13 Angststörungen 14
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Die meisten Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, reden nicht gern über diese Erlebnisse, weil das für sie ziemlich belastend ist. Durch das Sprechen werden die Erinnerungen an den sexuellen Mißbrauch so lebendig, daß sie Scham, Angst, Ekel, Trauer und Wut auslösen. Viele Frauen geraten bereits durch eine kurze Erinnerung an ihren sexuellen Mißbrauch in einen Zustand innerer Unruhe, Spannung, Nervosität oder Angst. Die meisten Frauen bemühen sich, diesen Gefühlszustand vor ihren Mitmenschen zu verbergen, was aber nicht immer gelingt. Während manche Frauen deutlich verwirrt, hilflos und verletzlich erscheinen, fallen andere dadurch auf, daß sie sich gereizt oder mißtrauisch verhalten und schnell ärgerlich werden.
Sobald NINA einen Mann sieht, der sie an ihren Mißbraucher erinnert, fühlt sie sich äußerst unbehaglich. Innerlich steht sie dann unter einer großen Anspannung und Nervosität. Auch körperlich fühlt sie sich sehr unwohl, well ihr plötzlich das Blut in den Kopf schießt, ihr abwechselnd heiß und kalt wird, sie stark schwitzt, sich .wie erstarrt fühlt, Atembeklemmungen und starkes Herzklopfen bekommt. Sie ist dann oft geistesabwesend, nimmt gar nicht mehr richtig wahr, was um sie herum passiert oder was man zu ihr sagt, und verhält sich manchmal ziemlich unpassend. Es dauert dann einige Zelt, bis sie ihre Fassung wiederfindet.
Die Reaktionen, die Nina da auf körperlicher Ebene zeigt, ist in der Psychologie als Alarmreaktion bekannt. Da man damit die Entstehung von Angststörungen und von psychosomatischen Störungen erklären kann, unter denen einige Frauen nach ihrem sexuellen Mißbrauch leiden, soll sie hier etwas genauer beschrieben werden.
Was ist eine Alarmreaktion?
Eine Alarmreaktion wird dann ausgelöst, wenn ich Streß, körperlichem Schmerz, einer angsterregenden Situation oder einer quälenden Erinnerung, also einem intensiven und längeranhaltenden unangenehmen Reiz ausgesetzt bin. Sobald ich merke, daß ich mich in der Gefahr befinde, körperlich oder seelisch verletzt zu werden, bekomme ich ein Gefühl von Nervosität, Unruhe oder Angst. Mein Gedanke: »Jetzt wird es gefährlich für mich« ist begleitet von einer sofortigen Mobilmachung all meiner körperlichen Kräfte.
Noch bevor ich planen kann, wie ich mich dieser unangenehmen Situation entziehen und mich in Sicherheit bringen kann, fängt mein Körper schon an, sich auf einen möglichen bevorstehenden Kampf oder eine Flucht vorzubereiten. Dazu verändern sich schlagartig verschiedene Körperfunktionen:
Das Herz schlägt schneller.
Die Atmung ist beschleunigt und die Bronchien in den Lungen werden erweitert, damit mehr Sauerstoff ins Blut aufgenommen werden kann.
Die Blutverteilung verändert sich, indem sich die Blutgefäße der Haut verengen. Das Blut wird jetzt vor allem für die Versorgung der Skelettmuskeln gebraucht, mit denen unser Körper bewegt wird. Darum wird die Durchblutung der Haut auf das Notwendigste beschränkt. Die Haut ist darum meist blaß und kühl. Das hat auch den Vorteil, daß bei einer möglichen Verletzung weniger Blut verloren geht.
Die Schweißdrüsen erzeugen mehr Schweiß, um den Körper im Fall von Kampf oder Flucht vor einer Überhitzung zu schützen, denn durch die Feuchtigkeit auf der Haut wird der Körper etwas abgekühlt.
Die Muskelspannung ist erhöht, damit die Muskeln möglichst schnelle und kraftvolle Bewegungen ausführen können.
Auch die Veränderungen im Stoffwechsel und Hormonhaushalt erhöhen die körperliche Leistungsfähigkeit.
Dagegen werden automatisch alle jene Körperfunktionen gedämpft, die für einen Kampf oder eine Flucht nicht wichtig sind, weil sie der Verdauung, der körperlichen Erholung, der Heilung, dem Wachstum oder dem Vergnügen dienen. So kommt es zur:
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Hemmung des gesamten Verdauungssystems (Speicheldrüse, Magen, Darm, Bauchspeicheldrüse),
Hemmung der Entgiftungs- und Ausscheidungsorgane (Leber, Niere, Enddarm, Blase),
Hemmung der sexuellen Erregbarkeit und Lust,
Hemmung der Schilddrüsenfunktion und des dadurch angeregten Körperwachstums.
Alle diese Veränderungen im Körper spüre ich natürlich. Ich merke, daß mein Herz rast, mir der kalte Angstschweiß ausbricht, mein Mund trocken wird, ich einen Kloß im Hals habe, meine Knie zittern oder ich vor Schreck ganz starr bin. Entsprechend fühle ich mich innerlich wie unter einer großen Anspannung stehend, bin unruhig und nervös, weil ich zuviel Energie in mir habe, die darauf drängt, abreagiert zu werden. Ich bin hellwach und in Gedanken suche ich fieberhaft, wie ich aus der unangenehmen Situation am besten fliehen oder sie erfolgreich bekämpfen könnte. Wenn die körperliche Alarmreaktion und meine Angst aber extrem stark sind, kann es passieren, daß ich geistig wie gelähmt bin, so daß ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Diese Alarmreaktion, die man übrigens bei allen Säugetieren finden kann, soll Menschen ein schnelles Reagieren in Gefahrensituationen ermöglichen und ihre Überlebenschancen in einer bedrohlichen Umwelt verbessern.
Wenn Nina einen Mann sieht, der sie an ihren Mißbraucher erinnert, dann ist dies für sie ein Gefahrensignal, auf das ihr Organismus automatisch mit einer Alarmreaktion reagiert. Aufgrund der Ähnlichkeit mit dem Mißbraucher sagt ihr Gehirn ihr: Dieser Mann könnte ähnlich wie der Mißbraucher reagieren und Dich angreifen. ihr Körper stellt ihr sofort Energien bereit, damit sie sich gegen eventuelle sexuelle Übergriffe dieses Mannes möglichst gut wehren bzw. vor ihm weglaufen kann.
Da die Erinnerung an den sexuellen Mißbrauch meist viel Unbehagen auslöst, wäre es den meisten Frauen am liebsten, sie könnten einfach vergessen, was ihnen als Kind geschah. Viele bemühen sich darum, indem sie nicht mehr daran denken. Manche Frauen haben tatsächlich überhaupt keine konkrete Erinnerung mehr an ihren sexuellen Mißbrauch. Sie können nur noch ahnen, daß da in ihrer Kindheit etwas Schlimmes mit ihnen passiert sein muß.
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RUTH
vermutet, daß ihr Vater sie als Kind sexuell mißbraucht hat, als er mit ihr im Urlaub allein unterwegs war. An die sexuellen Übergriffe selbst kann sie sich nicht erinnern, so daß sie oft an dieser Möglichkeit zweifelt und ein schlechtes Gewissen hat, daß sie ihrem Vater so etwas unterstellt.Der sexuelle Mißbrauch ist aber die plausibelste Erklärung für die psychischen Beeinträchtigungen, unter denen Ruth seit langem leidet: ihre wiederkehrenden Alpträume, in denen sie als Kind ihrem Vater in verschiedenen sexuell getönten Situationen begegnet, die sie in starke Angst versetzen; daß sie ihren Vater nicht wie ihre Mutter oder andere Menschen umarmen kann und selbst beim Händeschütteln mit ihm einen unerklärlichen Widerwillen und Ekel verspürt; daß sie mit einem Mann nicht allein bleiben kann, weil sie sich dann ausgeliefert fühlt und eine unerklärliche Angst bekommt; daß sie kaum ertragen kann, wenn ein Vater sein Kind in der Öffentlichkeit küßt und streichelt; daß sie beim Sex oft in Panik gerät und sich beim Anblick eines nackten Mannes unbehaglich fühlt; daß sie auf alle Berichte über sexuelle Gewalt mit ungewöhnlich heftigen Gefühlen reagiert, die sie bei anderen Berichten über menschliches Leid nicht hat.
Alltagssituationen, die ihrem sexuellen Mißbrauch ähneln, lösen in Ruth Ängste, Ekel, Streß und Unbehagen aus, obwohl sie sich bewußt nicht an ihren sexuellen Mißbrauch erinnern kann. Dieses und andere Beispiele haben mir gezeigt, daß die Folgen sexuellen Mißbrauchs auch dann auftreten können, wenn die Betroffenen alle Erinnerungen daran erfolgreich aus ihrem Bewußtsein verdrängt haben.
Wie entstehen Angsstörungen?
Wenn Frauen bewußt oder unbewußt an ihren sexuellen Mißbrauch erinnert werden, reagieren sie darauf häufig mit Angst und einer körperlichen Alarmreaktion. Auslöser für solche Erinnerungen kann alles sein, was die Frauen während ihres sexuellen Mißbrauchs sahen, hörten, spürten, rochen oder schmeckten. Das sind also nicht nur die sexuellen Reize wie die männlichen Geschlechtsteile, das Stöhnen des Mannes, bestimmte Berührungsformen, der Geruch oder Geschmack von Sperma usw., sondern auch nicht-sexuelle Reize wie das Aussehen des Mannes, wie der sprach, sich bewegte oder roch;
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die Merkmale des Ortes, an dem der sexuelle Mißbrauch passierte, wie es dort aussah, roch und welche Geräusche dort zu hören waren; oder auch der Mißbrauchsssituation allgemein, wie z. B. mit einem Mann allein zu sein; Berührungen, die die Frau nicht will; das Gefühl, ohnmächtig ausgeliefert zu sein usw. Jeder dieser Reize kann noch Jahre nach dem sexuellen Mißbrauch eine Alarmreaktion im Körper der Frau auslösen und ihr Angst in einer völlig ungefährlichen Alltagssituation vermitteln. Während des sexuellen Mißbrauchs werden also auch viele harmlose Reize zu Streß- und Angstauslösern <programmiert>.
Diese Programmierung geschieht durch einen spontanen Lernvorgang, den man in der Psychologie als Klassische Konditionierung bezeichnet. Im Prinzip funktioniert dies folgendermaßen:
Nehmen wir einmal an, der Mißbraucher war ein dicker Mann mit Vollbart und Glatze und roch nach Alkohol. Während des sexuellen Mißbrauchs erlebt das Mädchen Angst, Ekel und Unbehagen. Immer dann, wenn sie in Zukunft einem dicken, bärtigen und glatzköpfigen Mann mit Alkoholfahne begegnet, wird sie automatisch von Angst, Ekel und Unbehagen ergriffen. Als Erwachsene hat sie den sexuellen Mißbrauch vielleicht so weit aus ihrem Bewußtsein gedrängt, daß sie sich diese Gefühlsreaktionen gar nicht mehr erklären kann. Möglicherweise kommt es zu einer Häufung dieser Angst- und Streßreaktionen, weil bereits eines dieser Merkmale als Auslöser genügt. Dann löst jeder Mann, der entweder dick ist oder einen Vollbart oder eine Glatze oder eine Alkoholfahne hat, die Erinnerung an den sexuellen Mißbrauch und damit eine körperliche Alarmreaktion aus. Die Angst- und Alarmreaktionen treten noch häufiger auf, wenn auch die Merkmale, die der Mißbraucher selbst gar nicht hatte, die ihm nur irgendwie ähnlich sind, Erinnerungen an den sexuellen Mißbrauch hervorrufen. Wenn der Mißbraucher einen Vollbart trug, kann es passieren, daß auch Männer mit anderen Bärten in einer Frau Unbehagen auslösen.
In der Psychologie nennt man diesen Vorgang eine <Reizgeneralisierung>, d.h. immer mehr Reize und Merkmale werden zu Auslösern für eine körperliche Alarmreaktion. Dies kann im extremsten Fall so weit gehen, daß die Frau schließlich auf jeden Mann mit Unbehagen, Streß oder Angst reagiert.
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Ob sich die Auslöser für Angst- und Alarmreaktionen so vermehren, hängt vermutlich sehr stark davon ab, wie stark und wie häufig eine Frau neben dem sexuellen Mißbrauch sonst noch in ihrem Leben Mißachtung erlebte. Je öfter eine Frau schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht hat, desto größer wird ihr Bedürfnis, sich in Zukunft davor zu schützen und desto ausgeprägter wird ihr Spürsinn für drohende Kränkungen. Sie achtet dann unbewußt viel stärker auf jeden kleinsten Hinweis einer möglichen Bedrohung. Bei manchen Frauen macht sich diese ausgeprägte Empfänglichkeit für Gefahrensignale darin bemerkbar, daß sie auf Berichte über Gewalt und menschliches Leiden oder die Gefahren von Umweltkatastrophen, Kriegen oder Atomunfällen stärker mit Ängsten und Panikgefühlen reagieren als andere Menschen. Manche Frauen können sich daher keine Nachrichten und keine Kriminalfilme mehr im Fernsehen ansehen.
Durch ihre kräftemäßige Unterlegenheit sind Frauen in einem viel stärkeren Ausmaß als Männer in Gefahr, körperlich überwältigt zu werden. Jede Frau weiß, daß sie von einem Mann vergewaltigt oder verprügelt werden kann. Allein diese Möglichkeit versetzt Frauen bereits in einen Zustand unterschwelliger Angst. Aufgrund ihrer Rolle und ihrer Lebensumstände als Frau, die ihnen weniger Möglichkeiten der Kontrolle und Selbstbestimmung läßt als Männern, sind Frauen wesentlich anfälliger für Angststörungen als Männer. Nun haben manche Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden oder andere Formen von Gewalt durch Männer erlebten, ein besonders feines Gespür für die subtilen Kränkungen des >normalen< männlichen Verhaltens und die Gefahren des weiblichen Daseins entwickelt und fühlen sich daher wesentlich stärker von Männern verletzt und bedroht als andere Frauen. Gleichzeitig sind sie aber aufgrund ihrer Lebensgeschichte schlechter als andere Frauen in der Lage, sich dagegen zu wehren. Auch diese Umstände begünstigen die Entwicklung von Angststörungen.
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Panik und Angstneurose
SOPHIE
hat in ihrem Leben eine Menge Gewalt erlebt. Sie wurde als Kind von verschiedenen Männern sexuell mißbraucht, war dann während ihrer Ausbildung den sexuellen Belästigungen ihres Chefs ausgesetzt und hatte Beziehungen zu verschiedenen gewalttätigen Partnern. Sophie ist durch diese Erlebnisse sehr menschenscheu geworden und leidet unter wiederkehrenden Angstzuständen, die sich im Laufe ihres Lebens immer mehr zugespitzt haben.Nach einem Krach mit ihrem Partner wird Sophie von ihrer Freundin in einem Zustand extremer Panik in eine psychiatrische Klinik gebracht und dort gegen ihren Willen mit Medikamenten >ruhlggestellt<. Damit lassen sich zwar ihre Ängste kurzfristig dämpfen, nicht aber auf Dauer heilen. Durch die entwürdigende und beschämende Behandlung in der Klinik hat Sophie nun noch mehr Angst, nicht zu funktionieren und dann den Ärzten hilflos ausgeliefert zu sein. Sie fürchtet ständig, in der Öffentlichkeit aufzufallen und wieder in eine Klinik gebracht zu werden.
Um ihre Angststörung in den Griff zu bekommen und ihren Beruf weiter ausüben zu können, sucht sie nach langem Zögern doch einen Pychotherapeuten auf. Der hilft ihr, sich von ihrem gewalttätigen Partner zu trennen, fängt dann aber selbst ein Verhältnis mit ihr an. Trotz der wohltuenden Aufmerksamkeit dieses Mannes fühlt sich Sophie benutzt und gedemütigt. Als er plötzlich ihre Verbindung wieder löst, reagiert sie mit einer Verschlimmerung ihrer Depressionen und Angstzustände. Es wird ihr jetzt noch schwerer, ihrer Arbeit nachzugehen.
Die bloße Gegenwart von männlichen Kollegen und Vorgesetzten macht Sophie derart nervös, daß sie sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren kann und viele Fehler macht. Wenn einige der Kollegen anzügliche Bemerkungen machen und sexuelle >Witze< erzählen, verläßt Sophie fluchtartig den Baum, weil sie sich durch diese Bemerkungen bedroht und von heftigen Angst- und Schamgefühlen überrollt fühlt, unwillkürlich muß sie an die vielen sexuellen Übergriffe denken, denen sie in der Vergangenheit ohnmächtig ausgesetzt war.
Was könnte sie jetzt schon tun, wenn ihre Kollegen anfingen, sie anzufassen und zu vergewaltigen? Bei diesen Gedanken gerät sie in Panik. Sie bekommt starkes Herzklopfen, Atembeklemmungen, Schweißausbrüche und ihr wird schlecht. Diese Symptome verschwinden schnell, sobald sie die angstauslösende Situation verläßt. Sie sind Sophie auch aus anderen Situationen vertraut. So kann sie es zum Beispiel kaum mehr ertragen, wenn ihr Chef neben ihr steht und Ihr etwas erklärt, weil sie durch die körperliche Nähe anderer Menschen in Panik gerät.
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Sie fürchtet sich davor, wie in der Vergangenheit wehrlos Berührungen ausgesetzt zu sein, die sie nicht möchte und denen sie in dieser Enge nicht ausweichen kann. Aus diesem Grund kann sie schon lange nicht mehr mit dem Aufzug oder den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, da diese zu den Stoßzeiten immer überfüllt sind und Sophie sich dann eingesperrt bzw. anderen Menschen ohnmächtig ausgeliefert fühlt. Wegen ihrer Angstzustände muß sich Sophie immer öfter krankschreiben lassen und wird schließlich mit knapp 40 Jahren berentet, obwohl sie das nicht will. Sophie verliert dadurch noch mehr an Selbstachtung, während sich an ihren Angstzuständen nichts ändert. Es kostet sie immer mehr Überwindung, ihre Wohnung zu verlassen, um z. B. einzukaufen. Sobald sie in der Öffentlichkeit von einem Mann etwas länger angeschaut wird, bekommt sie panische Angst, weil sie glaubt, er habe ein sexuelles Interesse an ihr und werde sie gleich angreifen. Aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen glaubt sie: »Alle Männer sind gefährlich und verfügen über Dich, ohne daß Du es verhindern kannst.«
Vor lauter Angst fängt dann ihr Herz an zu rasen, sie ist schweißgebadet, bekommt schwer Luft, hat welche Knie und ihr wird ganz schwindelig. Sie hat dann große Angst davor, auf der Straße zusammenzubrechen und mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus zu kommen, wo man sie wieder gegen ihren Willen ruhigstellen und festhalten könnte. Sie flieht auf dem schnellsten Wege in ihre Wohnung, wo sie sich sicher fühlen kann. Sie hat Angst, zu einem Arzt zu gehen, weil der sie in eine Klinik einweisen könnte. Sie hat Angst vor allen Situationen, in denen sie sich festgehalten fühlt: In der Warteschlange im Supermarkt, beim Friseur, beim Zahnarzt, auf Ämtern. Sie hat Angst vor Männern, Angst vor ihren Angstanfällen und Angst, in der Öffentlichkeit aufzufallen oder zusammenzubrechen. Um ihre Ängste unter Kontrolle zu halten, geht sie nur noch an Orte, die sie gut kennt und die sie zu Fuß erreichen kann, so daß sie Immer noch nach Hause kommt, selbst wenn sie in Panik ist. Ihren Stadtteil hat sie schon seit Jahren nicht mehr verlassen.
Sophies Panikanfälle entstanden aufgrund ihrer vielen schlechten Erfahrungen mit Männern, die sie zu der Überzeugung brachten: »Männer sind gefährlich, denn sie machen mit Dir, was sie wollen, ohne daß Du es verhindern kannst.« Daß sie als Kind sexuell mißbraucht wurde, macht inzwischen nur einen kleinen Teil ihrer Erfahrungen aus, beeinflußte aber ihren Lebenslauf entscheidend. Der sexuelle Mißbrauch dürfte dafür verantwortlich sein, daß sich Sophie auch als Erwachsene gegen die sexuellen Übergriffe von Männern nicht wehren kann.
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Es gibt einige Frauen, die eine ähnliche schwere Lebensgeschichte haben und nach ihrem sexuellen Mißbrauch ähnlich heftige Angstanfälle entwickeln wie Sophie. Diese Panikzustände gehen meist mit massiven körperlichen Beschwerden einher wie z.B. Herzrasen, Herzstolpern, Herzschmerzen; Kloßgefühl im Hals; Schmerzen, Druck oder Unbehagen in der Brust; Atemnot, Beklemmungs- und Erstickungsgefühle; Schwitzen; Hitzewallungen oder Kälteschauer; weiche Knie; Zittern und Beben des Körpers; Übelkeit; Schwindel; Gleichgewichts- und Sehstörungen. Diese bedrohlichen Körperbeschwerden lösen zusätzliche Ängste aus wie z.B. die Angst zu sterben, verrückt zu werden oder die Kontrolle zu verlieren.
Diese Befürchtungen und eine verstärkte Beobachtung des eigenen Körpers sorgen dafür, daß die Angstbeschwerden wie in einem Teufelskreis sich gegenseitig immer mehr hochschaukeln. Meist sind die Angstanfälle an bestimmte Orte und Situationen gebunden, etwa in einer Menschenmenge sein, in der Schlange stehen, auf einer Brücke, im Tunnel, Bus, Zug, Auto oder Fahrstuhl sein, allein oder weit weg von ärztlicher Hilfe zu sein. Viele Frauen können wegen ihrer Angstanfälle nicht mehr verreisen. Oft kommt zu der Angst noch die Angst, wegen der körperlichen Symptome in der Öffentlichkeit aufzufallen oder in peinliche Situationen zu geraten. Einige Frauen befürchten, sie könnten unterwegs einen Herzinfarkt bekommen, stürzen oder zusammenbrechen, ohne daß ihnen jemand hilft. Deshalb können manche nur noch in Begleitung ihre Wohnung verlassen und haben Angstanfälle, sobald sie allein gehen müssen. Sobald ein solcher Angstanfall auftritt, fliehen die Frauen an einen für sie sicheren Ort. Durch dieses Weglaufen legt sich dann die Angst meist sehr schnell wieder. Die meisten Frauen vermeiden alle Orte und Situationen, wo sie früher einmal einen starken Angstanfall hatten, da die Erinnerung neue Panik auslösen kann. Die Angst hat sich verselbständigt, und die Frauen haben Angst vor ihrer Angst. Mit der Zeit werden immer mehr Orte und Situationen vermieden, so daß sich der Bewegungsspielraum der Frauen immer stärker einengt. Bald gibt es keine Situation mehr, wo die Frauen ohne Angst sein können.
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Viele Frauen wissen gar nicht, daß ihre körperlichen Beschwerden die Nebenerscheinungen eines Angstanfalles sind. Statt dessen glauben viele, sie hätten einen Herzanfall oder einen Nervenzusammenbruch. Auch die Tatsache, daß alle ärztlichen Untersuchungen ohne Befund bleiben, verändert meist nichts an dieser Überzeugung. Zuviele Ärzte verschreiben in solch einem Fall Beruhigungstabletten. Diese können aber das Problem nur verschieben und vielleicht um eine Tablettensucht >bereichern<, nicht aber endgültig lösen. Bei den meisten Frauen, die wegen ihres sexuellen Mißbrauchs zu mir in die Psychotherapie kommen, sind die Ängste allerdings weniger stark ausgeprägt als bei Sophie, so daß die Frauen in ihrem Alltag noch relativ gut funktionieren. Die meisten versorgen ihre Familie, machen den Haushalt, haben Freunde, sind berufstätig und fallen nur in wenigen Situationen wegen Panikgefühlen aus.
Zwangsstörungen
Manche Frauen, die als Folge ihres sexuellen Mißbrauchs mit sich, den anderen Menschen und der Welt nicht zurechtkommen und daher oft von einem Gefühlschaos überschwemmt werden, versuchen ihre Ängste dadurch unter Kontrolle zu halten, daß sie sich künstlich ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung verschaffen. Während sich die Wohnung mancher Frauen, die unter den Folgen ihres sexuellen Mißbrauchs leiden, in einem ähnlich chaotischen Zustand befindet wie ihr Seelenleben, haben andere Frauen gewissermaßen als Ausgleich zu ihren psychischen Problemen eine tadellos aufgeräumte und fast steril wirkende Wohnung, in der alles seinen genau festgelegten Platz hat. Ähnlich geordnet verläuft ihr Leben, sie sind immer sehr pünktlich, erlauben sich keine Fehler, erledigen ihre Arbeit sehr zuverlässig und korrekt. Indem sie perfektionistisch bemüht sind, alle geltenden Verhaltensregeln und Normen ihrer Umwelt zu erfüllen, schützen sie sich vor der Ablehnung und Kritik anderer Menschen und davor, einen nicht wiedergutzumachenden Schaden anzurichten. Diese Lebensweise, in der alles geregelt und nach festen Ordnungsprinzipien verlaufen muß, kann sich leicht zu einer Zwangsstörung auswachsen.
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MIRA ist von ihren strengen Eltern und deren übertriebenen Leistungsansprüchen oft überfordert worden. Aufgrund ihres sexuellen Mißbrauchs und dessen Folgeproblemen hat sie den Eindruck gewonnen, auf viele Dinge ihres persönlichen Lebens keinen Einfluß zu haben und sehr viel leisten zu müssen, um von anderen Menschen nicht abgelehnt zu werden.
Da sie mit ihren Mitmenschen nicht zurechtkommt und sich häufig Spannungen aufbauen, hat Mira keine Freunde. Durch ihre Beziehungsprobleme wird Mira ständig von einem Gefühl des Versagens und der Ohnmacht begleitet, so daß sich ihr Bedürfnis nach Perfektion und Kontrolle immer mehr verstärkt. Um sich vor beruflichen Fehlern und der Kritik ihrer Kollegen und Vorgesetzten zu schützen, hat sich Mira angewöhnt, jede ihrer ausgeführten Arbeiten nochmals auf Fehlerfreiheit zu überprüfen, um ganz sicher zu sein, daß sie nichts übersehen hat, tut sie dies mehrfach. Weil sie dadurch in ihrem Arbeitstempo langsamer wird, gerät sie immer mehr unter Zeitdruck. Auch ihr Chef ist mit ihren Leistungen nicht mehr zufrieden. Durch die Kritik und den erhöhten Leistungsdruck wird Miras Angst vor Fehlern noch stärker, so daß sich ihr Kontrollzwang weiter verschärft.
Auch zu Hause gerät sie in einen Sog des Kontrollierens. Sie hat ständig Angst, daß durch ihre Nachlässigkeit das Haus abbrennen, die Wohnung verwüstet oder ausgeraubt werden könnte. So braucht sie immer länger zum Verlassen ihrer Wohnung, well sie mehrfach überprüfen muß, ob sie den Herd und andere Haushaltsgeräte abgestellt, den Wasserhahn zugedreht, die Fenster und die Wohnungstür richtig geschlossen hat. Dieses Ritual vor dem Verlassen ihrer Wohnung nimmt schließlich fast eine Stunde in Anspruch. Wenn sie es nicht ausführt oder abzukürzen versucht, ist sie den ganzen Tag von Katastrophenängsten begleitet.
LAUBA leidet wegen ihres sexuellen Mißbrauchs und anderer Gewalterfahrungen unter Angstzuständen, die es ihr manchmal unmöglich machen, ihre Wohnung zu verlassen. Sie mußte daher ihre Berufstätigkeit aufgeben. Als Partner sucht sie sich immer Männer aus, die wenig zuverlässig sind. Eines Tages bleibt ihr Freund, der für 1-8 läge geschäftlich unterwegs sein wollte, unerwartet über einen Monat lang weg, ohne sich bei Laura zu melden. Laura weiß nicht, wo er sein könnte und sitzt täglich sorgenvoll neben dem Telefon. Als er sich dann schließlich eines Morgens unerwartet bei ihr meldet, ist dieser Morgen in folgender Weise anders gewesen als sonst: Da sie zum Arzt gehen wollte, hat sie sich schon am Abend sämtliche Kleidungsstücke herausgesucht und samt Schuhen und Schmuck auf eine bestimmte Art zurechtgelegt.
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All ihre Sorgen und Ängste, die sie in den vergangenen Tagen quälten, sind mit dem Anruf Ihres Freundes wie weggeblasen. Obwohl es ihr verrückt erscheint, glaubt sie, durch die Art, wie sie am Abend ihre Kleider herauslegte, bewirkt zu haben, daß sich ihr Freund endlich bei ihr meldet. Wenn ihr Freund nicht bei ihr ist, verbringt sie nun täglich viel Zeit damit, sämtliche Kleider für den nächsten Tag in der gleichen Weise anzuordnen. Tut sie das nicht oder liegen die Sachen nicht genau an der gleichen Stelle wie beim ersten Mal, kann sie vor lauter Angst, daß ihrem Freund etwas Schlimmes passieren bzw. daß er sie verlassen könnte, nicht einschlafen. Sie hat eine Zwangsstörung entwickelt.
Manchmal ist der Zusammenhang zwischen der Zwangsstörung und dem sexuellen Mißbrauch auch deutlicher. Viele Frauen haben nach dem sexuellen Mißbrauch ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper. Sie ekeln sich vor sich selbst und fühlen sich schmutzig. Während dies bei manchen Frauen dazu führt, daß sie ihren Körper vernachlässigen, ihn wenig pflegen und trotz körperlicher Beschwerden selten zum Arzt gehen, verwenden andere Frauen übermäßig viel Aufmerksamkeit für die Pflege ihres Körpers. Manchmal kann sich daraus ein Waschzwang entwickeln. Die Frauen duschen sich mehrfach am Tag, weil sie das Gefühl haben, schmutzig zu sein oder zu stinken.
Frauen haben durch ihren sexuellen Mißbrauch und die schlechten Erfahrungen mit Menschen gelernt, daß die Welt gefährlich ist. Da sie glauben, keinen Einfluß auf andere Menschen zu haben, richten manche ihre Ängste auf Dinge, die sie durch ihr Verhalten kontrollieren können. Die einen entwickeln, wie Mira, aus Angst vor Kritik oder einem nicht wieder gutzumachenden Fehler einen Kontrollzwang. Bei anderen richtet sich die Angst auf ansteckende Krankheitskeime, die sie durch einen Wasch- und Putzzwang oder durch besondere Reinigungsrituale bekämpfen.
MEIKE hat Angst, auf öffentliche Toiletten zu gehen, weil die so schmutzig sind, daß sie fürchtet, sich mit Krankheitskeimen anzustecken. Sie vermeidet es, jemand zur Begrüßung die Hand zu schütteln und hat das Bedürfnis, nach jeder Türklinke ihre Hände zu waschen, um sich vor einer bakteriellen Verseuchung zu schützen. Ihre Wohnung ist für sie der einzige Ort, den sie als ungefährlich erlebt, weil sie diesen auf ihre Weise sauber und keimfrei halten kann.
Um die ansteckenden Krankheitskeime von draußen nicht in ihre Wohnung zu tragen, muß sie sich nach Betreten der Wohnung sofort umziehen, duschen und ihre Kleider waschen bzw. desinfizieren. Aus diesem Grund kann sie dort auch keinen Besuch empfangen. Meikes Angst vor Schmutz und Krankheitskeimen lenkt sie völlig ab von ihrer Angst und ihren Schwierigkeiten, die sie im Umgang mit Menschen hat.
Zwangsrituale können Menschen ein Gefühl von Kontrolle geben in Situationen oder in Lebensphasen, wo sie in Wirklichkeit wenig Kontrolle haben. Zwänge haben also die Aufgabe, Ängste zu lindern und psychische Überlastungen zu verhindern, für die andere Bewältigungsmöglichkeiten fehlen. Eine Psychotherapie kann hier Abhilfe schaffen, indem sie die Ängste vor Kontrollverlust lindert und angemessenere Formen der Lebenbewältigung aufbaut.
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14 Psychosomatische Erkrankungen
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Sehr viele Frauen, die wegen ihres sexuellen Mißbrauchs zu mir in die Psychotherapie kommen, leiden neben Selbstzweifeln und Beziehungsproblemen auch unter psychosomatischen Beschwerden. Durch die Erinnerung an den sexuellen Mißbrauch, durch die häufigeren Angstreaktionen auf harmlose Reize und durch die auftretenden Beziehungsprobleme im Alltag erleben die Frauen in ihrem Alltag viel häufiger Streß und körperliche Alarmreaktionen als andere Menschen.
Im Gegensatz zu den Tieren hat sich die Lebenswelt der Menschen im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte so verändert, daß sich Kampf und Flucht nur noch selten zur Lösung menschlicher Probleme und der Beseitigung von Ängsten eignen. Der heutige Mensch ist nicht mehr wie seine Vorfahren in der ständigen Gefahr, durch den Angriff eines gefährlichen Raubtieres sein Leben zu verlieren.
Obwohl die Erinnerungen an den sexuellen Mißbrauch oder die daraus entstehenden Beziehungsprobleme das Überleben von Menschen nicht bedroht, stellt der Körper der betroffenen Frauen trotzdem jedes Mal automatisch die Energien für einen Kampf oder eine Flucht bereit. Da diese Energien aber nicht verbraucht werden, bleiben sie längere Zeit im Körper erhalten, was sich unangenehm anfühlt und mit der Zeit zu körperlichen Beschwerden führen kann.
Wenn Alarmreaktionen sehr häufig ausgelöst werden, führt dies allmählich zu einer Mehrbelastung all jener Körperfunktionen, die von der wiederholten Mobilmachung betroffen sind. Dazu gehören in erster Linie das Herz-Kreislaufsystem, die Skelettmuskulatur, die Lungen, die Haut sowie der Stoffwechsel- und Hormonhaushalt. Dem Körper bleibt unter diesen Umständen zu wenig Zeit für Erholung. Er gerät dann leicht in einen Zustand dauernder Alarmbereitschaft, d. h. er bleibt auch in Ruhepausen aktiviert und übererregt, um auf Gefahren schneller reagieren zu können. Dies macht Menschen anfällig für die Entwicklung von psychosomatischen Störungen.
Manche Menschen zeigen in angsterregenden oder belastenden Situationen besonders drastische Körperreaktionen. So kann sich die Muskelspannung so stark erhöhen, daß es zu schmerzhaften Verspannungen im Kopf, Rücken oder anderen Körperbereichen oder zu einem unkontrollierbaren Zittern des Körpers kommt; oder das Herz-Kreislaufsystem wird derart angeregt, daß beängstigendes Herzrasen entsteht; oder die massiven Blutdruckveränderungen führen zu Schwindel und Gleichgewichtsstörungen.
Durch die erhöhte Alarmbereitschaft des Körpers können auf Dauer die verschiedensten Körperfunktionen aus dem Gleichgewicht geraten, weil manche ständig angeregt, die anderen ständig gedämpft werden. Da der Körper vorwiegend auf eine bestmögliche Kampf- und Fluchtbereitschaft ausgerichtet ist, werden jene Körperfunktionen, die der Verdauung von Nahrung, der Entgiftung des Körpers, der Fortpflanzung, dem Wachstum oder dem Widerstand gegen Infektionen dienen, vernachlässigt. Es kann dann leicht zu Magen-Darm-Beschwerden, Störungen des Menstruationszyklus, einer Schwächung der Abwehr kräfte und der Wundheilung kommen.
Manchen Frauen gelingt es, die Erinnerungen an den sexuellen Mißbrauch so gut zu verdrängen, ihre Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen so zu verharmlosen und ihre Gefühle so weit abzustellen, daß sie weder ihren Leidensdruck noch die ständigen Alarmreaktionen ihres Körpers bemerken. Im Gegensatz zu den Frauen mit Angststörungen leiden sie kaum unter der unangenehmen Überaktivierung ihres Körpers, weil sie diese oft gar nicht bewußt wahrnehmen.
Was kurzfristig ein sinnvoller Schutzmechanismus des Organismus ist, der das Überleben nach sexuellem Mißbrauch und anderen traumatischen Erfahrungen erleichtert, kann langfristig zur Entwicklung psychosomatischer Beschwerden führen. Weil sie für ihre Körpersignale und Gefühle relativ empfindungslos geworden sind, merken diese Frauen nicht, daß die erhöhte Alarmbereitschaft ihres Körpers auf Dauer zu einem Erschöpfungszustand führt. Sie können darum nicht in ausreichendem Maß für ihre eigene Erholung sorgen und treiben Raubbau an ihrem Körper. Frauen können nach ihrem sexuellen Mißbrauch jede erdenkliche psychosomatische Störung entwickeln. Im folgenden sollen aber nur diejenigen kurz beschrieben werden, die etwas offensichtlicher mit dem sexuellen Mißbrauch zusammenhängen.
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Schlafstörungen
GERLINDE hat oft Alpträume, in denen sie sexuell belästigt und verfolgt wird. Manchmal wacht sie mitten in der Nacht schweißgebadet und mit Herzklopfen auf, selbst wenn sie nicht geträumt hat. Aus Angst vor diesen nächtlichen Alarmreaktionen ihres Körpers und ihren Alpträumen kann sie oft nicht einschlafen.
LYDIA hat Ein- und Durchschlafprobleme und wacht beim kleinsten Geräusch auf. Die sexuellen Übergriffe, denen sie als Kind ausgesetzt war, passierten meist nachts und weckten sie aus ihrem Schlaf. Seither erinnern sie nächtliche Geräusche unbewußt an ihren sexuellen Mißbrauch, so daß es zu einer körperlichen Alarmreaktion und Angst kommt. Diese behindern ihren Schlaf.
Frauen, die als Folge ihres sexuellen Mißbrauchs häufiger Angst und Streß erleben als andere Menschen, leiden auch häufig unter Schlafstörungen. Wir kennen das alle, daß wir schlecht schlafen, wenn wir uns über Irgendetwas aufgeregt haben oder uns starke Sorgen machen. Unser Körper ist dann auf Kampf oder Flucht eingestellt, während wir uns krampfhaft bemühen, endlich einzuschlafen, well wir am nächsten Morgen fit sein wollen. Und je mehr wir uns um das Einschlafen bemühen und uns darüber ärgern, daß es nicht geht, desto weniger können wir einschlafen.
SCHLAFLOS —> SELBST-BEOBACHTUNG, BEMÜHEN UM SCHLAF ANGST, ÄRGER --> SCHLAFLOS
Psychisch bedingte Schmerzen
Viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, klagen über Schmerzen, z. B. Kopf-, Rücken-, Unterleibs- oder Bauchschmerzen, für die oft keine körperliche Ursache gefunden werden kann. Diese Schmerzen werden durch die besonderen psychischen Belastungen (Erinnerungen, konditionierte Angstreaktionen, Beziehungsprobleme) begünstigt, denen die Frauen nach sexuellem Mißbrauch ausgesetzt sind, d. h. sie sind seelisch bedingt. Wie entstehen solche Schmerzen?
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Wenn wir einen Muskel absichtlich längere Zeit stark anspannen, kann es zu einer schmerzhaften Verkrampfung kommen, die sich nicht mehr so leicht lösen läßt. Auf ähnliche Weise können sich Muskeln in Streßsituationen ungewollt schmerzhaft verkrampfen. Um den Körper schneller bewegen zu können, wird durch die körperliche Alarmreaktion in einer Gefahrensituation automatisch die Muskelspannung erhöht, ohne daß wir das bewußt merken. Bei Menschen, die sehr häufig Streß oder Angst erleben, geht diese Muskelspannung gar nicht mehr auf ihren normalen Wert zurück.
Eine kleinere alltägliche Belastung, wie z.B. Zeitdruck, Konflikte mit einem Angehörigen, erlebte Ablehnung oder Kritik, ein Gefühl der Hilflosigkeit oder Ohnmacht kann dann schon ausreichen, um in besonders empfindlichen Muskelpartien eine schmerzhafte Verspannung auszulösen. Vermutlich reagierten die betroffenen Frauen bereits als Kind auf ihren sexuellen Mißbrauch mit Verspannungen bestimmter Muskelparteien, so daß jede bewußte und unbewußte Erinnerung an dieses Trauma die gleichen Körperreaktionen auslöst. Dazu kommt, daß der Schmerz weiteren Streß für die Frau darstellt, auf den ihr Körper mit noch mehr Verspannung reagiert, so daß der Schmerz auch dadurch nochmals stärker wird.
SCHMERZ —> ERHÖHTE MUSKEL-SPANNUNG —> MEHR SCHMERZ
Auch mangelnde Durchblutung kann Schmerzen hervorrufen. Wenn sich Muskeln sehr stark verspannen, werden dadurch Blutgefäße abgedrückt und die Durchblutung gestört, so daß die Verspannung auch auf diesem Weg die Schmerzen verstärkt und aufrechterhält.
Manchmal hat es den Anschein, wie wenn die körperlichen Schmerzen der Frauen stellvertretend für die verdrängten seelischen Schmerzen ihres sexuellen Mißbrauchs oder ihrer unbefriedigenden Lebenssituation auftreten. Die Schmerzen haben dann die Funktion, der Frau zu zeigen, daß in ihrem Leben etwas nicht in Ordnung ist, daß vielleicht die seelische Wunde, die der sexuelle Mißbrauch hinterlassen hat, noch nicht heilen kann oder daß sie sich in ihrem Alltag nicht gut genug vor Kränkungen und Lieblosigkeit schützt.
Manchmal fügen sich Frauen auch bewußt körperliche Schmerzen zu, um für ihr unerträgliches seelisches Leiden ein Ventil zu haben oder sich davon abzulenken. Dies geschieht meist dann, wenn die Frauen durch kränkende Alltagserlebnisse aus ihrem psychischen Gleichgewicht geraten sind.
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Unterleibsbeschwerden
Viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, zucken bei Berühren ihrer Genitalregion unwillkürlich zusammen und spannen aus Angst während der gynäkologischen Untersuchung oft ihre Bein-, Beckenboden- und Bauchmuskeln stark an. Vermutlich haben sie als Kinder genauso auf die Berührungen ihres Mißbrauchers reagiert. Manche Frauen reagieren bereits bei der Erinnerung an ihren sexuellen Mißbrauch oder in anderen psychischen Belastungssituationen mit einer schmerzhaften Verspannung ihres Bauches und Unterleibes.
Durch chronische Angst- und Streßzustände können bei Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, die sexuellen Funktionen und die Reaktionsfähigkeit der Genitalien gedämpft sein. Der Unterleibsbereich wird dann physiologisch nicht mehr so gut versorgt wie bei anderen Frauen. Außerdem ist das Immunsystem durch anhaltenden Streß geschwächt, d.h. eindringende Viren und Bakterien werden nicht mehr so schnell erkannt und können sich leichter ausbreiten, so daß es leichter zu einer Infektion kommt. Dies könnte erklären, warum viele Frauen mit sexuellen Mißbrauchserfahrungen so anfällig für Entzündungen der Scheide sind.
Es ist auffallend, wie viele der Frauen unter Unterleibsbeschwerden, Eileiter-, Harnleiter- oder Blasenentzündungen, Zysten, Verwachsungen oder Geschwulsten leiden, so daß ärztliche Behandlungen und Operationen notwendig werden. Vielen Frauen fällt es schwer, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen, weil sie dadurch an ihren sexuellen Mißbrauch erinnert werden. Da sie aus Angst oft jahrelang nicht zum Frauenarzt gehen, werden krankhafte Entwicklungen im Unterleibsbereich oft erst relativ spät erkannt und behandelt.
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Unterleibsbeschwerden sind bei Frauen mit sexuellem Mißbrauch wie ein Spiegel ihrer Seele: viele Frauen lehnen ihren Unterleib ab, weil sie durch ihn so viel Leid erfahren mußten. Oft sind die Genitalien der Körperbereich, den sie als häßlich, abstoßend und schmutzig empfinden und darum vernachlässigen.
Manche Frauen berichten, daß sie sich vom Bauchnabel abwärts wie abgeschnitten erleben, ihren Gentitalbereich nicht spüren oder das Gefühl haben, dieser Teil gehöre gar nicht zu ihnen. Dies ist verständlich, denn die Frauen erlebten beim sexuellen Mißbrauch, wie ein anderer Mensch ganz selbstverständlich über ihre Geschlechtsteile verfügte, als ob sie ihm gehörten. Da die Frauen durch ihre Genitalien an die Demütigungen und die Ohnmacht des sexuellen Mißbrauchs sowie an die eigenen Schuldgefühle erinnert werden, richten manche ihre Verzweiflung und Wut auf diesen Körperbereich. Bei einigen Frauen äußert sich die Abneigung gegen ihre Geschlechtsorgane darin, daß sie sich dort absichtlich verletzen oder Schmerzen zufügen. In eine ähnliche Richtung geht die Reaktion einer Frau, die sich relativ jung sterilisieren ließ. Für ihre Umgebung war dies unverständlich, da sie weder Kinder noch einen festen Partner hatte.
Es gibt aber auch noch eine andere Seite, die man nicht übersehen darf: Unterleibsbeschwerden können für Frauen auch >Vor-teile< haben, denn sie machen es der Frau leichter, sich dem sexuellen Kontakt mit ihrem Partner zu entziehen.
Hauterkrankungen
Manche Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, leiden an Akne, Ekzemen oder Hautausschlägen. Diese lösen oft einen Juckreiz aus, der teilweise zu blutigen Kratzwunden führt, die sich leicht entzünden. Dadurch wird der Juckreiz meist noch stärker, so daß die Haut oft gar nicht mehr richtig abheilen kann. Man nimmt an, daß psychische Faktoren diese Hauterkrankungen verursachen oder zumindest an ihrer Entstehung mitbeteiligt sind. Wie psychische Belastungen zu Hautproblemen führen, ist allerdings noch sehr wenig erforscht. Es gibt in diesem Bereich also nur Vermutungen. Man kann sich vielleicht folgendes vorstellen:
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Streß führt zu einer Menge Veränderungen im Körper, von denen auch die Haut betroffen ist. Die Durchblutung der Haut wird z.B. verringert, und die Schweißproduktion nimmt zu. Außerdem verlangsamt Dauerstreß die Wundheilung und schwächt das Abwehrsystem des Körpers. Manche Menschen mit entsprechend vererbter Anfälligkeit reagieren auf Streß sehr stark mit Veränderungen im Hautbereich, so daß sich mit der Zeit Hauterkrankungen entwickeln können.
Die Haut stellt die äußerste Grenze unseres Körpers dar, und man hat Hautprobleme oft mit psychischen Abgrenzungsproblemen in Zusammenhang gebracht. Nun haben Frauen mit sexuellen Mißbrauchserfahrungen häufig solche Abgrenzungsprobleme. Sie neigen dazu, ihr Urteil über sich selbst sehr von der Meinung anderer Menschen abhängig zu machen; das Leiden ihrer Mitmenschen macht ihnen mehr aus als ihr eigenes und sie kennen die Wünsche der anderen besser als ihre eigenen Bedürfnisse. Oftmals trauen sie sich nicht, eine deutliche Grenze zwischen sich und den anderen zu ziehen. Wahrscheinlich sind Hauterkrankungen auch hier wieder ein Spiegelbild der Seele. Vielleicht aber sollen sie den Betroffenen; auch helfen, sich andere Menschen etwas besser vom Leib zu halten, denn die Hauterkrankungen machen sie oft unattraktiver.
Bei manchen Frauen nehmen die Hautprobleme, wie auch die Ängste und Depressionen, im Frühjahr und Sommer besonders zu. In dieser Jahreszeit kleiden sich die Menschen leichter, zeigen mehr Haut und geben dadurch mehr sexuelle Signale. Dies ruft in einigen Frauen vermehrt Mißbrauchserinnerung wach. Da durch die leichtere Bekleidung viele Situationen eine stärkere erotische Färbung bekommen, fühlen sich die Frauen noch mehr verunsichert oder gar bedroht als sonst. Manche Frauen versuchen sich durch eine entsprechende Kleidung vor Blicken und Berührungen anderer zu schützen, indem sie auch im Sommer langärmlige, hochgeschlossene Kleidungsstücke tragen. Ihre Hauterkrankung hilft ihnen, diese Bekleidung vor anderen zu rechtfertigen. In seltenen Fällen verkriechen sich die Frauen im Sommer tagsüber in ihrer Wohnung und gehen nur noch nachts aus dem Haus, wenn sie sich wieder etwas dicker anziehen und sich in der Dunkelheit den Blicken anderer Menschen besser entziehen können.
<Wahl> der Krankheit
Warum bekommen manche Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, Hautprobleme, andere Kopfschmerzen und wieder andere Unterleibsbeschwerden? Wie wir gesehen haben, führt Streß zu einer Vielzahl von körperlichen Veränderungen. Nun hat aber jede Frau ein ganz persönliches Muster, wie ihr Körper sich unter Streß verändert. Bei der einen kommt es unter Streß zu sehr starken Veränderungen in der Muskulatur und nur zu relativ geringen Reaktionen des Kreislaufs, der Atmung, der Haut oder des Magen-Darm-Bereichs. Sie wird mit der Zeit am ehesten Kopf- oder Rückenschmerzen entwickeln. Eine andere Frau reagiert unter Streß am stärksten im Magen-Darm-Bereich, so daß sie mit der Zeit Magenschmerzen, Durchfall oder Erbrechen bekommt. Dieses persönliche Reaktionsmuster auf Streß wird vermutlich vererbt, wie die Haarfarbe oder die Körpergröße.
In der Psychotherapie behandelt man psychosomatische Erkrankungen dadurch, daß man gemeinsam mit den Betroffenen Streßsituationen und unbefriedigende Lebensumstände ausfindig zu machen und zu verändern versucht. Indem man die körperliche Übererregtheit durch regelmäßige Bewegung oder Entspannungstraining abbaut, wird auch die Anfälligkeit für psychosomatische Erkrankungen geringer. Um sicher zu gehen, daß keine organischen Ursachen vorliegen, müssen psychosomatische Beschwerden immer auch durch einen Arzt abgeklärt werden.
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Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden