7 Die Vorstufen psychischer Erkrankungen Marion Reinhold 1994
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In den folgenden Kapiteln dieses Buches sollen die psychischen Beeinträchtigungen und Störungen beschrieben werden, unter denen Menschen leiden, die als Kind sexuell mißbraucht wurden. Es gibt kaum eine psychische Erkrankung, die nicht nach sexuellem Mißbrauch auftreten kann. Andererseits gibt es keine psychische Erkrankung, die nur speziell bei den Opfern sexuellen Mißbrauchs auftritt.
Was am sexuellen Mißbrauch krank macht, ist nicht der Umstand, daß die Betroffenen schon als Kinder sexuelle Erfahrungen hatten, sondern daß sie vielfältige und schwere Enttäuschungen durch Vertrauenspersonen erlebten, so daß sie sich nirgendwo mehr sicher fühlen und selbst nahen Bezugspersonen nicht mehr trauen können.
Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, die in ihrem Leben körperliche Gewalt, seelische Mißhandlungen, gefühlsmäßige Vernachlässigung oder schlimme Verluste erfahren haben und in ihrem Vertrauen zu sich und anderen Menschen ähnlich gestört wurden, entwickeln die gleiche Bandbreite psychischer Störungen wie die Opfer sexuellen Mißbrauchs.
Menschen sind psychisch umso gestörter, je mehr schmerzliche Erlebnisse sie in ihrem Leben erleiden mußten und je größer ihre seelische Belastung insgesamt ist. Die ersten Anzeichen psychischer Beeinträchtigung können sich darin zeigen, daß sich Menschen selbstkritisch, kontaktscheu, unsicher, nervös oder gereizt verhalten. Da diese Merkmale in breiten Schichten der Bevölkerung zu finden sind, werden sie als normal hingenommen.
Auf einer zweiten Vorstufe zur psychischen Erkrankung werden die Beeinträchtigungen schon etwas auffälliger: Es zeigen sich deutliche Selbstunsicherheiten, Minderwertigkeitsgefühle, Selbstvorwürfe, auffallende Stimmungsschwankungen, aggressive Ausbrüche oder eine erhöhte Anfälligkeit für körperliche Beschwerden, wie z.B. unruhiger oder verkürzter Schlaf, Verdauungsstörungen, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, Erkältungen. Da es einer Vielzahl von Menschen ähnlich ergeht, gelten auch diese Anzeichen noch als fast normal.
Trotzdem stellt diese zweite Vorstufe den Übergang zu eindeutigen psychischen Erkrankungen dar, wobei man sich die Grenze zwischen >gesund< und >krank< fließend vorstellen muß. Die meisten Menschen stellen sich Gesundheit und Krankheit immer als zwei klar getrennte Zustände vor, so daß man entweder krank oder gesund ist. So wie ein Mensch nie zu 100% krank ist, weil es immer auch Bereiche gibt, in denen er weiterhin gut funktioniert, so ist auch kein Mensch zu 100% gesund.
Abbildung 13: Je stärker die seelischen Belastungen im Leben von Menschen,
desto beeinträchtigender die psychischen Störungen, die sie entwickeln.
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Es scheint daher sinnvoll, sich Gesundheit und Krankheit als ineinander übergehende Zustände vorzustellen. Dann trägt jeder Mensch sowohl gesunde, gut funktionierende als auch kranke, nicht gut funktionierende Anteile in sich. Ein Mensch erscheint dann nur solange als gesund, wie sein gesunder Anteil deutlich größer als sein kranker ist. Und umgekehrt verfügt ein Mensch, der psychisch krank geworden ist, trotz seiner Störungen noch immer über viele gesunde Anteile. Wenn diese gesunden Anteile weniger werden, erscheint auch der Mensch nach außen hin immer kränker.
Von allen psychischen Störungen gibt es leichte, mittlere und schwere Formen. Sie spiegeln den Grad der seelischen Belastetheit eines Menschen wieder. Zu ihnen gehören Depressionen, Ängste, psychosomatische Störungen, Suchterkrankungen, Zwänge, Persönlichkeitsstörungen und Psychosen. Den Wechsel vom Gesundsein zum Kranksein kann man auch beschreiben als einen allmählichen Wandel der optimistischen Lebenseinstellungen in eine pessimistische. Relativ gesunde Menschen werden hin und wieder an sich und ihren Mitmenschen zweifeln, meistens aber der Überzeugung sein, daß sie und ihre Mitmenschen in Ordnung sind. Je kränker Menschen werden, desto öfter werden sie sich und/oder ihre Mitmenschen als schlecht verurteilen und desto seltener werden sie mit sich und anderen zufrieden sein. Umgekehrt muß man sich auch die Heilung immer als eine schrittweise Annäherung in Richtung optimistischere Lebenseinstellung und Gesundheit vorstellen.
Die meisten Frauen, die wegen der Folgen ihres sexuellen Mißbrauchs zur Psychotherapie kommen, leiden an mehreren psychischen Beeinträchtigungen und Störungen zugleich.
Ohnmachtsgefühle
Was den sexuellen Mißbrauch für Kinder so schlimm macht, ist die vielfach wiederholte Erfahrung, daß sie selbst ohnmächtig und hilflos sind. Was sie auch tun, sie können oft nicht verhindern, daß sie auf eine Weise angefaßt werden oder jemand anderen anfassen müssen, wie sie das selbst nicht wollen. Dies wiederholt sich mit jedem neuen sexuellen Übergriff und gräbt sich tief in das Erleben der Kinder ein.
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Und wenn Kinder trotz des Verbotes ihres Mißbrauchers ihr Schweigen brechen, glauben ihnen viele Erwachsene nicht, so daß sie wieder vom vertrauten Gefühl der Ohnmacht heimgesucht werden. Ebenfalls hilflos und ohnmächtig fühlen sich Kinder, wenn ihnen nach der Aufdeckung des sexuellen Mißbrauchs eine Mitschuld zugeschrieben wird, obwohl sie selbst doch nie Sex mit einem Erwachsenen haben wollten, die Umwelt sich aber von dieser Unterstellung nicht abbringen läßt. Manche Kinder werden gezwungen, vor der Polizei oder dem Gericht über ihre beschämenden sexuellen Erlebnisse zu reden, obwohl sie das nicht wollen. Von der psychischen Wirkung her kommt dies für die Kinder oft einer Wiederholung des sexuellen Mißbrauchs gleich. Selbst gutgemeinte Lösungsversuche von Angehörigen nach der Aufdeckung des sexuellen Mißbrauchs sind für manche Kinder mit weiteren Ohnmachtsgefühlen verbunden, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Eine Mutter bringt ihre Tochter nach der Aufdeckung des sexuellen Mißbrauchs gegen deren Willen in einem Internat unter, weil sie sich von ihrem mißbrauchenden Mann nicht trennen kann, aber ihre Tochter vor weiteren Übergriffen schützen will.
Eine Mutter zwingt ihre Tochter zur Versöhnung mit ihrem Vater und drängt sie, ihn nicht mehr mit Ablehnung zu behandeln, weil sie die Spannungen zwischen Tochter und Mann nicht mehr ertragen kann. Der Tochter ist damit die Möglichkeit genommen, über ihre beim sexuellen Mißbrauch erlebte tiefe Kränkung zu klagen und sich so Erleichterung zu verschaffen.
Eine Mutter drängt ihre zwölfjährige Tochter, mit ihr über ihren sexuellen Mißbrauch zu reden und bringt sie gegen ihren Wunsch in eine Psychotherapie. Sie tut dies, weil sie sich durch ihre psychischen Reaktionen und Beeinträchtigungen ihrer Tochter aufs unangenehmste an ihren eigenen sexuellen Mißbrauch erinnert fühlt.
Die sexuellen Übergriffe sind also nur ein Teil der vielen Ohnmachtserfahrungen, die mit dem sexuellen Mißbrauch und seiner Aufdeckung verbunden sind.
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Das Gemeinsame all dieser Erlebnisse ist, daß die Kinder mit ihren Bedürfnissen nicht zum Zuge kommen, weil die Erwachsenen sich vorwiegend nach ihren eigenen Interessen richten und das Wohlergehen des Kindes völlig aus dem Auge verlieren. Dies vermittelt Kindern den Eindruck, daß sie sich gar nicht bemühen brauchen, irgend etwas zu verändern, weil sie sowieso keine Chance haben, ihre Wünsche durchzusetzen. Sie kommen zu der Überzeugung, daß sie ohnmächtig sind und nichts ausrichten können. Mit dieser Vorstellung werden sie erwachsen, und manche glauben dies ihr ganzes Leben lang.
So haben die meisten Frauen, die als Kinder sexuell mißbraucht wurden und deshalb zu mir in Psychotherapie kamen, Probleme, sich klar gegen die Wünsche und Erwartungen anderer Menschen abzugrenzen, deutlich eine eigene Meinung zu vertreten, anderen zu widersprechen, nein zu sagen, Kritik zu äußern, Forderungen zu stellen oder sich gegen ungerechte Behandlung und Belästigungen zu wehren. Zu oft wurden sie in ihrem Leben für solch ein selbstbewußtes Verhalten mit Liebesentzug oder Vorwürfen bestraft. Wenn die Frauen sich dann doch einmal dazu durchringen, ihre Wünsche energisch zu vertreten, bekommen sie Schuldgefühle und Angst vor Liebesentzug.
Sie sind so an ihre eigene Ohnmacht gewöhnt, daß sie vor ihrer Macht erschrecken, Alltagssituationen und das Verhalten ihrer Mitmenschen erfolgreich zu beeinflussen. So wie die beiden Gegenkräfte Gas und Bremse bei einem Auto absolut notwendig sind, damit man mit ihm fahren kann, sind >Liebsein< und >Bösewerden< notwendige steuernde Kräfte, damit eine Frau ihr Zusammenleben mit anderen Menschen für sich einigermaßen gerecht und befriedigend gestalten kann. Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden und zur Psychotherapie kommen, geraten immer wieder in Beziehungsschwierigkeiten und erleben ständig neue Ohnmacht, weil sie das >Liebsein< zu gut und das >Bösewerden< fast gar nicht beherrschen. Die Frauen sind nicht in der Lage, sich erfolgreich gegen Mißachtung und Kränkung zu wehren. Dies ist eine Folge ihres sexuellen Mißbrauchs, ihres schlechten Elternhauses und der traditionellen Frauenrolle.
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KARIN ist als Kind sexuell mißbraucht und seelisch mißhandelt worden. Sie hat deswegen starke Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle entwickelt und ist vor lauter >Liebsein< nicht in der Lage, ihre gesetzlichen Rechte für sich in Anspruch zu nehmen. Als sie z.B. von einem Autofahrer so geschnitten wurde, daß sie von der Straße abkam, erstattete sie keine Anzeige, obwohl sie einen Zeugen für den Unfall hatte, der für sie aussagen wollte. Und als sie sich von ihrem Mann trennte, weil er sie schlug und wie ein unmündiges Kind behandelte, verzichtete sie auf viele ihrer Ansprüche, die sie von Rechts wegen gegen ihren Mann hätte geltend machen können. Sie war so oft in ihrem Leben wehrlos und ohnmächtig gewesen, daß sie sich nicht mehr vorstellen konnte, daß sie auch einmal gewinnen könnte. Es fehlte ihr die Kraft zum Streiten und Kämpfen und sie fand sich selbst so minderwertig, daß sie meinte, dies stände ihr nicht zu.
Schuldgefühle
Viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, fühlen sich deswegen schuldig. Die Schuldgefühle sind dabei in folgenden Fällen besonders ausgeprägt:
wenn der sexuelle Mißbrauch sich über eine längere Zeit wiederholte oder das Kind bereits älter war, so daß die Betroffenen als Erwachsene oft nicht mehr verstehen, warum sie damals nicht schon früher jemanden eingeweiht haben;
wenn das Kind die Zuwendung oder die körperlichen Empfindungen beim sexuellen Mißbrauch auch genossen hat und daher als Erwachsene vermutet, daß es den sexuellen Mißbrauch selbst gewollt haben müßte;
wenn das Kind nach der Aufdeckung des sexuellen Mißbrauchs z. B. bei strafrechtlichen Untersuchungen von anderen Menschen als verführerisch oder als mit dem sexuellen Mißbrauch einverstanden hingestellt wird;
wenn die Familienangehörigen dem Kind Vorwürfe machen, weil wegen ihm der mißbrauchende Vater inhaftiert wird.
Auch Kinder, für die diese Merkmale nicht zutreffen, leiden als Erwachsene unter Schuldgefühlen, was vielen Außenstehenden unverständlich ist. Wieso fühlen sich die Opfer und Leidtragenden wegen dieser Erlebnisse schuldig? Dafür gibt es verschiedene Gründe.
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Fast alle Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, beschäftigen sich mit der Frage, wie es zu diesen Übergriffen kommen und wie ihnen der Mann so etwas antun konnte. Auf der Suche nach einer Erklärung orientieren sie sich sehr stark an der öffentlichen Meinung. Die Öffentlichkeit aber ist, wie wir gesehen haben, darum bemüht, das Verhalten des Täters zu entschuldigen und bei den Opfern nach einer Mitschuld zu suchen. Jeder weiß, wie schwer es ist, bei seinem Standpunkt zu bleiben und sich von der gegenteiligen Meinung einer überwältigenden Mehrheit nicht beeinflussen zu lassen. Menschen mit geringem Selbstvertrauen oder gar mit Minderwertigkeitsgefühlen, die sich schnell für etwas verantwortlich fühlen, orientieren sich sehr stark an der Meinung der Mehrheit und sind außerdem besonders empfänglich für Schuldgefühle. Daher können nur sehr selbstbewußte Frauen erkennen, daß sie, entgegen der öffentlichen Meinung, keinerlei Schuld am sexuellen Mißbrauch hatten.
Wie im vorangegangenen bereits beschrieben, haben die betroffenen Frauen selbst oft das Bedürfnis, ihren Mißbraucher zu entschuldigen. Je größer das Vertrauen und je stärker die emotionale Bindung des Kindes zu dem mißbrauchenden Mann ist, desto wichtiger ist es für das Kind, diesen Mann in einem guten Licht zu sehen. Weil es für seine psychische Entwicklung die Illusion von Geborgenheit, Schutz und Fürsorge braucht, muß ein Kind die sexuellen Übergriffe des Mißbrauchers vor sich selbst verharmlosen und entschuldigen. Die psychischen Beeinträchtigungen, die sich aus dem sexuellen Mißbrauch entwickeln, lassen sich nur heilen, wenn es den Betroffenen im Erwachsenenalter gelingt, ihre immer noch bestehende Gefühlsbindung an den Mißbraucher zu lösen und das ganze Ausmaß seiner Schuld zu erkennen. Dies ist oft ein langer Prozeß und braucht viele klärende Gespräche in der Psychotherapie, in denen die Entschuldigungen für das Verhalten des Mißbrauchers hinterfragt werden müssen. Beispielsweise erklären sich einige Frauen die sexuellen Übergriffe damit, daß der sexuelle Trieb des Mißbrauchers so stark war, daß er ihn nicht mehr kontrollieren konnte. Meine Antwort daraufist, daß es keinen Beweis dafür gibt, daß Männer von Natur aus einen stärkeren sexuellen Trieb haben als Frauen.
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Es scheint eher eine Ausrede von jenen Männern zu sein, die sich sexuell an Frauen oder Kindern vergangen haben und sich dann vor ihrer Verantwortung drücken möchten. Aber selbst wenn Männer einen stärkeren sexuellen Trieb als Frauen hätten, gäbe es immer noch ein sehr einfaches Mittel, diesen ohne Schaden für andere abzureagieren, nämlich die Selbstbefriedigung.
Manche Frauen meinen, der Mißbraucher sei psychisch krank gewesen und darum für das, was er tat, nicht verantwortlich. Darauf erwidere ich, daß die Mißbraucher fast nie geistig zurückgeblieben, verkalkt oder verrückt sind. Die meisten Täter wissen genau, daß sie ein Kind sexuell mißbrauchen und daß dies in unserer Kultur ein Verbrechen darstellt. Fast alle Männer verpflichten das Kind deshalb auch zur Geheimhaltung. Auch psychisch kranke Menschen sind noch weitgehend in der Lage, verantwortungsbewußt zu handeln oder sich in einer Psychotherapie Hilfe zu holen, wenn sie merken, daß mit ihnen etwas nicht stimmt.
Häufig sagen Betroffene, daß der Mißbraucher betrunken war und nicht wußte, was er tat. Hier gebe ich zu bedenken, daß Alkohol kein Entschuldigungsgrund sein kann. Erwachsene sind dafür verantwortlich, so kontrolliert zu trinken, daß sie anderen keinen Schaden zufügen können. Wer z.B. alkoholisiert Auto fährt, wird bestraft, weil er mit diesem Verhalten andere gefährdet. Manche Frauen sind der Meinung, der Mißbraucher sei sexuell unbefriedigt und ausgehungert gewesen und habe bei ihnen Trost gesucht, weil seine Frau nicht mehr mit ihm schlafen wollte. Dazu ist meine Antwort, daß sich viele Mißbraucher an Kindern vergehen, obwohl sie Sex mit einer Frau haben.
Auch wenn ein Mann keinen Sex mit einer Frau haben kann, kann dies keine Entschuldigung dafür sein, daß er ein Kind sexuell mißbraucht. Im übrigen hat jede Frau das Recht, ihrem Mann Sex zu verweigern und umgekehrt. Schließlich sollte eine Ehe mehr sein als eine von Kirche und Staat abgesegnete Prostitution. Frauen, die sich ihrem Mann sexuell verweigern, tragen deswegen keine Schuld an dem sexuellen Mißbrauch. Die Verantwortung dafür trägt allein der mißbrauchende Mann. Eine andere Art der Entschuldigung für die sexuellen Übergriffe ist, daß der Mißbraucher den Betroffenen damit nur etwas Gutes tun wollte: »Er wollte mich aufklären und mir beibringen, mich für Männer sexuell attraktiv zu machen.
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Er wollte mir angenehme Körperempfindungen vermitteln. Er wollte nur, daß wir uns näher sind und uns besser verstehen.« Wenn der Mißbraucher tatsächlich so selbstlos handeln und nur Gutes für das Kind tun wollte, warum hielt er dann sein Tun vor anderen Erwachsenen geheim? Sexueller Mißbrauch hat selten gute Auswirkungen, sondern bereitet Kindern eine Menge Schwierigkeiten, vor allem wenn er neben den Ohnmachtserfahrungen auch von angenehmen Gefühlen und Körperempfindungen begleitet war.
Frauen entwickeln auch Schuldgefühle, daß sie als Kind sexuell mißbraucht oder als Erwachsene vergewaltigt wurden, wenn der Täter nicht aus ihrem Familien- oder Freundeskreis stammt, sondern ihnen völlig fremd war. Auch hier erscheinen die Schuldgefühle auf den ersten Blick völlig fehl am Platz. Eine mögliche Erklärung ist, daß die Betroffenen deswegen Schuldgefühle entwickeln, weil diese leichter zu ertragen sind als die Ohnmachtsgefühle. Schuldgefühle muß man als die Folge einer Selbstschutzreaktion verstehen. Menschen brauchen ein Gefühl der Sicherheit und der Kontrolle über ihr Leben. Versicherungsgesellschaften leben von diesem Bedürfnis. Sicher fühlt man sich dann, wenn man überzeugt ist, daß man Gefahren vorhersehen und abwenden kann. Dort wo es diese Sicherheit nicht gibt, wird sie einfach erfunden.
Ein Naturvolk, das völlig abgeschnitten von anderen Zivilisationen am Fuße eines Vulkans lebte und ständig unvorhersagbaren Vulkanausbrüchen ausgesetzt war, konnte diese fortwährende Lebensbedrohung durch seine Religion relativ gut ertragen. Diese Menschen glaubten, daß der Gott des Vulkans die Einhaltung ganz bestimmter Gebote und Verbote von ihnen verlangte und nur ausbreche, wenn diese von einem Stammesmitglied mißachtet würden. Durch strikte Einhaltung der religiösen Gesetze und durch regelmäßige Opferrituale versuchten sie den Vulkangott zu besänftigen und so weitere Ausbrüche zu verhindern.
Durch ihre Religion hatten sich diese Menschen ein psychisches System der Sicherheit und Kontrolle erfunden, das nur in ihren Köpfen, nicht aber in der Wirklichkeit funktionierte. Der Preis für diese Illusion der Sicherheit waren Schuldgefühle, wenn der Vulkan dann doch einmal ausbrach. Einer von ihnen mußte die religiösen Gesetze übertreten und sich schuldig gemacht haben.
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Schuldgefühle geben uns ein Gefühl von Kontrolle. Wenn ich mir selbst die Schuld daran gebe, daß ich vergewaltigt wurde, dann gebe ich mir damit auch das Gefühl, daß ich so etwas in Zukunft verhindern kann. Eine Frau erzählte mir, daß sie im Urlaub beim Trampen vergewaltigt worden war. Beim weiteren Trampen bekam sie plötzlich panische Angst, als sie daran dachte: »Was ist, wenn der mich jetzt auch vergewaltigen will?« Das einzige, womit sie sich selbst etwas beruhigen konnte, war der Gedanke, daß sie in solch einem Fall Geld dafür verlangen werde. Damit fand sie für sich einen Weg, wie sie in dieser Ohnmachtssituation trotzdem noch ein wenig Kontrolle und Selbstbestimmung behalten könnte. Mit diesem Gedanken brachte sie ihre Panikgefühle wieder unter Kontrolle.
Ein wichtiges Ziel in der Psychotherapie besteht darin, die betroffenen Frauen von ihren Schuldgefühlen zu befreien, die sie zur Abwehr ihrer erlebten Ohnmacht beim sexuellen Mißbrauch aufgebaut haben. Dies ist ziemlich schwierig, weil das Nichtschuldigsein gleichzeitig bedeutet, daß man damals als Kind wehrlos war. Dies löst starke Ängste aus, daß sich diese Ohnmacht und Hilflosigkeit jederzeit wiederholen könnte. Um aus dieser Gefühlsfalle herauszukommen, versuche ich den Frauen deutlich zu machen, daß sie als Kind keinerlei Schuld an dem sexuellen Mißbrauch hatten, gleichgültig, wie sie sich damals verhalten haben. Als Kind waren sie dieser Situation wehrlos ausgesetzt, was heute aber nicht mehr der Fall ist. Damals mußten sie schweigen, weil das Reden nur Nachteile gebracht und ihr psychisches Überleben gefährdet hätte. Heute können sie den Mißbraucher und all die Menschen, die tatenlos zusahen, mit ihrer Schuld konfrontieren, weil sie diese Menschen nicht mehr zum Leben brauchen. Erst die Erkenntnis, daß sie als Erwachsene nicht mehr wehrlos sind, ermöglicht es den Betroffenen, ihre Selbstbeschuldigungen aufzugeben und die eigene Ohnmacht während des sexuellen Mißbrauchs anzuerkennen.
Manche Frauen erklären sich ihren sexuellen Mißbrauch durch verschiedene Männer damit, daß sie als Kind eine verführerische Ausstrahlung auf Männer gehabt haben müssen. Ich erkläre ihnen dann, daß sich manche Kinder zwar sexuell verführerisch verhalten, daß sie sich aber der sexuellen Bedeutung ihrer Signale nicht bewußt sind.
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Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen ist das sogenannte >verführerische< Verhalten von Kindern keine Aufforderung zum Sex. Kinder wollen sich damit meist nur die Aufmerksamkeit und Zuwendung eines Erwachsenen verschaffen, weil sie erlebt haben, daß es auf diese Weise am ehesten geht.
Andere Frauen fühlen sich für den sexuellen Mißbrauch verantwortlich, weil sie dem Mißbraucher Fragen über sexuelle Dinge gestellt haben, sich gegen die sexuellen Übergriffe nicht wehrten oder sie lange Zeit geheim hielten. Mein Einwand lautet dann, daß Erwachsene wissen, daß Fragen nach sexuellen Dingen keine Einladung für sexuelle Übergriffe darstellen und daß die fehlende Gegenwehr der Kinder nicht bedeutet, daß sie mit dem sexuellen Mißbrauch einverstanden sind.
Da Kinder nicht vorhersehen können, daß sexueller Mißbrauch ihrer psychischen Entwicklung schadet und weil Kinder den Erwachsenen meist blind gehorchen, kann ihr Verhalten nie eine gültige Zustimmung für Sex mit Erwachsenen sein. Dies gilt auch dann, wenn die Kinder bei den sexuellen Übergriffen körperliches Vergnügen, Lust und Wohlbehagen erleben, die Geschenke des Mißbrauchers annehmen oder Sex dazu benutzen, um sich Aufmerksamkeit und Zuneigung von einem Erwachsenen zu beschaffen.
Dazu muß man wissen, daß sexuelle Erregung eine natürliche, reflexartige Reaktion auf sexuelle Stimulation ist, die auch dann auftreten kann, wenn die Person keinen Sex will oder dabei unangenehme Gefühle hat. So löst z.B. das Stillen eines Babys oft unbeabsichtigte Lustgefühle bei der Mutter aus. Da die meisten Menschen von jemandem zärtlich berührt werden möchten, erleben Kinder manche Berührungen beim sexuellen Mißbrauch als angenehm. Dies bedeutet aber nicht, daß sie auch mit allem anderen einverstanden sind, was mit ihnen gemacht wird. Wie auch immer sich die Kinder während des sexuellen Mißbrauchs verhalten haben, es gilt immer der gleiche Grundsatz: Allein der Erwachsene war dafür verantwortlich, die sexuellen Grenzen zu wahren und die gefühlsmäßige Bedürftigkeit und Abhängigkeit des Kindes nicht für seine eigenen Interessen auszunutzen.
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Die Ursprünge späterer Beziehungsprobleme
Wenn Kinder nach einer Erklärung für ihren sexuellen Mißbrauch suchen, beschäftigen sie sich zwangsläufig mit der Frage: Wer war schuld bzw. hätte ich den sexuellen Mißbrauch verhindern können? Darauf sind verschiedene Antworten möglich und jede von ihnen prägt den zukünftigen Umgang mit sich und den Mitmenschen auf eine andere Weise. Hier liegen die Ursprünge für die verschiedenen Beziehungsprobleme, unter denen die Betroffenen als Erwachsene oft leiden.
Wenn die Kinder der Überzeugung sind »Ich bin unschuldig, denn ich hatte keine Chance, dem sexuellen Mißbrauch zu entkommen«, werden sie sich zwangsläufig fragen, warum der Mißbraucher sie so schlecht behandelte. Wenn sie glauben, der Mißbraucher habe sie sexuell mißbraucht, weil er ein gefährlicher, d. h. ein bösartiger oder ein kranker Mann war, werden sie in Zukunft Menschen mit einem gewissen Mißtrauen oder mit Angst begegnen, eher verschlossen und schüchtern den Kontakt zu Menschen meiden oder häufig für andere unverständlich gereizt und aggressiv reagieren, um sich so vor weiteren Kränkungen zu schützen.
Andere Kinder entwickeln die Vorstellung, der Mißbraucher habe ausgerechnet sie für den sexuellen Mißbrauch ausgesucht, weil sie wertlose Menschen und nicht liebenswert seien und daher keine bessere Behandlung verdient hätten. Die Betroffenen fühlen sich aufgrund dieser Überzeugung sehr minderwertig und anderen Menschen unterlegen.
Manche Kinder glauben, daß sie selbst an dem sexuellen Mißbrauch schuld seien, weil sie den sexuellen Mißbrauch insgeheim gewollt und durch ihre Ausstrahlung oder ihr Verhalten herausgefordert hätten. Sie halten sich selbst für verdorben und böse, hassen sich, gehen verachtend und rücksichtslos mit sich um, verletzen sich oft selbst oder verdammen sich als Wiedergutmachung dazu, ihr Leben in den Dienst anderer Menschen zu stellen. Andere Kinder sind der Ansicht, sie seien deshalb an dem sexuellen Mißbrauch schuld, weil sie zu dumm waren, sich zu wehren. Diese Vorstellung führt dann dazu, daß die Betroffenen sehr sensibel auf Kritik und Verletzungen reagieren, sich schnell von anderen angegriffen fühlen und sich für ihre Umwelt unverständlich aggressiv verhalten.
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Abbildung 14:
Welche Schlußfolgerungen Betroffene aus ihrem sexuellen Mißbrauch ziehen
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Auch wenn die Betroffenen alle diese Erklärungen meist abwechselnd benutzen, bilden sich doch meist Schwerpunkte heraus. Auf welche Weise Kinder ihren sexuellen Mißbrauch verarbeiten, ist darum so wichtig, weil oft auch andere Kränkungen, die sich nach dem sexuellen Mißbrauch im Leben dieser Menschen ereignen, auf eine ganz ähnliche Art verarbeitet und erklärt werden. Auf diese Weise können sich negative Weltbilder immer deutlicher herausbilden und zur Entwicklung von Beziehungsproblemen führen. Bei der Auswahl der bevorzugten Erklärung spielt die Geschlechtszugehörigkeit eine wichtige Rolle. Während Mädchen den sexuellen Mißbrauch eher damit erklären, daß sie selbst wertlos und nicht liebenswert sind oder die sexuellen Übergriffe vielleicht insgeheim herausgefordert haben, führen Jungen den sexuellen Mißbrauch eher darauf zurück, daß sie sich nicht richtig gewehrt haben und Menschen gefährlich und bösartig sind.
Minderwertigkeitsgefühle
Als Folge ihres sexuellen Mißbrauchs und der dadurch ausgelösten Ohnmachts- und Schuldgefühle entwickeln viele Frauen massive Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle, die sich in folgenden Gedanken bemerkbar machen:
»Ich bin anders als andere Frauen.«
»Ich bin nicht normal, weil ich als Kind Sex mit einem Mann hatte.«
»Ich werde nie ein normales Leben führen können, denn der Schaden, den ich erlitten habe, ist nicht wieder gutzumachen.«
»Ich bin minderwertig und anderen Menschen unterlegen, weil ich sexuell mißbraucht wurde.«
»Jeder, der erfährt, daß ich als Kind bereits Sex mit einem Mann hatte, wird nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.«
»Ich bin so schlecht, daß ich mich anstrengen muß, damit mich jemand mag.«
»Ich bin so wertlos, daß ich keine Ansprüche stellen darf.«
»Ich habe kein Recht darauf, daß andere auf mich Rücksicht nehmen.«
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»Ich bin so minderwertig, daß sich nur noch schlechte, wertlose Kerle für mich interessieren.«
»Ich wurde schon so oft ausgenutzt, daß es gar nichts mehr ausmacht, wenn mich noch mehr Leute ausnutzen.«
»Es ist völlig gleichgültig, was mit mir im Leben noch alles geschieht.«
»Ich habe nicht das Recht, mich irgendeinem Mann sexuell zu verweigern.«
Die Selbstverachtung, die aus diesen Gedanken spürbar wird, ist umso ausgeprägter, je mehr Zurückweisungen und Verletzungen die Frauen außer ihrem sexuellen Mißbrauch sonst noch in ihrem Leben ertragen mußten. Dem Prinzip »Lieber schuldig als ohnmächtig« folgend, entwickeln die meisten bereits als Kinder die Vorstellung »Ich werde so schlecht behandelt, weil ich schlecht bin.«
Minderwertigkeitsgefühle können sich auf vielfältige Weise bemerkbar machen: So können sich z.B. selbst gutaussehende Frauen unattraktiv, häßlich und abstoßend finden und sich nicht gern fotografieren lassen. Manche halten zu Unrecht viele ihrer Mitmenschen für wesentlich klüger, geistreicher und fähiger als sich selbst. Viele der Frauen haben Angst davor, etwas falsch zu machen, unangenehm aufzufallen oder kritisiert zu werden. Viele trauen sich nicht, in einer größeren Runde zu sprechen oder eine andere Meinung zu vertreten als die Mehrheit. Einige verhalten sich schüchtern und unsicher, weichen dem Blick anderer Menschen aus und kommen total durcheinander, wenn sie sich von anderen beobachtet fühlen. Manche haben große Schwierigkeiten, Kontakte zu knüpfen und gehen wenig unter Menschen. Viele haben vor Autoritäten großen Respekt. Bei Bewerbungsgesprächen können sie sich oft nicht gut darstellen und einige sind in Prüfungen vor Angst so gelähmt, daß sie nicht mehr klar denken können.
So streng und selbstkritisch viele betroffene Frauen mit sich selbst umgehen, so nachsichtig und verständnisvoll ist ihre Haltung ihren Mitmenschen gegenüber. Diesem Messen nach zweierlei Maß liegt die Überzeugung zugrunde: »Ich bin nicht in Ordnung, aber die anderen sind in Ordnung.«
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Aus dieser Unterschätzung der eigenen Person und der gleichzeitigen Überschätzung anderer Menschen werden die Minderwertigkeitsgefühle ständig genährt. Durch folgende Mechanismen halten die Frauen selbst ungewollt ihre Minderwertigkeitsgefühle aufrecht und verstärken sie noch:
1. Die Frauen schenken ihren Schwächen, Fehlern und Mißerfolgen ungewollt sehr viel mehr Aufmerksamkeit als ihren Stärken, Begabungen und Erfolgen. Letztere fallen meist als Selbstverständlichkeiten unter den Tisch. Wenn man die Frauen auf ihre besonderen Leistungen und Stärken aufmerksam macht, sind sie oft peinlich berührt und wechseln schnell das Thema. Dies zeigt, wie schwer es ihnen fällt, Lob und Anerkennung anzunehmen.
2. Wenn im Alltag etwas schief geht oder die Frauen sich ohnmächtig und verletzt fühlen, suchen sie die Schuld dafür vorwiegend bei sich selbst und selten bei ihren Mitmenschen.
3. Da sie durch ihr Verhalten anderen Menschen signalisieren, daß sie keine gute Meinung von sich haben und sich schlecht wehren können, werden sie von anderen auch häufig respektlos behandelt.
Sucht nach Selbstbestätigung
Nun gibt es Frauen, die ihre Minderwertigkeitsgefühle recht gut vor anderen Menschen verbergen können und aktiv gegen ihr negatives Selbstbild ankämpfen, indem sie sich um beruflichen Erfolg, um Ansehen und Anerkennung bemühen. Viele sind ehrgeizig, fleißig, sehr engagiert und übernehmen oft Ehrenämter. Aufgrund ihres umgänglichen Wesens und ihrer großen Hilfsbereitschaft sind sie bei anderen beliebt. Auch wenn sie viel geleistet und erreicht haben, worauf sie stolz sein dürfen, genügt doch bereits ein kleines Wort der Kritik, um sie wieder in ihre Selbstzweifel zu stürzen. Um dies zu verhindern, orientieren sich viele Frauen sehr stark an den Meinungen und Wünschen ihrer Mitmenschen. Manchmal nimmt diese Sucht nach Bestätigung eigenwillige Formen an:
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SIGRID hat keine gute Meinung über sich und ständig Angst zu versagen. Dadurch fällt es ihr sehr schwer, konzentriert zu lernen und sich auf ihre Prüfungen vorzubereiten. Als sie sich für eine neue Arbeitsstelle bewirbt, ist sie völlig überrascht, daß sie neben vielen anderen Bewerberinnen, eine Zusage bekommt. Dies gibt ihr soviel Auftrieb und Selbstbestätigung, daß sie sich noch um weitere Stellen bewirbt, die sie eigentlich gar nicht braucht. Obwohl sie auch hier erstaunlich oft eine Zusage bekommt, hat sie doch gleichzeitig große Angst, eine Stelle anzutreten, weil sie sich sagt: »Wenn die mich erst mal kennen, werden sie nicht mehr so begeistert von mir sein.« Das einzige, was sie ihrer Meinung nach wirklich kann, ist das Führen von Bewerbungsgesprächen. Deshalb bewirbt sie sich immer wieder um Stellen, von denen sie weiß, daß sie sie nie antreten wird.
Auf der Suche nach Selbstbestätigung konzentrieren sich die Betroffenen auf das, was sie am besten können. Daraus kann sich eine Sucht entwickeln. Manche Frauen werden magersüchtig, weil die Kontrolle über ihr Gewicht und das Abnehmen das ist, was sie deutlich besser können als die meisten anderen Menschen. Auch die Sexsucht beruht vermutlich auf solch einem Mechanismus: Eine sexsüchtige Frau beschafft sich durch jeden Mann, den sie dazu bewegen kann, mit ihr ins Bett zu gehen, ein Stück Selbstbestätigung und das Gefühl, begehrt und geliebt zu werden. Es gibt allerdings auch weniger ausgefallene Möglichkeiten der Selbstbestätigung, nämlich die Arbeitssucht und das Helfersyndrom.
Zunächst zur Arbeitssucht: Bei vielen Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, fällt auf, daß sie sehr leistungsorientiert und ehrgeizig sind. Manche reagieren schon als Kind auf den sexuellen Mißbrauch mit einer plötzlichen unerklärlichen Verbesserung ihrer Schulnoten. Für manche Frauen sind schulische oder berufliche Glanzleistungen die einzige Möglichkeit, sich Zuwendung oder Selbstbestätigung zu verschaffen und damit ihr großes Minderwertigkeitsgefühl zu lindern. Manche Frauen leben dann nur noch für ihre Arbeit. Wer arbeitet, kommt schon nicht auf dumme Gedanken und ist abgelenkt von den schmerzhaften Erinnerungen an den sexuellen Mißbrauch. Wer mehr arbeitet als die anderen, hat auch mehr Erfolg, bekommt mehr Achtung, ist mehr wert. Bei dieser Lebensweise kommt die notwendige Erholung zu kurz.
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Viele Betroffene führen ein Leben, das auf Dauer über ihre Kräfte geht und zu körperlichen Beschwerden führt. Da diese aber oft lange Zeit ignoriert werden, kommt es früher oder später zum völligen Zusammenbruch oder zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung.
Zum Helfersyndrom: Viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, zeigen ein sehr ausgeprägtes Bedürfnis, Menschen in Notlagen zu helfen, sie finanziell oder gefühlsmäßig zu unterstützen. Da sie selbst so viel Leid in ihrem Leben erfahren haben, fühlen sie sich durch die Not anderer Menschen besonders stark angesprochen und reagieren mit ungewöhnlicher Hilfsbereitschaft. Dabei verhalten sich viele der Frauen so, wie wenn die Bedürfnisse aller anderen Menschen grundsätzlich immer wichtiger wären als ihre eigenen.
In Selbsthilfegruppen sind sie oft <die große Mutter>, die alles regelt und sich für alles verantwortlich fühlt. In therapeutischen Gruppen übernehmen sie oft die Rolle der Co-Therapeutin, so daß sie auch hier meist zu kurz kommen, weil sie sich mehr um andere kümmern als um sich selbst. Nicht anders ist es in Freundschaften, wo sie mit Hilfe ihres gesunden Menschenverstandes oder ihrer Therapieerfahrungen bemüht sind, anderen bei ihren Problemen zu helfen. Oft suchen sie sich einen Partner aus, der psychisch krank, weltfremd oder so unselbständig ist, daß er ohne ihre Hilfe im Alltag schwer zurechtkommt.
Wieder andere opfern sich für ihre Eltern auf, von denen sie sich gefühlsmäßig nicht lösen können. Viele dieser Frauen bauen durch ihre enorme Hilfsbereitschaft die Illusion für sich auf, sie seien für ihre Mitmenschen unersetzlich: »Wenn ich es nicht tue, wird ihnen keiner helfen.« Sie benutzen das Gebrauchtwerden als Ersatz für echte Zuneigung und Liebe, weil sie sich diese in ihrem Alltag so schwer verschaffen können. Da sich die meisten Betroffenen aufgrund ihrer sexuellen Mißbrauchserfahrungen und anderer Kränkungen sehr minderwertig fühlen, können sie sich nicht vorstellen, daß es jemanden geben könnte, der sie ohne ihre übertriebene Hilfsbereitschaft schätzen und lieben könnte. Die meisten glauben, sie müßten anderen Menschen sehr viel bieten und sich besonders anstrengen, damit diese sie mögen oder sich mit ihnen abgeben.
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Das Helfen hat aber auch noch eine andere Funktion: Viele Frauen haben eine extrem schlechte Meinung über sich. Ein Weg, sich selbst etwas besser leiden zu können, ist der, sehr viel Gutes zu tun.
MARTINA hat keine sehr schöne Kindheit. Da die Mutter häufig krank ist, muß Martina schon mit 7 Jahren den Haushalt und die Pflege der Mutter übernehmen. Der Vater mißbraucht sie sexuell ab ihrem 8. Lebensjahr, während die Mutter in der Klinik ist. Aus Rücksicht auf ihre kranke Mutter schweigt Martina. Da sie nie viel Zeit hat, sich mit Gleichaltrigen zu treffen, hat sie auch keine tiefergehenden Freundschaften. Trotzdem ist sie bei ihren Mitschülern so beliebt, daß sie fast in jedem Schuljahr zur Klassensprecherin gewählt wird, weil sie sehr umgänglich ist und sich immer sehr für andere einsetzt.
Oft tun ihr die obdachlosen Stadtstreicher leid, denen sie auf ihrem Schulweg begegnet. Sie spricht oft mit ihnen oder gibt Ihnen etwas von ihrem Taschengeld. Weil sie nicht sehen kann, daß es anderen Menschen schlecht geht, sitzt sie selten vor dem Fernseher. Aufgrund ihres Bedürfnisses anderen zu helfen geht sie ganz in ihrem Beruf als Krankenschwester auf. Durch ihr starkes Verantwortungsgefühl und ihre Gewissenhaftigkeit arbeitet sie sich rasch zur Stationsschwester hoch, wo sie oft Überstunden macht, wenn eine ihrer Kolleginnen ausfällt.
Es fällt ihr ziemlich schwer, eine Führungsrolle einzunehmen und den anderen Anweisungen zu geben, weil sie sich dabei immer so bevormundend vorkommt und fürchtet, die anderen vor den Kopf zu stoßen. Neben ihrem Beruf kümmert sie sich weiterhin aufopferungsvoll um ihre Eltern, obwohl das gar nicht nötig ist. Sie führt ihnen den Haushalt und hört sich geduldig ihre Sorgen und Klagen an. Ihre Eltern haben sich so daran gewöhnt, von ihrer Tochter umsorgt zu werden, daß es ihnen wie eine Selbstverständlichkeit vorkommt. Das hört auch nicht auf, als Martina schließlich entgegen allen Erwartungen im Alter von 34 Jahren doch noch heiratet und eigene Kinder bekommt. Immer noch erwarten die Eltern von ihr, daß sie ihre Pflichten gegenüber ihrem Mann und ihren Kindern zurückstellt, um sich wie bisher um ihre Eltern zu kümmern. Das bringt Martina in einen großen Konflikt und führt zu Problemen mit ihrem Mann, der damit nicht einverstanden ist. Obwohl sie sich sehr anstrengt, sowohl eine gute Tochter wie auch eine gute Ehefrau und Mutter zu sein und sich dabei völlig verausgabt, kann sie doch nie alle zufriedenstellen. Schließlich bekommt sie körperliche Beschwerden und schwere Depressionen.
Dieses Beispiel macht deutlich, daß das Helfersyndrom, die Arbeitssucht oder der Leistungswahn verständliche Überlebensstrategien für Menschen mit Minderwertigkeitsgefühlen sind. Durch sie können sich Menschen ein gewisses Maß an Selbstbestätigung verschaffen, sich von den unangenehmen Erinnerungen an ihren sexuellen Mißbrauch ablenken und sich damit psychisch über längere Zeit im Gleichgewicht halten. Doch eine Lösung ist dies nicht; der Preis, den sie am Ende doch dafür bezahlen müssen, ist ihre eigene Gesundheit.
Einen Vorteil aber hat das Ganze doch: Die Betroffenen gewinnen Zeit. Für die Heilung der unsichtbaren Wunden, die ihnen durch den sexuellen Mißbrauch zugefügt wurden, und für die dafür nötigen Veränderungen ihrer Lebenseinstellungen brauchen sie Zeit.
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Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden