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12  Sexuelle Probleme und Störungen       Marion Reinhold 1994

 

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Neben Beziehungsproblemen und Depressionen gehören sexuelle Störungen zu den häufigsten Folgeproblemen nach sexuellem Mißbrauch. Allerdings kommen die wenigsten Frauen aus diesem Grund zu mir in Psycho­therapie. Eine lustvolle und befriedigende Sexualität zu entwickeln, ist für viele meiner Patientinnen zunächst ein zu weit entferntes Ziel angesichts der anderen schweren psychischen Störungen, unter denen sie leiden. Es ist nicht sinnvoll, sich mit sexuellen Problemen zu befassen, solange die Betroffenen kein stabiles Selbstwert­gefühl haben und sich Sorgen um ihre Sicherheit und ihr Überleben machen. 

Nicht alle Frauen sind durch ihren sexuellen Mißbrauch so schwer geschädigt und einige haben gegen Ende ihrer Psychotherapie den Wunsch, an ihren sexuellen Problemen zu arbeiten. Die beiden amerikanischen Psychotherapeutinnen Wendy MALTZ und Beverly HOLMAN schildern, daß manche Frauen dabei von dem Wunsch getrieben werden, sich zurückzuholen, was ihnen der Mißbraucher wegnahm, nämlich ihre sexuelle Unschuld. Eine Frau erklärte ihnen das so: »Ich will mich beim Sex gut fühlen. Es ist meine Art, die Macht meines Vaters über mich zu brechen. Das, was er mir für mein sexuelles Zusammensein mit einem zukünftigen Partner beibrachte, will ich nicht haben.«

Welche sexuellen Störungen treten auf? 

Die folgenden Beispiele geben einen ersten Vorgeschmack, wie vielfältig und wie beeinträchtigend die Probleme sein können, die Frauen durch sexuellen Mißbrauch entwickeln.

LENA wird von dem Geruch und Anblick von Samenflüssigkeit regelmäßig so übel, daß sie erbrechen muß. Sie hatte als Kind ihren älteren Bruder mit dem Mund befriedigen müssen.

MARIANNE bringt es zur Weißglut, wenn ihr Freund ihr Komplimente über ihren schönen Busen macht oder sagt, was er an ihrem Körper sexuell anziehend findet. Sie fühlt sich dann von ihm auf ähnliche Weise sexuell bedrängt und benutzt wie früher von ihrem Onkel. Daher reagiert sie auf diese Bemerkungen sehr aufbrausend und empört, so daß sich ihr Freund vor den Kopf gestoßen fühlt.

KATHARINA ekelt sich derart vor ihrem eigenen Körper, daß es ihr nicht möglich ist, sich selbst ohne Handschuhe anzufassen. Sie hat schon vor Jahren den Kontakt zu Männern aufgegeben, da sie keinen Mann gefunden hat, der bereit wäre, ohne Sex mit ihr zu leben.

IRIS hat ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper. Sie hat oft den Eindruck, schmutzig zu sein und zu stinken. Daher duscht sie sich mehrfach am Tag und kann nur reichlich parfümiert unter Menschen gehen.

 

In einer Studie fand man, daß 75% der Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, Angst vor Sex haben. Angst vertreibt alle Lust, hemmt die sexuelle Erregbarkeit und führt so zu unterschiedlichen sexuellen Funktions­störungen. Auslöser für die Angst können all die Dinge sein, die die Frau beim Sex sieht, hört, fühlt, riecht oder schmeckt und die sie erinnern an das, was sie beim sexuellen Mißbrauch sah, hörte, fühlte, roch oder schmeckte; das kann sein beim

SEHEN: den eigenen Körper nackt sehen, besonders die eigenen Brüste und das Schamhaar; den Körper des Partners nackt sehen, besonders den steifen Penis, sein Schamhaar oder die Samenflüssig-keit; liebkosende oder sexuell begehrende Blicke des Partners usw.

HÖREN: ein bestimmter Tonfall des Partners, wenn er die Frau zum Sex animieren will und sich dabei ähnlich anhört wie der Mißbraucher; Geräusche beim Sex; Stöhnen des Mannes usw.

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FÜHLEN: unerwartetes liebkosendes Streicheln des Partners im Alltag; leidenschaftlich geküßt zu werden; Zungenküsse; die Hände des Partners, seine Zunge oder seinen Penis spüren; leidenschaftliche Berührungen, die die sexuelle Erregtheit des Partners spürbar machten; Bisse; Geschlechts­verkehr und alle Formen sexueller Aktivitäten, die die Frau beim sexuellen Mißbrauch erlebte; eigene Lustempfindungen und sexuelle Erregung der Frau, wenn diese sie an ihren sexuellen Mißbrauch erinnern usw.

RIECHEN: der Geruch von Rasierwasser oder von Alkohol kann die Frau an den angetrunkenen Mißbraucher erinnern; Gerüche von Schweiß-, Samenoder Scheidenflüssigkeit usw.

SCHMECKEN: Geschmack von Schweiß, Samen- oder Scheidenflüssigkeit oder Urin usw.

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Die durch diese harmlosen Sinneswahrnehmungen ausgelösten Angstreaktionen können die Sexualität auf unterschiedliche Weise beeinträchtigen und sollen im folgenden beschrieben werden.

 

<Flashbacks> 

 

MARLENE kann nur Sex mit ihrem Mann haben, solange sie dabei das Gefühl der Kontrolle hat. Sobald Marlene beim Sex das Gefühl bekommt, ihr Mann übernehme die Führung, gerät sie in Panik. Sie fühlt sich dann von ihrem Mann sexuell bedrängt und benutzt, was Erinnerungen an ihren sexuellen Mißbrauch auslöst und Angst, Ekel und Übelkeit hervorruft, so daß ihr jegliche sexuelle Lust vergeht. Obwohl sie ihren Mann liebt und mit ihm Sex haben möchte, hat sie in solchen Momenten nur noch den Wunsch, in Buhe gelassen zu werden. Sie fährt dann ihren Mann ziemlich barsch an und lehnt jede seiner Berührungen ab.

 

Was hier passiert, bezeichnet man als Flashback. Flashbacks sind unvorhersagbar und unkontrollierbar auftretende und sehr lebhafte Rückblenden in den früher durchlebten sexuellen Mißbrauch, die bevorzugt beim Sex auftreten. Meist ist es irgendeine Kleinigkeit, die die Frauen an ihren sexuellen Mißbrauch erinnert und sie derart stark in die vergangene traumatische Situation zurückversetzt, daß sie die Gegenwart nicht mehr richtig wahrnehmen können. 

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Sie verwechseln dann oft ihren Partner mit dem Mißbraucher und fühlen sich von ihm bedroht und vergewaltigt. Aus Verzweiflung und Panik fangen manche Frauen an zu weinen, zu schreien oder wild um sich zu schlagen. Andere Frauen verfallen in eine Schreckstarre und sind unfähig, die Situation zu beenden, weil ihnen dies als Kind auch nicht möglich war.

 

Fehlende sexuelle Erregung 

 

HEIDRUN   Wenn es nach Heidrun ginge, würde sie am liebsten ganz auf Sex verzichten. Seit ihrem sexuellen Mißbrauch ist Sex auch in ihren besten Zeiten immer automatisch mit Scham-, Schuld- und Angstgefühlen verbunden, so daß sie selten sexuell erregt wird. Selbst die Zärtlichkelten beim Vorspiel kann Heidrun nicht genießen, weil bereits da die starke Abneigung gegen das, was folgen wird, ihre Gefühle beherrscht. Mit ihrem Mann schläft sie nur, um ihm einen Gefallen zu tun. Für sie selbst aber ist es eine Tortur. Da sie keine sexuelle Lust verspürt, zeigt auch ihr Körper keine sexuelle Erregung. So bleibt ihre Scheide beim Geschlechtsverkehr trocken, was zu unangenehmen und teilweise schmerzhaften Empfindungen führt. Ihrem Mann erzählt sie davon aber nichts, weil sie sich ihrer sexuellen Schwierigkelten schämt.

 

Die durch die Erinnerung an den sexuellen Mißbrauch hervorgerufenen Gefühle von Angst, Ekel, Scham oder Schuld machen es vielen Frauen schwer oder sogar unmöglich, Sex zu genießen. Angst und sexuelle Lust sind so große gefühlsmäßige Gegensätze, daß sie genausowenig zusammenpassen wie z. B. Freude und Wut. Auch beim Sex überdeckt das unangenehme Gefühl meist das angenehme. Für Frauen, die bei sexuellen Kontakten Angst oder Ekel erleben, ist Sex eine unangenehme Pflichtübung, die sie aus falsch verstandener Rücksicht und Zuneigung zum Partner ab und zu mitmachen, sonst aber eher zu umgehen versuchen. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen haben die meisten Betroffenen kein Interesse an einem langen Vorspiel, sondern möchten die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Manche Frauen helfen sich, diese belastenden sexuellen Begegnungen einigermaßen durchzustehen, indem sie wie früher ihre Gefühle abschalten oder geistig abwesend sind. Dies geschieht oft ganz automatisch.

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Dadurch wird dann auch die sexuelle Stimulation gar nicht wahrgenommen, und die Frauen können trotz der Bemühungen ihres Partners sexuell nicht erregt werden. Manche Frauen fühlen sich beim Sex ihrem Partner gegenüber automatisch so ohnmächtig und hilflos, wie sie es als Kind gegenüber ihrem Mißbraucher waren. Dadurch sind sie blind für ihre Möglichkeiten, den Partner zu beeinflussen und beim Sex mitzubestimmen. Sie geben ihm deshalb auch keine Anleitung, welche Art von Berührung und Stimulation ihnen gut tut, sie sexuell erregt und welche eher störend sind.

 

Schmerzhafter Geschlechtsverkehr

Einige Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, erleben beim Geschlechtsverkehr Schmerzen in der Scheide. Dies läßt sich folgendermaßen erklären: Wenn Frauen durch Sex an ihren sexuellen Mißbrauch erinnert werden, entwickeln sie oft Angst, Ekel, Scham oder Schuldgefühle, die jegliche sexuelle Lust unmöglich machen. Aufgrund der mangelnden sexuellen Erregung bildet ihre Scheide zuwenig Gleitflüssigkeit, so daß es durch die trockene Reibung zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr kommt. Bei manchen Frauen entstehen die Schmerzen beim Geschlechtsverkehr auch dadurch, daß sich als Folge von Angst, Ekel, Scham und innerer Abwehr beim Sex die Muskeln ihres gesamten Körpers verspannen. Auch die Scheidenöffnung ist davon betroffen, d.h. sie ist viel enger als gewöhnlich, so daß der Geschlechtsverkehr schmerzhaft verläuft.

 

Scheidenkrampf

Der Muskel am Scheideneingang kann sich beim Sex so verkrampfen, daß der Penis nicht eingeführt werden kann. Man nennt dies auch Vaginismus. Diese Verkrampfung ist ein Reflex der Scheide auf jedes Eindringen. Dies kann von der Frau nicht kontrolliert werden und macht daher auch oftmals Untersuchungen beim Frauenarzt unmöglich. Der Körper versucht sich damit vor einem angsterregenden und ungewollten Geschlechtsverkehr zu schützen.

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ULLA, die als Kind sexuell mißbraucht wurde, reagiert auch als Erwachsene auf sexuelle Berührungen mit innerer Abwehr und körperlichen Verspannungen. Bei ihrem ersten Geschlechtsverkehr verkrampft sich ihre Scheide derartig, daß der Penis gar nicht erst eingeführt werden kann. Daraufhin sucht sie einen Frauenarzt auf, der ihr zur operativen Entfernung ihres Jungfernhäutchens rät. Als daraufhin aber der Geschlechtsverkehr immer noch nicht möglich ist und sie deswegen Hilfe bei dem zuständigen Arzt sucht, ist dieser ziemlich aufgebracht. Ohne sie darauf vorzubereiten drückt er ihr als Beweis, daß dies nicht sein könne, ziemlich grob einen Stab in Penisgröße in die Scheide. Ulla fühlt sich durch dieses Verhalten ihres Arztes gedemütigt und vergewaltigt. Ihr Vaginismus besteht trotz oder gerade wegen dieses Erlebnisses weiter. Nach diesem Erlebnis hat Ulla Angst vor gynäkologischen Untersuchungen und vermeidet es, zum Frauenarzt zu gehen.

 

Wenn der Körper <nein> sagt

Wie wir in den vorangehenden Kapiteln des Buches gesehen haben, achten viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, zuwenig auf ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, ihre Mitmenschen zufriedenzustellen. Daher getrauen sich manche Frauen nicht, dem Partner ihre Abneigung gegen Sex mitzuteilen und sich ihm sexuell zu verweigern. In solchen Fällen übernimmt dann manchmal der Körper dieses Neinsagen, indem er beim Sex nicht funktioniert.

 

MICHAELA  Obwohl sich Michaela alle Mühe gibt, ihrem Mann zuliebe beim Sex gut zu funktionieren, wird sie doch nie ausreichend sexuell erregt, so daß ihre Scheide beim Sex meist trocken bleibt. Den Geschlechtsverkehr erlebt sie oft als unangenehm und schmerzhaft, so daß sie keinen Höhepunkt erreicht. Da Michaela ihren Mann sexuell zufriedenstellen will, spielt sie ihm regelmäßig einen Orgasmus vor. Mit der Zeit aber treten bei ihr immer häufiger Unterleibsbeschwerden auf wie z.B. Blasen- und Scheiden­entzündungen sowie Verwachsungen, die operativ entfernt werden müssen und Geschlechts­verkehr immer wieder unmöglich machen.

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Auch Vaginismus kann man als ein Nein des Körpers zum Sex bzw. zum Geschlechtsverkehr verstehen. Wenn der Körper streikt, können die Frauen von ihren Partnern meist mehr Verständnis erwarten, als wenn sie offen sagen, daß sie keinen Sex haben wollen. Sexuelle Störungen und Unterleibserkrankungen können also auch einen Nutzen für die Frauen haben. Dies ist den betroffenen Frauen selten bewußt, weil sie unter ihrem sexuellen Nichtfunktionieren leiden, sich als Frau oft minderwertig fühlen oder fürchten, ihren Partner zu verlieren.

 

Fehlender sexueller Höhepunkt

KERSTIN hat keine Probleme, sexuell erregt zu werden, solange sie ihre Partner so aussucht, daß sie sich ihnen kräftemäßig gewachsen fühlt. Auf diese Weise kann sie ihre Angst, einem Mann wehrlos ausgeliefert zu sein, gut unter Kontrolle halten. Da sie aber trotzdem das Gefühl nicht los wird, ständig auf der Hut sein zu müssen, kommt sie beim Sex nie zum Höhepunkt. Durch den sexuellen Mißbrauch und andere enttäuschende Erfahrungen mit Männern hat sie Schwierigkelten, ihrem jeweiligen Partner ganz zu vertrauen.

So wie Kerstin geht es auch manchen anderen Frauen. Sie werden zwar sexuell erregt, erreichen aber trotz der langanhaltenden und nach ihren Wünschen zugeschnittenen Stimulation keinen sexuellen Höhepunkt. Instinktiv haben sie Angst davor, auch nur für einen Moment die Kontrolle aufzugeben. Sich in den sexuellen Höhepunkt hineintreiben zu lassen, setzt ein großes Vertrauen zum Partner voraus. Dies ist aber nach dem Vertrauensbruch, den sie durch den Mißbraucher erlebten, besonders erschwert. Darum können manche Frauen einen sexuellen Höhepunkt nur bei der Selbstbefriedigung erreichen. Andere müssen ihre Angst und ihr Mißtrauen mit Alkohol betäuben, um sich beim Sex hingeben zu können. Selbst einem extrem geduldigen, rücksichtsvollen und einfühlsamen Partner, der seiner Frau die alleinige Führung im Sex überläßt und sich ganz nach ihren Wünschen richtet, wird es erst nach längerer Zeit gelingen, ihr Vertrauen zu gewinnen.

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Sexuelle Unzufriedenheit und Unlust

MONA kommt relativ leicht zum Höhepunkt, erlebt diesen aber weder beim Geschlechtsverkehr noch bei der Selbstbefriedigung als besonders angenehm und erfüllend. Da sie die körperlichen Veränderungen und Gefühle der sexuellen Erregtheit erstmals beim sexuellen Mißbrauch erlebte, hat sie als Erwachsene Schwierigkeiten, diese zu genießen. Das kommt teilweise daher, daß sie durch ihre sexuelle Erregtheit an die unerfreulichen Empfindungen ihres sexuellen Mißbrauchs erinnert wird. Außerdem ruft das Gefühl sexueller Erregtheit in Mona Schuldgefühle hervor. Weil sie während des sexuellen Mißbrauchs sexuell erregt wurde, unterstellt sie sich, daß sie den sexuellen Mißbrauch vielleicht selbst gewollt hat. Sexuelle Lust ist deshalb für Mona ein Hinweis auf ihre eigene Verdorbenheit und Schlechtigkeit.

Dies ist ein Problem, das auch bei anderen Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, öfter auftritt. Es gibt aber auch noch andere Gründe, warum Frauen nach sexuellem Mißbrauch öfter sexuell unzufrieden sind als andere Frauen, auch wenn sie keine erkennbaren Probleme mit dem Höhepunkt, der Erregung oder der sexuellen Lust haben. Ihre Unzufriedenheit kann sich auf die Häufigkeit, die Zeit, den Ort oder die Art der sexuellen Begegnung richten oder einfach darauf, daß sich ihr Partner insgesamt zu wenig Mühe um sie macht. Oft spiegelt sich im Sex das überdeutlich wider, was in der gesamten Partnerschaft schiefgeht. Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, neigen aufgrund ihres geschwächten Selbstwertgefühls dazu, sich wenig liebevolle Partner auszuwählen. Diese sind dann oft nicht bereit, auf die Bedürfnisse der Frauen einzugehen.

 

SIMONE hätte gern mehr Sex mit ihrem Mann und leidet darunter, daß er sich so häufig dem sexuellen Kontakt entzieht. Sie leidet darunter, daß ihr Mann ihr so wenig Aufmerksamkeit schenkt und insgesamt sehr sparsam mit seiner Zuwendung ist. Meist arbeitet er bis spät in die Nacht. Kommt er dann nach Hause, möchte er in Buhe gelassen werden. Wenn seine Frau trotzdem das Gespräch mit ihm sucht, wird er böse und beschimpft sie als dumm und nicht normal, so daß sich Simone verletzt von ihm zurückzieht. Da Simone aufgrund ihres sexuellen Mißbrauchs erlebt hat, daß Männer sehr stark am Sex interessiert sind, versucht sie sich die in ihrer Ehe fehlende Liebe und Zärtlichkeit über den Sex zu holen. Am liebsten hätte sie jeden Tag Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann, was diesem aber zuviel ist.

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Simones Problem ist kein Einzelfall. Eigentlich braucht und sucht sie Zuwendung und nicht Sex. Da sie die von ihrem Mann nicht in ausreichendem Maß erhält, muß sie sich dafür in ihrer Ehe prostituieren. Für manche Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, ist Sex die einzige Form der Zuwendung, die sie in ihrem Leben kennengelernt haben. Da sie nicht wissen, auf welche Weise sie sich diese sonst noch beschaffen könnten, suchen sie ständig sexuelle Begegnungen. Aber die machen auf Dauer nicht wirklich zufrieden, weil sie nur notdürftiger Ersatz sind.

Andere Frauen haben genau das entgegengesetzte Problem: Sie leiden darunter, daß ihr Partner öfter mit ihnen schlafen will als sie mit ihm.

 

ANGELIKA schläft täglich mit ihrem Ehemann, obwohl ihr Sex keinen Spaß macht. Ihm zuliebe macht sie das solange mit, bis er ihr ihre sexuelle Lustlosigkelt vorzuwerfen beginnt. Erst da entdeckt sie, daß ihr Mann sie zum Gebrauchsgegenstand herabwürdigt und rücksichtslos benutzt. Er behandelt sie, wie wenn sie ihm als Mensch völlig gleichgültig und jederzeit austauschbar wäre. Sie war an einen Mann geraten, der eine ziemlich egoistische Vorstellung von der Sexualität hat und unfähig ist, auf die sexuellen Wünsche und gefühlsmäßigen Bedürfnisse einer Frau einzugehen.

 

Viele Frauen machen im Sex ähnliche Erfahrungen wie Angelika. Da Frauen dazu erzogen wurden, sich den Wünschen von Männern unterzuordnen, können Männer auch ihre sexuellen Bedürfnisse viel leichter durchsetzen als Frauen. Viele Männer wollen auch beim Sex darüber bestimmen, was ihre Frau zu fühlen, zu tun und zu lassen hat. Nun stellen Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden und daher ein besonders schwaches Selbstwertgefühl haben, ihre eigenen Wünsche beim Sex noch viel öfter zurück als andere Frauen. Damit machen sie es sich selber schwer, Spaß am Sex zu entwickeln. Statt dessen bekommen ihre sexuellen Erlebnisse immer mehr Ähnlichkeiten mit sexuellem Mißbrauch: die Frauen haben Sex, obwohl sie ihn gar nicht wollen.

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Meistens werden die sexuellen Probleme, die Frauen aufgrund ihres sexuellen Mißbrauchs entwickelt haben, erst dann entdeckt, wenn die Partnerbeziehung bereits gefestigt und verbindlich geworden ist. Vorher werden sexuelle Schwierigkeiten noch als normale Anfangsprobleme hingenommen, wie sie in jeder Beziehung auftauchen. Außerdem haben die Frauen zu Beginn der Beziehung noch leichter die Möglichkeit, sexuelle Kontakte zu vermeiden. Manchmal bleiben die sexuellen Probleme der Frau auch hinter ihrem sehnlichsten Wunsch verborgen, alles zu tun, um den geliebten Mann für sich zu gewinnen. Wenn die Beziehung zu dem Mann dann sicher und verbindlicher geworden ist, entstehen leicht Situationen, die Frauen an ihren sexuellen Mißbrauch erinnern.

SUSANNE fühlt sich vor den Kopf gestoßen, als ihr Verlobter zunehmend deutlicher darauf drängt, mit ihr Sex zu haben und verärgert reagiert, als sie dies ablehnt. Der Vorfall erinnert sie daran, wie ihr Lieblingsonkel, bei dem sie sich als Kind immer so wohlgefühlt hat, eines Tages anfing, sie zu sexuellen Spielen zu ermuntern, die sie gar nicht mochte. Auch er war damals böse geworden, als sie sich gegen seine sexuellen Übergriffe zu wehren begann. Da sich Susanne nun von ihrem Verlobten auf ähnliche Weise sexuell bedrängt fühlt wie damals von ihrem Mißbraucher, begegnet sie ihm mit Unbehagen und Mißtrauen. Sie fühlt sich in seiner Gegenwart einfach nicht mehr sicher, obwohl er sich für sein Verhalten bei ihr entschuldigt.

 

Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, ordnen Männer, die ihre sexuellen Wünsche allzu deutlich zeigen, sehr schnell in die gleiche Schublade ein wie ihren Mißbraucher. Manchmal geschieht dies durchaus zu Recht. Einige Männer verhalten sich ähnlich wie Mißbraucher, wenn sie z.B. eine Frau auch dann noch sexuell bedrängen, wenn sie längst nein gesagt hat. Manchmal sind es aber auch die betroffenen Frauen selbst, die in dieser Hinsicht übertrieben reagieren, wenn sie z.B. selbst jene Männer als Vergewaltiger erleben, die ihre sexuellen Interessen auf eine angemessene und zurückhaltende Weise signalisieren. Solch extremes Selbstschutzverhalten ist meistens Folge extremer Verletzungen durch Männer in der Vergangenheit. Wenn Frauen mit einem Mann Sex haben, den sie auf die gleiche Stufe wie ihren Mißbraucher stellen, können sie dies kaum genießen. Was sind die Gründe, daß Frauen trotzdem mit diesen Männern zusammenleben und mit ihnen Sex haben? Die einen können sich in ihrem Minderwertigkeitsgefühl nicht vorstellen, daß sich auch ein rücksichtsvollerer und weniger

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sexgieriger Mann für sie interessieren könnte. Die anderen sind der Überzeugung, daß es keine liebevollen und einfühlsamen Männer gibt. Sie glauben, daß letztlich alle Männer Opfer ihres unkontrollierbaren Sexualtriebes sind und sich nicht anders verhalten können. In dieser übertriebenen Vorstellung steckt leider durchaus ein Stück Wahrheit, wie wir im folgenden sehen werden.

 

 

Männliche Sexualität — weibliche Sexualität

 

»Ich glaube nicht, daß Männer unter >Sex< dasselbe verstehen wie Frauen. Das sind zwei verschiedene Erfahrungen, die mit demselben Wort bezeichnet werden.« Das sind die Worte eines Mannes, den Phyllis CHESLER, vor etwa 10 Jahren zu seinem Leben als Mann befragte. Was er da ausspricht, ist eine Erkenntnis, die den meisten Frauen und Männern, aber auch vielen Psychotherapeuten zu fehlen scheint. Daß Männer unter Sex tatsächlich etwas anderes verstehen als Frauen, wird in vielen Dingen deutlich:

Das Geschäft mit der käuflichen Liebe läuft vorwiegend mit männlichen Kunden. Frauen scheinen trotz sexueller Aufgeklärtheit und zunehmender Kaufkraft vergleichsweise wenig Interesse an dieser Art von Sex zu haben. Wie kommt das? Für Frauen ist Sex immer deutlich mehr mit Verantwortung verbunden als für Männer. Wenn es zu einer ungewollten Schwangerschaft kommt, haben Frauen in der Regel mehr Scherereien damit als die Männer. Männer können sich eher um ihre Verantwortung beim Sex drücken: die meisten kümmern sich nicht um die Verhütung; manche drängen die Frau bei einer ungewollten Schwangerschaft zum Abbruch oder lassen sie mit ihrer schweren Entscheidung völlig allein; andere tun so, wie wenn sie die Pflege und Erziehung ihres Kindes nichts anginge. Sex mit einer Prostituierten befreit einen Mann vor jeglicher Verantwortung. Bei der käuflichen Liebe muß er sich nicht darum kümmern, ob die Frau Spaß am Sex hat. Da viele Männer ihren Teil der Verantwortung beim Sex der Frau aufzubürgen, können sie sich ihrer eigenen sexuellen Lust in einem Ausmaß widmen, wie das Frauen selten möglich ist.

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Während viele Frauen im Sex vorrangig nach persönlicher Intimität, Geborgenheit und Liebe suchen, verknüpfen einige Männer mit Sex auch das Bedürfnis zu erobern, zu unterwerfen oder einfach ihren Frust und ihren Ärger loszuwerden, den sie in ihrem Alltag angesammelt haben. Das wird besonders gut an den Worten eines Mannes aus Phyllis CHESLERSs Studie deutlich, der ihr folgendes erzählt: »Ich hasse meinen Job. Ich werde schlecht bezahlt und mache Knochenarbeit. Meine Wut kann ich nur dadurch unter Kontrolle halten, daß ich meine Frau ficke, sobald sich der Druck angestaut hat. Nachher bin ich dann weniger verspannt. Ich gehe mit einem der Jungen fischen und die Welt sieht schon ganz anders aus. Ich trinke dann auch weniger.« 

Dieser Mann gibt offen zu, daß er seine Frau als Ventil für seinen angestauten Ärger benutzt und Sex für ihn eine Möglichkeit ist, sein verletztes Selbstwertgefühl wieder aufzupolieren. Ich denke, daß dies kein Einzelfall ist, sondern eine typische Umgangsweise vieler Männer mit Schwächeren wiederspiegelt.

Auch die Pornoindustrie weiß, daß Männer Sex als Mittel der Selbstbestätigung benutzen. In Pornoheften und -filmen verkaufen sie den Männern die Illusion von Allmacht und Größe. Sie zeigen Männer in selbstherrlichen Posen, wie sie von Frauen wegen ihrer sexuellen Leistungskraft bewundert werden. Frauen dagegen werden häufig in erniedrigenden Situationen dargestellt und in manchen Pornos vergewaltigt und gequält.

Jan LIEVEN von der Aktion Jugendschutz beschreibt, wie sich die Inhalte von Pornoheften und -filmen in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert haben. Dabei wird sehr deutlich, wie die gezeigte Gewalttätig­keit in den Pornos mit den Jahren immer mehr zunahm. Zu Beginn der sechziger Jahre wurden alle Pornos noch »unter dem Ladentisch verkauft« und enthielten fast nur schlichte Bilder von nackten Frauen. Dann zeigte man bevorzugt Großaufnahmen der Geschlechtsteile und Bilder über alle möglichen Sexformen wie z.B. Sex zwischen Männern, Sex zwischen Frauen, Gruppensex, Mund- und Afterverkehr usw. Als nächstes folgte die sogenannte <Ersatzteil-Welle>, bei der anstelle des männlichen Gliedes Flaschen, Bananen oder andere Dinge in die Scheide der Frau regelrecht <eingetrieben> wurden. Hier gibt es bereits erste sadistische Untertöne. Dann kamen Darstellungen von Frauen dazu, die sich mit Tieren sexuell <vergnügten>. 

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Die nächste Neuheit bestand darin, daß Sex in Zusammenhang mit Prügel, Fesselungen, Auspeitschungen, Zerstückelungen von Menschen gezeigt und menschlicher Kot und Urin beim Sex als Mittel der Demütigung benutzt wurde. Schließlich wurden in die Pornos auch kleine Kinder einbezogen: man zeigte, wie Frauen mit fünfjährigen Jungen Selbstbefriedigung machen oder noch nicht geschlechtsreife Mädchen für Bordell-Kunden >vorbereitet< werden. Als letzte Variante tauchten in neuester Zeit die >Nazi-Pornos< auf, die angeblich wahre sexuelle Praktiken aus den Konzentrationslagern des Dritten Reiches darstellen sollen. 

 

Auffallend bei dieser Entwicklung ist, daß sich die Pornos extrem von einem wirklichkeitsgetreuen Sexleben entfernen und immer mehr zu außergewöhnlichen und abnormen Formen übergehen, die viel Ähnlichkeiten mit Grusel- und Horrorfilmen haben. In den meisten Pornofilmen und -geschichten fehlt die Beschreibung oder Darstellung partnerschaftlicher Beziehungen. Die Menschen scheinen dort nur aus Sexualität bzw. einem Geschlechtsorgan zu bestehen. Nichtsexuelle Eigenschaften und Interessen fehlen diesen dargestellten Personen. Es geht darum, mit möglichst vielen Geschlechtspartnern zu verkehren, wobei die gefühlsmäßige Intimität und Herzlichkeit völlig fehlt. 

Dargestellt wird eine Sexsucht, die nach Steigerung verlangt, um noch den alten anfänglichen Kitzel erzeugen zu können: immer mehr Partner, immer gewagtere sexuelle Spiele, immer ausgefallenere abnorme Praktiken, und vor allem immer mehr Gewalt. Gewalt wird in vielen Pornos als ein natürlicher Bestandteil der männlichen Sexualität dargestellt. 

Diese Pornofilme bleiben nicht ohne Wirkung auf die hauptsächlich männlichen Betrachter. In einer Studie von Diana RUSSELL in San Francisco gaben 10% der befragten Frauen an, daß sie schon einmal von einem Mann aufgefordert worden seien, das mit ihm zu machen, was er zuvor in einem Pornoheft oder -film gelesen oder gesehen hatte. Eine Frau berichtete ihr: »Er ging in Pornofilme, dann kam er heim und sagte: >Ich habe das in einem Pornofilm gesehen, laß es uns versuchen.< Ich fühlte mich wirklich ausgebeutet, so als sei ich in eine Schablone gepreßt.« Eine andere Frau erzählte: »Ich war bei ihm zu Hause. Er versuchte oralen Geschlechtsverkehr mit mir zu machen. Er sagte, das hätte er in einem Film gesehen und es sei spaßig, Frauen seelisch und körperlich zu quälen.« 

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Pornos schaden nicht nur dadurch, daß sie Männer zur Nachahmung von Gewaltpornos anregen, sie vermitteln Männern auch ein völlig falsches Bild über Sexualität. Die kalifornischen Psychologieprofessoren FESHBACK und MALAMUTH fanden heraus, daß Männer, die durch einen Vergewaltigungsfilm sexuell erregt worden waren, sich vorstellen konnten, auch einmal eine Frau zu vergewaltigen, wenn sicher wäre, daß sie dafür nicht bestraft würden. Oftmals zeigen Pornos Frauen, die sich zunächst noch wehren, die Vergewaltigung aber letztlich doch genießen. Solche Filme geben Männer die Vorstellung, Frauen wollten eigentlich gewaltsam >erobert< werden. Durch das häufige Ansehen von Pornofilmen verlieren Männer ihre Fähigkeit, sich in Frauen einzufühlen und fair zu bleiben. Im Gegensatz zu vielen Männern reagieren Frauen auf solche Gewaltpornos von vornherein ablehnend und erschreckt, da sie sich automatisch in die Rolle des Opfers hineinversetzen.

 

Obwohl sie vorgeben, ein großes Interesse an Sex zu haben, verfügen die meisten Männer nur über ein sehr geringes Wissen in diesem Bereich. Viele denken über ihren eigenen Körper und ihre eigenen Erfahrungen nicht hinaus. Darum glauben viele Männer, was ihnen Spaß mache, müsse auch Frauen und Kindern gefallen. Viele Männer beziehen ihr Wissen über Sex nicht aus ihren Erfahrungen mit Frauen und damit aus erster Hand, sondern sie holen es sich aus wirklichkeitsfremden Pornos und dem sexuellen Jägerlatein ihrer Geschlechtsgenossen. Angesichts dieser Wissenslücken dürfen Frauen ihren Männern im Sex nicht mehr die Führung überlassen. Statt dessen sollten Frauen versuchen, ihren Partnern ihre Vorstellung vom Sex und von der Partnerschaft nahezubringen, um diese extreme Auseinanderentwicklung von männlicher und weiblicher Sexualität zu stoppen. 

Dies gilt im besonderen Maß auch für die Frauen, die unter den Folgen sexuellen Mißbrauchs leiden. Sie haben am eigenen Leib erlebt, was geschieht, wenn Männer befreit von jeglichem Verantwortungsgefühl ihre sexuellen Machtphantasien ausleben. Für die psychische Gesundheit und Stabilität dieser Frauen ist es entscheidend, daß sich solche Gewalterfahrungen mit Männern nicht mehr wiederholen. Nach diesen Ausführungen ist sicher deutlich geworden, warum manchmal auch Frauen, die nicht als Kind sexuell mißbraucht wurden, Angst vor Männern und Angst vor Sex haben.

 

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Auflösung der sexuellen Probleme

 

Wie können Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, ihre Angst vor Sex abbauen und Sex als etwas Schönes erleben? Das ist nur möglich, wenn Frauen so eindeutig zwischen der Mißbrauchssituation der Vergangenheit und der partnerschaftlichen Sexualität in der Gegenwart unterscheiden können, daß sie beides nicht miteinander verwechseln. Um dies zu erreichen, müssen beide Partner ihren Teil dazu beitragen. Zunächst einmal muß die Frau offen und ehrlich mit ihrem Partner über ihre sexuellen Probleme sprechen, statt sie vor ihm zu verbergen. Sie muß ihm erklären, daß sie sich, geprägt durch die Erlebnisse ihres sexuellen Mißbrauchs, beim Sex mit ihm unbehaglich fühlt, obwohl sie ihn liebt. Sie kann ihrem Partner helfen, mit dieser unerfreulichen Wahrheit zurechtzukommen, indem sie ihm ihre Zuneigung verstärkt auf nichtsexuelle Weise zeigt.

Nicht alle Männer sind in der Lage, angemessen auf ihre Frau einzugehen, wenn sie von dem sexuellen Mißbrauch erfahren. Diese schwierige Situation erfordert viele Verhaltens- und Denkweisen, die Männer aufgrund ihrer Geschlechtsrolle oft nicht ausreichend gelernt haben, wie z. B. sich gut in die Partnerin einzufühlen, Fürsorge und Anteilnahme für sie aufzubringen und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Außerdem sind die wenigsten Männer auf die psychischen Folgen sexueller Gewalterfahrungen vorbereitet, da das Allgemeinwissen in der Bevölkerung darüber viel zu gering ist. Wenn Männer vom sexuellen Mißbrauch ihrer Frau erfahren, reagieren sie deshalb oft wenig hilfreich.

 

Als SILKE ihrem Ehemann nach einigen Ehejahren mitteilt, daß sie am Sex keinen Spaß hat, weil sie als Kind von einem Nachbarn sexuell mißbraucht wurde, richtet sich seine ganze Entrüstung und sein Ärger gegen seine Frau. Er macht ihr die schlimmsten Vorwürfe und beschimpft sie, weil er ihr unterstellte, sie müsse diesen Mann damals verführt haben. Er ist sichtbar tief in seinem Mannesstolz verletzt und fühlt sich von ihr hereingelegt, weil sie ihm nicht vor der Heirat erzählt hat, welch eine entehrte und mit Schande beschmutzte Frau sie ist. Silke war von der Reaktion ihres Mannes tief betroffen und verletzt. Ihre Schuldgefühle, die sie bisher mit Mühe unter Kontrolle halten konnte, kommen nun in Form von Depressionen zum Vorschein.

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Christas Ehemann reagiert auf die Eröffnung seiner Frau, daß sie als Kind sexuell mißbraucht worden ist, ziemlich hilflos. Er sagt gar nichts darauf und wechselt abrupt das Thema. Dies ist für Christa wie ein Schlag ins Gesicht, weil es sie viel Mut gekostet hat, dieses Thema anzuschneiden.

IRIS hat Angst, ihrem Mann zu erzählen, daß ihr Vater sie als Kind sexuell mißbraucht hat. Sie fürchtet, ihr Mann werde dann in seiner aufbrausenden Art den Vater zur Rede stellen, so daß auch die Mutter und ihre Geschwister von dem sexuellen Mißbrauch erfahren. Iris glaubt, der Vater werde diese peinliche Situation nicht ertragen und sich etwas antun.

Als MARGIT ihrem Mann erzählt, daß sie als Kind sexuell mißbraucht wurde und deshalb Sex nicht genießen kann, reagiert dieser gekränkt und zornig. Er meint, das könne doch gar nicht sein, das bilde sie sich sicher nur ein. Er zweifelt auch daran, daß Margit überhaupt sexuellem Mißbrauch ausgesetzt war und will, daß sie Ihm genau erzählt, was damals vorgefallen ist. Daß sie sich an vieles nicht mehr so genau erinnern kann und sich auch in scheinbare Widersprüche verwickelt, nimmt er als Beweis, daß sie den sexuellen Mißbrauch erfunden hat.

 

Aus Angst vor solchen und anderen Fehlreaktionen weihen viele Frauen ihren Partner gar nicht erst ein. Sie können dann auch ihrem Mann nicht erklären, warum sie Angst vor Sex haben oder bestimmte Körper­berührungen unangenehm finden.

Manche Männer können mit dem Wissen, daß ihre Frau als Kind sexuell mißbraucht wurde, nichts anfangen. Ihnen ist es unmöglich, die Angst und das Unbehagen ihrer Frau beim Sex nachzuempfinden. Sie verlangen dann ganz naiv von ihr, sie solle den sexuellen Mißbrauch jetzt endlich vergessen und durch Willensanstrengung wieder >normal< werden. Einige Männer erleben die sexuelle Enthaltsamkeit ihrer Frau als persönliche Kränkung: »Warum muß ich jetzt ausbaden, daß Du von Deinem Vater sexuell mißbraucht wurdest? Ich kann doch nichts dafür.« 

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Daraus kann schnell ein chronischer Ehekonflikt entstehen: der Mann kann nicht glauben, daß sexueller Mißbrauch dazu geführt haben soll, daß seine Frau keinen Spaß am Sex hat. Er hält dies für eine faule Ausrede und unterstellt seiner Frau, daß sie ihn nicht mehr liebe oder daß sie aus reiner Böswilligkeit nicht mit ihm schlafen wolle: »Sie will nur wieder mal ihren Kopf durchsetzen. Immer soll alles so laufen, wie sie es will.« 

Trotz aller Zurückweisungen versucht er seine Frau immer wieder zum Sex zu >verführen<. Dadurch fühlt sich die Frau in ihren Wünschen mißachtet und gekränkt und reagiert wütend auf seine sexuellen Annäherungsversuche. Der Partnerkonflikt spitzt sich immer mehr zu, weil beide Partner sich vom anderen schlecht behandelt fühlen und jeder dem anderen Böswilligkeit unterstellt. Wo liegt der Fehler? Vielleicht hat die Frau ihrem Mann nicht genau genug beschrieben, was bei ihr abläuft, welche Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen sie hat, wenn er sie auf eine bestimmte Weise anfaßt oder sie zum Sex drängt. Vielleicht hat sie auch nicht energisch mit Empörung auf das Nicht-wahrhaben-wollen und die Zweifel ihres Mannes reagiert. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber hat sich der Mann nicht genug bemüht, sich in seine Frau hineinzuversetzen und ihre Probleme und Gefühle verstehen zu wollen.

Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, sind in ihrem Vertrauen leicht zu stören. Es genügt bereits, wenn der Partner die Angst seiner Frau nicht versteht. Wenn er sie gar immer wieder ungeduldig mit seinen sexuellen Wünschen bedrängt, kann dies die Frau völlig aus dem psychischen Gleichgewicht bringen.

 

IDA liebt ihren Mann und ist sehr froh, ihn gefunden zu haben. In ihrem Leben gab es wenig Menschen, die ihr Zuneigung entgegengebracht haben. Der einzige Streitpunkt in ihrer Ehe ist die Sexualität. Für Ida ist jeder sexuelle Kontakt von Panik- und Ekelgefühlen sowie von quälenden Mißbrauchserinnerungen begleitet. Es ist ihr unmöglich, Sex zu genießen. Obwohl sie dies auch ihrem Mann erzählt hat, möchte er weiterhin mit ihr schlafen und droht mit Trennung, falls sie sich stur stelle. Aus Angst, ihren Mann zu verlieren, läßt Ida sich im betrunkenen Zustand ab und zu von ihm beschlafen. Wenn die Betäubung des Alkohols nachläßt, bekommt sie eine solche Wut, daß sie ihren schlafenden Mann überfällt und auf ihn einschlägt. Auch das ändert nichts am Verhalten ihres Mannes, der sie einfach als hysterisch abtut. 

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Da sie sich vor dem Alleinleben fürchtet, hat Ida gar nicht die Wahl, sich in ihrer Ehe für oder gegen Sex zu entscheiden. Daher fühlt sie sich durch Ihren Mann vergewaltigt. In ihrer Ehe wiederholt sich damit genau das, was sie schon während ihres sexuellen Mißbrauchs erlebte: für Zuwendung muß sie mit Sex bezahlen. Ida reagiert auf diese Lebenssituation, aus der sie sich nicht befreien kann, mit Panikanfällen, psychotischen Episoden, bedrohlichen Selbstverletzungen und wiederholten Selbstmordversuchen. Um sich aus dieser unbefriedigenden Lebenssituation befreien zu können, müßte Ida Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen. Dann erst könnte sie auf die Zuwendung ihres Mannes verzichten und sich von ihm trennen, falls er dann immer noch keine Rücksicht auf ihre Wünsche und Gefühle nehmen will.

 

Viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, vermeiden Sex, weil sie sich weitere Demütigungen und Enttäuschungen ersparen müssen, die sie psychisch nicht mehr verkraften könnten. Bei den Frauen, die einen liebevollen und fürsorglichen Partner haben, erscheint die Angst vor Sex unberechtigt und übertrieben.

 

RITA hat sich einen sehr rücksichtsvollen, einfühlsamen und geduldigen Partner ausgesucht, bei dem sie sich absolut darauf verlassen kann, daß er ihr Nein sofort akzeptiert. Thomas hat viel Verständnis dafür, daß Rita wegen ihres sexuellen Mißbrauchs massive Angstzustände beim Sex bekommt. Er ließ sich mit ihr ein, obwohl jeglicher Sex mit Rita bis heute unmöglich ist. Ihr kommt das manchmal unheimlich vor und sie meint immer, Irgendwann müsse doch sein sexueller Trieb durchbrechen. Doch Thomas beruhigt sie, indem er ihr sagt, daß sie für ihn das Wichtigste im Leben ist und nicht der Sex. Seinen sexuellen Trieb könne er jederzeit durch Selbstbefriedigung abreagieren und diese Möglichkeit werde ihm nie verlorengehen. Viel mehr Angst habe er da schon davor, ihre Liebe zu verlieren. Er habe lange suchen müssen, um eine Frau wie sie zu finden, von der er sich bis ins Innerste verstanden, geliebt und mit seinen Schwächen angenommen fühlt. Er würde auch dann mit ihr leben wollen, wenn er wüßte, daß sie nie miteinander Sex haben können. Rita kann das nicht glauben. Es ist wie im Märchen: Da ist jemand, der sie so liebt, wie sie ist und keinerlei Ansprüche an sie stellt. Das paßt überhaupt nicht zu ihren Erfahrungen, die sie sonst mit Menschen gemacht hat. Und so kommen ihr immer wieder Zweifel und Ängste, sobald sie mit dem Gedanken spielt, mit ihm Sex zu haben: 

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»Er wird mich sexuell genauso ausnutzen und meine Gefühle und Wünsche mißachten, wie alle Männer, die ich kannte, angefangen bei meinem Onkel und meinem Bruder bis hin zu meinem Ehemann. Die Männer sind doch alle gleich. Wenn sie sexuell in Fahrt gekommen sind, dann können sie nicht mehr aufhören. Dann werde ich ihm genauso wehrlos ausgeliefert sein wie beim sexuellen Mißbrauch oder bei meinen Vergewaltigungen in der Ehe.« Bita hat Angst, Thomas, auf den sie all ihre Hoffnungen gesetzt hat, könnte sie enttäuschen. Sie hat in ihrem Leben schon so viele Enttäuschungen mit Menschen einstecken müssen, daß sie eine weitere nicht mehr ertragen könnte.

 

Wenn Frauen beim Sex in Angst und Panik geraten, dann sind das die Folgen ihrer sexuellen Ohnmachts- und Gewalterfahrungen. Die Angst hat die Funktion, die Betroffenen vor weiteren traumatischen Erlebnissen zu bewahren. Da Angst ein sehr unangenehmer Gefühlszustand ist, den man gern vermeiden möchte, gehen viele Frauen Sex von vornherein aus dem Weg. Wenn eine Frau die sexuellen Annäherungsversuche ihres Partners erfolgreich zurückweist, weil sie Angst vor Sex hat, dann hat dies für die Frau zur Folge, daß ihre Angst zwar in diesem Moment wieder verschwindet, daß sie aber nicht überprüfen kann, ob ihre Angst wirklich berechtigt war. Das bedeutet, daß ihre Angst bei den folgenden sexuellen Annäherungsversuchen ihres Partners immer wieder auftauchen wird.

 

SITUATION ———>  VERHALTEN ——> FOLGEN ———>

  Partner macht sexuelle Annäherungsversuche => Frau lehnt Sex ab, weil sie Angst hat => Angst geht nur  kurzfristig zurück; kein Test, ob Angst vor Sex berechtigt ist

 

Dieses Problem kann nur durch das richtige Verhalten beider Partner allmählich gelöst werden. Dazu müssen sich die Frauen angewöhnen, die angsterregenden sexuellen Situationen sehr genau unter die Lupe zu nehmen und zu überprüfen, inwieweit sie dabei wirklich Anlaß haben, sich von ihrem Partner bedroht zu fühlen. Wenn sie für ihre Angst keinen vernünftigen Grund finden, können sie sich dies selbst immer wieder vor Augen führen: 

»Ich kann mich jetzt ruhig und sicher fühlen, denn ich habe mit meinem Partner Sex, weil ich es so will und nicht weil ich von ihm dazu gezwungen werde wie beim sexuellen Mißbrauch.« 

Je intensiver die Frauen beim Sex das Gefühl von Sicherheit und eigener Kontrolle haben, desto weniger werden sie diese Situation mit dem sexuellen Mißbrauch verwechseln. Das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle entsteht am ehesten dann, wenn Frauen selbstbewußt und unmißverständlich sagen können, wie sich ihr Partner beim Sex verhalten soll. Eine wesentliche Bedingung dafür ist, daß Frauen einen einfühlsamen und geduldigen Partner haben, bei dem sie sich hundertprozentig darauf verlassen können, daß er ihre Wünsche beim Sex ernstnimmt, sich entsprechend rücksichtsvoll verhält und die Frau nicht dominiert. 

Die Frau muß das Gefühl haben können, daß sie absolut frei darüber entscheidet, ob sie Sex hat oder nicht. Sie muß in der Lage sein, sexuelle Aktivitäten jederzeit auch wieder stoppen zu können. Dazu muß sie ihrem Partner auf körperlicher und gefühlsmäßiger Ebene vertrauen können. Das kann sie aber nur, wenn der Mann das Nein seiner Frau zum Sex immer voll und ganz akzeptiert, statt sie durch Drohungen, Liebesentzug oder auch durch dezente Hinweise auf seine sexuellen Bedürfnisse unter Druck zu setzen. Auf diese Weise kann sowohl das Vertrauen der Frau in ihren Partner als auch ihr Selbstvertrauen verbessert werden. Vertrauen zu sich und zu anderen aber ist das beste Gegenmittel gegen Angst. 

Deshalb haben auch Rita und Thomas besonders gute Chancen, ihre sexuellen Schwierigkeiten eines Tages in den Griff zu bekommen. Wenn Thomas weiterhin so geduldig und beruhigend auf Ritas Ängste und Zweifel reagiert, kann Rita mit der Zeit immer mehr Vertrauen zu ihm entwickeln und sich dann irgendwann auf folgende Streichelübung einlassen: Rita und Thomas streicheln sich gegenseitig auf sexuell erregende Weise und brechen auf ein Signal von Rita wieder ab. Auf diese Weise kann Rita testen, ob Thomas in der Lage ist, jederzeit mit dem Sex aufzuhören, wenn Rita nicht mehr weiter will. Dieses wird sie mehrfach wiederholen müssen, um das Gefühl zu entwickeln, daß sie sich auch beim Sex ganz auf Thomas verlassen kann. Dies ist ein langer Weg, der die Beziehung auf eine harte Bewährungsprobe stellt, sie gleichzeitig aber auch fördert und intensiviert.

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 Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden