlich schlecht und erregt den Unmut ihrer Lehrer, die sie für faul halten und sie häufig tadeln. Da Angelika das Spielen verlernt hat und zudem in den ärmlichsten Kleidern steckt, will keiner ihrer Schulkameraden mit ihr befreundet sein. Manche hänseln sie wegen ihrer Kleidung, ihrer schlechten Noten oder, was für Angelika am schlimmsten ist, wegen ihres alkoholkranken Vaters. 

Angelika hat auch gar keine Zeit Freundschaften zu schließen, da sie nach der Schule immer sofort nach Hause muß. Außerdem will sie nicht, daß andere erleben, wie sehr sich ihre Eltern immer streiten, wie bösartig ihr Vater oft ist und wie ärmlich es zu Hause aussieht. Die Kinder haben zum Beispiel keinerlei Spielsachen. Es fehlt ständig an Geld und Angelika schämt sich, weil sie beim Einkaufen immer anschreiben lassen muß. Wenn es ganz schlimm ist, wird sie von ihrer Mutter zum Großvater, dem Vater ihres Vaters geschickt, um ihn um Geld zu bitten. Dafür aber muß sie sich von ihm anfassen und sexuell mißbrauchen lassen.

Aus Platzmangel hatte man Angelika in der Vergangenheit immer dann bei ihren Großeltern untergebracht, wenn im Elternhaus die Hausgeburt eines ihrer Geschwister anstand. Bei ihrer Oma, einer warmherzigen und liebevollen Frau, gefällt es Angelika sehr gut. Von ihr wird sie in den Arm genommen und bekommt Märchen erzählt. Der Friede wird getrübt, als der Großvater Angelika mit sechs Jahren sexuell zu mißbrauchen beginnt. Die sexuellen Übergriffe steigern sich allmählich bis zum Mund- und Afterverkehr.  

Angelika erzählt weder ihrer Großmutter noch ihren Eltern davon, weil sie fürchtet, die Großmutter nicht mehr besuchen zu dürfen. Zudem glaubt sie, daß keiner den Mut hätte, ihren Großvater zur Rede zu stellen. Die Großmutter ist eine schwache und ängstliche Frau, die sich immer nach den Wünschen ihres Mannes richtet und ihm nie widerspricht. Der alkoholkranke Vater fühlt sich für seine Familie nicht zuständig und drückt sich seit Jahren vor seiner Verantwortung als Vater und Ehemann.

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Er hat selbst Angst vor seinem Vater, nachdem er als Kind oft von ihm mißhandelt wurde. Die schwer arbeitende Mutter ist nicht besonders durchsetzungsstark und geht dem Großvater seit Jahren aus dem Weg. Da es niemanden gibt, den Angelika um Hilfe bitten könnte, muß sie sich selbst helfen. Mit zwölf Jahren weigert sie sich schließlich, weiterhin zu ihrem Großvater zu gehen. Ihre Mutter akzeptiert dies ohne nach dem Grund zu fragen. Angelika ist nun zwar vor den sexuellen Übergriffen geschützt, hat aber jetzt keine Möglichkeit mehr, ihre Großmutter zu besuchen. Darüber wird sie so deprimiert, daß sie sich am liebsten das Leben nehmen würde. Sie hat schlimme Alpträume und bekommt bei der kleinsten Mehr­belastung furchtbare Kopfschmerzen mit Übelkeit und Erbrechen. Weder ihre Eltern noch ihre Lehrer schenken diesen Beschwerden Beachtung.

Sobald sie ihre Pflichtschuljahre hinter sich gebracht hat, wird Angelika zum Geldverdienen in die Fabrik geschickt. Einen Beruf darf sie nicht lernen. Das kann sich ihre Mutter nicht leisten, denn die Geschwister werden größer und kosten immer mehr Geld. Angelika muß alles Geld, das sie verdient, zu Hause abgeben. Als die Geschwister die Schule verlassen, drängt Angelika darauf, daß jedes von ihnen einen richtigen Beruf erlernt. Um dies zu erreichen, muß sie sowohl den Widerstand ihrer Mutter wie den ihrer Geschwister überwinden. 

Erst als ihre Geschwister auch ihre Lehrzeit hinter sich gebracht haben, nimmt sich Angelika Zeit, ihre eigene Zukunft zu gestalten und sich einen Partner zu suchen. Sie heiratet einen Mann, der wie ihr Vater alkoholkrank ist und sie wegen Nichtigkeiten anschreit. Er verliert immer wieder seinen Arbeitsplatz, weil er mit seinen Arbeitskollegen nicht zurechtkommt und bei der Arbeit unzuverlässig ist. Wenn er betrunken nach Hause kommt, verprügelt er Angelika, wenn sie ihm kein Geld für Alkohol gibt. Obwohl sie unter der Ehesituation leidet, fällt es ihr schwer sich von ihm zu trennen. Wenn ihr Mann nüchtern ist, kann er manchmal sehr nett sein. Er verspricht ihr dann oft, mit dem Trinken aufzuhören. Obwohl Angelika insgeheim weiß, daß ihr Mann sich nie wirklich ändern wird, greift sie doch nach jedem sich bietenden Strohhalm der Hoffnung. So steht sie lange in dem Entscheidungskonflikt, ob sie sich nun von ihrem Mann trennen soll oder nicht.

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Die inneren Spannungen, denen Angelika dadurch ausgesetzt ist, treten in Form von Migräneanfällen zutage. Schließlich reicht Angelika doch die Scheidung ein. Daraufhin droht ihr Mann sich umzubringen. Nur mit größter Mühe gelingt es Angelika, ihren Scheidungsentschluß aufrechtzuerhalten. Auf Anraten ihres Anwaltes läßt sie keinen Kontakt mit ihrem Mann mehr zu. Um so schnell wie möglich geschieden zu werden, macht sie nicht alle ihre Ansprüche gegen ihn geltend.

Nach ihrer Scheidung geht es Angelika sehr schlecht: sie hat kaum Freunde und fühlt sich einsam. Darum bemüht sie sich verstärkt um Kontakt zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Diese zeigen wenig Anteilnahme und Verständnis für Angelikas Schicke sal, so daß sie sich im Stich gelassen fühlt und sich verletzt zurückzieht. Es kommt zu starken Depressionen und Angelika denkt oft daran, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ihre Wochenenden verbringt sie in dieser Zeit ausschließlich im Bett bei geschlossenen Fensterläden, wo sie die Zeit mit übermäßigem Schlafen und Essen ausfüllt. Die Migräneanfälle sind mit der Scheidung mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Dafür leidet Angelika jetzt unter >Freßanfällen<, sobald sie von der Arbeit nach Hause kommt. 

Obwohl es ihr Mühe macht, sich täglich an ihren Arbeitsplatz zu schleppen, gibt ihr die Berufstätigkeit doch einen wichtigen Halt. Ermuntert durch das Lob ihrer Vorgesetzten beginnt sie über den zweiten Bildungsweg die Mittlere Reife nachzuholen, worauf sie dann sehr stolz ist. Ihr gestärktes Selbstvertrauen macht sich darin bemerkbar, daß sie unternehmungs­lustiger und kontaktfreudiger wird, allmählich entwickeln sich erste Freundschaften. Sämtliche psychische Beeinträchtigungen gehen daraufhin zurück. Angelika will nun auch noch die Fachhochschulreife machen und studieren, um sich so eine richtige Berufsausbildung zu verschaffen. Aber aus diesen Berufsplänen wird nichts, weil sie sich verliebt und erneut heiratet, um endlich wieder ein Zuhause zu haben. Als Angelika kurze Zeit später schwanger wird und ihren Sohn zur Welt bringt, gibt sie den Beruf auf und widmet sich nur noch ihrer Familie und dem Haushalt. Ihr Mann ist zwar kein Alkoholiker, neigt aber dazu, sich bei beruflichem Ärger zu betrinken, was alle zwei Monate einmal vorkommt. Außerdem ist er manchmal ziemlich aufbrausend. Im Gegensatz zur Angelika hat ihr Mann stark ausgeprägte sexuelle Bedürfnisse.

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Ihm zuliebe schläft sie täglich mit ihm. Das ist ihrem Mann aber nicht genug. Er wirft ihr vor, daß sie keine richtige Frau sei, weil sie beim Geschlechtsverkehr nie zum Höhepunkt komme und auch sonst zu wenig tue, um ihn sexuell zu erregen. Sie erzählt ihm daraufhin von ihrem sexuellen Mißbrauch und daß sie am liebsten ganz auf Sex verzichten würde.

Ihr Mann reagiert wenig verständnisvoll. Er meint, daß ihre sexuelle Lustlosigkeit nichts mit ihrem sexuellem Mißbrauch zu tun haben könne. Nach diesem Gespräch leidet Angelika auffällig oft unter Migräne und verschiedenen Unterleibsbeschwerden, wie z.B. Ausfluß, Scheiden- und Blasenentzündungen, unregelmäßiger und verlängerter Regelblutung. Ihr Mann wirft ihr vor, sie habe diese körperlichen Beschwerden nur, weil sie keinen Sex mit ihm haben wolle und das sei nicht normal für eine Frau. Auf seinen Wunsch hin suchen sie gemeinsam eine Sexualberatungsstelle auf. Als dort aber seine Vorstellungen über Sexualität, Liebe und Partnerschaft kritisch hinterfragt werden und deutlich wird, daß auch er sein Verhalten verändern müßte, bricht er die Therapie ab. Er weigert sich fortan, Angelika in den Arm zu nehmen oder mit ihr zu schmusen und begründet dies damit, daß er davon sexuell so erregt werde, daß er dann unbedingt Sex haben müsse. 

Auch sonst macht er sich um Angelika immer weniger Mühe, entzieht ihr jegliche Zuwendung und >vergißt< sogar ihren Geburtstag. Schließlich kürzt er ihr das Haushaltsgeld. Da sie im Bett nicht funktioniere, sei er gezwungen, ins Bordell zu gehen. Da dies ihre Schuld sei, müsse sie jetzt auch lernen, besser zu wirtschaften. Angelika leidet wieder verstärkt unter Migräneanfällen und begibt sich deswegen auf Anraten ihres Hausarztes in eine Psychotherapie. Die guten Erfahrungen an der Sexualberatungsstelle haben ihr geholfen, ihre Angst vor Psychologen abzubauen. Mit der Unterstützung ihrer Therapeutin bereitet sie sich innerlich auf eine Trennung von ihrem Mann vor. Den Schritt zur Scheidung tut sie, nachdem ihr Mann mit einer Nachbarin ein Verhältnis eingegangen ist. Der Neubeginn ist für Angelika sehr schwer, denn sie muß eine neue Wohnung, eine Arbeit und eine Obhut für ihren Sohn finden. Nachdem sie sich in ihrem neuen Leben etwas eingerichtet hat, wird ihr bewußt, daß sie auch Freunde braucht. Die wenigen Freundschaften, die sie vor ihrer Ehe hatte, haben sich inzwischen aufgelöst.

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Angelika wendet sich wieder an ihre Mutter und ihre Geschwister. Aber statt Trost und Hilfe zu bekommen, ist Angelika diejenige, die den anderen Zuwendung und Unterstützung gibt. Obwohl die Mutter ihr mit einer versteckten Feindseligkeit begegnet, fühlt sich Angelika verpflichtet, ihre kränkelnde Mutter am Wochenende zu besuchen und ihr bei den Hausarbeiten zu helfen.

Angelika hat auch für jeden ihrer Arbeitskolleginnen ein offenes Ohr, hört sich geduldig deren private Sorgen an und ist allzu schnell bereit, anderen Arbeit abzunehmen und Überstunden zu machen. Dank bekommt sie dafür nicht. Statt dessen begegnen ihr viele mit Herablassung und Respektlosigkeit.

Da Angelika keine intensiven Freundschaften aufbauen kann, ist ihr Sohn der wichtigste Halt in ihrem Leben. Für ihn drängt sie ihre Selbstmord­gedanken immer wieder zurück und reißt sich zusammen, wenn sie mal wieder in ein depressives Tief fällt. Mit ihm bespricht sie ihre Sorgen, bei ihm findet sie Trost. Während sie ihn auf eine teure Privatschule schickt und ihm Reitunterricht geben läßt, verzichtet sie selbst auf jeglichen Luxus. Als er schließlich nach dem Abitur zum Studium in eine andere Stadt umzieht, gerät sie wieder in eine schwere depressive Krise. Als sich mit ihrem neuen Vorgesetzten auch noch ihre berufliche Situation verschlechtert, treten neben der Migräne verstärkt psychogene Schmerzzustände in Armen und Beinen auf, die zu vermehrten Krankschreibungen führen. Ihr Chef legt diese als Krankmacherei aus und setzt sie zunehmend unter Leistungsdruck. Diese führt Angelika erneut in die Psychotherapie.

 

   Erklärung des Beschwerdebildes  

 

Wie hängen Angelikas Beschwerden mit ihrer Lebensgeschichte zusammen? Statt Unterstützung und Schutz ist Angelika in ihrem Elternhaus Lieblosigkeit, Überforderung und Gewalt ausgesetzt. Was sie auch versucht, sie kann von ihren Eltern nicht die nötige Nestwärme bekommen. So entwickelt sie bereits vor dem sexuellen Mißbrauch die Vorstellung, wertlos und nicht liebenswert zu sein. Der sexuelle Mißbrauch bestätigt und verfestigt Angelikas schlechte Meinung über sich selbst.

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Daß sie mit zwölf Jahren den Mut und die Kraft aufbringt, weitere Besuche beim Großvater zu verweigern, obwohl sie sich damit auch die wichtigen Kontakte zur Großmutter unmöglich macht, stellt in ihrer damaligen Lebenslage eine besondere Leistung dar. Daß ihre Mutter diese Weigerung stillschweigend akzeptiert, läßt vermuten, daß sie von den sexuellen Übergriffen des Großvaters gewußt hat.

Als die Älteste ist Angelika für den Haushalt und ihre Geschwister verantwortlich. Mit dieser Elternrolle wird Angelika überfordert und um ihre eigene Kindheit gebracht. Diese Umkehrung der Eltern-Kind-Rollen ist typisch für viele Frauen, die sich wegen sexuellen Mißbrauchs in Psychotherapie begeben. Das Gefühl, in ihrer Familie gebraucht zu werden, lindert zwar Angelikas Minderwertigkeitsgefühle, wird aber zu einem Verhaltensmuster, von dem sie sich auch als Erwachsene nicht mehr lösen kann.

In ihrer aufopfernden Helferrolle finanziert sie den Lebensunterhalt und die Berufsausbildung ihrer Geschwister und verschafft sich dadurch ein bißchen Selbstbestätigung. Dies ist zwar kein vollwertiger Ersatz für Liebe, mildert aber den Selbsthaß. Diesem gelernten Beziehungsmuster ihres Elternhauses folgend, wählt sie als Partner einen alkoholkranken Mann, von dem sie mißhandelt wird. 

Aus den jähzornigen Ausbrüchen und Gewalttätigkeiten ihres Vaters und Großvaters hat Angelika gelernt: »Mach das, was Männer von Dir wollen und verstecke Deinen Ärger vor ihnen, damit sie nicht noch gewalttätiger werden.« Durch das Vorbild ihrer Eltern und ihrer Großeltern hat Angelika die Überzeugung gewonnen, daß Frauen schwach und den Gewalttätigkeiten von Männern hilflos ausgesetzt sind. Aufgrund dessen, daß sie für die Missetaten ihrer Geschwister bestraft, von den Lehrern für die nicht gemachten Hausaufgaben getadelt oder von den Mitschülern wegen ihres alkoholkranken Vater oder der ärmlichen Kleidung verlacht wurde, entwickelt Angelika die Vorstellung: »Ich bin ohnmächtig und kann nicht verhindern, daß ich ungerecht behandelt werde.« Geprägt durch diese Erfahrungen und Einstellungen ist es Angelika kaum möglich, sich gegen die Mißhandlungen ihres Ehemannes zu wehren. Wie beim sexuellen Mißbrauch kann sich Angelika nur durch völligen Kontaktabbruch vor weiteren Demütigungen schützen. Wieder bedeutet dies, sich von dem einzigen Menschen zu trennen, von dem sie Zuwendung bekommt.

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Auf diesen Entscheidungskonflikt reagiert ihr Körper mit Migräne. Als sich Angelika aus ihrer Ehe lösen kann, ist der Berg erlittener Kränkungen noch größer geworden. Entsprechend schlecht ist ihre psychische Verfassung und ihre Meinung über sich selbst. Sie verfällt in Depressionen, aus denen sie sich durch berufliche Erfolge herauskämpfen kann.

Angelikas zweite Partnerwahl fällt deutlich besser aus: Ihr Mann ist kein Alkoholiker, sondern relativ zuverlässig und fürsorglich. Seine Sexsucht aber macht ihn rücksichtslos. Wie beim sexuellen Mißbrauch muß Angelika Sex als Gegenleistung für Zuwendung bieten. Wieder zögert Angelika lange, bevor sie sich von ihrem Mann trennt. Wieder sucht sie Zuflucht bei ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Wieder ist das aufopfernde Helfen und das Gebrauchtwerden der Ersatz für die fehlende Zuwendung. Bald aber macht sich das kränkende Gefühl des Ausgenutztwerdens breit. 

Als ihr Sohn sie schließlich wegen des Studiums verläßt und auch ihr wohlmeinender Chef in Rente geht, fühlt sich Angelika in einer bedrohlichen Welt alleingelassen. 

Im Laufe ihres Lebens mußte Angelika soviel Kränkungen und Mißachtungen einstecken und bekam zum Ausgleich nur wenig Zuwendung und Anerkennung, so daß die Bilanz ihrer Erfolgs- und Mißerfolgserlebnisse im Laufe der Zeit immer ungünstiger wurde und sich zunehmend mehr psychische Störungen entwickelten.

 

  Die Psychotherapie  

 

In der Psychotherapie lassen sich grundsätzlich vier Phasen unterscheiden, in denen jeweils ein anderes Ziel im Mittelpunkt steht.

1. Phase: Aufbau einer Vertrauensbeziehung

Angelika ist bei der ersten Begegnung spürbar angespannt und nervös. Sie verhält sich einerseits zurückhaltend, verschlossen und mißtrauisch, denn nach ihrer Erfahrung sind Menschen gefährlich; andererseits aber bemüht sie sich darum, meinen Erwartungen zu entsprechen weil sie glaubt, so wertlos zu sein, daß sie sich anstrengen muß, damit jemand sie mag.

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Sie fragt mich am Anfang genauestens darüber aus, wie die Psychotherapie bei mir ablaufen wird und welche therapeutische Ausbildung ich habe. Sie möchte wissen, auf was sie sich einläßt, damit sie abschätzen kann, inwieweit sie bei mir Kränkungen und Ohnmachtserlebnissen ausgesetzt sein könnte. Außerdem testet sie unbeabsichtigt meine Geduld, indem sie bereits beim ersten Mal zu spät zur Sitzung kommt.

Wie viele Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, hat auch Angelika Angst, in der Therapie die Kontrolle zu verlieren über das, was dort mit ihr gemacht wird. Um solche Ohnmachtserlebnisse von vornherein zu verhindern, bitte ich sie ausdrücklich, mich jederzeit zu kritisieren oder zurechtzuweisen, falls ich sie durch mein Verhalten auf irgendeine Weise unbeabsichtigt kränken, ärgern oder hilflos machen sollte. Ich erkläre ihr, daß sie die Aufgaben, die ich ihr im Verlauf der Therapie vorschlagen werde, ablehnen darf, falls sie ihr zu leicht oder zu schwer erscheinen. Außerdem kann sie bestimmen, über was wir in der Therapie sprechen. Dabei darf sie ein Gesprächsthema auch abbrechen, wenn es unerträglich starke Gefühle in ihr wachruft.

Ich erkläre ihr, daß sie mir sagen sollte, was ihr gut tut und was nicht, damit ich lernen kann, eine gute Therapeutin für sie persönlich zu werden. Diese Regeln, die ich mit Angelika zu Therapiebeginn vereinbare, helfen ihr, sich auf mich einzulassen. Indem ich ihr so als Gegengewicht zu ihren vielen Kränkungen eine verläßliche Vertrauensbeziehung anbiete und ihr viel Kontrolle über die Therapiesituation gebe, möchte ich einerseits Angelikas Selbstwertgefühl verbessern; andererseits soll die therapeutische Beziehung Angelika als Vorbild für gute Beziehungen im Alltag dienen.

Sie soll erfahren: »Es gibt Menschen, die respektvoll mit mir umgehen, ich muß mir nur die richtigen dafür aussuchen. Die therapeutische Beziehung kann eine Orientierungshilfe für die Auswahl der richtigen Freunde sein. Außerdem lernt sie durch die Therapiesituation, wie sie das Verhalten anderer Menschen so beeinflussen kann, daß sie sich mit ihnen wohlfühlen kann. So kann sie ihre krankmachende Lebenseinstellung: »Ich bin nicht o. k. und andere sind auch nicht o. k.« allmählich verändern. Um für Angelika solch eine vorbildhafte Beziehung aufzubauen, muß ich als Therapeutin besonders feinfühlig auf ihre Gefühle und Wünsche eingehen, auch wenn sie unbequem sind und mir nicht ins Konzept passen.

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Oberstes Ziel ist es, Angelika zu vermitteln, daß sie Kontrolle darüber hat, was in der Therapie mit ihr gemacht wird. Dies hilft ihr, sich zu öffnen.

Als wir gemeinsam Angelikas Lebensgeschichte durchgehen, erzählt sie nur ungerne von ihren Eltern und macht nur kurze Andeutungen, worunter sie als Kind gelitten hat. Sie hat das Gefühl, ihre Eltern zu verraten, wenn sie mir erzählt, was sie als Kind mitgemacht hat. Sie bekommt dann Schuldgefühle und zweifelt, ob es wirklich so schlimm war, wie sie mir erzählt. Von vielen anderen Frauen weiß ich, wie sehr sie ihre mißhandelnden Eltern lieben und sie deshalb im besten Licht sehen möchten. Sie fühlen sich auf ähnliche Weise schuldig und unbehaglich wie Angelika, wenn sie über die Fehler ihrer Eltern reden. Ein anderes Thema, das Angelika sehr schwerfällt, ist ihr sexueller Mißbrauch. Diese Erlebnisse beschämen sie sehr und lösen schmerzliche Gefühle und Erinnerungen aus, so daß sie möglichst wenig darüber redet. Dagegen erzählt sie recht ausgiebig, was sie selbst in der Gegenwart alles falsch macht und was sie alles nicht kann. Sie überschüttet sich selbst mit Vorwürfen, weil sie psychisch krank ist und nicht wie die anderen Menschen fühlen, denken und reagieren kann.

2. Phase: Der Aufbau von Selbstwertgefühl

Ich lerne Angelika kennen als eine Frau, die trotz oder gerade wegen ihrer schweren Lebensgeschichte ganz besondere Begabungen entwickelt hat, wie z. B. ihr großes Verständnis und ihr erstaunliches Einfühlungsvermögen in andere Menschen, ihre Hilfsbereitschaft und die Gabe, durch ihre Vermittlung und ihre Kompromißbereitschaft unter ihren Mitmenschen Frieden zu stiften, sowie ihre Fähigkeit großes Leid zu ertragen, ohne daran zu zerbrechen. Im richtigen Moment bei den richtigen Menschen angewandt, wird sie mit diesen Begabungen eines Tages besonders gute und befriedigende Beziehungen zu Menschen herstellen können. Ihr extremer Leidensweg hat aber auch dazu geführt, daß Angelika überlebenswichtige Strategien des Selbstschutzes nicht gelernt hat und kein gesundes Selbstbewußtsein entwickeln konnte. So erscheint sie mir oft wie ein anlehnungsbedürftiges, menschenscheues und leicht verletzbares Kind.

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Dieser auffallend starke Unterschied zwischen den starken und den schwachen Persönlichkeitsanteilen läßt sich bei vielen Frauen finden, die wegen sexuellen Mißbrauchs zur Psychotherapie kommen. Es ist nicht immer ganz einfach, diesen schwachen und starken Anteilen der Frauen gerecht zu werden. Wie soll man mit einer erwachsenen Frau umgehen, die auf manchen Gebieten (oft ohne daß sie es weiß) ein Genie ist und in anderen Lebenssituationen ein hilfloses, führungsbedürftiges Kind? Wie soll man sie behandeln, ohne daß sie sich einerseits unterschätzt und bevormundet, andererseits überfordert und orientierungslos im Stich gelassen fühlt?

Da Angelika bestens über ihre Schwächen Bescheid weiß, versuche ich ihr ihre Stärken etwas näher zu bringen und damit ihr Selbstwertgefühl zu verbessern. Ich schildere ihr, was mich an ihrer Lebensgeschichte sehr beeindruckt hat: daß sie mit 12 Jahren in der Lage war, sich aus eigener Kraft vor dem sexuellen Mißbrauch zu schützen; daß sie die emotionale Kälte ihres Elternhauses überlebt hat, was nicht selbstverständlich sei; daß sie es geschafft hat, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten oder Drogen zu nehmen; daß sie in der Lage war, für ihre Geschwister wie eine Mutter zu sorgen, obwohl sie selbst noch ein Kind war; daß sie es geschafft hat, sich trotz ihrer Angst vor der Einsamkeit von ihren beiden kränkenden Ehemännern zu trennen; daß sie trotz ihrer schlimmen Erfahrungen nicht bösartig geworden ist, sondern verständnisvoll, hilfsbereit und fürsorglich anderen Menschen begegnet; daß sie sich durch ihre berufliche Arbeit eine wichtige Form der Selbstbestätigung verschaffen konnte und daß sie ein Kind großgezogen und ihm ein gesundes Selbstvertrauen vermittelt hat.

Ich denke, daß sie in ihrem Leben mehr geleistet hat als der Durchschnitt der Menschen um sie herum, auch wenn einem dies nicht gleich ins Auge springt. Soviel Lob kann Angelika nicht ertragen. Es ist zu ungewohnt, von jemandem so positiv gesehen zu werden. Das paßt überhaupt nicht zu ihrer schlechten Meinung von sich selbst und bewirkt daher große innere Verwirrung. Um diese zu lindern, muß Angelika widersprechen und aufzählen, was sie alles nicht kann und wo sie versagt. Ich erwidere ihr, daß sie den falschen Maßstab an sich anlegt und sich mit Menschen vergleicht, die nicht im entferntesten das erlebt haben, was sie durchgemacht hat.

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 Ich finde, daß sie viel zu streng mit sich ist und Dinge von sich verlangt, die kein Mensch nach solch einer Lebensgeschichte leisten könnte. Damit es ihr besser gehen kann, muß sie sich selbst in ihrem Reagieren verstehen lernen und einen ganz eigenen Maßstab für sich entwickeln. Dies ist nur möglich, wenn sie sich mit ihrem Leben und den darin aufgetretenen Kränkungen auseinandersetzt. Ich erkläre ihr, wie ich den Zusammenhang zwischen den Kränkungen ihrer Vergangenheit und ihren heutigen psychischen Störungen sehe. Ihre verschiedenen Beeinträchtigungen verstehe ich teilweise als natürliche Folge von Überlastungen, teilweise aber auch als einen Versuch ihres Organismus, ihr beim Überleben in einer äußerst unbefriedigenden Lebenssituation zu helfen.

Ihre Depressionen sind für mich die unausweichliche Folge dessen, daß sie in ihrem Alltag oft hilflos Mißachtungen ausgesetzt war und wichtige seelische Grundbedürfnisse nach Zuwendung, Liebe und Geborgenheit nicht befriedigen konnte, so daß sie immer mehr an Lebensenergie verlor. Angelikas Migräneanfälle treten bevorzugt dann auf, wenn sie innerlich in folgendem unlösbaren Konflikt steht: Angelika merkt, daß ihr der Kontakt mit einer Person schadet und kann sich trotzdem nicht zu einer Trennung durchringen, weil sie auf das wenige an Zuwendung nicht auch noch verzichten kann. Wie immer sie sich entscheidet, ob sie geht oder bleibt, es hat immer unangenehme Folgen. Die Migräneanfälle verschaffen Angelika manchmal die Möglichkeit, sich zeitweilig aus anstrengenden Beziehungen zurückziehen zu dürfen, ohne damit die anderen zu verärgern und die Beziehungen zu gefährden. 

Angelikas Freßanfälle dienen als eine Art Trost und Ersatz für die fehlende Nestwärme. Es ist nicht sinnvoll, ihr dieses Hilfsmittel wegzunehmen, da sie es für das Überstehen schwieriger Lebenssituation dringend braucht. Daher ermuntere ich Angelika, ihre Kraft nicht auf die Kontrolle ihrer Freßanfälle zu richten sondern auf die Veränderung ihrer unbefriedigenden Kontakte zu Menschen. Die psychogenen Schmerzen, unter denen Angelika leidet, deute ich als Botschaft ihres Körpers, sich mehr Ruhe und Erholung zu gönnen und sich im Beruf nicht ständig durch zu lange Arbeitszeiten und den extremen Zeit- und Leistungsdruck zu verausgaben. Mit diesen Deutungen von Angelikas Störungen wird auch deutlicher, welches die Ziele in der Therapie sein könnten.

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3. Phase: Verbesserung der Lebenssituation

Wie für andere Frauen stellt der sexuelle Mißbrauch auch für Angelika das schlimmste Erlebnis in ihrem Leben dar. Neben dem sexuellen Mißbrauch erscheinen ihr die übrigen unguten Lebenserfahrungen fast wie unwichtige Kleinigkeiten. 

Angelika unterschätzt die Auswirkungen, die ihr Elternhaus und ihre beiden gescheiterten Ehen auf ihre psychische Entwicklung hatten. Den meisten Frauen, die wegen ihres sexuellen Mißbrauchs eine Psychotherapie machen, ergeht es ähnlich. Wenn Menschen vielen starken schmerzlichen Erlebnissen ausgesetzt sind, verschiebt sich ihre Wahrnehmungsgrenze für Kränkungen nach oben, d. h. sie bekommen ein >dickeres Fell<, damit sie an dieser belastenden Lebenssituation nicht zerbrechen. Daher stellt der sexuelle Mißbrauch für viele Frauen eine so extrem schmerzhafte Erfahrung dar, daß kleinere Kränkungen gar nicht mehr so richtig wahrgenommen werden. 

So merkt Angelika oft nicht, wenn z. B. ihre Angehörigen oder ihre Kolleginnen sie mit mangelndem Respekt behandeln. Darum wehrt sie sich auch nicht dagegen und unternimmt nichts, um dies abzustellen. Was ihr ursprünglich als Schutz vor zuviel Leiden von ihrer Psyche zur Verfügung gestellt wurde, wendet sich nun in dieser weniger belastenden Lebensphase gegen sie. Indem sie sich von anderen zu viel gefallen läßt, wird sie bevorzugt zur Zielscheibe für die Mitmenschen, die nach einem Blitzableiter für ihre Lebensunzufriedenheit suchen. 

Ein Ziel der Therapie besteht darin, Angelika wieder empfindsam zu machen für die Kränkungen, die ihr im Alltag zugefügt werden, damit sie lernen kann, sich davor zu schützen. Dies ist notwendig, da die ständigen kleinen Kränkungen Angelikas Selbstwertgefühl schädigen, obwohl sie dies selbst nicht merkt. Auf meine Bitte hin führt Angelika während ihrer Therapie eine Art Tagebuch, in das sie jeden Abend die Antworten auf die folgenden beiden Fragen einträgt: Was von dem was ich heute getan, gesagt oder gedacht habe fand ich in Ordnung? Von wem habe ich mich heute verletzt oder geärgert gefühlt? Diese tägliche Selbstbeobachtung ihrer Gefühle hilft Angelika einerseits, ihre eigenen Stärken besser wahrzunehmen, und macht sie andererseits sensibler für die Kränkungen, die ihr widerfahren.

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Sie bringt diese Notizen mit in die Therapie, so daß wir über ihre Erfolge sprechen und überlegen können, wie sie ihren Ärger oder ihre Verletztheit im nachhinein noch zeigen bzw. wie sie sich in Zukunft in ähnlichen Situationen besser schützen könnte. Wir spielen dieses neue Verhalten in der Phantasie und in Rollenspielen durch, damit Angelika eine gewisse Routine damit bekommt und es so leichter im Alltag einsetzen kann. Beispielsweise besprechen wir Situationen, die sich ergeben, wenn Angelika versucht, ihre unbezahlten Überstunden einzustellen; Arbeiten liegen zu lassen, die sie aus Zeitnot nicht mehr schafft; von ihrem Chef eine zusätzliche Arbeitskraft zu fordern, die ihr bei den anfallenden Arbeiten hilft; ihr eigenes Arbeitstempo zu wählen statt sich von anderen hetzen zu lassen; ihren Chef zurechtzuweisen, wenn er sich im Ton vergreift und sie als unfähig abqualifiziert; sich gegen ihre Kolleginnen abgrenzt und sich von ihnen keine zusätzlichen Arbeiten aufhalsen läßt; sich vor den Beleidigungen ihres Vermieters schützt, indem sie mit ihm nur noch schriftlich verkehrt und sich bei den Bemühungen um ihre Mutter zurückzunimmt.

Aus Angst vor Spannungen und Kontaktabbruch ist es Angelika nicht möglich, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren oder ihre Bedürfnisse anderen gegenüber durchzusetzen. Dies ändert sich erst, als es ihr zunehmend besser gelingt, Freunde zu finden, für deren Zuwendung sie nicht mit Selbstaufgabe bezahlen muß. Um diese Entwicklung zu fördern, erarbeiten wir in der Therapie eine Liste von Merkmalen, an denen Angelika erkennen kann, wem sie vertrauen darf und wem nicht. Wir vereinbaren, daß sie ihre wichtigsten Bezugspersonen auf die Probe stellt, indem sie ganz bewußt deren Erwartungen enttäuscht.

Um Angelikas Angst vor den Folgen dieser Experimente zu dämpfen, soll sie sich dabei folgendes sagen:

»Ein Mensch, der mich wirklich gern hat, findet es in Ordnung, wenn er ab und zu seine eigenen Wünsche für mich zurückstellen muß und wird dies ohne lange Verhandlungen tun. Er wird mich trotzdem mögen und auf viele meiner Wünsche eingehen, auch wenn es manchmal unbequem für ihn ist. Dies kann ich von einem guten Freund erwarten, denn schließlich tue ich das Gleiche auch für ihn. Alle diejenigen, die dazu nicht bereit sind, haben für mich nichts übrig. Sie halten nur deswegen den Kontakt zu mir aufrecht, weil man mich bisher so bequem ausnutzen konnte. An denen geht mir nicht viel verloren.«

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Ein weiterer wichtiger Vorschlag im Umgang mit Menschen ist, daß Angelika ihren Mitmenschen nicht mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Unterstützung zukommen lassen soll, als sie zurückbekommt. Da sie bisher darauf nie achtete, verschenkte sie ihre Energien und mißachtete sich auf diese Weise selbst. Die Folge war, daß sie sich kraftlos, erschöpft, wertlos und niedergeschlagen fühlte und Depressionen entwickelte.

Obwohl Angelika nach einiger Zeit verstanden hat, wie sie sich im Umgang mit Menschen verhalten müßte, läßt ihr Gefühl z.B. ein selbstbewußtes, energisches Auftreten oder gar eine deutlich aggressive Gegenwehr gegenüber kränkenden Mitmenschen noch nicht zu. Es stehen einfach zu viele Erfahrungen der Vergangenheit dagegen, wo solch ein selbstbewußtes Abwehren durch Liebesentzug, Drohungen oder Prügel bestraft wurde. 

Obwohl sie weiß, daß es richtig ist, hat Angelika Angst, die neuen Verhaltensweisen einzusetzen. 

Dieser Zustand ist für Angelika schwer zu ertragen. An diesem Punkt werden die meisten Frauen in der Psychotherapie ungeduldig und böse auf sich, weil sie noch nicht umsetzen können, was sie doch vom Verstand her wissen. Dabei verlangen sie Unmögliches von sich. Es ist wichtig, daß die Frauen verstehen, daß sie im Moment gar nicht anders reagieren können, daß sie Geduld mit sich haben müssen. Vielleicht werden sie in einer von zehn Situationen die Kraft finden, anders zu reagieren als bisher; das wäre bereits ein erster wichtiger Fortschritt. Sobald sie es einige Male geschafft haben, sich energisch abzugrenzen, werden sie den Mut haben, es immer öfter und öfter zu tun. Sie haben dann erfahren, daß dieses Verhalten günstige Folgen für sie hat und ihre Befürchtungen nicht wahr werden. In den ersten Situationen, in denen es Angelika gelingt, sich zu wehren, schießt sie oft noch weit übers Ziel hinaus. Sie kann sich nur abgrenzen, indem sie ihr Gegenüber als ganz und gar schlechten Menschen sieht und ihm in allem, was er tut, böse Absichten unterstellt. Nur so kann sie ohne schlechtes Gewissen ihre Interessen durchsetzen. Dabei überhäuft sie ihr Gegenüber mit Vorwürfen und begegnet ihm mit viel Feindseligkeit, verhält sich unnötig kränkend.

Dieses Übermaß an Aggressivität ist aber notwendig, damit es Angelika schafft, sich seinen Wünschen zu entziehen. Erst wenn sie ihre Angst vor der eigenen Ohnmacht verloren und Vertrauen in ihre eigene Durchsetzungsstärke gewonnen hat, wird sie sich auch auf weniger aggressive Weise von den Wünschen anderer abgrenzen können.

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  4. Phase: Heilen alter Wunden   

 

Je mehr Angelika in der Lage ist, sich durch die Veränderung ihrer unbefriedigenden Lebenssituation als stark, einflußreich und liebenswert zu erleben, desto eher ist es ihr auch möglich, sich mit den kränkenden Erlebnissen ihrer Kindheit zu befassen. Indem ich Angelika ermuntere, mir andeutungsweise die schlimmsten Kränkungen ihres Lebens zu benennen, wird sie sensibler für das, was sie alles durchgemacht hat. 

Dies bringt Angelika dazu, ihren erlittenen Schmerz zu würdigen und anzuerkennen und hilft ihr, sich endlich auf ihre eigene Seite zu stellen, statt weiterhin nach Entschuldigungen für das verletzende und lieblose Verhalten ihrer Eltern, ihres Großvaters und ihrer beiden Ehemänner zu suchen. Solche Rückblenden in die Vergangenheit sind ziemlich schmerzhaft, da sie das ganze Leid der Betroffenen wieder lebendig werden lassen. Ein Mensch kann aber nur ein bestimmtes Maß an Leid und Schmerz verkraften. Was darüber hinausgeht, muß betäubt oder verdrängt werden. 

Wie viele andere Frauen, die sich wegen sexuellen Mißbrauchs in Psychotherapie begeben, kann sich auch Angelika nur noch wenig an ihre Kindheit erinnern. Die wenigen Erinnerungen, die sie hat, sind unangenehm und bedrohlich. Wenn sie über diese schmerzlichen Erlebnisse spricht, gerät sie oft in eine Art Trancezustand, wo sie die Erinnerungen zwar vor ihrem inneren Auge sieht, das Leid von damals aber nicht mehr spürt. Dies ist wie das Vergessen ihrer Kindheit ein psychischer Schutzmechanismus. Durch die vielen Kränkungen sammelte sich in Angelika ein immer größer werdender Schmerz an, der sie bis heute in ihrem Leben begleitet und sich durch die verschiedensten psychischen Beeinträchtigungen bemerkbar macht. Um die alten Wunden zum Heilen zu bringen, braucht dieser tiefe Schmerz einen Weg, auf dem er aus Angelika heraus kann.

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Um so ein Ventil für den Schmerz zu schaffen, muß Angelika lernen, ihren Schmerz in Wut umzuwandeln und gegen die Personen zu richten, die sie so im Stich gelassen, mißachtet und verletzt haben.

Sobald ihr dieser Umwandlungsvorgang gelingt, können ihr andere, längst vergangene leidvolle Erfahrungen wieder einfallen, und sie kann immer mehr Zugang zu ihren Gefühlen bekommen, die mit diesen Erlebnissen verbunden waren. Wenn sie es schafft, ihren Mißbraucher, ihre Eltern und ihre Ehemänner der Reihe nach in ihrer Phantasie zur Rede zu stellen, sie innerlich anzuklagen, zu beschimpfen, zu beschämen oder sich in Gedanken an ihnen zu rächen, wenn sie sich also erlaubt, aggressiv und böse zu sein gegen die Menschen, die böse zu ihr waren, dann wird sie die offenen Rechnungen begleichen und ihre Kränkungen verarbeiten können. 

Ich schlage Angelika vor, nacheinander einen Brief an jede dieser Personen zu schreiben, den sie nicht abschickt, sondern der zur Klärung ihrer Gefühle dient. 

In jedem Brief soll sie versuchen, all das zu beschreiben, was die betroffene Person falsch gemacht hat und welche Folgen dies für Angelika hatte. Je wütender und anklagender dieser Brief wird, desto besser. Erst wenn ihr Brief so böse klingt, daß ihre Wut dem Ausmaß des Schmerzes entspricht, der ihr von dieser Person zugefügt wurde, wird sie sich von diesen schmerzlichen Erinnerungen befreien können. Wie die meisten Frauen ist auch Angelika von dieser Idee nicht begeistert. Ich sage ihr, daß es den meisten Menschen sehr schwerfällt, einen solchen Brief zu schreiben, daß sich viele erst eine Zeitlang vor dieser Aufgabe drücken, bis sie sich diesem inneren Kampf in einem geeigneten Moment stellen. 

Als Angelika ihren ersten Brief an ihren Großvater in die Therapie mitbringt, bitte ich sie, ihn mir vorzulesen. Aus der Art, wie sie den Brief vorliest, wird deutlich, wie erschüttert sie über ihren eigenen Schmerz ist, den dieser Mann ihr zugefügt hat. Einiges davon hat sie bereits in Wut umgewandelt. Obwohl die Wut in ihrem Brief noch lange nicht ihrem tiefen Schmerz und ihrer erlittenen Verletzung entspricht, ist mit ihr bereits eine sichtbare Veränderung geschehen. Sie wirkt äußerlich wesentlich ruhiger, gefaßter und mehr mit sich im Einklang. Obwohl sie viel weinen mußte, als sie den Brief schrieb, verspürte sie auch große Erleichterung. Ich schlage ihr vor, bei Gelegenheit eine noch schärfere und vernichtendere Briefversion an ihren Großvater oder einen Brief an eine andere Person zu schreiben.

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Am schwersten fällt ihr der Brief an ihre Mutter. Hier gelingt es ihr kaum, einen aggressiven Ton zu finden. Statt dessen wirken ihre Worte schonend und um Verständnis bettelnd, weil sie die Mutter als Zufluchtsmöglichkeit noch braucht.

 

Wie viele andere Betroffene neigt auch Angelika dazu, ihren Eltern und ihrem Großvater vorschnell zu verzeihen, ohne vorher ihren eigenen Schmerz gewürdigt und sich für die zugefügten Verletzungen gerächt zu haben. Ohne Rache können diese Wunden nicht heilen. Rache bedeutet, daß die Frauen die erlebte Ohnmacht durch ein Erlebnis der Macht und Stärke ausgleichen. 

Es gibt verschiedene Formen der Rache.  

Die einfachste ist die, über die Vergehen des Mißbrauchers bzw. der Eltern in der Therapie, mit dem Partner oder den Freunden zu sprechen und dadurch öffentlich zu machen. 

Die nächstschwerere Form der Rache besteht darin, an den Mißbraucher oder die Eltern einen Abrechnungsbrief zu schreiben, den man nicht abschickt. 

Eine weitere Steigerung der Rache ist es, dem Mißbraucher im therapeutischen Rollenspiel oder in der Realität immer wieder seine sexuellen Übergriffe vorzuwerfen und damit sehr viel Macht über seine Gemütsverfassung auszuüben. Eine andere Möglichkeit, die durch den sexuellen Mißbrauch erlebten Ohnmachtserfahrungen auszugleichen, besteht darin, gedanklich als starke, selbstbewußte Erwachsene in die Situation des sexuellen Mißbrauch zurückzugehen, den Mißbraucher an weiteren sexuellen Übergriffen zu hindern und das Kind, das man damals war, zu beschützen. 

Mit den Betroffenen nur immer wieder den sexuellen Mißbrauch durchzugehen ohne weitere Hilfestellungen zu geben, halte ich für kein geeignetes Mittel zur Auflösung traumatischer Erlebnisse. Durch die gedankliche Wiederholung des sexuellen Mißbrauchs erleben die Betroffenen meist nur erneut ihre Ohnmacht und Wehrlosigkeit, was ihre psychische Stabilität mehr beeinträchtigt als fördert. Instinktiv schrecken die meisten Frauen vor diesem Weg der Aufarbeitung zurück. Betroffene anzuregen, gedanklich in die Situation des sexuellen Mißbrauchs zurückzugehen, ist nur dann therapeutisch sinnvoll, wenn sie mit soviel Stärke, Macht und Selbstbewußtsein ausgerüstet sind, daß sie die damals erlebte

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Hilflosigkeit jetzt überwinden und die Situation in der Vorstellung zu einem besseren Ende bringen können. Auch das wiederholte Sprechen über den sexuellen Mißbrauch scheint vor allem den Frauen zu helfen, die dies als eine Art Unabhängigkeitsbeweis und Rache gegenüber dem Mißbraucher auffassen. Frauen vermeiden das Sprechen über sexuellen Mißbrauch, wenn dies nur zu einer Wiederbelebung der erlittenen Ohnmacht führt. Aus diesem Grund überlasse ich es der betroffenen Frau, ob, wann und wieviel sie über diese schmerzlichen Erlebnisse berichten will. Wie viele andere Frauen spricht auch Angelika wenig über ihren sexuellen Mißbrauch. Trotzdem macht sie erstaunliche Fortschritte in der Therapie.

 

Die Therapieerfolge

Im Verlauf der Therapie gelingt es Angelika, zum Teil unter Hinzuziehen des Personalrates, mehrere klärende Aussprachen mit ihrem Chef zu führen. Sie erreicht damit, daß er sich ihr gegenüber nicht mehr im Ton vergreift, sondern nur noch gerechtfertigte Kritik sachlich äußert. Sie macht keine unbezahlten Überstunden mehr für ihn und erreicht, daß das Zuviel ihrer Arbeit auf andere Kolleginnen umverteilt wird. Ihre Kolleginnen, die sie daraufhin mit mehr Achtung behandeln, wagen nun nicht mehr, die Schuld für ihre Fehler Angelika in die Schuhe zu schieben. Mit diesen allmählichen Fortschritten verschwinden die psychogenen Schmerzen und die Migräneanfälle.

Angelika spricht ihre Mutter auf ihre feindselige Ablehnung, den sexuellen Mißbrauch durch den Großvater und verschiedene schmerzliche Erlebnisse ihrer Kindheit an. Die Mutter reagiert darauf mit großer Empörung, ärgerlichen Gegenvorwürfen und streitet ab, Angelika jemals unfair oder falsch behandelt zu haben. Aus diesem Gespräch wird Angelika deutlich, daß ihre Mutter nie in der Lage sein wird, Angelika Liebe, Verständnis oder Anerkennung entgegen zu bringen. Darum bricht Angelika ihren Kontakt zur Mutter völlig ab.

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Nachdem sie so lange erfolglos bei den falschen Menschen nach Wärme und Zuneigung gesucht hatte, freundet sich Angelika schließlich mit einer alleinstehenden Frau ihres Alters an, die es im Leben ähnlich schwer gehabt hat. Angelika faßt soviel Vertrauen zu dieser Frau, daß sie ihre persönlichsten Gedanken mit ihr teilt und viel Zeit mit ihr verbringt. Seither sind auch die Eßstörungen und die Depressionen zurückgegangen. Angelika kommt jetzt auch mit ihren Kolleginnen und Nachbarn besser zurecht, engagiert sich in einem Chor und einer Frauengruppe und hat sich so ein Netz von Freunden und Bekannten geschaffen, die sie auffangen, wenn es ihr schlecht geht.

 

Ich habe Angelikas Fall deshalb so ausführlich dargestellt, weil er typisch ist für die Frauen, die wegen sexuellen Mißbrauchs zur Psychotherapie kommen. Erinnern wir uns nochmals: Sexueller Mißbrauch und andere Kränkungen führen zu Minderwertigkeitsgefühlen (»Ich bin nicht o. k.«) und Mißtrauen gegenüber anderen Menschen (»Die anderen sind nicht o. k.«). Diese wiederum erzeugen Beziehungsprobleme, aus denen sich für die Betroffenen ständig neue Kränkungen ergeben. So wie bei diesem Kreislauf die wechsel­seit­igen Veränderungen verschiedener psychischer Ebenen (z.B. Gedanken, Gefühle, Körperreaktionen, Verhalt­ens­weisen, Lebenssituation) immer stärker in die Krankheit führen, gibt es auch einen umgekehrten Kreislauf in die Gesundheit. Die Aufgabe der Psychotherapie besteht darin, den krankmachenden Kreislauf zu stoppen und ihn in Richtung Gesundheit umzukehren. Dieser Heilungsprozeß geschieht auf verschiedenen psychischen Ebenen, die ineinander greifen und sich gegenseitig beeinflussen.

Wenn Angelika z.B. ihren sexuellen Mißbrauch und andere schmerzlichen Erlebnisse ihrer Vergangenheit aufarbeitet, indem sie gedanklich die verant­wortlichen Personen zur Rechenschaft zieht, wird sie gleichzeitig lernen, sich auch vor den Kränkungen in ihrer Gegenwart besser zu schützen. Umgekehrt wird sie sich eher mit den Kränkungen ihrer Vergangenheit befassen und diese aufarbeiten können, wenn es ihr gelingt, sich in ihrem Alltag besser gegen die Erwartungen und Mißachtungen ihrer Mitmenschen abzugrenzen und ihr Selbstwertgefühl zu verbessern. Angelika wird dann selbstbewußter ihre Interessen vertreten können, wenn sie Menschen hat, die ihr durch ihre Zuneigung das Gefühl geben, wertvoll und liebenswert zu sein.

Andererseits wird sie erst durch ihr zunehmendes Selbstbewußtsein und ihre Wehrhaftigkeit intensivere Gefühlsbindungen zu anderen Menschen eingehen können. Da letztlich eine psychische Ebene die andere beeinflußt, ist es sinnvoll, in der Therapie abwechselnd auf allen Ebenen zu arbeiten und dort den nächstmöglichen kleinen Veränderungsschritt einzuleiten. Sobald der Heilungsprozeß einmal in Gang gesetzt ist, bauen sich die kleinen Erfolge, die in der Therapie sichtbar werden und den Betroffenen zunächst noch unbedeutend erscheinen, auch nach der Therapie fast von selbst weiter aus.

Im folgenden befassen wir uns nun etwas genauer mit den einzelnen psychischen Störungen, unter denen Frauen nach ihrem sexuellen Mißbrauch häufig leiden.

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 Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden