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15  Eßstörungen 

 

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Eine Vielzahl von Frauen, die wegen unterschiedlichster Eßstörungen zur Therapie kommen, wurden als Kind sexuell mißbraucht.

Übergewicht 

Während manche Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, auf Streß und Belastungen mit mangelndem Appetit reagieren oder verstärkt zu Durchfall und Erbrechen neigen, entwickeln andere Frauen unter Streß einen sehr großen Appetit, durch den sie sich überessen. Essen wirkt beruhigend, versöhnlich und tröstend. Wenn Menschen von belastenden Gefühlen überschwemmt sind und Schwierigkeiten haben, zur Ruhe zu kommen oder sich in ausreichendem Maße Selbstbestätigung und menschliche Wärme zu verschaffen, dann benutzen sie häufig das Essen als ausgleichenden Ersatz.

Menschen mit deutlichem Übergewicht orientieren sich beim Essen mehr an äußeren Reizen (wie z.B. der Uhrzeit, der Nahrungsmenge und -verfügbarkeit) als an inneren Körpergefühlen (Hunger- und Sättigungsgefühlen). Obwohl sie eigentlich satt sind, können sie dem Essen in ihrer Reichweite schwerer widerstehen als andere. Wenn sie einschätzen sollen, wie sättigend die Nahrungsmittel sind, lassen sie sich mehr von der falsch angegebenen Kalorienmenge beeinflussen, während andere sich mehr nach ihrem eigenen Körperempfinden orientieren.

Auch bei anderen Dingen, wie z.B. beim Einschätzen von Schmerzen durch einen elektrischen Schlag oder der Zeitschätzung orientieren sie sich eher nach äußeren verfälschten Hinweisen als nach ihrem eigenen Gefühl. Man vermutet, daß sie als Kinder nicht gelernt haben, zwischen Hunger, Angst, Unlust oder Spannung zu unterscheiden und darum alle diese Erregungszustände als Hunger deuten und in Belastungssituationen eher essen als andere Menschen.

Nun ist gerade für Frauen mit sexuellen Mißbrauchserfahrungen sehr typisch, daß sie sich in ihrem Verhalten mehr nach äußeren Hinweisen, z.B. dem Urteil und den Reaktionen ihrer Mitmenschen orientieren als nach ihren eigenen Maßstäben. Für Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, kann das Essen die einzige Möglichkeit sein, sich zu trösten und ihre unbefriedigenden Lebensumstände auszuhalten. 

Wie wir gesehen haben, ist eine häufige Folge sexuellen Mißbrauchs, daß es den Frauen schwerfällt, sich gegen andere Menschen abzugrenzen. Durch das Dicksein können sich die Frauen die Menschen vom Leib halten und sich vor allem für Männer unattraktiv machen. Gerade wenn ihre Beziehungen zu anderen Menschen schwierig sind, scheint es ihnen >einfacher<, sich zurückzuziehen und allein zu essen, als über ihre Verletztheit und ihren Ärger zu sprechen.

 

ISOLDE hat bereits die verschiedensten Diäten ausprobiert, war in einer Selbsthilfegruppe für Übergewichtige und hat mit großer Willensanstrengung bereits wiederholt über 80 kg abgenommen. Ihr Problem ist, daß sie dieses Gewicht nicht halten kann und schon nach sehr kurzer Zeit wieder genauso übergewichtig ist wie vorher. Als <Dicke> kommt sie mit Männern gut zurecht, weil die meist eher kumpelhaft mit ihr umgehen. Sobald sie aber schlank und attraktiv ist, flirten viele Männer mit ihr und machen sexuelle Annäherungsversuche. Darüber ist Isolde sehr ärgerlich, weil sie sich als Sexobjekt benutzt und als Mensch nicht ernstgenommen fühlt. Ihr machen die sexuellen Angebote Angst, weil sie als Kind sexuell mißbraucht wurde und seither das Gefühl hat, sie habe kein Recht, sich einem Mann sexuell zu verweigern. Verstandesmäßig weiß sie zwar, daß dies Unsinn ist, das nützt ihr aber nicht viel. In ihren Partnerbeziehungen läßt sie sich immer wieder gegen ihren Willen <beschlafen>.

Es fällt ihr sehr schwer, sich aus diesen ausbeuterischen Beziehungen zu lösen, weil der jeweilige Mann, der meist von ihrem Geld lebt, sie mit Selbstmord oder Mordandrohungen unter Druck setzt. Durch das Dicksein macht sich Isolde so unattraktiv, daß die Männer sie in Ruhe lassen. In dem Maße, wie sie in der Psychotherapie lernt, unerwünschte Kontakte durch ihr Verhalten abzublocken und selbst zu bestimmen, mit wem sie wieviel Zeit verbringen will, verschwindet auch die Eßstörung, und ihr Gewicht normalisiert sich.

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Schließlich hat sie so viel Selbstbewußtsein entwickelt, daß sie ihren Vater auf seine sexuellen Übergriffe ansprechen kann und von ihm Rechenschaft verlangt. Nachdem diese Gespräche für sie recht befriedigend verlaufen und sie sich in ihrem neuen Selbstwertgefühl sonnt, hat sie eines Tages die Idee, das Rauchen aufzugeben, weil es ihr plötzlich unsinnig erscheint, ihren Körper weiterhin so zu schädigen. Sie hat keine Probleme, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen.

 

Magersucht 

 

In einer amerikanischen Studie fand man, daß die Hälfte der magersüchtigen oder eß-brechsüchtigen Frauen als Kinder sexuell mißbraucht wurden. Bei Magersucht nehmen Frauen absichtlich bis zu etwa einem Viertel oder gar zur Hälfte ihres Körpergewichtes ab. Der Körper paßt sich dieser Unterernährung an, indem er alle überflüssigen Leistungen einstellt. So bleibt die Regelblutung aus, das sexuelle Interesse verschwindet, der Blutzuckerspiegel ist herabgesetzt und es kommt zu einer leichten Untertemperatur.

Die Frauen scheinen relativ unempfindlich gegen Kälte oder Verletzungen zu sein und merken gar nicht richtig, wenn sie müde und erschöpft sind. Sie scheinen kein Gefühl für ihren Körper zu haben und empfinden sich trotz ihrer schon abstoßenden Magerheit immer noch als >fett<. Da Magersucht vorwiegend bei jungen Frauen in der Pubertät auftritt, hat man schon immer die Vermutung gehabt, magersüchtige Frauen würden sich durch ihr Hungern dagegen wehren, Frau zu werden. Viele Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, entwickeln erst in der Pubertät jene psychischen und körperlichen Probleme, mit denen sie sich dann unter Umständen lebenslang herumschlagen müssen.

Erst mit der sexuellen Aufklärung in der Pubertät begreifen viele Betroffene, was der Mißbraucher mit ihnen gemacht hat. Welche Pein muß es für die Mädchen sein, die sexuell mißbraucht wurden, wenn sie von ihrer Umgebung auf ihre weiblichen Körperformen, ihre wachsenden Brüste oder ihre Regelblutung angesprochen werden und zunehmend den begehrlichen Blicken von Männern ausgesetzt sind? Wie stellt man das ab? Wie sollen diese Mädchen jemandem erklären, warum sie sich nicht wie die anderen über diese Entwicklung freuen können? Was bleibt da noch, außer durch Hungern die weibliche Entwicklung aufzuhalten, solange es geht?

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Und was für eine Befriedigung, über den eigenen Körper bestimmen zu können und durch das Hungern Macht und Einfluß auf das Verhalten anderer Menschen zu haben. Die oft eher übergewichtigen Mädchen bekommen am Anfang für ihr Abnehmen Bewunderung und Zuwendung, was ihnen ein Gefühl von Stolz, Stärke und Sicherheit verschafft. Sie zeigen bei der Ernährung sehr viel Selbstbeherrschung und achten auf ihre Figur, tun also genau das, was in vielen Familien und in der Gesellschaft als sehr erstrebenswert gilt. Viele magersüchtige Frauen sind sehr ehrgeizig, leistungsorientiert, pflichtbewußt oder gar perfektionistisch und ständig aktiv. Das sind alles Eigenschaften, die unsere Gesellschaft für besonders wertvoll hält, so daß es scheint, wie wenn hinter der Magersucht eine große Sehnsucht nach Anerkennung steckt.

Diese treibt die Frauen dazu an, alles noch besser machen zu wollen als andere Frauen. So übertreiben sie auch ihr Hungern, selbst wenn sie dafür längst keine Bewunderung mehr bekommen, sondern nur noch sorgenvoll kritisiert werden. Aber das ist immer noch besser als gar nicht mehr beachtet zu werden. Das Hungern bleibt für magersüchtige Frauen eine wichtige Möglichkeit, sich positiv von anderen Menschen abzuheben und etwas Besonderes zu sein. Das Körpergewicht wird daher für sie zum wichtigsten Maßstab darüber, was sie können und was sie wert sind.

Gerade Mädchen, die sexuell mißbraucht wurden, haben ein sehr starkes Bedürfnis nach Orientierung, Kontrolle, Selbstaufwertung und Zuwendung. Es ist darum nicht verwunderlich, wenn viele von ihnen Eßstörungen dieser Art haben, weil diese eine Art Heilungsversuch darstellt. Viele magersüchtige Frauen übersehen, daß sie neben ihrem Gewichtsproblem auch noch ganz andere und viel dringender zu lösende Lebensschwierigkeiten haben. Durch ihre Magersucht können sie sich von sämtlichen anderen Problemen ablenken.

Auf diese Weise wird das Leben sehr übersichtlich: Viele magersüchtige Frauen glauben, daß sie alle Probleme im Griff haben, solange es ihnen gelingt, ihren Hunger zu beherrschen. Hier ist also der gleiche psychische Mechanismus am Werk wieder, der zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwängen führt. In einer Lebenssituation, in der man hilflos ist und wenig Einfluß hat, muß die Psyche ein System erfinden, das die Illusion von Macht und Kontrolle gibt. Magersucht ist ein solches System — das auf Dauer allerdings auch lebensgefährlich wird, weil es zu schweren körperlichen Schäden und Todesfolgen führen kann.

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Eß-Brechsucht

Aus der Magersucht entwickelt sich leicht eine Eß-Brechsucht, denn je mehr eine Frau hungert, desto stärker wird ihr Bedürfnis, etwas zu essen. Wenn Frauen diesem Impuls nachgeben, essen sie oft mehr als sie wollen. Aus Verzweiflung und Beschämung darüber, daß sie schwach geworden sind, essen sie dann oft wie unter einem Zwang weiter. Je mehr sie essen, desto größer wird ihr Unbehagen, ihre Unzufriedenheit und ihr Selbsthaß; je größer ihr Selbsthaß, desto mehr suchen sie im Essen Zuflucht und Trost. Dieser Teufelskreis endet oft erst dann, wenn der Bauch so spannt und wehtut, daß sie nichts mehr zu sich nehmen können. Aus der Angst <dick und fett> zu werden, entsteht dann der Wunsch, das Essen wieder rückgängig zu machen. Dafür gibt es nur zwei Wege: Abführmittel oder Erbrechen.

Und so entwickelt sich ein regelrechter Zwang, nach dem Essen absichtlich zu erbrechen, weil nur so das körperliche und psychische Unbehagen beseitigt und das Traumgewicht gehalten werden kann. Wenn nach dem Essen sowieso wieder alles erbrochen wird, spielt es keine Rolle mehr, was oder wieviel man ißt. Darum kommt es bei eß-brechsüchtigen Frauen immer häufiger zu richtigen <Freß-Orgien>. Diese unkontrollierbaren Eßanfälle mit anschließendem Erbrechen und Saubermachen haben trotz der Schmerzen beim Erbrechen, der Selbstvorwürfe und der Angst, entdeckt zu werden, auch gute Seiten. Sie lenken von anderen Alltagsproblemen ab und führen durch die körperliche Anstrengung beim Erbrechen zu einem wohltuenden Erschöpfungszustand.

Manchmal erleben Frauen dies wie eine Art reinigendes Ritual. Die meisten eß-brechsüchtigen Frauen verheimlichen ihr Leiden vor anderen. Nach außen wirken sie attraktiv, selbstbewußt, problemlos und hilfsbereit. Sie spielen die Rolle >Mir geht es gut<, weil sie dafür von anderen noch am ehesten Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommen. Daß sie sich häßlich, nicht liebenswert und einsam fühlen, vertrauen sie keinem an.

Es fällt ihnen schwer, andere Menschen hinter ihre Fassade schauen zu lassen, wo sie sich liebesbedürftig und verletzlich fühlen. Oftmals verbergen sie diese Empfindungen sogar vor sich selbst, so daß sie selbst nicht mehr wissen, ob sie einsame, depressive oder lebensfrohe, problemlose Frauen sind. Sie sind sich selber fremd, weil sie aufgehört haben, ihre Gefühle ernst zu nehmen oder sie als zu belastend beiseite geschoben haben. Die Eß-Brech-Anfälle erscheinen dann wie ein Betäubungsmittel für das seelische Leiden.

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 Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden