10. Depressionen Reinhold-1994 11
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Im Kapitel 8 wurde ausführlich dargestellt, wie durch die Erlebnisse sexuellen Mißbrauchs krankmachende Lebenseinstellungen entstehen können, die die Stimmung, die Wahrnehmung und das Verhalten eines Menschen entscheidend verändern und prägen. Durch sexuellen Mißbrauch hervorgerufene Ohnmachts-, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle können so stark werden, daß sich daraus Depressionen entwickeln.
Was sind Depressionen?
Am Beispiel von Angelika wurde deutlich, daß Depressionen Störungen sind, die den ganzen Menschen betreffen, die also mit Beeinträchtigungen der Gefühle, der Gedanken, der körperlichen Verfassung und des Verhaltens einhergehen. Depressive Menschen fühlen sich wertlos, tief traurig und deprimiert. Viele können sich an nichts mehr freuen, haben keine Interessen mehr, fühlen sich empfindungs- und hoffnungslos und leiden an einer inneren Leere und Resignation, die manchmal auch von Angst oder innerer Unruhe begleitet wird.
Menschen, die unter Depressionen leiden, neigen zu Selbstanklagen und haben oft Konzentrations- und Arbeitsprobleme. Viele sind in ihrem Denken verlangsamt und entschlußlos. Die meisten grübeln viel und haben wiederkehrende Selbstmordgedanken. Depressive Menschen leiden häufig unter einer körperlichen Unruhe oder unter Müdigkeit, Kraftlosigkeit und Erschöpfungszuständen, was sich in ihren verlangsamten Bewegungen bemerkbar macht. Die meisten klagen über Schlaf- und Appetitstörungen, sexuelle Lustlosigkeit und erhöhte Schmerzempfindlichkeit. Menschen mit Depressionen verhalten sich oft passiv. Die meisten unternehmen nichts mehr und haben nicht einmal mehr Interesse an ihren Hobbies.
Weil ihnen zu allem die Energie fehlt, vernachlässigen sie sich selbst und sind manchmal auffallend ungepflegt. Ihre Leistungsfähigkeit ist deutlich herabgesetzt. Viele haben ein ausdrucksloses Gesicht, das keine Gefühle mehr zeigt. Andere verstecken ihr Leiden hinter einer Maske aufgesetzter Fröhlichkeit. Manche sind unsicher und sprechen wenig, leise und monoton. Einige weinen oft >grundlos< und stundenlang. Sie isolieren sich von anderen Menschen, brechen ihre Kontakte zu Freunden ab und vereinsamen. Andere klammern sich an ihre wenigen Angehörigen und fordern durch ihr ständiges Jammern sehr viel Aufmerksamkeit. Häufig kommt es zu Selbstmordversuchen oder anderen selbstzerstörerischen Verhaltensweisen.
Wie entstehen Depressionen?
In der Psychologie gibt es verschiedene Erklärungen für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen.
Denkfehler
Nach der Theorie des Psychotherapeuten Aaron BECK werden Menschen depressiv, weil sie immer wieder ganz bestimmte Denkfehler machen und dabei vieles von dem, was sie erleben, als Zeichen ihrer Wertlosigkeit mißverstehen. Auch bei Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, kann man solche Denkfehler finden. Typisch für Frauen, die nach dem sexuellen Mißbrauch depressiv wurden, ist ihre pessimistische Sichtweise: »Mit mir muß irgendwas nicht stimmen, wenn ich immer wieder von Männern sexuell belästigt werde. Durch den sexuellen Mißbrauch bin ich kein normaler Mensch mehr. Dieser Schaden läßt sich nie mehr beheben.« Auch ihren Mitmenschen begegnen sie mit Skepsis:
»Wenn meine Freunde merken, wie ich wirklich bin, werden sie mit mir nichts mehr zu tun haben wollen.« »Wenn ich meinem Mann erzähle, daß ich als Kind sexuell mißbraucht wurde, wird er bestimmt denken, es sei meine Schuld gewesen.«
Überzeugt von ihrer eigenen Wertlosigkeit können viele Frauen Anerkennung und Komplimente nicht annehmen. Viele der Frauen nehmen ihre eigenen Fehler, Schwächen und Unfähigkeiten übertrieben deutlich wahr und unterschätzen die Bedeutung ihrer eigenen Leistungen, Stärken und Begabungen, die sie oft als Selbstverständlichkeiten einstufen und daher gar nicht gebührend beachten.
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Umgekehrt überschätzen sie oft die Leistungen und Fähigkeiten anderer Menschen und unterschätzen deren Mißerfolge und Schwächen. Auf diese Weise verstärkt sich bei vielen depressiven Frauen der Eindruck immer mehr, sie selbst wären im Vergleich zu anderen weniger wertvoll, leistungsfähig und tüchtig. Angetrieben durch diese Fehleinschätzung setzen sich manche Frauen derart hohe Ziele, daß sie zwangsläufig scheitern müssen. Diese selbsterzeugten <Mißerfolgserlebnisse> führen dann zu noch mehr Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen, so daß die Frauen mit der Zeit immer depressiver werden.
Nur wenige Frauen haben Verständnis für ihre eigenen psychischen Schwierigkeiten, die sie aufgrund des sexuellen Mißbrauchs und anderer Kränkungen entwickelt haben. So fragen sich viele vorwurfsvoll: »Wann werde ich endlich normal werden und mich wie alle anderen verhalten? Wann werde ich endlich aufhören, am sexuellen Mißbrauch zu leiden. Wann werde ich es endlich schaffen, sexuell normal zu funktionieren und normale Beziehungen zu Menschen zu haben?«
Die meisten Frauen versuchen ihre erlittene Ohnmacht während des sexuellen Mißbrauchs dadurch zu lindern, daß sie Schuldgefühle entwickeln. Oft übertragen sie dieses Reaktionsmuster auch auf andere Alltagssituationen, in denen sie keine Kontrolle haben: »Alles, was schiefgeht, ist meine Schuld.« Wenn z. B. ihr Chef erfolglos nach einem verschwundenen Dokument sucht, das er verlegt hat, neigen manche Frauen dazu, sich deswegen schuldig zu fühlen, obwohl sie wissen, daß sie nichts dafür können.
Typisch für depressive Frauen ist, daß sie zu übertriebenen Verallgemeinerungen neigen. Manche Frauen verallgemeinern ihr berechtigtes Mißtrauen gegenüber ihrem Mißbraucher auf alle Männer: »Das einzige, was Männer in Beziehungen interessiert, ist Sex.« Andere schließen aus kleinen Fehlern und Mißerfolgen, daß sie grundsätzlich Versager sind. Viele Frauen tun sich schwer, an einem Menschen die guten und gleichzeitig die schlechten Seiten wahrzunehmen. Statt dessen sind sie ständig bemüht, andere in gute und in schlechte Menschen einzuteilen. Auch bei vielen anderen Dingen scheinen sie nur in krassen Gegensätzen denken zu können.
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Es scheint, wie wenn es für sie nur schwarz oder weiß gibt, aber keine Grautöne. Sie finden sich entweder wunderschön oder total häßlich. Sie glauben, sie haben alles optimal gelöst oder völlig versagt. Der neue Bekannte ist entweder in jeder Hinsicht ein Engel oder die absolute Schlechtigkeit in Person. Mit dieser vereinfachten und verzerrten Sichtweise werden sie weder sich noch anderen Menschen gerecht. Bei diesem Schwarz-Weiß-Denken genügt bereits ein kleiner Fehler, um sich selbst als wertlos und unfähig oder einen anderen Menschen als schlecht oder gefährlich einzuschätzen.
Gelernte Hilflosigkeit
Ein Forscher namens SELIGMAN hat eine andere Erklärung für die Entstehung von Depressionen. Er meint, daß Menschen dann depressiv werden, wenn sie gelernt haben, sich hilflos zu fühlen.
In einem Tierversuch gab man Hunden immer wieder Elektroschocks. Normalerweise versuchen Hunde sich vor Schmerzen zu schützen, indem sie ausreißen. In diesem Versuch aber verhinderte man, daß die Hunde weglaufen konnten. Sie mußten die unangenehmen elektrischen Schläge aushalten und konnten nichts dagegen tun. Die Hunde stellten schließlich ihre Fluchtversuche ein. Sie ließen die Elektroschocks auch dann noch über sich ergehen, als sie schon lange wieder die Möglichkeit hatten, davor wegzulaufen. Die Tiere hatten in diesem Versuch gelernt, sich hilflos und ohnmächtig zu fühlen. Sie wurden depressiv, apathisch, nahmen kein Futter mehr zu sich, verloren an Gewicht und zeigten damit ein typisch depressives Verhalten. Auch Menschen kann man auf ähnliche Weise dazu bringen, sich ohnmächtig zu fühlen und sich wie depressive Personen zu verhalten: man gibt ihnen verschiedene Aufgaben, die nicht lösbar sind, so daß sie wiederholt das Gefühl bekommen, versagt zu haben.
Nach SELIGMANs Theorie entstehen Depressionen dadurch, daß Menschen wiederholt in Situationen kommen, in denen sie hilflos sind und keine Kontrolle haben, wie z. B. beim Tod einer geliebten Person, einer ungewollten Trennung vom Partner, Arbeitslosigkeit, ungewollter Schwangerschaft, körperlicher Krankheit, Altwerden, beruflichen und privaten Mißerfolgen usw.
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Auch sexuelle Gewalterfahrungen gehören in diese Reihe. Durch solche wiederholten Ohnmachtserlebnisse können Menschen zu der Überzeugung kommen, daß sie mit ihrem Verhalten keinen wesentlichen Einfluß auf das haben, was mit ihnen passiert. Sie haben gelernt, sich hilflos zu fühlen und können ihre Möglichkeiten der Einflußnahme weder erkennen noch nutzen.
Mangel an positiven Verstärkern
Eine weitere Erklärung für die Entstehung von Depressionen gibt der Forscher LEWINSON. Er geht davon aus, daß jeder Mensch eine gewisse Menge an Freude, Spaß, Befriedigung, Bestätigung, Erfolg, Anerkennung, Zuwendung oder Liebe braucht, um aktiv und psychisch gesund zu bleiben. In der Psychologie nennt man das »positive Verstärker«. Dies ist im Grunde so eine Art Seelennahrung, die jeder Mensch in einem gewissen Ausmaß braucht.
Wenn man durch angenehme berufliche und private Veränderungen, wie z. B. eine berufliche Beförderung oder die Entstehung einer engen Freundschaft oder durch den Sieg bei einem Wettbewerb mehr >Seelennahrung< bekommt als man braucht, gerät man in eine Hochstimmung und sieht alles durch eine rosarote Brille. Wenn man sich dagegen nicht genügend >Seelennahrung< verschaffen kann, weil man z. B. keinen Partner oder keine Freunde, keine Arbeit oder keine Hobbies hat, werden Menschen oft depressiv, d. h. sie werden pessimistisch, resignieren, unternehmen nichts mehr, ziehen sich von anderen Menschen zurück, und ihre Leistungsfähigkeit nimmt ab. Mit diesem Rückzugsverhalten begrenzen sie aber selbst ihre Möglichkeiten, neue Erfolgserlebnisse, Bestätigung oder Zuwendung zu erfahren. So entsteht ein Teufelskreis, der die Menschen immer depressiver und passiver macht.
Einfluß der Geschlechtsrollen
Nun treten Depressionen bei Frauen wesentlich häufiger auf als bei Männern. Wie in Kapitel 3 beschrieben, hat dies sehr viel mit den unterschiedlichen Lebensumständen und Rollen von Männern und Frauen zu tun. Frauen sind in ihrem Alltag und in ihren Lebensmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht machtloser als Männer.
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Frauen haben weniger Möglichkeiten, sich Erfolgserlebnisse, Selbstbestätigung und Anerkennung zu verschaffen, da von ihnen erwartet wird, daß sie ihre eigenen Interessen zurückstellen und ihren Beruf zum Wohle der Familie aufgeben oder zumindest stark einschränken. Die Arbeit der Hausfrau und Mutter wird in unserer Gesellschaft nur wenig anerkannt. Daher sind bisher auch nur wenige Männer bereit, die Rolle des Hausmannes zu übernehmen, auch wenn ihre Frau durch ihren Beruf genausoviel Geld verdient.
Depressionsspirale
Eine weitere Erklärung für die Entstehung von Depressionen ist die Depressionsspirale, die aufgrund krankmachender Lebenseinstellungen entsteht und zu immer deutlicheren Verhaltensänderungen führt. Da Frauen in ihrem Leben neben dem sexuellen Mißbrauch meist noch einer Reihe anderer schmerzlicher Erfahrungen ausgesetzt waren, entwickeln sie zunehmend stärker die Vorstellung: »Ich werde schlecht behandelt, weil ich minderwertig und nicht liebenswert bin.« Diese Gedanken sind begleitet von Minder-wertigkeits-, Schuld- und Ohnmachtsgefühlen. Daraus entsteht oft der Gedanke: »Ich muß froh sein, wenn sich jemand mit mir abgibt. Darum muß ich mich auch besonders anstrengen, damit mich jemand mag.«
Viele Betroffene stellen deshalb ihre eigenen Interessen zurück, verhalten sich unsicher und wenig selbstbewußt und stellen wenig Ansprüche an ihre Partner und Freunde. Dadurch versäumen sie es, Partnern und Freunden beizubringen, sie mit Respekt zu behandeln. Sie ziehen eher Menschen an, die gewohnt sind, auf Kosten anderer zu leben. Auf diese Weise aber erleben sie in ihren Beziehungen verstärkt Lieblosigkeit, Verletzung und Mißhandlung, was dazu führt, daß sie sich in ihrer Überzeugung »Ich werde schlecht behandelt, weil ich minderwertig und nicht liebenswert bin« bestätigt fühlen. Auf diese Weise werden ihre Selbstzweifel immer größer, was dazu führt, daß sie sich immer mehr nach den Wünschen und Erwartungen anderer Menschen orientieren und dadurch noch mehr ausgenutzt und verletzt werden. In diesem Teufelskreis gefangen, werden die Ohnmachtsgefühle immer erdrückender und die Depressionen immer schlimmer.
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Abbildung 15:
DEPRESSIONSSPIRALE
In der Theorie der Depressionsspirale lassen sich sowohl Becks Theorie der Denkfehler als auch Seligmans Theorie der gelernten Hilflosigkeit und Lewinsons Theorie der Verstärkerverluste gut unter einen Hut bringen.
Was kann man gegen Depressionen tun?
Um die Depressionsspirale zu unterbrechen, können die Betroffenen einerseits an ihren depressivmachenden Gedanken und andererseits an ihren Verhaltensweisen ansetzen.
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Veränderung der Gedanken
Menschen, die unter Depressionen leiden, können ihre krankmachenden Gedanken verändern, indem sie sich selbst immer wieder fragen:
»Mache ich mich jetzt für etwas verantwortlich, wofür ich gar nichts kann? Unterschätze ich meine Stärken und übertreibe ich die Bedeutung meiner Fehler? Messe ich mich und meine Mitmenschen mit dem gleichen Maßstab? Nehme ich das Lob und die Wertschätzung anderer Menschen an? Verlange ich zuviel von mir? Begegne ich mir mit dem gleichen Ausmaß an Geduld, Verständnis und Fürsorge wie anderen Menschen? Ist es mir möglich, bei allen Menschen die guten und zugleich ihre schlechten Seiten zu sehen und entsprechend darauf zu reagieren? Erlaube ich mir, übertriebene Forderungen meiner Mitmenschen zurückzuweisen oder ihre Erwartungen zu enttäuschen, auch wenn ich dadurch die Beziehung auf eine Bewährungsprobe stelle?«
Ein Mensch kann nur dann gut für sich selbst sorgen, wenn er sich das selbst wert ist. Um sich vor Mißachtung, Kränkung und Ausgenutztwerden schützen und sich genügend Anerkennung, Zuwendung und Liebe verschaffen zu können, muß man sich selbst mögen und schätzen. Genau das müssen Menschen mit Depressionen, aber auch Menschen mit anderen psychischen Störungsbildern oft am dringendsten lernen.
Um ein positives Selbstbild zu gewinnen, können Sie folgendes tun: Nehmen Sie sich jeden Abend 15 Minuten Zeit und gehen Sie in Gedanken den Tag durch. Achten Sie bewußt auf all das, was Sie gedacht, gesagt oder getan haben, womit Sie persönlich zufrieden waren. Nehmen Sie als Maßstab nur Ihr eigenes Gefühl und schreiben Sie alles auf, was Sie dazu finden können.
Stellen Sie sich dann vor einen Spiegel. Schauen Sie sich liebevoll in die Augen und loben Sie Ihr Spiegelbild mit einer weichen, warmen Stimme für das, was Sie an diesem Tag gut gemacht haben. Zum Beispiel sagte ich gestern abend zu mir: »Marion, ich mag Dich, weil du in dem schwierigen Gespräch mit Frau X so geduldig geblieben bist. Marion, das war prima, wie Du für Dich gesorgt hast, indem Du Dich gedanklich aus der langweiligen Diskussion ausgeklinkt hast. Marion, ich bin stolz auf Dich, wie Du Dich gegen die kränkenden Bemerkungen Deines Kollegen gewehrt hast.
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Es wäre zwar besser gewesen, Du hättest noch schneller reagieren und noch diplomatischere Worte wählen können. Trotzdem war Deine Reaktion insgesamt bemerkenswert. Das hast Du wirklich gut gemacht.« Was werden Sie heute abend lobend zu Ihrem Spiegelbild sagen?
Wenn Sie jeden Abend auf diese Weise an Ihrem Selbstwertgefühl arbeiten, werden Sie bald merken, wie Sie sich allmählich zum Positiven verändern. Sie werden Kraft und Gelassenheit entwickeln und sich dadurch innerlich immer stabiler und zufriedener fühlen können. Schließlich werden Sie soviel Stärke und Zuversicht haben, daß Sie sich von den Erwartungen und Urteilen Ihrer Mitmenschen abgrenzen und auch dann noch bei Ihrer jeweiligen Entscheidung bleiben können, wenn Sie damit andere enttäuschen. Auf diese Weise werden Sie immer besser imstande sein, gut für sich selbst zu sorgen.
Veränderung des Verhaltens
Es gibt eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, mit denen man das Verhalten seiner Mitmenschen entscheidend beeinflussen kann. Wer diese Verhaltensweisen nicht beherrscht oder nicht benützt, macht sich im Zusammenleben mit anderen selbst zum Verlierer. Erinnern wir uns an die Hunde, die am Schluß des Experiments ganz resigniert die schmerzhaften Elektroschocks ertrugen, weil sie fälschlicherweise glaubten, sie könnten nichts dagegen tun. Genauso verharren viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, in untätiger Hoffnungslosigkeit und überprüfen nicht mehr, ob sie nicht doch etwas an ihrer unbefriedigenden Lebenssituation verändern können. Hilflos und ohnmächtig werden Menschen meist dann, wenn sie:
ihre Wünsche und Gefühle nicht mitteilen oder ihre Gekränktheit nicht zeigen, weil sie fürchten, sich dadurch eine Blöße zu geben oder sich noch verletzlicher zu machen;
nicht energisch und selbstbewußt auftreten und dadurch von anderen nicht ernstgenommen werden;
sich nicht getrauen, die Erwartungen anderer Menschen zu enttäuschen, Forderungen und Bitten abzulehnen, nein zu sagen, Ärger zu zeigen, zu streiten oder >böse< zu sein, aus Angst, daß der andere dann beleidigt ist und auf Dauer den Kontakt abbricht;
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um des lieben Friedens willen nachgeben und viel zu oft und zu schnell verzeihen, ohne eine Entschuldigung oder eine Art Wiedergutmachung zu verlangen;
schüchtern und kontaktscheu sind, dadurch nicht so leicht neue Freunde finden und sich daher von ihren bisherigen >Freunden< und Angehörigen zuviel gefallen lassen müssen;
im Kontakt mit anderen nicht auf ein ausgeglichenes Geben und Nehmen achten, so daß sie für andere immer mehr tun, als sie zurückbekommen;
sich die falschen >Freunde< aussuchen, von denen sie oft gekränkt, vernachlässigt oder ausgenutzt werden.
Selbstbewußtes, energisches Auftreten kann man in Selbstsicherheits-, Rhetorik- oder Selbstverteidigungskursen für Frauen lernen. Allerdings gibt es Menschen, bei denen man auch mit energischem Auftreten nichts erreichen kann bzw. wo dies unter Umständen sogar gefährlich werden kann, weil sie darauf gewalttätig reagieren. Hier hilft nur noch eines: Kontakt abbrechen.
Täglicher Aktivitätenplan
Um aus dem depressiven Nichtstun herauszukommen, hilft es, wenn man täglich einen Aktivitätenplan erstellt, mit dem man sich den Tag strukturiert und sich zu Unternehmungen zwingt, auch wenn man keine Lust dazu hat.
Indem man zum Beispiel seinen alten Hobbies nachgeht oder neue entwickelt, viel unter Menschen geht, sich selbst immer wieder etwas Gutes gönnt, Sport treibt, einen festen Tagesrhythmus entwickelt und morgens zu einem festen Zeitpunkt aufsteht, kommt es zu einem Anstieg der positiven Verstärker, und die Depressionen lassen nach. Um dies zu erreichen, wird man in kleinen machbaren Schritten anfangen. So kann man sich beispielsweise dazu verpflichten, jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine halbe Stunde spazierenzugehen, egal wie das Wetter ist. Sobald das gut funktioniert, kann man sich eine weitere kleine Pflichtübung in seinen Tag einbauen und dann noch eine usw.
Wichtig ist nur, daß man sich nicht zuviel auf einmal vornimmt, sondern immer nur soviel, wie man mit großer Wahrscheinlichkeit auch erfüllen kann. Bei der Aktivitätenplanung spielt Bewegung eine besonders wichtige Rolle. Sport und körperliche Ertüchtigung führen zu vielfältigen Stoffwechselveränderungen, unter anderem auch zur vermehrten Ausschüttung eines Stoffes, der auf das Gemüt stimmungsaufhellend wirkt. In verschiedenen Studien fand man beispielsweise, daß tägliches Joggen das Selbstwertgefühl verbessert, Depressionen beseitigt bzw. verhindert, ausgeglichener macht und gefühlsmäßige Spannungen abbaut.
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11 Aggressive Störungsformen
Frauen, die wegen ihres sexuellen Mißbrauchs in die Psychotherapie kommen, leiden in der Regel unter übermäßig starken aggressiven Impulsen. Wenn sie diese nicht mehr unter Kontrolle halten können, richten sie sie entweder gegen ihre Mitmenschen oder gegen sich selbst.
Mißtrauen und Wut gegenüber anderen
Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, haben die Erfahrung gemacht, daß es gefährlich ist, Menschen zu vertrauen. Verschiedene Erlebnisse haben zur Zerstörung ihres Vertrauens beigetragen, z.B. die wiederholten sexuellen Übergriffe durch einen Mann, der dem Kind nahestand; daß die Eltern und andere Erwachsene dem Kind nicht glaubten; daß es niemand gab, der dem Kind half, die sexuellen Übergriffe zu stoppen; daß verschiedene Erwachsene dem Kind die Schuld am sexuellen Mißbrauch gaben; daß das Kind im Elternhaus meist noch zusätzlichen Mißhandlungen ausgesetzt war. All diese Erfahrungen lehren die Betroffenen, im Umgang mit Menschen vorsichtig und mißtrauisch zu sein. Daher sind einige Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, der Überzeugung:
»Man kann keinem Mann vertrauen.«
»Ohne Sex als Gegenleistung wird sich kein Mann liebevoll um mich kümmern.«
»Auf Frauen ist kein Verlaß, denn sie sind alle schwach und nutzlos.«
»Es ist gefährlich, sich mit Menschen einzulassen, weil sie Dich letztlich alle betrügen, ausnutzen oder verletzen.«
Aus dem Mißtrauen entwickelt sich bei manchen Frauen starke Wut, die sich in auffallend aggressivem Verhalten bemerkbar macht.
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Diese Entwicklung läßt sich folgendermaßen erklären: Als Folge ihres sexuellen Mißbrauchs sind viele Frauen wenig anspruchsvoll bei der Auswahl ihrer Freunde und Partner, so daß sich die schlechten Erfahrungen mit Menschen auch im Erwachsenenalter fortsetzen. Dadurch wird die Vorstellung »Menschen sind gefährlich und schlecht« immer stärker. Da die Betroffenen ihren Mitmenschen immer öfter böse Absichten unterstellen und sich schnell angegriffen fühlen, neigen sie auch immer häufiger dazu, für andere unverständlich feindselig und aggressiv zu reagieren. Damit stoßen sie viele Menschen vor den Kopf und reizen sie zu verletzenden und aggressiven Gegenreaktionen. Dies bestätigt den Betroffenen wiederum, was sie schon vorher vermutet hatten: »Menschen sind gefährlich und schlecht.«
Abbildung 16:
AGGRESSIONSSPIRALE
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Bei ihrer nächsten Begegnung mit Menschen werden sie noch mißtrauischer sein, sich noch schneller angegriffen fühlen und noch aggressiver reagieren. Dies ist ein sich ständig wiederholender Teufelskreis, der zu immer stärkeren Wutanfällen führt.
Aggressives Verhalten muß aber nicht immer zu einer Verschlechterung der Lebenssituation führen und in der Aggressionsspirale enden. Bei richtigem Einsatz kann Aggressivität ein guter Schutz sein, um damit den Mitmenschen Respekt einzuflößen und sie zu einer vorsichtigeren und weniger mißachtenden Umgangsweise zu veranlassen. Die Frauen, denen dies gelingt, erscheinen relativ selten in der Psychotherapie. Sie wirken auf ihre Mitmenschen meist unnahbar, ungeheuer selbstsicher oder gar angsterregend. Meist haben sie wenige Freunde, leben oft allein und ohne Partner. Ihre Selbstbestätigung beziehen sie in erster Linie aus ihrem Beruf. Zwar leiden sie unter ihrer Einsamkeit, entwickeln aber selten psychische Störungen, da sie es geschafft haben, sich vor Mißachtungen und Kränkungen gut zu schützen.
Wut auf sich selbst
Frauen, die wegen sexuellen Mißbrauchs zur Therapie kommen, sind meist nicht in der Lage, ihre Aggressivität erfolgreich zu ihrem eigenen Nutzen einzusetzen. Das kommt daher, daß sie für aggressives Verhalten in ihrem Leben häufig mit Liebesentzug, Kritik oder heftigen Gegenaggressionen bestraft wurden. Liebesentzug stellt für Frauen eine wesentlich härtere Strafe als für Männer dar, weil Frauen ihr Selbstwertgefühl hauptsächlich aus harmonischen Beziehungen beziehen, während Männer mehr Möglichkeiten haben, sich Selbstbestätigung aus ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer beruflichen Position zu verschaffen.
Frauen, die aufgrund des sexuellen Mißbrauchs von sich selbst eine sehr schlechte Meinung haben, während sie ihre Mitmenschen weitgehend für in Ordnung halten, verarbeiten Enttäuschungen und Kränkungen oft so, daß sie ihre Wut mehr auf sich selbst als auf andere richten. Aus Angst vor Liebesentzug fressen diese Frauen ihre Wut und ihre Verletztheit in sich hinein, wo sie sich dann in Form von Selbstvorwürfen, psychosomatischen Erkrankungen (z.B. Schmerzen aller Art) oder selbstschädigendem Verhalten gegen sie richtet.
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GABI fühlt sich im Umgang mit anderen Menschen sehr schnell abgelehnt und zurückgewiesen. Es genügt schon, wenn eine Freundin eine Verabredung absagen muß oder nicht zu dem Zeitpunkt anruft, zu dem sie das versprochen hat. Gabi wird dann erst einmal ziemlich wütend auf ihre Freundin. Gleichzeitig überfallen sie aber starke Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle. Sie glaubt dann, ihre Freundin wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben und beginnt sich selbst als häßlich, langweilig und dumm zu beschimpfen. Ganz gefangen in dieser Idee und in ihrem Ärger ist es ihr nicht mehr möglich, ihre Freundin auf den Vorfall anzusprechen. Demonstrativ beleidigt zieht sich Gabi dann ohne Erklärung von ihrer Freundin zurück. Wenn dann ihre Freundin irritiert und ebenfalls gekränkt durch dieses Verhalten auf Abstand geht, fühlt sich Gabi in ihrer Meinung voll bestätigt. In ihrer Ohnmacht ist sie dann sowohl wütend auf sich selbst, als auch auf ihre Freundin. Ihre Wut aber richtet sie allein gegen sich: sie zerkratzt sich das Gesicht und die Hände, ißt sehr viel, um danach alles wieder zu erbrechen, und denkt an Selbstmord.
Gabi hat aufgrund ihrer Minderwertigkeitsgefühle nicht den Mut, ihre Enttäuschung offen anzusprechen und ihre Freundin um eine Erklärung zu bitten. Sie zeigt ihren Ärger nur versteckt, indem sie sich in gekränktes Schweigen hüllt und hofft, ihre Freundin so zu einer Klärung und Versöhnung bewegen zu können. Sie unterstellt ihrer Freundin, daß diese sie insgeheim ablehnt und vielleicht sogar absichtlich kränken wollte. Die Freundin ahnt von diesen Gedankengängen nichts, führt Gabis unerklärlichen Rückzug und ihre Verschlossenheit auf deren schlechte Laune zurück und zieht sich ebenfalls gekränkt zurück. Viele Frauen, die wegen sexuellen Mißbrauchs zur Therapie kommen, reagieren in solchen Situationen auf ähnliche Weise. Da sie nicht wagen, anderen ihre Wünsche und ihre Verletztheit selbstbewußt zu zeigen, fressen sie ihren Ärger solange in sich hinein, bis sie ihn nicht mehr kontrollieren können und er unerwartet aus ihnen herausbricht. Gefangen in ihrer Überzeugung: »Ich bin nicht okay und die anderen sind es auch nicht«, wechseln sie ständig zwischen der Depressions- und Aggressionsspirale hin und her, wobei sie oft im falschen Moment wütend reagieren und im falschen Augenblick nachgeben.
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Viele Frauen, die wegen sexuellen Mißbrauchs zu mir in Psychotherapie kommen, sind vorwiegend in den Situationen aggressiv, wo sie mit ihrer Wut nichts erreichen können. Dagegen schlucken sie in Situationen, wo es notwendig und erfolgversprechend wäre, endlich einmal energisch zu sein, ihre Wut in sich hinein.
Abbildung 17:
DEPRESSIONS-AGGRESSIONS-SPIRALE
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Andere Frauen verstehen es nicht, ihren Ärger so zu dosieren, daß sie damit ihre Interessen durchsetzen können. Entweder verhalten sie sich übertrieben aggressiv, so daß ihr Gegenüber demonstrativ auf stur schaltet, oder sie treten nicht energisch genug auf und werden mit ihren Wünschen nicht ernstgenommen. Die Frauen scheinen ihren Ärger nicht richtig nutzen zu können und ihn eher zu ihrem Nachteil statt zu ihrem Vorteil einzusetzen. Das wird auch in dem folgenden Beispiel deutlich.
ERIKA ist von verschiedenen Männern sexuell mißbraucht worden. Von ihren Eltern wurde sie schwer mißhandelt und fast totgeschlagen, bevor das Jugendamt sie aus der Familie herausnahm und in einem Heim unterbrachte. Da es für sie als Kind lebensgefährlich war, sich über ihre Eltern offen zu ärgern, gewöhnte sie sich an, ihre Verletztheit und Wut vor anderen Menschen zu verbergen. Dies hat sie auch als Erwachsene beibehalten. Aufgrund massiver Minderwertigkeitsgefühle und Ängste ist sie nicht in der Lage, anderen Menschen ihre Gefühle und Bedürfnisse so mitzuteilen, daß diese sich in ihrem Verhalten darauf einstellen. Sie hat sich einen Partner ausgesucht, der wenig auf ihre Wünsche achtet, ihre Tagebücher liest und sie im Schlaf vergewaltigt.
Von ihren >Freunden< erhält sie wenig Bestätigung, dafür aber jede Menge Abwertungen und Vorwürfe. Da es ihr schwerfällt, Freunde zu finden und sie große Angst vor dem Alleinsein hat, schluckt sie viele Kränkungen in sich hinein, ohne etwas zu sagen. Nur mit großer Anstrengung kann sie ihre Wut unter Kontrolle halten, die sich dann anstaut. Manchmal aber werden die Kränkungen zuviel, so daß sie sich nicht mehr beherrschen kann und durchdreht. Sie stößt dann böse Drohungen aus, macht Dinge kaputt, prügelt sich mit fremden Männern auf der Straße oder verletzt sich selbst, um zu verhindern, daß sie auf diejenigen losgeht, die sie so wütend gemacht haben und die sie gleichzeitig so braucht. Ihre Mitmenschen können dies nicht verstehen und machen ihr wegen ihres Verhaltens Vorwürfe, so daß der Kreislauf immer wieder von neuem beginnt. Erika wurde in ihrem Leben schon viele Male In die Psychiatrie zwangseingewiesen, weil sie gewalttätig geworden war oder well sie versucht hatte, sich selbst das Leben zu nehmen. Die Aggressivität, die Außenstehende an Erika beobachten können, ist nur ein kleiner Teil der Wut, die sie ständig mit sich herumträgt und vor der sie andere Menschen auf Ihre Weise schützt.
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Männer, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, haben in der Regel weniger Skrupel, ihre Aggressivität auf andere Menschen zu richten. Während Frauen nach sexuellem Mißbrauch eher stärker in die Depressionsspirale geraten, liegt der Störungsschwerpunkt bei Männern eher auf der Aggressionsspirale. Dieser Unterschied führt dazu, daß Frauen sich Männern gegenüber unterlegen fühlen und zu deren Opfer werden. Die Gewalttätigkeit von Männern gehört zum Alltag vieler Frauen. Dies zeigt sich z. B. auch darin, daß Frauen in jeder dritten Partnerschaft mindestens einmal im Jahr von ihrem Mann geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, und zwar unabhängig vom Alter, der sozialen Schicht oder dem Bildungsstand des Paares. Durch solche Erfahrungen geraten Frauen immer weiter in die Depressionsspirale und Männer immer mehr in die Aggressionsspirale.
Persönlichkeitsstörungen
Je nachdem, wie groß die Wut im Vergleich zu den Minderwertigkeitsgefühlen ist, richten die Betroffenen ihre Wut entweder gegen sich selbst, bringen sie in einer versteckten Form nach außen oder richten sie ganz offen gegen andere Menschen. Diese Verhaltensweisen können in seltenen Fällen so ausgeprägt werden, daß Psychotherapeutinnen von einer selbstschädigenden oder versteckt-aggressiven oder sadistischen Persönlichkeitsstörung sprechen. Damit sich solche schweren Störungen entwickeln, liegen neben dem sexuellen Mißbrauch meist noch eine Vielzahl anderer einschneidender Ohnmachts- und Gewalterfahrungen vor.
Selbstschädigendes Verhalten entsteht, wenn die Betroffenen ihre Wut gegen sich selbst richten. Obwohl die Betroffenen eindeutig bessere Möglichkeiten zur Verfügung haben, wählen sie sich Personen und Situationen aus, die zu Enttäuschungen, Mißerfolgen oder unerfreulichen Erlebnissen führen. Die Hilfe anderer Menschen weisen sie oft zurück. Auf Erfolge und angenehme Ereignisse in ihrem Leben reagieren sie mit Schuldgefühlen, Depressionen oder selbstschädigendem Verhalten, indem sie z.B. einen <Unfall> haben. Manche bringen ihre Mitmenschen dazu, ärgerlich und zurückweisend auf sie zu reagieren, wie wenn sie sich auf diese Weise selbst bestrafen wollten.
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Viele Betroffene vermeiden Gelegenheiten, wo sie sich selbst etwas Gutes tun oder Spaß haben könnten. Sie tun sehr viel für andere, aber sehr wenig für sich selbst. Manche stoßen gerade die Menschen vor den Kopf, die immer sehr fair und bemüht um sie waren. Statt dessen opfern sie sich für Menschen auf, die dies nicht verlangen oder nicht verdienen.
Manche Betroffene verbergen zwar vor anderen den größten Teil ihrer Wut, entwickeln aber bewußt oder unbewußt Formen des passiven Widerstandes.
Sie kommen z.B. den Forderungen anderer Menschen nach einer angemessenen Arbeitsleistung nicht nach und schieben Arbeiten so lange auf, daß Fristen nicht mehr eingehalten werden können.
Einige reagieren mürrisch, gereizt oder streitsüchtig, wenn von ihnen etwas verlangt wird, was sie nicht tun möchten. Sie arbeiten dann scheinbar absichtlich langsam und fehlerhaft oder <vergessen>, ihre Pflichten zu erfüllen. Manche beschweren sich grundlos darüber, daß ihre Mitmenschen unsinnige Forderungen an sie stellen und nehmen nützliche Vorschläge zur Steigerung ihrer Arbeitsleistung übel. Oft neigen sie auch dazu, ihre Vorgesetzten zu kritisieren oder zu verachten.
Da sie ihren Mitmenschen böse Absichten unterstellen, ist es ihnen nicht möglich, direkt zu sagen, wann sie sich verletzt fühlen. Statt dessen tun sie so, wie wenn ihnen diese Kränkungen nichts ausmachen und rächen sich heimlich. Dadurch aber stoßen sie ihre Mitmenschen ständig vor den Kopf, die entsprechend gereizt darauf reagieren, so daß die Begegnungen immer spannungsgeladener verlaufen. Im Berufsleben kommt es dann oft zu Kündigungen, im Privatleben zur Auflösung der Partnerschaft. Die Betroffenen erleben dies meistens als sehr kränkend und ungerecht.
Manche Menschen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, haben keine Skrupel, ihre Aggressionen an Schwächeren und völlig Unschuldigen abzureagieren. Dabei sind Männer mit sexuellen Mißbrauchserfahrungen eher in Gefahr, eine antisoziale oder sadistische Persönlichkeitsstörung zu entwickeln als Frauen. Menschen mit einer solchen Störung macht es nichts aus, andere zu kränken, zu belügen, zu mißhandeln oder zu bestehlen.
Manchen macht dies sogar Spaß. Sie quälen Tiere, ihre Kinder und Frauen, Schüler, Untergebene, Gefangene oder Patienten, erniedrigen sie oder machen sie in Gegenwart anderer schlecht. Sie amüsieren sich über die psychischen und körperlichen Leiden anderer und sind oft fasziniert von Gewalt, Waffen, Krieg, Verwundungen und Folter. Manchmal lügen sie, nur um einen Menschen damit in Schwierigkeiten zu bringen. Manche demonstrieren ihre Macht, indem sie die Freiheiten ihrer Angehörigen beschneiden, z.B. indem sie ihre Frau nicht alleine aus dem Haus gehen lassen oder ihrer Tochter verbieten, im Teenageralter zum Schulfest, Tanzkurs oder in die Disco zu gehen.
Viele setzen in ihren Beziehungen körperliche Gewalt ein, um ihren Partner zu unterwerfen oder sie schüchtern ihn durch Drohungen ein. Manche von ihnen können einem Partner nicht länger als ein Jahr treu sein. Als Elternteil sind viele nicht in der Lage, verantwortungsvoll zu handeln: sie sorgen nicht für eine ausreichende Ernährung und Hygiene ihres Kindes, gehen mit ihrem Kind auch bei ernsthaften Erkrankungen nicht zum Arzt, besorgen ihm keinen Babysitter, wenn sie für längere Zeit weggehen oder verschwenden das Haushaltsgeld für eigene Zwecke. Manche verhalten sich rücksichtslos gegen sich und andere, indem sie sich betrunken ans Steuer setzen oder mit dem Auto rasen.
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Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden