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8  Beziehungsprobleme

  

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Wenn Menschen unter Ohnmachts-, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen oder einer Sucht nach Selbst­be­stätigung leiden, macht sich dies auch in ihrem Umgang mit anderen Menschen bemerkbar. So ist es nicht ver­wunderlich, daß Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, als Erwachsene häufig ausgeprägte Bezieh­ungsprobleme haben.

Partnerprobleme

Verschiedene Studien haben ergeben, daß Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, mehr als doppelt so oft von ihren Partnern unterdrückt, geschlagen oder körperlich mißhandelt werden und viel häufiger Eheprobleme haben als andere Frauen. Diana RUSSELL fand, je größer das Trauma des sexuellen Mißbrauchs ist, desto eher kommt es später zu einer Trennung oder Scheidung vom Partner. Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, neigen offensichtlich dazu, sich beziehungsuntaugliche Partner auszusuchen. Dabei fällt ihre Partnerwahl umso ungünstiger aus, je schmerzlicher ihre Kindheitserfahrungen insgesamt waren. Wie läßt sich dies erklären?

Vermutlich wählen wir unseren Partner unbewußt so aus, daß er genau zu dem Bild paßt, das wir uns über uns selbst gemacht haben. Meist hat er in seiner Familie ähnliche Umgangsregeln und Verhaltensweisen gelernt wie wir und paßt mit seinen Bedürfnissen nach gefühlsmäßiger Nähe und Distanz genau zu uns. Wenn wir einem solchen Menschen begegnen, ist er uns schnell sympathisch und irgendwie vertraut. Man versteht sich auf Anhieb sehr gut, weil man die gleiche Wellenlänge hat.

Übertragen auf Frauen, die sexuell mißbraucht wurden und in einem Familienklima von Mißhandlung, Vernachlässigung und Lieblosigkeit aufwuchsen, bedeutet dies folgendes:

Aufgrund ihrer schmerzlichen Kindheitserlebnisse sind sie meistens der Überzeugung: »Ich bin nicht in Ordnung.« Daraus folgern sie: »Mir steht darum auch kein Partner zu, der in Ordnung ist, denn der würde mich gar nicht haben wollen.« 

Sie verlieben sich fast immer nur in einen liebesunfähigen Mann, der kaum in der Lage ist, einem Menschen fürsorgliche Rücksichtnahme entgegen­zubringen. Das lieblose Verhalten ihres Partners bestätigt die Frauen in ihrem vertrauten Bild von sich selbst, daß sie minderwertig und nicht liebenswert sind.

Frauen, die sexuell mißbraucht wurden und einen Vater hatten, der entweder jähzornig, herrschsüchtig und gewalttätig oder so unreif und unselbständig war, daß er sich ohne seine Frau im Leben nicht zurechtfand, suchen sich oft unbewußt einen Partner aus, der ihrem Vater ähnelt und zu dem sie eine ähnliche Beziehung aufbauen. Auf diese Weise können die Frauen ihre vertrauten Umgangsformen aus dem Elternhaus auch in ihrer Partnerbeziehung benutzen, statt mit einem anderen Partner voller Angst und Unsicherheit erst ein neues Beziehungs- und Verhaltensmuster kennenlernen zu müssen. Der Preis dafür ist, daß sich die schmerzlichen Erfahrungen der Kindheit wie z.B. Lieblosigkeit, Kränkung und Benutztwerden auch in der Partnerschaft fortsetzen, so daß damit die seelischen Wunden immer tiefer werden.

Was die Nähe-Distanz-Regulierung angeht, so haben viele Frauen durch den sexuellen Mißbrauch und weitere schlimme Kindheitserlebnisse das Vertrauen in andere Menschen verloren. Um sich vor weiteren schmerzlichen Vertrauensbrüchen zu schützen, halten sie auch ihre Mitmenschen auf Abstand, sind verschlossen, lassen niemanden an sich heran und wählen sich einen Partner, dem das nicht auffällt, der sich nicht daran stört oder der durch sein kränkendes Verhalten gar keine Möglichkeit für eine vertrauensvolle Nähe entstehen läßt. Schauen wir uns nun einmal diese beziehungsuntauglichen Partner etwas genauer an.

 

Beziehungsuntaugliche Partner

Viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, haben herrschsüchtige, rechthaberische oder frauen­verachtende Partner, denen sie sich unterordnen müssen. Diese Männer verfügen ganz selbstverständlich über die Zeit, die Arbeitskraft und das Geld ihrer Frau, ohne dies vorher mit ihr abzu­sprechen oder ihr Einverständnis einzuholen.

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So kommt es öfter vor, daß diese Männer Besuchs­einladungen zu- oder absagen oder Besuch nach Hause einladen, ohne vorher die Wünsche ihrer Frau zu erfragen. Andere verbieten ihrer Frau berufstätig zu sein, sich mit bestimmten Freundinnen zu treffen, sich in eine Psycho­therapie zu begeben oder ihrem Hobby nachzugehen. Wieder andere machen ihren Frauen Vorschriften, was sie anziehen und welche Frisuren sie tragen dürfen, zu wem sie >nett< sein und wen sie abweisend behandeln sollen. 

Viele dieser Männer verweigern ihren Frauen ein Mitsprache- und Verfügungsrecht über die Finanzen. Sie teilen ihren Frauen ein knappes Haushaltsgeld zu, während sie den größeren Teil des Geldes für sich behalten, machen dann aber den Frauen Vorwürfe, weil das Geld nicht reicht und verlangen eine genaue Abrechnung. Wenn die Frauen selbst Geld verdienen, wird ihnen das Haushaltsgeld gekürzt oder ihr Partner bringt das Geld an sich, um es dann größtenteils für sich selbst auszugeben. 

Oft zeigen die Partner ihre besonders tiefsitzende Frauenverachtung auf eine noch drastischere und unverblümtere Weise, z.B. indem diese Männer ihre Frauen wegen jeder Kleinigkeit anschreien, beschimpfen, prügeln oder ihr Leben bedrohen, sie in Gegenwart anderer erniedrigen und kränken, vor ihren Augen mit einer anderen Frau flirten oder sie zum Sex zwingen.

Trotz dieser vielfachen Mißhandlungen und Demütigungen bleiben viele Frauen bei ihrem Mann, wehren sich oft nicht gegen diese Behandlung und fürchten sich sogar noch davor, diesen >Partner< zu verlieren. Außenstehende können meist nicht verstehen, wieso sich die Frauen das alles gefallen lassen. Die Gründe dafür sind letztlich die gleichen wie bei der Auswahl ihres Partners. Auch wenn der Mann sie in der gleichen verletzenden Weise behandelt wie ihr Vater, hat das den Vorteil, daß den Frauen diese Situation vertraut ist, d.h. sie wissen, was sie erwartet und wie sie sich dann am besten verhalten. Ihre unterlegene Mutter hat es ihnen in ihrer Kindheit bereits vorgemacht. Dies gibt den Frauen ein gewisses Gefühl der Sicherheit. 

Da sie nichts anderes kennen, haben die Frauen keine klare Vorstellung darüber, wie eine Partnerschaft im günstigsten Fall sein könnte und nach welchen Kriterien sie den Mann dafür aussuchen müßten.

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Viele Frauen fühlen sich selbst so wertlos, daß sie glauben, keine Ansprüche an ihren Partner stellen zu dürfen und froh sein zu müssen, daß sich überhaupt noch jemand mit ihnen abgibt. Meistens suchen sich Frauen ihre Partner und Freunde so aus, daß die zu ihrem negativen Selbstbild und ihren Minderwertig­keits­gefühlen passen. So brauchen sich die Frauen nicht vor ihren Partnern zu schämen, weil sie sich sagen können: »Der kann mir wenigstens keine Vorwürfe machen, weil er auch nicht viel besser ist als ich.« 

Manchen Frauen ist es sogar unangenehm, wenn sich jemand besondere Mühe um sie macht, weil es derart aus dem Rahmen dessen fällt, was sie bisher gewohnt waren. Sie fürchten: »Wenn der merkt, wie minder­wertig und schlecht ich bin, wird er mich wie eine heiße Kartoffel fallen lassen.« Um sich selbst diesen ständigen Streß und dem anderen die Enttäuschung zu ersparen, beenden sie diese Freundschaften oder reagieren abweisend und kränkend auf das gutgemeinte liebevolle Bemühen ihres Gegenübers.

Andere Frauen wählen sich einen kindlichen und unselbständigen Partner, der ihnen im Alltag viel Entscheid­ungs­freiraum läßt und ihnen damit auch alle Verantwortung auflädt. Frauen, die bereits als Kind sehr selbständig sein und Fürsorgepflichten in der Familie übernehmen mußten, sind daran gewöhnt, sich in einem extremen Ausmaß um andere Menschen zu kümmern und dabei sich selbst zu vernachlässigen. Da sie als Kind von ihren Eltern mit dem sexuellen Mißbrauch und anderen schwierigen Situationen allein­gelassen wurden, geben sie die Hoffnung auf, von anderen Menschen Unterstützung und Hilfe zu bekommen. 

Umgekehrt lernen sie, sich durch ihre besondere Hilfsbereitschaft für andere unabkömmlich zu machen. Durch das Gefühl des Gebrauchtwerdens können sie sich über die ihnen fehlende Liebe, Anerkennung und Fürsorge hinwegtrösten, diese aber nicht ersetzen. Ihre Sehnsucht nach Liebe bleibt bestehen. Da sich diese Frauen aber nach all ihren Erfahrungen schwer vorstellen können, von jemandem uneigennützig geliebt zu werden, sind sie ständig auf der Suche nach Menschen, von denen sie gebraucht werden. Sie wirken wie ein Magnet auf Männer, die selbst unreif, unselbständig und wenig lebenstüchtig sind und daher jemanden brauchen, der sie versorgt.

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So kommen viele der Frauen auch in ihrer Ehe nicht aus ihrer fürsorgenden Helferrolle heraus. Sie fühlen sich für das Wohlergehen ihres Mannes verantwortlich, bemuttern ihn und vergessen, von ihrem Mann die gleiche Fürsorge als Gegenleistung zu verlangen, weil sie ihr Gebrauchtwerden mit Liebe verwechseln. Diese Ungleichheit im Bemühen um den Partner erzeugt in den Frauen früher oder später eine unterschwellige Unzufriedenheit. Wenn die Frauen diese nicht wahrnehmen und entsprechende Veränderungen in ihrer Ehe herbeiführen können, entwickeln sich daraus allmählich psychische und körperliche Beschwerden und Störungen, die sich die Frauen selbst nicht erklären können.

 

BARBARA

Aus dem Drang, anderen zu helfen, sind die Partner, die sich Barbara aussucht, meist alkohol- oder drogen­süchtig wie ihr Vater, der sie sexuell mißbraucht hat. Immer wieder hofft sie, ihren Freund durch Liebe und Verständnis von seiner Sucht heilen zu können und ist ziemlich enttäuscht, wenn sie merkt, daß dies nicht funktioniert. Während sie ihn umsorgt und bemüht ist, ihm seine Fehler nachzusehen, fühlt sie sich von ihm im Stich gelassen, wenn es ihr schlecht geht und sie jemanden braucht, der sie tröstet. Sie fühlt sich von ihm verletzt und nicht ernstgenommen, wenn er z.B. um Stunden verspätet zu Verabredungen erscheint, zugesagte Besorgungen und Aufgaben vergißt oder aus mangelnder Lust nicht erledigt und wenig Interesse an dem zeigt, was sie ihm über sich erzählt.

Immer wieder kommt es vor, daß Barbara von ihrem betrunkenen Freund mitten in der Nacht aus dem Schlaf geklingelt wird, weil ihn der große Katzenjammer plagt. Als Barbara merkt, daß sie in dieser Beziehung zu kurz kommt, weil sie ihrem Freund mehr gibt, als sie von ihm zurückbekommt, versucht sie ihn zu einer Veränderung seines Verhaltens zu überreden. Als sie damit keinen Erfolg hat, bleibt ihr als Lösung nur noch die Trennung übrig. Aus Angst vor dem Alleinsein kann sie sich lange Zelt nicht dazu entschließen. Als sie doch in einem mutigen Moment diesen Schritt wagt, überfallen sie massive Ängste und Selbstmordgedanken. Kaum hat sie sich etwas an ihre neue Lebenssituation des Alleinseins gewöhnt, läuft ihr schon wieder der nächste suchtkranke Mann über den Weg, in den sie sich verliebt. Wieder ist sie voller Hoffnung, daß es dieses Mal gutgehen wird. Es ergeben sich aber prompt wieder die gleichen alten Schwierigkeiten.

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Dieses Muster hat sich in Barbaras Leben schon viele Male wiederholt. Die einzige Ausnahme war ein Mann, der wirklich sehr fürsorglich und rücksichtsvoll war. Trotzdem hatte sie sich mit diesem Mann nicht wohlgefühlt. Es war ihr unverständlich, daß er so viel für sie tat, und sie verlor deswegen auch die Achtung vor ihm: »Wie kann er ein Stück Dreck wie mich so gut behandeln?« Auf diese Weise war er für Barbara >langweilig< geworden. Sie hatte sich schließlich von ihm getrennt und rasch eine Beziehung zu einem für sie Interessanteren Mann gefunden, der auch wieder suchtkrank war.

 

 

Dieses Beispiel zeigt, was für viele Frauen, die wegen ihres sexuellen Mißbrauchs in Psychotherapie sind, typisch ist: Die meisten haben Schwierigkeiten, sich von ihren beziehungsuntauglichen Partnern zu lösen und schaffen dies oft gar nicht oder erst nach wiederholten Anläufen. Am Anfang der Ehe geht ja auch noch alles gut. Die Frauen umsorgen ihren Mann und sind froh, von jemandem gebraucht zu werden. Die Männer sind froh, eine Frau zu haben, von der sie wie von einer Mutter versorgt und bei Alltagsproblemen angeleitet werden. Wenn aber Kinder kommen, verändert sich für beide diese Lebenssituation: Die Frau richtet ihre Fürsorglichkeit vermehrt auf die Kinder und hat darum für ihren Mann nicht mehr so viel Aufmerksamkeit übrig wie bisher. Statt dessen erwartet sie jetzt von ihm in dieser neuen und schwierigen Lebensphase Hilfe und Unterstützung bei der Kindererziehung und im Bewältigen des Haushaltes. 

Ihr unreifer Mann, der sich plötzlich aus der behüteten Obhut in die verantwortungsvolle Rolle eines Erwachsenen gedrängt sieht, fühlt sich von seiner Frau vernachlässigt, entwickelt eine Abneigung gegen seine Kinder und zieht sich gekränkt aus dem Familienleben zurück. Da er sich seinen Aufgaben und Pflichten als Ehemann und Vater entzieht, bleibt alles an der Frau hängen. Sie wird ärgerlich auf ihren Mann, weil sie sich allein überfordert fühlt und er ihr nicht beisteht. Es kommt zu Spannungen und Ehekonflikten, beide Partner fühlen sich von dem Verhalten des anderen verletzt. In dieser Situation kann es leicht zum sexuellen Mißbrauch des Vaters an seinen Kindern kommen. Er hat kein ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein für seine Kinder entwickelt und holt sich dort, was seine Frau ihm nicht mehr geben kann: gefühlsmäßige Nähe, körperliche Zärtlichkeiten und sexuelle Befriedigung.

Nicht immer lassen sich die Partner eindeutig als entweder überlegen, herrschsüchtig und frauenverachtend oder aber als unterlegen, kindlich und unselbständig einordnen. Sehr häufig gibt es Mischformen, wo der Partner je nach Situation mal in die eine, mal in die andere Rolle schlüpft, je nachdem was für ihn gerade vorteilhafter ist.

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Unterschiedliche Formen, Liebe zu zeigen

Selbst wenn die Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, an Partner geraten, die weder herrsch­süchtig noch unselbständig sind, können Partnerprobleme auftauchen. Ein Anlaß dafür sind oft auf beiden Seiten sehr unterschiedliche oder falsche Vorstellungen darüber, wie man dem Partner seine Liebe zeigt. Diese Vorstellungen von der Liebe werden selten offen diskutiert; man geht stillschweigend davon aus, daß der Partner die gleichen hat. Hier ein typisches Beispiel für ein Partnerproblem, das bei Frauen mit sexuellem Mißbrauch häufiger auftaucht.

ERICH meint, seine Frau ELKE habe genauso viel Spaß am Sex wie er, und er zeigte seiner Frau seine Liebe, indem er mit ihr Sex hat. Elke glaubt dagegen, Liebe zeige sich dadurch, daß man seine eigenen Wünsche zurückstellt und das tut, was der andere will. Aufgrund ihres sexuellen Mißbrauchs hat Elke erfahren, daß Männer an Sex sehr stark interessiert sind. Sie glaubt nun, die wichtigste Art, einem Mann ihre Liebe zu beweisen bestände darin, sich ihm sexuell zur Verfügung zu stellen. Das führt dazu, daß Elke ihren Mann zu Sex animiert, obwohl sie selbst gar keine Lust auf Sex hat und sich sogar teilweise davor ekelt. Erich folgert aus der sexuellen Aufforderung seiner Frau, daß ihr Sex großen Spaß mache und schläft mit ihr. 

Insgeheim aber erwartet Elke von ihrem Mann, daß er seine Liebe auch einmal beweist, indem er ihr zuliebe auf Sex verzichtet und statt dessen einfach nur zärtlich und liebevoll mit ihr ist. Da er dies nicht tut, fühlt sie sich von ihm ausgenutzt und fängt an, ärgerlich auf ihn zu werden. Wenn sie ihm zu verstehen gibt, daß sie keinen Sex mehr will, wird sich Erich von seiner Frau abgelehnt und ungeliebt fühlen und ohne Verständnis für ihr Verhalten darauf drängen, weiterhin Sex zu haben. Gibt sie seinem Drängen nach, hat sie das Gefühl, selbst ständig zu kurz zu kommen. Dies führt zu immer stärkeren Spannungen und Konflikten in der Ehe.

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Der amerikanische Psychotherapeut Derek JEHU hat ein anderes Beispiel beschrieben: Ein Mann, der von seinen Eltern weder körperliche noch gefühlsmäßige Zuwendung erfahren hat, kann auch seiner Frau diese Zuwendung nicht entgegenbringen. Er glaubt, er zeige seine Liebe dadurch, daß er - wie sein Vater - das Geld für den gemeinsamen Unterhalt verdient und mit ihr verheiratet bleibt. Seine Frau dagegen glaubt aufgrund ihres sexuellen Mißbrauchs, Zuneigung werde durch Sex gezeigt und versucht ihn dazu zu animieren. Er jedoch lehnt Sex oft als zu anstrengend und zeitraubend ab; er versteht nicht, wie seine Frau sich darüber beklagen kann, daß er sie nicht liebe. Auch hier entsteht ein Ehekonflikt, der sich erst lösen läßt, wenn beide Partner neue gemeinsame Formen lernen, einander ihre Liebe zu zeigen.

 

Angst vor zuviel Nähe

Viele Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, sehnen sich nach Zuwendung, da sie in der Hinsicht oft eine Menge nachzuholen haben. Gleichzeitig löst eine engere Bindung oft ein starkes Unbehagen aus; die Betroffenen sind zwischen dem Wunsch, eine sehr intensive Gefühlsbindung einzugehen und dem Wunsch, allein zu bleiben, hin- und hergerissen. Dieser Zustand treibt die Frauen oft zur Verzweiflung. Wie kann man sich diese Zwiespältigkeit erklären? Zuwendung löst in Menschen unter normalen Umständen Wohlbehagen und Zufriedenheit aus, weil sie sich angenommen, sicher und geborgen fühlen. Sexueller Mißbrauch dagegen löst heftiges Unbehagen, Angst, Ekel, Scham und Ohnmachtsgefühle aus. Wie wir wissen, werden aber die sexuellen Übergriffe meist durch Männer verübt, denen das Kind bisher vertraute und von dem es Zuwendung und Aufmerksamkeit bekam. Durch den einschneidenden Vertrauensbruch beim sexuellen Mißbrauch wird Zuwendung und Vertrauen für das Kind zu einem Gefahrensignal, das in Zukunft automatisch Angst und Unbehagen auslöst. Durch die Erfahrung, daß ein guter Freund plötzlich zum schlimmsten Feind werden kann, werden emotionale Nähe und Vertrautheit auch im Erwachsenenalter häufig vermieden.

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Vor dem sexuellen Mißbrauch:

ZUWENDUNG DURCH EINE VERTRAUENSPERSON ===> WOHLBEHAGEN, SICHERHEIT

Beim sexuellen Mißbrauch:

ZUWENDUNG UND SEXUELLER MISSBRAUCH DURCH EINE VERTRAUENSPERSON

====> UNSICHERHEIT UND ANGST ÜBERDECKEN DAS WOHLBEHAGEN

Nach dem sexuellen Mißbrauch:

ZUWENDUNG DURCH EINE VERTRAUENSPERSON ==» UNSICHERHEIT, ANGST, MISSTRAUEN

 

Diesen Lernvorgang, durch den z.B. hier die Zuwendung einer Vertrauensperson zu einer angst­auslösenden Situation wird, ist in der Psychologie als Konditionierung bekannt. Obwohl die Betroffenen dringend Zuwendung und Fürsorge von anderen Menschen brauchen, sind sie kaum in der Lage, diese anzunehmen und zu ertragen. Sie müssen sich im Grund erst wieder ganz langsam an Nähe gewöhnen und erfahren, daß sie nicht gefährlich ist.

 

Es gibt aber auch noch andere Erklärungen, warum so viele Frauen Angst haben, eine vertrauensvolle Gefühlsbeziehung einzugehen. Aufgrund ihres sexuellen Mißbrauchs haben sie so viele Minder­wertig­keits­gefühle und Selbstzweifel entwickelt, daß ihnen die Wertschätzung anderer Menschen unangenehm ist. Sie fühlen sich dadurch überschätzt und fürchten: »Irgendwann, wenn die mich näher kennen, werden sie dahinter kommen, wie ich wirklich bin.« Die Frauen befinden sich daher in einer vertraulichen und harmonischen Beziehung ständig in Angst und Sorge. Um diesen Streßzustand zu beenden oder zu verhindern, haben manche Frauen nur sehr flüchtige und oberflächliche Beziehungen. Manche befreunden sich nur mit Menschen, die wie sie selbst psychische Probleme haben, so daß sie sich vor ihnen nicht schämen müssen. Einige der Frauen haben in ihrem Leben noch nie eine vertrauensvolle Beziehung gehabt, in der sie mit Respekt behandelt wurden. Obwohl sie sich einerseits danach sehnen, haben sie gleichzeitig auch Angst vor dieser ungewohnten, fremden Situation, weil sie nicht wissen, wie sie sich dann verhalten sollen.

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Manche Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, vermeiden gefühlsintensive Beziehungen zu Männern; sie geraten nicht gern unter den Druck, sich gemäß den Wünschen ihres Partners verhalten zu müssen. Von einem Menschen, den man liebt und auf dessen Zuwendung man sehr angewiesen ist, kann man sich meist viel schwerer abgrenzen als von Bekannten oder Fremden, die einem nicht so viel bedeuten. Frauen, die sexuell mißbraucht wurden und in einem Klima der Lieblosigkeit aufwuchsen, haben einen enormen Nachholbedarf an Zuwendung. Daher sind sie bereit, für ein bißchen Zuwendung einen sehr hohen Preis zu zahlen. Aus Angst vor Liebesentzug stellen sie in einer Beziehung die eigenen Bedürfnisse zurück und erfüllen weitgehend die Erwartungen ihres Gegenübers. Indem sie sich fast ausschließlich so verhalten, wie ihr Freund oder Partner sie haben will, verlieren sie sich selbst. Ihre Persönlichkeit ist dabei, sich in Nichts aufzulösen, was einem seelischen Tod gleichkommt. Diese Frauen sehen nur eine Möglichkeit, das zu verhindern, nämlich sich von Männern ganz fernzuhalten. Da dies aber auf Dauer keine befriedigende Lösung ist, entwickeln Frauen mit der Zeit unterschiedliche Strategien, wie sie in Beziehungen mit Männern eine allzu enge Gefühlsbindung verhindern können. Sie müssen dafür sorgen, daß ihnen der Mann nicht zuviel bedeutet, damit sie nicht wieder anfangen, sich selbst untreu zu werden und nur noch so zu sein, wie er sie haben will. Die folgenden beiden Beispiele zeigen, auf welche Weise Frauen dies erreichen.

 

DAGMAR war als Kind vernachlässigt und sexuell mißbraucht worden. Da sie ein großes Nachhol­bedürfnis nach Zuneigung und Geborgenheit hat, ist es ihr unmöglich, selbst die Annäherungs­versuche eines Mannes zurückzuweisen, von dem sie bald weiß, daß er sie mißachten und ausnutzen wird. Es ist ihr nicht möglich, sich den Wünschen dieses Mannes zu entziehen und ihm beispielsweise zu sagen: »Ich möchte von Dir Zuneigung und Geborgenheit, aber ich möchte keinen Sex.« Aus Angst, ihn damit zu verärgern und den Kontakt zu ihm zu verlieren, läßt sie sich von ihm sexuell benutzen und im Alltag bevormunden. Sie haßt ihn dafür und ist ihm gleichzeitig hörig.

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Erst mit der Unterstützung von Freunden gelingt es ihr schließlich unter größter Anstrengung, sich aus dieser kranken Beziehung und Hörigkeit zu befreien. Damit ihr so etwas nicht noch einmal passiert, meidet sie ganz bewußt den Kontakt zu Männern und freundet sich nur noch mit Frauen und Ehepaaren an. Tragischerweise entwickelt sich eines Tages zwischen ihr und dem Mann ihrer besten Freundin eine sexuelle Beziehung. Dieser Mann wirkt zwar auf sie von seiner äußeren Erscheinung und seinem Wesen her unattraktiv und eher abstoßend, da er aber ihrem Vater ähnelt, entsteht in ihr die Hoffnung, von ihm die uneigennützige väterliche Fürsorge zu erhalten, die sie immer vermißt hat. Es kommt zu sexuellen Kontakten und Dagmar entwickelt große Schuldgefühle ihrer Freundin gegenüber. Da sie es auf Dauer nicht ertragen kann, ihre Freundin so zu hintergehen, bricht sie schließlich den Kontakt zu beiden ab. Da sie damit ihre besten Freunde verliert, fällt sie in eine tiefe Depression.

 

Dieses Beispiel zeigt, wie Dagmars Psyche in jeder Situation versucht, das Beste für sie zu erreichen. Als Dagmar in ihrer ersten Beziehung merkt, daß sie für ein bißchen Zuwendung bereit ist, alles mit sich machen zu lassen, versucht sie sich davor zu schützen, indem sie allein bleibt. Ihr Bedürfnis nach Zuwendung kann sie aber auf Dauer nicht unterdrücken. Dagmar muß ihrer Liebesbedürftigkeit schließlich nachgeben. Unbewußt richtet sie sich ihre neue Beziehung aber so ein, daß sie trotzdem noch relativ geschützt bleibt und nicht wieder in eine Hörigkeit hineinrutschen kann: Sie wählt einen Mann, der verheiratet ist, so daß sie nicht in die Gefahr kommt, mit ihm zusammenleben zu wollen. Er ist äußerlich abstoßend und unattraktiv, was ihr hilft, ihn nicht zu sehr zu mögen. Schließlich ist ihre Freundschaft zu seiner Frau und die damit verbundenen Schuldgefühle eine weitere Möglichkeit, diesen Sog in die gefühlsmäßige Abhängigkeit zu bremsen. Sie hat sich eine Beziehung organisiert, aus der sie auch ohne fremde Hilfe wieder aussteigen kann, wenn dies auch sehr, sehr schmerzhaft für sie ist und mit dem Verlust ihrer wichtigsten Freunde bezahlt werden muß.

 

Das nun folgende Beispiel zeigt eine ganz andere Strategie, die Entwicklung einer gefährlichen Gefühls­bindung zu verhindern.

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EVA

Nachdem Eva in ihren verschiedenen Partnerbeziehungen viel Bevormundung, Demütigung und Gewalttätigkeit erlitten hat, hält sie sich von Männern fern und lebt jahrelang allein. In ihrer Einsamkeit ist sie endlich vor Mißhandlungen geschützt und genießt die Freiheit, tun und lassen zu können, was sie will. Trotzdem leidet sie aber sehr darunter, daß sie keinen Partner hat. Nachdem sie mit den Jahren etwas selbstsicherer geworden ist und sich auch besser wehren kann, geht sie doch wieder eine Beziehung zu einem Mann ein. 

Dieser Mann ist sehr viel jünger als sie und hat massive Kontaktprobleme, so daß sie sich ihm nicht unterlegen fühlen muß. Sie haben viele Ähnlichkelten miteinander, vor allem was ihre Sehnsucht und gleichzeitige Angst vor Partnerbeziehungen angeht. Zwischen ihnen entwickelt sich ein Beziehungsmuster der Anziehung und Abstoßung. Sobald Eva sich ihrem Freund gefühlsmäßig zuwendet und dabei zuviel Nähe herstellt, zieht er sich aus der Beziehung zurück oder bringt Eva durch Kränkungen wieder auf einen sicheren Abstand. Daraufhin bombardiert sie ihn mit wütenden Vorwürfen und beschließt, den Kontakt abzubrechen. In diesem Moment kommt er wieder auf sie zu und stellt für kurze Zeit die von ihr gewünschte Nähe her. Wenn sie sich daraufhin mit ihm versöhnt und glaubt, jetzt werde alles gut, macht ihm diese Nähe wieder Angst, so daß er sich wieder von ihr zurückzieht und das Spiel von neuem beginnt.

Er kränkt sie, wenn sie ihm zu nahe kommt und wirbt um sie, sobald sie sich von ihm zurückzieht. In dieser Beziehung gibt es nur sehr kurze harmonische Phasen. Die meiste Zeit streiten und verletzen sich die beiden gegenseitig, um sich damit auf sicherem Abstand zu halten. Das aber ist die einzige Art von Kontakt, die die beiden im Moment verkraften können. Obwohl Eva unter diesem Mann leidet, hat sie sich ihn doch unbewußt passend für sich ausgesucht. Es fehlt ihr noch das nötige Selbstbewußtsein, um auch in einer harmonischen Liebesbeziehung für ihre eigenen Interessen eintreten zu können. Im Moment muß sie noch einen ziemlich großen Sicherheitsabstand zu anderen Menschen einhalten. Damit das nicht so schwer ist, hat sie einen Freund gewählt, der noch mehr als sie darauf achten muß, daß nicht zuviel Nähe zwischen ihnen entsteht.

*

So wie Dagmar und Eva suchen sich auch andere Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht und lieblos behandelt wurden, in ihrer ständigen Sehnsucht und gleichzeitigen Angst vor zuviel Nähe einen Mann aus, mit dem sie aus irgendeinem Grund nicht fest zusammenleben können.

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Oftmals fällt ihre Wahl dabei auf einen Mann, der bereits verheiratet ist. Sie leiden dann zwar darunter, daß sie den Mann mit einer anderen Frau teilen müssen, die Vorstellung aber, ihn täglich um sich zu haben, erschreckt sie insgeheim noch mehr.

Andere Frauen lösen ihr Nähe-Distanz-Problem, indem sie sich nur noch auf flüchtige und oberflächliche Männerbeziehungen einlassen, die sie bald wieder abbrechen. Viele Frauen mit Mißbrauchserfahrungen haben so eine Phase in ihrem Leben. Bei manchen hält sie sehr lange an und wird zum festen Lebensstil.

Wieder andere suchen sich einen Mann, der nicht bereit ist, sich zu binden, weil er sich auch nur schwer gegen die Erwartungen einer Partnerin abgrenzen kann und daher Angst vor zuviel Nähe hat. Dies scheint mir für die betroffenen Frauen eine besonders günstige Partnerwahl zu sein, da sie von solch einem Mann am ehesten Verständnis für ihr Verhalten erwarten können. Manche Frauen können mit solch einem Partner lernen, sich auch in einer Partnerbeziehung als Person nicht aufzulösen, sondern für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Auf diese Weise können sie allmählich ihre Angst vor zuviel Nähe überwinden und Vertrauen in sich und andere Menschen aufbauen.

 

Umgang mit Männern

 

Häufig haben Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, Probleme im Umgang mit Männern. Diese Schwierigkeiten können sehr unterschiedlich aussehen, genau wie die Lösungen, die Frauen dafür finden.

Mißtrauen gegenüber Männern

Viele Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, fühlen sich durch die Gegenwart von Männern verunsichert, bedroht und haben Angst vor ihnen. Dies wird durch das Erlebnis des sexuellen Mißbrauchs hervorgerufen, oft aber auch noch durch weitere schlechte Erfahrungen mit Männern verstärkt, wie das folgende Beispiel zeigt:

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CHARLOTTE wächst in einem familiären Klima auf, wo sie von verschiedenen männlichen Verwandten sexuelle Übergriffe befürchten und abwehren muß. Den sexuellen Mißbrauch durch ihren Vater im Alter von 11 Jahren kann sie durch ihre mutige und ausdauernde Gegenwehr relativ schnell beenden. Auch die sexuellen Annäherungsversuche ihres Onkels erstickt sie im Keim. Aufgrund der Erlebnisse ihrer gleichaltrigen Cousine, die von verschiedenen Verwandten sexuell mißbraucht und schwanger wird und der sexuellen Belästigungen, denen die Frauen in ihrer Familie durch die Männer ausgesetzt sind, entwickelt Charlotte die Vorstellung, als Frau dürfe sie keinem Mann vertrauen, weil jeder nur Sex mit ihr haben wolle. 

Obwohl sie noch ein Kind ist, gelingt es ihr, sich gegen die sexuellen Übergriffe erfolgreich zu wehren, während sich einige Mädchen und Frauen ihres Verwandten- und Bekanntenkreises hilflos alles gefallen lassen. Während ihre Cousine nach einem chaotischen Leben mit verschiedenen Partnern und mehrfachen Abtreibungen nicht einmal 40 Jahre alt wird, stürzt sich Charlotte in ein Studium und macht beruflich Karriere. Trotz ihrer Sehnsüchte ist es ihr nicht möglich, eine Partnerschaft zu einem Mann einzugehen, weil sie ständig befürchtet, von ihm sexuell benutzt zu werden. 

Wenn sie einen Mann sympathisch findet, bewundert sie ihn aus der Ferne und phantasiert sich in eine wunderbare Traumwelt, wie sie mit diesem Mann in vollkommener Liebe leben würde, wenn er nur nicht verheiratet wäre. Während sie in ihrem Beruf bei den Frauen sehr beliebt ist, weil sie sich um einen freundschaftlichen Umgang bemüht, vermeidet sie den Kontakt mit Männern, wo es nur möglich ist. Obwohl sie sich in ihrem Leben immer sehr gut gegen die sexuellen Belästigungen von Männern hatte wehren können, sitzt ihre Angst vor einer solchen Demütigung und Mißachtung ihrer Person sehr tief. 

Im Gegensatz zu ihrer Cousine hat sich Charlotte von Männern ferngehalten. Sie hat ihr Leben so eingerichtet, daß sie viel Selbstbestätigung aus ihrem Beruf, aus ihren Freundschaften zu Frauen und aus ihren Tagtraumphantasien beziehen kann. Natürlich wäre ihr Leben befriedigender, wenn sie auch in der Wirklichkeit einen liebevollen, einfühlsamen Partner finden könnte. Aber das Bedürfnis, sich vor weiteren Kränkungen zu schützen, ist für Charlotte wichtiger als ihre Sehnsucht nach Liebe.

 

Bei einigen Frauen mischt sich in die Angst vor sexuellen Übergriffen das Gefühl von Feindseligkeit und Wut auf alle Männer, was sich dann in einem für andere unverständlich aggressiven Verhalten Männern gegenüber bemerkbar macht. Frauen, die männerfeindliche Bemerkungen machen und verachtend mit Männern umgehen, geben meist nur zurück, was sie selbst von Männern einstecken mußten.

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Dieses Verhalten dient sowohl dem Selbstschutz vor weiteren Demütigungen als auch der eigenen Psycho­hygiene: Wenn man für die Wut über ein erlittenes Unrecht ein Ventil findet, kann sie schon keinen Schaden mehr im eigenen Körper und der Seele anrichten.

 

Ob die Frauen nun eher Angst vor Männern haben oder ob sie auf Männer wütend sind, in einem reagieren sie oft sehr ähnlich: Sie versuchen sich vor weiteren Kränkungen zu schützen und entwickeln dafür unterschiedliche Strategien. Eine Möglichkeit besteht darin, die Kontakte zu Männern mehr oder weniger stark einzuschränken. Manche Frauen gehen gar keine Partnerbeziehungen oder Freundschaften mehr mit Männern ein. Ohne Mann zu leben ist die einzige Lebensmöglichkeit für Frauen, die nicht wissen, wie sie herausfinden sollen, welchem Mann sie vertrauen können und welchem nicht; die nicht wissen, woran sie erkennen könnten, ob sie wirklich geliebt werden und sich dies nicht nur einreden bzw. einreden lassen; und die nicht wissen, wie sie das Verhalten ihres Partners so beeinflussen könnten, daß sie sich mit ihm wohlfühlen.

 

Einige Frauen haben eine besondere Sensibilität für Kränkungen entwickelt. Dies ist ihnen zwar einerseits oft lästig, weil sie dadurch überempfindlich reagieren; andererseits stellt dieses Frühwarnsystem aber einen guten Schutzmechanismus dar. Manche Frauen schützen sich vor Kränkungen, indem sie Männer einem langwierigen Vertrauenstest unterziehen und auf diese Weise herausbekommen, wieviel Geduld, Einfühlungs­vermögen und Rücksichtnahme sie dem jeweiligen Mann wert sind. Meist geschieht dies unbewußt und völlig spontan.

 

GERDA wurde als Kind sexuell mißbraucht sowie körperlich und psychisch mißhandelt. Sie tut sich sehr schwer, einen Freund zu finden. Es dauert immer sehr lange, bis sie jemandem ihr Vertrauen schenkt. Bevor sie das tut, prüft sie ihr Gegenüber genau, unabsichtlich macht sie Männern die Kontaktaufnahme besonders schwer, indem sie sich distanziert und kritisch verhält.

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Wenn sich der Mann dann immer noch für sie interessiert, hat er den ersten Vertrauenstest bestanden, und sie läßt sich auf einen etwas vertraulicheren Kontakt mit ihm ein, d.h. sie erzählt ihm von den vielen Problemen, die sie mit sich und anderen Menschen hat. Aber immer noch ist dieses Vertrauen leicht zu stören. Es genügt schon, wenn ihr Freund ihr zu viele gutgemeinte Ratschläge für ihre Probleme gibt. Bereits dies empfindet Gerda als mangelndes Verständnis und kränkende Bevormundung und schon kommen Zweifel auf, ob es richtig war, sich mit diesem Mann einzulassen. Um sich nicht noch verletzlicher zu machen, spricht sie nicht über ihre Gefühle und ihre Skepsis, sondern zieht sich nur enttäuscht in sich zurück. Dadurch kommt es zu einer Bewährungsprobe für die Freundschaft. Wenn der Mann jetzt verständnislos und gereizt auf diesen Rückzug reagiert, sieht sich Gerda in ihrem Mißtrauen bestätigt. Wenn er sie aber auf ihre veränderte Stimmung anspricht und offen fragt: »Du bist in letzter Zeit so verschlossen. Habe ich irgend etwas falsch gemacht, Dich vielleicht gekränkt, ohne daß ich es gemerkt habe?«, wird sie eher darüber reden können.

Leider neigt Gerda dazu, sich ziemlich bestimmende und wenig feinfühlige Männer auszusuchen, die kaum so reagieren können. Auf diese Weise macht sie eine schlechte Erfahrung nach der anderen, und ihr Mißtrauen Männern gegenüber wächst mit jedem Mal. Wenn sie dann doch einmal einem relativ verständnisvollen Mann begegnet, könnte Gerda die Situation ja auch selbst klären, indem sie ihre Verletztheit und ihren Ärger offen ausspricht: »Es war sicher keine böse Absicht von Dir, aber es hat mich verletzt, daß Du das gesagt bzw. das getan hast. Könntest Du in Zukunft darauf achten, daß dies nicht mehr passiert?« Durch den sexuellen Mißbrauch und andere Erlebnisse in ihrem Leben wurde Gerda so entmutigt, daß sie sich nicht mehr getraut, sich in eine solche verletzliche Position zu begeben. Oft genug war sie mit Männern zusammen, die solch eine Offenheit ausgenutzt und gegen sie verwendet haben. Darum unterstellt sie auch ihrem neuen Freund sehr schnell böswillige Absichten. Sie kommt gar nicht mehr auf die Idee, daß er sie nur aus Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit verletzt haben könnte und gern bereit wäre, dies in Zukunft anders zu machen, wenn sie ihn darauf hinweist. Gerda wird ihre Beziehungs­probleme nur lösen können, wenn sie sich angewöhnt, ihrem Gegenüber bei jeder Gelegenheit sofort auf freundliche, aber bestimmte Art zu sagen, was ihr nicht gefällt und wie er es besser machen könnte. Aus seiner Reaktion kann sie dann ziemlich zuverlässig ablesen, ob er ihr Vertrauen und ihre Zuneigung verdient oder nicht.

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 Überschätzung von Männern 

Immer wieder ist mir bei Frauen, die wegen ihres sexuellen Mißbrauchs zu mir in die Psychotherapie kamen, aufgefallen, daß sehr viele von ihnen dazu neigen, Männer in ihren Fähigkeiten zu überschätzen. Frauen, die als Kind unter Anwendung roher Gewalt sexuell mißbraucht wurden oder die in einem Elternhaus aufwuchsen, wo der Vater jähzornig seine Familie tyrannisierte, ohne daß sich die Mutter dagegen wehren konnte, haben oft die Vorstellung entwickelt, alle Männer wären sehr mächtig und Frauen überlegen. Sie neigen dazu, Männer grundsätzlich zu überschätzen und sich darum widerstandslos deren Wünschen zu unterwerfen, gleichgültig ob es sich dabei um den eigenen Partner, einen Mann aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis, einen Vorgesetzten, Kollegen, Nachbarn oder Verkäufer handelt.

Oft fühlen sich die Frauen für etwas schuldig, auf was sie gar keinen Einfluß haben, wie z.B. die schlechte Laune ihres Mannes. Sie lassen es zu, daß Männer ihren Ärger an ihnen abreagieren oder sexuell zudringlich werden, ohne sich dagegen zu wehren. Weil sie eine panische Angst vor Auseinandersetzungen, Streit und aggressiven Machtkämpfen haben, versuchen die Frauen ihre Konflikte im Guten und mit Freundlichkeit zu lösen. Manche setzen Freundlichkeit sogar zur Abwehr sexueller Belästigungen ein, was fatale Auswirkungen hat, wie das folgende Beispiel zeigt.

 

Annette
ist In ihrem Leben vielen verletzenden Ohnmachtssituationen ausgesetzt gewesen: Sexueller Mißbrauch durch den Stiefvater; psychischer Mißbrauch durch die Mutter; Mißhandlungen und Vergewaltigungen durch verschiedene alkoholkranke Partner; Einweisung in die Psychiatrie, wo sie gegen ihren Willen mit Medikamenten vollgepumpt wurde; sexuell mißbraucht durch einen Psychotherapeuten, der eine sexuelle Beziehung zu ihr aufnahm. All diese Erfahrungen lehren sie, Menschen als gefährlich einzuschätzen und Kontakte zu vermelden, um sich so vor weiteren Ohnmachtserfahrungen zu schützen. Selbst zum Arzt geht sie nur mit größtem 'Widerwillen, weil sie sich vor einer Einweisung fürchtet. Der einzige sichere Ort auf dieser Erde ist ihre Wohnung. Sobald sie diese verlassen muß, bekommt sie furchtbare Angst und Panikanfälle, so daß sie deswegen nicht mehr arbeiten kann und berentet werden muß. Trotzdem muß sie ab und zu ihre Wohnung verlassen und kann nicht alle Begegnungen mit Menschen vermeiden.

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Sie gerät bereits in Panik, wenn ein fremder Mann sie etwas länger anschaut. Noch schlimmer ist es für sie, wenn sie es dabei mit Männern zu tun hat, die sie als sehr <männlich>, d.h. als sehr bestimmend und rechthaberisch erlebt. Von diesen Männern befürchtet sie am ehesten sexuelle Annäherungsversuche, gegen die sie sich nicht wehren kann. Solch einen Mann versucht sie dann meist dadurch loszuwerden, daß sie sich ihm gegenüber besonders freundlich und zuvorkommend verhält. Annette ist der Überzeugung: »Wenn ich nett zu ihm bin, tut er mir nichts und läßt mich in Ruhe.«

Dies hat sie bei ihren alkoholkranken und gewalttätigen Partnern so gelernt. Bei anderen Männern aber bewirkt dieses Verhalten genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich erreichen will: der Hausmeister fühlt sich durch ihre Freundlichkeit eher zu weiteren Annäherungsversuchen ermuntert als abgeschreckt. Die Angst vor Männern, die scheinbar immer machen, was sie wollen, wird bei Annette durch dieses Erlebnis noch größer. Am schlimmsten ist es für sie, wenn sie einen Handwerker in ihre Wohnung lassen muß, den einzigen Ort, an dem sie sich noch sicher fühlt. Schon Wochen vorher hat sie Angst vor diesem Tag und meist sorgt sie dafür, daß eine Freundin bei ihr ist, damit sie mit dem Mann nicht allein sein muß.

Als sich dies einmal nicht so einrichten läßt, kommt es zu folgender Situation: ein Handwerker soll in ihrer Wohnung eine Reparatur ausführen, was ihm aber offensichtlich nicht gelingt. Obwohl sie eigentlich ärgerlich auf ihn sein müßte, weil er zum vereinbarten Termin zu spät gekommen ist und nicht einmal das notwendige Werkzeug bei sich hat, versucht Annette ihn wegen der mißlungenen Reparatur zu trösten. Sie bietet ihm an, sich in einem nahegelegenen Fachgeschäft zu erkundigen, wie das Problem zu lösen sei und ihm so bei seiner Arbeit zu helfen. Sie hat die Vorstellung, sie müsse dem Handwerker über seinen Mißerfolg hinweghelfen, damit er sie in seinem Ärger nicht vergewaltigt, wie es früher verschiedene Partner mit ihr getan hatten.

 

Man muß sich einmal klar machen, wieviel Leid und Gewalt Annette in ihrem Leben ausgesetzt gewesen sein muß, um eine derart <verrückte> Schutzstrategie im Umgang mit Männern zu entwickeln. Man kann Annette zwar erklären, daß sie gerade durch ihre Freundlichkeit Männer zu Übergriffen ermuntert und sich so schutzlos macht. Trotzdem wird sie, geprägt von ihren vergangenen Erfahrungen, noch lange Zeit spontan immer wieder ihre Freundlichkeit zur Abwehr unerwünschter Annäherungen und Reaktionen von Männern einsetzen und sich damit ungewollt weitere Ohnmachtserfahrungen verschaffen.

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Konflikte eher durch Freundlichkeit als durch Aggressivität zu lösen wird allen Frauen durch die weibliche Geschlechtsrolle nahegelegt. Frauen scheinen dieses Verhaltensmuster umso ausgeprägter zu entwickeln, je mehr schlechte Erfahrungen sie mit gewalttätigen Menschen gemacht haben. Durch ihre mangelnde Fähigkeit, energisch <nein> zu sagen, werden etwa die Hälfte aller Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, als Erwachsene erneut vergewaltigt. 

Wie schnell das gehen kann, zeigt das folgende Beispiel:

REGINE
hat sich innerlich lange überwinden müssen, bis sie sich traut, allein an einen öffentlichen FKK-Strand zu gehen. Was ihre Freundin unbeschadet überstanden hat, will sie jetzt auch schaffen. Es ist so eine Art Mutprobe oder Test ihres Selbstbewußtseins. Kaum hat sie sich dort niedergelassen, kommt auch schon ein Mann vorbei und fragt sie, ob er ihr beim Eincremen helfen solle. Sie lehnt ab. Er fragt, ob er sich mit ihr unterhalten dürfe. Sie denkt sich: »Warum eigentlich nicht?« und stimmt zu. Er setzt sich neben sie und fängt an, sie während ihrer Unterhaltung anzufassen. Regine versucht seinen Berührungen auszuweichen, getraut sich aber nicht, ihm entschlossen zu sagen, er solle damit aufhören. Plötzlich setzt er sich auf ihren Schoß und fordert sie auf, seinen Penis anzuschauen. Sie ist vor Schreck wie gelähmt, kann nichts sagen, nicht reagieren und nicht mehr denken. Obwohl sie beim Selbstverteidigungstraining geübt hat, wie sie sich aus solch einer Situation befreien kann, ist alles wie weggeblasen. Sie fühlt sich ohnmächtig wie ein kleines Kind. Es ist das gleiche Gefühl wie damals beim sexuellen Mißbrauch. Sie hat Angst vor einer Vergewaltigung und Tränen laufen ihr übers Gesicht. Der Mann fragt sie, warum sie weine, ob sie sexuell mißbraucht worden sei. Sie nickt und zu ihrem Erstaunen steht er auf. Regine fühlt sich einerseits von diesem Mann abgestoßen und bedroht, andererseits tut ihr seine Aufmerksamkeit gut. Auch das ist ähnlich wie damals bei ihrem sexuellen Mißbrauch. Sie reden weiter miteinander: er erzählt über seine Schwierigkelten mit seiner Freundin und sie versucht ihm das Reagieren seiner Freundin zu erklären und gibt ihm gute Ratschläge, wie er sich verhalten soll. Aber in dieses Gespräch mischen sich auch Mißtöne, weil er immer wieder davon spricht, wie es wäre, wenn er jetzt seine Freunde holen würde und sie Sex zu dritt oder zu viert hätten. Er malt ihr verschiedene Sexual-praktiken aus, die sie dann alle miteinander machen könnten.

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Regine verfällt in diesen Momenten in eine lähmende Panik, die sie sprachlos und wehrlos macht. Als er schließlich geht und sie sich kaum von ihrem Schrecken erholt hat, steht schon der nächste Mann da. Sie deckt sich zu und sagt ihm, er solle verschwinden. Er geht nicht und sagt, sie solle die Decke wegtun. Sie packt ihre Sachen zusammen und geht.

Durch diese Erlebnisse fühlt sich Regine sehr stark an ihren sexuellen Mißbrauch erinnert. Wieder einmal wurde ihr bestätigt, daß sie sich gegen Männer nicht wehren kann und daher Kontakte mit Männern vermeiden muß. Hätte Regine nicht schon so oft erlebt, daß sie Männern ohnmächtig ausgeliefert war, hätte sie sich vermutlich durch eine energische und aggressive Zurechtweisung erfolgreich zur Wehr setzen können. Aber Regine überschätzt nicht nur die Macht dieses Mannes, ihr seinen Willen aufzuzwingen; sie überschätzt auch seine Fähigkeit, einfühlsam und rücksichtsvoll mit Menschen umgehen zu können und läßt sich trotz seiner bedrohlichen sexuellen Anzüglichkeiten auf ein Gespräch mit ihm ein.

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Vielen Frauen fällt gar nicht auf, daß ein Mann sich unsozial und selbstsüchtig verhält. Sie haben das schon so oft erlebt, daß es ihnen normal und fast wie sein <Recht> vorkommt. Daher versuchen sie auch nicht, sich dagegen zu wehren.

Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, sind oft auf der Suche nach einem <starken> Mann, bei dem sie sich Führung, Schutz und Geborgenheit erhoffen. Einige Frauen haben deshalb eine Vorliebe für wesentlich ältere oder für sehr männliche Männer, denen sie wie einem Vater mit kindlicher Bewunderung begegnen. Die meisten Frauen merken nicht, daß sie sich einem Mann zuwenden, der genauso wenig wie ihr Mißbraucher in der Lage ist, ihnen die uneigennützige Liebe eines Vaters entgegenzubringen, die sie seit ihrer Kindheit suchen. Trotzdem halten sie sich an dieser Illusion fest, weil es das einzige ist, was diesen Frauen Halt im Leben gibt. 

Diese kindliche Bewunderung für Männer muß nicht auf Partnerbeziehungen beschränkt bleiben. Sie kann sich, vor allem wenn die Frauen ohne Partner leben, auch auf einen Vorgesetzten oder Kollegen, auf ihren Arzt, Nachbarn oder ihren Pfarrer richten. Ihre Neigung, Männer positiver wahrzunehmen als sie sind, ist eine weitere Ursache dafür, warum diese Frauen oft so schlecht in der Lage sind, sich vor männlichen Übergriffen zu schützen.

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  Überbetonung des Sexuellen 

Manche Frauen haben durch den sexuellen Mißbrauch die Vorstellung entwickelt, daß Männer nur dann anderen Menschen Aufmerksamkeit schenken, wenn sie dafür Sex bekommen können. Sie unterstellen darum jedem Mann sexuelle Absichten, sobald er sich ihnen zuwendet bzw. sie glauben, der Mann meine, sie wollten ihn verführen, sobald sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenken. Leider gibt es genügend Männer, die durch ihr Verhalten gerade diesen schlechten Eindruck bestätigen, so daß das Mißtrauen Männern gegenüber, so überzogen dies Außenstehenden auch erscheinen mag, doch einen sehr realistischen Hintergrund hat. 

Entsprechend gereizt bzw. unnahbar verhalten sich die Frauen Männern gegenüber. Während manchen Frauen der Schutz vor Kränkungen wichtiger ist als Liebe und Zuwendung, ist dies bei anderen Frauen umgekehrt. Da sie als Kind durch ihren sexuellen Mißbrauch erfahren haben, daß Männer Sex sehr wichtig finden, sprechen manche Frauen sehr viel und in aufdringlicher Weise über Sex in der Absicht, andere zu beeindrucken oder Männern zu gefallen.

Einige Frauen benehmen sich auffallend verführerisch, manchmal sogar ohne dies selbst zu merken. Sie glauben, daß Männer das von ihnen erwarten. Sie wissen zwar mit dem Verstand, daß es in Beziehungen zu Männern keinen Sex geben muß, haben aber trotzdem das Gefühl, es gehöre dazu. Weil sich in ihrer Kindheit die fürsorgliche Zuneigung eines Mannes mit Sex vermischte, sind manche Frauen auch als Erwachsene nicht in der Lage, zwischen Sex und Zuneigung zu unterscheiden. Sie haben Sex als wirksame und manchmal einzige Methode kennengelernt, sich Zuwendung und Belohnung zu verschaffen. Sie wissen nicht, wie sie sich die Zuwendung eines Mannes verschaffen könnten, ohne dafür mit ihm ins Bett gehen zu müssen. Viele glauben, Sex sei der Preis, den jede Frau für die Aufmerksamkeit eines Mannes bezahlen müsse. Einige wenige Frauen entwickeln eine zwanghafte Sucht nach Sex und wechseln laufend ihre Partner. Sie tun dies nicht unbedingt, weil ihnen Sex soviel Spaß macht, sondern weil sie sich als Frau begehrenswert fühlen wollen, um damit ihre Minderwertigkeitsgefühle, die sie aufgrund des sexuellen Mißbrauchs mit sich herumtragen, ausgleichen zu können.

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Die wenigsten Männer wissen, daß das sexuell verführerische Verhalten einer Frau nicht immer als ein »Ich will Sex haben« verstanden werden darf, sondern manchmal »Ich will Zuwendung und Wertschätzung erfahren« bedeutet. Leider begreifen selbst männliche Psychotherapeuten nicht immer, welchen Vertrauens­bruch sie begehen, wenn sie sich auf eine sexuelle Beziehung mit einer verführerischen Patientin einlassen. Oftmals handelt es sich hierbei um eine Frau, die sexuell mißbraucht wurde und sich gar nicht anders verhalten kann. Ihr verführerisches Verhalten ist also keine Einladung zum Sex, sondern nur Ausdruck und Folge ihres sexuellen Mißbrauchs.

 

 Wollen Frauen vergewaltigt werden? 

Manche Frauen benutzen während der Selbstbefriedigung oder beim Sex mit ihrem Partner sexuelle Gewaltphantasien, um damit ihre sexuelle Lust und Erregung zu steigern. Sie stellen sich z.B. vor, sie würden von einem oder mehreren fremden Männern vergewaltigt oder beim Sex geschlagen und körperlich gequält werden. Wieder andere malen sich aus, wie sie beim Sex hilflos gemacht, gedemütigt und gezwungen werden Dinge zu tun, die sie nicht möchten. 

Manchmal nehmen Frauen in ihren Phantasien auch einmal die Rolle einer Täterin ein, die ihre Opfer überwältigt und quält. Es ist bis heute nicht geklärt, wieso sexuelle Gewaltphantasien für manche Menschen so reizvoll sind, während sich andere davon nicht angesprochen fühlen. Solange sie eine bereichernde Spielart lustvoller Sexualität sind, ist gegen solche Phantasien auch nichts einzuwenden. Allerdings verursachen sie Frauen, die selbst sexuelle Gewalt erlebt haben, oft ein starkes Unbehagen und sogar Schuldgefühle. Diese Frauen schämen sich, daß sie Phantasien von Ohnmacht, Schmerz und Erniedrigung als sexuell erregend erleben. Sie glauben, daß sie aufgrund solch einer >Veranlagung< ihren sexuellen Mißbrauch als Kind insgeheim selbst gewollt und angezettelt haben. Manche Frauen erleben diese sexuellen Gewaltphantasien nicht als lustvoll, sondern eher als krankhaften Zwang, der irgendwie nicht zu ihnen gehört und den sie gern loswerden möchten. Hier werden die sexuellen Gewaltphantasien ganz offensichtlich zu einem Problem und spiegeln vermutlich die unverarbeiteten sexuellen Gewalterfahrungen der Frau wieder. 

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Während ihres sexuellen Mißbrauchs hat die Frau wahrscheinlich auch sexuelle Erregung erlebt, die sich mit den gleichzeitig auftretenden Gefühlen der Ohnmacht und der sexuellen Demütigung verknüpften. Auf diese Weise wurden die sexuellen Ohnmachtsgefühle und Demütigungen zu automatischen Auslösern sexueller Lustempfindungen programmiert. Frauen benutzen dann sexuelle Gewalt- und Demütigungs­phantasien, wenn sie sich sexuell erregen wollen. Auch diese Entwicklung läßt sich wieder mit dem Lernvorgang der Klassischen Konditionierung beschreiben.

 

Vor dem sexuellen Mißbrauch:

GEFÜHLE DER DEMÜTIGUNG ——————— UNBEHAGEN, STRESS, ANGST

SEXUELLE STIMULATION —————— SEXUELLE ERREGUNG

Beim sexuellen Mißbrauch:

GEFÜHLE DER DEMÜTIGUNG  ---> SEXUELLE ERREGUNG ÜBERDECKT DAS UNBEHAGEN
  

SEXUELLE STIMULATION

Nach dem sexuellen Mißbrauch:

GEFÜHLE DER DEMÜTIGUNG DURCH  SEXUELLE GEWALTPHANTASIEN ==> ERREGUNG SEXUELLE

 

Nun geraten manche Frauen immer wieder an Männer, die zu sexuellen Gewalttätigkeiten neigen, und bleiben bei ihnen. Was suchen Frauen bei Männern, von denen sie vergewaltigt und mißhandelt werden? Sind sie masochistisch veranlagt? Brauchen sie Prügel oder schlechte Behandlung, um Sex genießen zu können? Diese Fragen stellen sich die betroffenen Frauen oft selbst. Ich glaube nicht, daß Frauen sich derart selbstschädigend verhalten, weil es ihnen so gefällt.

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Ich glaube eher, daß manche Frauen aufgrund ihres sexuellen Mißbrauchs nicht anders reagieren können. Jeder Mensch braucht ein gewisses Maß an Zuwendung und Aufmerksamkeit. Dieses Bedürfnis ist bei Kindern besonders stark ausgeprägt. Es gibt Kinder, die von ihren Eltern gefühlsmäßig derart vernachlässigt werden, daß der sexuelle Mißbrauch ihre einzige Quelle der Zuwendung darstellt. In solch einem Fall werden die unangenehmen Gefühle beim sexuellen Mißbrauch durch angenehme Empfindungen der Geborgenheit sehr stark überdeckt. 

Menschen versuchen automatisch diejenigen Situationen wieder herzustellen, in denen sie sich in der Vergangenheit am wohlsten fühlten. Wenn der sexuelle Mißbrauch trotz aller unangenehmen Seiten zu diesen angenehmen Situationen gehört, werden die Frauen unbewußt in ihrem Alltag wieder nach einer ähnlichen Situation suchen. Wenn sich eine Frau <freiwillig> sexuell demütigen und mißhandeln läßt oder dies phantasiert, tut sie das wahrscheinlich, weil sie darin die früher erlebte Zuwendung und Geborgenheit sucht.

 

Prostitution

 

In einer Studie an 200 Straßenprostituierten fand man, daß über die Hälfte der Frauen vor ihrem 16. Lebensjahr sexuell mißbraucht worden waren, und zwar meist von verschiedenen Männern, insgesamt etwa drei Jahre lang. 70 % der Frauen glauben, daß die sexuellen Übergriffe sie in die Prostitution geführt haben. »Mein Vater und mein Bruder haben mich jahrelang sexuell mißbraucht. Jetzt will ich wenigstens Geld dafür.« 

Sexueller Mißbrauch führt oft dazu, daß sich junge Frauen wertlos fühlen und sich unsicher verhalten. Sie suchen nach Schutz und Geborgenheit und reißen oftmals auch von zu Hause aus, weil sie es dort nicht mehr aushallen. Manchmal stellt das Weglaufen die einzige Möglichkeit für sie dar, ihren sexuellen Mißbrauch zu beenden. Weil sie so ungeschützt und liebesbedürftig sind, werden sie leicht erneut zum Opfer sexueller Übergriffe und Vergewaltigungen. Andere landen in den Händen eines Zuhälters, der ihnen ein neues Zuhause anbietet, um sie schließlich auf den Strich zu schicken. Frauen, die bereits als Kind für eine Zuneigung, die eigentlich kostenlos sein müßte, mit ihrem Körper bezahlen mußten, bezahlen auch in Zukunft für vieles mit ihrem Körper. 

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Am Anfang bekommt die junge Frau die Zuneigung ihres Zuhälters noch kostenlos. Wenn man nie viel Zuneigung bekommen hat, kann man schnell süchtig danach werden. Diese Abhängigkeit nutzt der Zuhälter dann aus, indem er Geld für seine Zuneigung verlangt. Er zeigt der Frau auch, wie sie schnell genügend Geld für ihn verdienen kann: indem sie ihren Körper verkauft. Wenn sie sich wehrt, hilft er mit Prügel und Gewalt nach. Später bezahlt sie ihn dafür, daß er sie nicht mehr verprügelt. Das alles ist den Frauen von ihrem sexuellen Mißbrauch her bestens vertraut. Viele Frauen resignieren angesichts dieser Wiederholung.

 

KARIN hat eine große Sympathie für Frauen, die ihren Körper verkaufen und fühlt sich ihnen seelisch sehr verwandt. Sie meint, daß sie sich selbst in ihren bisherigen Partnerbeziehungen auf eine ähnliche Weise prostituieren mußte, um nicht mißhandelt zu werden und ab und zu etwas Aufmerksamkeit zu bekommen.

 

Umgang mit Frauen

Manche Frauen empfinden Männern gegenüber soviel Haß und Feindschaft, daß sie mit einem Mann keine Beziehung oder Freundschaft mehr eingehen wollen. Manche von ihnen suchen dann ihr Glück in lesbischen Beziehungen oder in nicht-sexuellen Frauenfreundschaften.

Lesbische Beziehungen

Während es manchen Frauen gelingt, in einer lesbischen Partnerbeziehung psychischen Halt und Seelen­frieden zu finden, bleibt dieser Erfolg bei anderen Frauen aus, weil es zu ähnlichen Schwierigkeiten kommt wie in den Beziehungen zu Männern. Aufgrund ihrer Minderwertigkeitsgefühle und/oder ihrer extremen Hilfsbereitschaft können sie leicht an Frauen geraten, die mit ihrem eigenen Leben nicht fertig werden, finanziell und gefühlsmäßig auf Kosten anderer leben, suchtkrank sind oder Konflikte nur durch körperliche Gewalt lösen können.

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VERA wird als Kind von verschiedenen männlichen Familienmitgliedern sexuell mißbraucht. In ihrer Mutter findet sie keine Hilfe, da diese sie seit ihrer Geburt ablehnt und mißhandelt. Schließlich kommt sie in ein Kinderheim, wo sie eine Erzieherin findet, die sich sehr um sie bemüht. Diese Frau bleibt der einzige gute Mensch, dem Vera in ihrer Kindheit begegnet. Als sie erwachsen ist, laufen alle Beziehungen zu Männern schief. Immer wieder gerät sie an Partner, die ziemlich gewalttätig sind. Diese Erfahrungen bringen sie schließlich dazu, sich Frauen zuzuwenden. Aber auch hier ergeben sich die gleichen Probleme, weil sie meist an solche Frauen gerät, die sie ausnutzen. Einmal nimmt sie aus Mitleid eine lesbische Frau bei sich auf, die gerade ihre Wohnung verloren hat. Aus der vorübergehenden Notlösung wird eine Dauer­einrichtung und eine Beziehung. Während Vera in ihrer Gutmütigkeit das Geld für sie beide verdient und den Haushalt versorgt, macht sich ihre arbeitslose Freundin ein schönes Leben, genießt nachts das Szeneleben und holt tagsüber ihren fehlenden Schlaf nach. Nachdem Vera merkt, daß sie von ihr auch noch belogen, betrogen und bestohlen wird und gutes Zureden daran nichts ändert, trennt sie sich schließlich schweren Herzens von dieser Frau und zieht sich enttäuscht von allen Menschen zurück.

 

Nicht-sexuelle Frauenfreundschaften

Frauen, die sich aus Angst und schlechten Erfahrungen von Männern fernhalten, suchen oft in nicht-sexuellen Frauenfreundschaften die Zuwendung und Geborgenheit, die ihnen fehlt. In manchen Freundschaften funktioniert dies sehr gut. In anderen machen sich dagegen viele der Schwierigkeiten bemerkbar, die auch schon im Kontakt mit Männern aufgetreten sind: das Nähe-Distanz-Problem; die Angst, verletzt zu werden; das Verbergen von Ärger und Verletztheit aus Angst, daß die Freundin dann den Kontakt abbricht; übertriebene Opfer- und Hilfsbereitschaft; Auswahl der falschen Freundinnen, die die Frau ausnutzen oder sie als Ventil für ihre Lebensunzufriedenheit benutzen. Was den Frauen in Frauenfreundschaften allerdings erspart bleibt, sind körperliche Mißhandlungen und sexuelle Übergriffe.

 

EDITH ist durch ihren sexuellen Mißbrauch und andere kränkende Erlebnisse so beeinträchtigt, daß sie deshalb schon wiederholt In Psychotherapie war. Ihre Freundinnen kennt sie größtenteils aus Selbsthilfe- oder Selbsterfahrungskursen.

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Wenn sie sich mit einer von ihnen trifft, analysieren sie oft gemeinsam ihre psychischen Probleme. Es tut Edith gut, gebraucht zu werden und jemand weiterhelfen zu können. Obwohl sie manche Frauen schon viele Jahre kennt, passen doch die meisten als Freundinnen nicht zu ihr. Viele sind in ihrem Wesen und ihren Vorlieben ganz anders als sie, so daß es für Edith oft auch anstrengend ist, mit ihnen zusammenzusein. Die meisten Freundschaften gehen nur solange gut, wie Edith ihre eigenen Wünsche zurückstellt. Manchmal möchte sie sich am liebsten von der einen oder anderen Freundin trennen. Dann aber bekommt sie Angst, weil sie daran denken muß, daß es ihr auch mal wieder dreckig gehen und sie dann auf diese Frauen angewiesen sein könnte.

 

Manche Frauen fühlen sich unwohl, wenn sie merken, daß sie nur Kontakte zu Frauen haben können. Sie verstehen nicht, warum sie Männern aus dem Weg gehen und fürchten sich dann davor, möglicherweise lesbisch zu sein. Das macht ihnen Angst und sie fürchten die Ablehnung und moralische Verurteilung als <nicht normal> durch ihre Umwelt. Aus diesem Grund wagen sie nicht, die Geborgenheit und gefühls­mäßige Wärme aus Frauenfreundschaften anzunehmen. 

Manche Frauen haben einen abgrundtiefen Haß auf ihre Mütter, weil diese ihnen nicht aus dem sexuellen Mißbrauch herausgeholfen haben. Einige haben eine gestörte Beziehung zu Frauen und begegnen grundsätzlich jeder Frau mit Feindseligkeit. In ihren Augen sind Frauen schwache und nutzlose Wesen, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und »dich den Wölfen zum Fraß vorwerfen, um ihre eigene Haut zu retten«. Weil die Mutter für sie als Kind die wichtigste Bindungsperson darstellte, wurden manche Frauen durch das Versagen und die fehlende Hilfe ihrer Mutter schwerer enttäuscht und traumatisiert als durch die sexuellen Übergriffe ihres Vaters, deshalb haben sie oft auch größere Probleme im Umgang mit Frauen als mit Männern.

 

Beziehung zum Elternhaus

Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, waren als Kinder häufig auch einem emotionalen Mißbrauch durch die eigenen Eltern ausgesetzt. Während die sexuellen Übergriffe irgendwann entdeckt und beendet wurden, geht der unaufgedeckte emotionale Mißbrauch durch die Eltern oft lebenslang weiter.

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Viele Frauen lieben ihre Eltern, auch wenn diese sie als Kind vernachlässigt, überfordert, sexuell und emotional mißbraucht, mißhandelt oder wegen des sexuellen Mißbrauchs beschimpft und bestraft haben. Diese Liebe zeigt sich darin, daß sie sich von ihren Eltern auch als Erwachsene schwer ablösen können und intensiv bemüht sind, den Eltern alles recht zu machen. Sie wollen damit erreichen, daß ihre Eltern sie irgendwann annehmen und sie liebevoll und fürsorglich behandeln. 

Dieser Wunsch bleibt in den meisten Fällen unerfüllt, denn er wird von den Eltern gar nicht wahrgenommen oder verstanden. Die unerfüllte Sehnsucht nach Anerkennung durch die Eltern ist auch der Grund, warum sich die Frauen weiterhin von ihrer Familie emotional mißbrauchen lassen. Viele Frauen haben Eltern und teilweise auch Geschwister, die ganz selbstverständlich erwarten, daß sich diese wie in ihrer Kindheit für ihr Elternhaus aufopfern. Auch die Frauen selbst halten diese Ansprüche und Forderungen für angemessen und trauen sich nicht, ihr Unbehagen offen zu zu zeigen oder sich den Erwartungen ihrer Familie zu widersetzen. Sie möchten keinen Streit und wünschen sich nichts mehr als ein harmonisches Elternhaus. Indem die Frauen bei diesem ungleichen Geben und Nehmen in ihrem Elternhaus mitspielen, behandeln sie sich selbst mit Mißachtung. Dies führt auf Dauer dazu, daß ihr Selbstwertgefühl immer mehr verlorengeht und sich schließlich körperliche und seelische Erkrankungen einstellen. Manchen Frauen gelingt es nur mit Hilfe einer Krankheit, sich den übertriebenen Erwartungen und dem emotionalen Mißbrauch ihres Elternhauses zu entziehen.

 

GERDA wurde aus unerfindlichen Gründen schon als Kind immer von ihrer Mutter abgelehnt. Als Gerda ihrer Mutter mit 15 Jahren berichtet, daß ihr Onkel sie sexuell mißbraucht hat und sich jetzt an ihre kleine Schwester heranmacht, erntet sie von ihrer Mutter dafür nur Vorwürfe und Prügel. In den Augen der Mutter ist sie eine Hure, die diesen unbescholtenen Mann verführt hat und mit diesen Geschichten die ganze Familie zerstören will. Nun ist Gerda knapp 50 Jahre und soll auf Wunsch ihrer Geschwister als die einzige Alleinstehende in der Familie die altersschwache Mutter pflegen und versorgen.

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Trotz der vielen Zurück­weisungen und Kränkungen ist Gerda bereit, die Pflege ihrer Mutter zu übernehmen. Sie ahnt aber, daß es nicht leicht werden wird. Obwohl sie sich sehr um die Mutter bemüht und sich für sie aufopfert, nörgelt diese an vielem herum und zeigt Gerda deutlich ihre Ablehnung und ihren Haß. Gerda ist verzweifelt, weil sie nicht mehr weiß, was sie noch tun könnte, um von ihrer Mutter ein Wort der Anerkennung zu bekommen. Wie bösartig die Mutter sie auch behandelt, Gerda ist weiterhin gleichbleibend freundlich zu ihr. Aber ihre Mühen bleiben erfolglos. Selbst als die Mutter im Sterben liegt, verweigert sie Gerda noch den letzten versöhnenden Händedruck.

 

Gerda konnte und wollte die Wahrheit nicht sehen, wie sie ist: diese Mutter hatte nichts für sie übrig und behandelte Gerda schlecht, egal wie Gerda sich auch anstrengte. Das einzige, was Gerda noch hätte tun können, um ihre eigene Selbstachtung zu schützen, wäre der Kontaktabbruch zu dieser kränkenden Mutter.

Diese Situation ist typisch für viele Familien von Frauen, die sexuell mißbraucht wurden. Sobald die Frauen ihre Eltern brauchen, um z. B. durch eine Aussprache über den sexuellen Mißbrauch besser mit ihren Erinnerungen fertig zu werden, werden sie von diesen im Stich gelassen. Meistens wollen die Eltern und manchmal auch die Geschwister nach so vielen Jahren nicht mehr über den sexuellen Mißbrauch sprechen und reagieren mit Verharmlosung (das war doch nicht so schlimm«), Verleugnung (»das ist nie passiert«). Gegenvorwürfen (»du bist ja selber schuld gewesen«). Wenn der sexuelle Mißbrauch innerhalb der Familie stattfand, kann es leicht passieren, daß sich alle auf die Seite des Mißbrauchers stellen und die Frau zum Sündenbock gemacht wird, weil sie diese alten Geschichten wieder aufwärmt und damit den Familienfrieden stört.

 

BRIGITTE  Als anläßlich der Beerdigung ihrer Mutter alle wichtigen Angehörigen zusammenkommen, nutzt Brigitte die Gelegenheit, um erstmals über ihren sexuellen Mißbrauch in der Familie zu sprechen und damit für sich eine Klärung und Aussöhnung herbeizuführen. Sie hat die Hoffnung, ihr Vater und ihr Bruder würden ihr Unrecht eingestehen und sich bei ihr entschuldigen.

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Bereits nach ihrem ersten Satz wird sie von ihrem wütenden Bruder unterbrochen, der sie wüst als Nutte und Schlampe beschimpft, die das Andenken der Mutter beschmutzen wolle. Auch der Vater reagiert aufgebracht, so daß sie gar nicht mehr zu Wort kommt. Darauf ist Brigitte nicht vorbereitet. Plötzlich fängt ihr Herz an zu rasen und zu stolpern, die Luft bleibt ihr weg, sie zittert am ganzen Körper, kann nicht mehr stehen, alles verschwimmt ihr vor den Augen und der Schweiß Hießt in Strömen. Sie hat das Gefühl, einen Herzanfall zu haben und bekommt Todesangst. Trotzdem versucht sie sich nach außen hin möglichst wenig anmerken zu lassen. Sie faßt für sich den Entschluß, daß ihre Familie damit für sie gestorben ist. Aber jedes Mal, wenn sie an ihr Elternhaus erinnert wird, bekommt sie erneut körperliche Beschwerden und Ängste. Dies zeigt ihr, daß sie es zwar geschafft hat, sich äußerlich von ihrem Elternhaus zu trennen, daß sie aber gefühlsmäßig immer noch stark daran gebunden ist.

 

Daß die nächsten Angehörigen so enttäuschend und verletzend auf Ausspracheversuche reagieren, hat für die betroffenen Frauen manchmal schlimmere Auswirkungen als der sexuelle Mißbrauch selbst. Sie finden darin bestätigt, was sie immer schon ahnten, aber nie wahrhaben wollten: daß ihre Eltern keinen Halt und keine Geborgenheit bieten können. Wie können Frauen solche Eltern noch lieben? Was Frauen hier lieben, sind nicht ihre wirklichen Eltern, sondern das, was sie an unerfüllten Wünschen und Sehnsüchten in ihre Eltern hineinphantasieren. Dieser Wunschtraum versperrt ihnen die Sicht für die Wirklichkeit. Viele Frauen nehmen gar nicht richtig wahr, was ihre Eltern ihnen eigentlich antun. Es ist sehr schwer, den Traum vom fürsorglichen, harmonischen Elternhaus aufzugeben und sich bewußt zu werden, daß man im Grund elternlos ist und immer schon war.

Um den kränkenden Kontakt zu den Eltern abbrechen zu können, brauchen Frauen die Unterstützung guter verläßlicher Freunde, die ihnen Geborgenheit und Wertschätzung entgegenbringen und ihnen ein neues gefühls­mäßiges Zuhause geben.

 

Beziehung zum Mißbraucher 

Genauso wie es vielen Frauen schwerfällt, ihren Eltern, Partnern oder Freunden böse zu sein, wenn die sie schlecht behandeln, so sind sie oft auch nicht in der Lage, ihren Mißbraucher auf sein Vergehen anzusprechen.

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Einige ahnen, daß sie einer solchen Auseinandersetzung nicht gewachsen sind. Andere Frauen möchten sich die Illusion erhalten, der Mißbraucher bereue, was er ihnen angetan hat und werde sich eines Tages bei ihnen dafür entschuldigen. Die Realität sieht leider anders aus: werden sie auf ihre sexuellen Übergriffe angesprochen, weigern sich die meisten Mißbraucher, die Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen. Viele Mißbraucher reagieren empört mit Gegenvorwürfen, Beschimpfungen und Drohungen oder entziehen sich auf andere Weise dem Gespräch. Die Frauen sind dann enttäuscht, fühlen sich ohnmächtig und um eine Kränkung reicher. Damit so ein Gespräch überhaupt einen Sinn haben kann, muß sich die Frau gut darauf vorbereiten, damit sie sich von dem Mißbraucher nicht so leicht abspeisen läßt. Sie muß sehr energisch eine Erklärung von ihm verlangen und zwar so lange, bis er ihr eine befriedigende Antwort darauf gibt. Sehr viele Frauen aber sind nicht einmal in der Lage, ihren Mißbraucher in der Phantasie zur Rechenschaft zu ziehen. Sie haben oft Mitleid mit ihm, sagen sich, daß er es auch schwer im Leben gehabt hat und verschonen ihn mit ihrer Wut. Da sie als Kind auf seine Zuwendung angewiesen waren, möchten sie sich die Illusion erhalten, daß er doch eher ein guter als ein schlechter Mensch ist. Indem sie ihren Mißbraucher auf diese Weise schonen, kränken und mißachten sie dabei ihre eigene Person. Sie nehmen ihre Gefühle der Wut, der Trauer und des Schmerzes nicht wichtig und stellen sich selbst als minderwertig hintan.

Wenn sie mit psychotherapeutischer Hilfe und nach einem schweren inneren Kampf mit sich selbst doch Worte für ihre eigene Verletztheit finden, die sie in einem Brief an den Mißbraucher aufschreiben, fühlt es sich für sie ungewohnt und fremd an, wie wenn sie eine völlig andere Sprache sprächen. Da sie sich nur als minderwertig, ohnmächtig und wehrlos kennen, ist die Erfahrung, sich selbst als eine energische und kraftvolle Person zu erleben, verwirrend und beängstigend. Sie brauchen Zeit, um sich allmählich an diesen lange verschollenen Teil ihrer selbst zu gewöhnen.

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Beziehung zu den eigenen Kindern

Die Art, wie wir als Kinder behandelt wurden, hat einen großen Einfluß darauf, wie wir mit unseren eigenen Kindern umgehen. Wie wirkt sich die Erfahrung des sexuellen Mißbrauchs auf die Kindererziehung aus?

Zuviel des Guten

Frauen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, sind oft recht gute Mütter, weil sie sich besonders bemühen, ihren Kindern eine bessere Kindheit zu verschaffen als sie sie selbst hatten. Dabei machen sie allerdings oft den Fehler, daß sie sich selbst wieder zu kurz kommen lassen. Viele fürchten, als Mutter zu versagen. Sie lesen darum viel über Kindererziehung und strengen sich sehr an, ihre hochgesteckten Erziehungsziele zu erreichen. Weil sie ihren Ansprüchen aber oft nicht gerecht werden können, sind sie fortwährend von sich als Mutter enttäuscht. 

Manchen Müttern fällt es schwer, ihren Kindern Grenzen zu setzen. Sie wollen nicht die gleichen Fehler wie ihre strengen und lieblosen Eltern machen. Mit ihren guten Absichten geraten sie dann manchmal ins andere Extrem: die Kinder können tun, was sie wollen, ohne daß dies Folgen für sie hat. Kinder aber möchten klare Regeln für das Zusammenleben haben. Sie möchten belohnt werden, wenn sie etwas gut machen, und sie möchten eine angemessene Bestrafung, wenn sie die Regeln der Eltern mißachten. Sie brauchen das Gefühl, daß sie mit ihrem eigenen Verhalten darüber bestimmen können, ob sie von den Eltern gut oder schlecht behandelt werden. Und sie brauchen Eltern, die ihnen Grenzen setzen und ihnen damit zeigen, daß sie stärker sind, so daß sich die Kinder mit ihren Sorgen und Ängsten bei ihnen geborgen und sicher fühlen können. Kinder leiden, wenn ihre Eltern immer nur lieb zu ihnen sind. Viele provozieren ihre nachgiebigen Mütter dann solange, bis diese endlich ein Machtwort sprechen und die Kinder in ihre Grenzen weisen.

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CAROLA hat ihre Tochter mit sehr viel Liebe und Verständnis erzogen und ihr viele Freiheiten gelassen. Sie hat die Fehler, die ihre gefühlskalte Mutter bei ihr machte, vermieden. Sie ist darum ganz verwirrt, als ihre 15jährige Tochter sie eines Tages bittet, ihr auch einmal etwas zu verbieten, mit ihr zu schimpfen oder sie zu bestrafen, damit sie wenigstens auch einmal einen Grund hat, auf ihre Mutter wütend zu sein. Carolas Tochter braucht diese Wut, um sich gefühlsmäßig von ihrer Mutter ablösen zu können und erwachsen zu werden. Carola versteht zwar verstandesmäßig den Wunsch ihrer Tochter, bringt es aber nichts übers Herz, ihrer Tochter bewußt Anlaß für Streit und Feindschaft zu geben. Ihre Tochter beginnt sie daraufhin so lange zu provozieren, bis auch ihrer gutmütigen Mutter die Geduld ausgeht und sie endlich einmal böse wird.

Dieses »Zeig mir endlich, wo Deine Grenze ist« erleben Frauen, die sexuell mißbraucht wurden, nicht nur mit ihren Kindern, sondern häufig auch mit Partnern, Freundinnen, Kollegen und anderen Menschen, mit denen sie im Alltag zu tun haben.

 

   Kindesmißhandlung  

Eltern, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, neigen eher dazu, ihre Kinder zu mißhandeln und sexuell zu mißbrauchen als andere Eltern. Wie läßt sich dies erklären? Wie wir bisher gesehen haben, begegnen Menschen, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, anderen oft mit sehr viel Mißtrauen. Die Neigung, anderen Menschen schnell böse Absichten zu unterstellen, prägt auch den Umgang mit ihren Kindern. Wenn das Kind z.B. etwas kaputt gemacht hat, wird ihm schnell unterstellt, daß es dies mit Absicht getan hat. Wenn die Eltern von ihrem Kind Dinge verlangen, die es noch gar nicht kann, deuten die Eltern dies oft als Bockigkeit und Ungehorsam und reagieren schnell mit Strafaktionen. Sie mißverstehen vieles, was ihre Kinder tun, als Versuch, die Autorität der Eltern zu untergraben, weil sie der Überzeugung sind: »Menschen sind schlecht.« Eltern, die als Kind mißhandelt wurden, sind oft nicht in der Lage, ihren Kindern Zuwendung, Verständnis und Geborgenheit zu geben, weil sie dies selbst nie erfahren haben.

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    Sexueller Kindesmißbrauch   

Eltern, die als Kind sexuell mißbraucht wurden, sind auch als Erwachsene oft sehr zuneigungs- und schutz­bedürftig. Dies führt dazu, daß sie ihre Elternrolle nicht ausfüllen und statt dessen bei ihren Kindern die Zuwendung und Fürsorge suchen, die sie selbst nicht bekommen haben. So kann es zur Vertauschung der Eltern-Kind-Rollen kommen, und damit zu einem Familienmuster, das die Gefahr von sexuellem Mißbrauch erhöht. Weil sie als Kind sexuell mißbraucht wurden, fällt es manchen Eltern schwer, Sex und Zuneigung auseinanderzuhalten. Ihr Umgang mit ihren Kindern ist dann manchmal sexualisiert und ähnelt dem, wie ihr Mißbraucher und andere Erwachsene mit ihnen als Kind umgegangen sind.

So verlangen manche Eltern als Gegenleistungen für das, was sie für ihre Kinder tun, Küsse, Streicheln und Schmusen, auch wenn die Kinder dies nicht so gern tun. Sie geben ihren Kindern Zuwendung weniger in der Form, wie die Kinder sie haben möchten, sondern wie es ihren eigenen Bedürfnissen entspricht. Auf diese Weise mischen sich auch schnell die sexuellen Interessen der Eltern mit hinein. Manche Eltern drängen ihre Kinder z.B. zum gemeinsamen Planschen in der Badewanne, verbieten ihnen das Bad abzuschließen, werben für eine unbeschwerte Nacktheit und eine un-ver klemmte Sexualerziehung. Ihre Kinder getrauen sich dann kaum mehr zu sagen, daß sie sich vor den Augen der Eltern nicht mehr nackt zeigen wollen.

Andere Eltern machen Bemerkungen über die sexuelle Attraktivität oder körperliche Entwicklung ihrer Kinder oder reden oft und gern über Sex, ohne Rücksicht auf die Gefühle ihrer Kinder zu nehmen. Der Schritt zum eindeutigen sexuellen Mißbrauch ist dann nicht mehr weit. Daß diese Eltern als Kind selbst Opfer sexueller Übergriffe waren, ist zwar eine Erklärung für solch ein Verhalten, aber keine Entschuldigung. Eltern sind grundsätzlich für das verantwortlich, was sie mit ihren Kindern anstellen, gleichgültig was sie selbst in ihrem Leben mitmachen mußten. Sobald sie ihr eigenes Fehlverhalten bemerken, ist es ihre Pflicht, etwas dagegen zu unternehmen. Verantwortungsbewußte Eltern suchen dann den Rat und die Unterstützung von Fachleuten.

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 Marion Reinhold (1994) Unverheilte Wunden