Ludwig Renn

Meine Kindheit
und Jugend

(1957)


 

1957

300 Seiten

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Biografiebuch

 

detopia-2024: Gutes Buch, jetzt erst gelesen. Mir gefällt sein sachlicher Stil. In der ddr galt er mir als Berufskommunist. Mehr wusste ich nicht. Seine Kinderbücher waren nicht spannend.

 

aus Wikipedia-2024  wiki  Meine Kindheit und Jugend (1957)
Darin schildert der Autor sein Leben in Dresden bis zum Ende der Schulzeit.
Ludwig Renn beschreibt in seiner Autobiographie sein Leben und seine geistig-psychische Entwicklung vom Spross einer aristokratischen Familie zum „Arbeiterfreund“ und Anhänger des Kommunismus.
Ludwig Renn war der Sohn eines Mathematiklehrers, hatte aber in den ersten Klassen große Schwierigkeiten mit dem Lesen und Rechnen. Er hatte eine traurige Kindheit, sein dominanter Vater beherrschte die Familie. Die Ehe der Eltern erlebte er als unglücklich, die Mutter war depressiv und krank vor Heimweh nach Russland. Sie suggerierte ihren Söhnen, als Spätgeborene eines alten Adelsgeschlechts fehle ihnen die Lebenskraft. Dieser Mangel sei die Ursache ihrer Kränklichkeit. Deshalb sei es besser für sie, nicht zu heiraten, um nicht völlig lebensunfähige Kinder in die Welt zu setzen. Die Schule versetzte ihn in Angstzustände, und als Heranwachsender schien ihm das Leben sinnlos. Nur auf zwei Urlaubsfahrten in die Schweiz und nach Italien hatte er den Eindruck, wirklich zu leben. Zu einem Leistungsanstieg in der Schule kam es, als er das Klassenziel nicht erreichte, die Schule auf Anordnung des Vaters verlassen musste und von einem Privatlehrer unterrichtet wurde. Innerhalb eines Vierteljahrs holte er den Schulstoff nach und gehörte ab diesem Zeitpunkt zu den Klassenbesten.
Sein älterer Bruder Victor setzte sich gegen Wünsche des Vaters durch und wurde Landwirt. Ludwig war künstlerisch und musikalisch begabt, und der Vater befürchtete, der Sohn wolle Künstler werden. Ludwig Renn schlug jedoch die Offizierslaufbahn ein.


 

Erster Teil

Graues Dresden und der sonnige Süden

 

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  Das fehlende Ja 

Wie ich zur Welt kam, hat mir meine Mutter - das war dreißig Jahre später - unter Tränen in einer Stunde größter Verzweiflung erzählt:

Am 22. April 1889 wurde ich in einem Hause geboren, das bei der Bombardierung Dresdens durch die Amerikaner 1945. zerstört worden ist. Wenn man von der Altstadt über die damalige Albertbrücke kam, war es an der Glacisstraße das erste Haus rechts.

Meine Mutter lag in einem riesigen Bett, den Kopf auf drei Kissen, die nach oben immer kleiner wurden, wie sie es von Moskau her gewöhnt war. Das Bett neben ihr stand leer, denn meinem Vater hatte man in seinem Arbeitszimmer das Schlafsofa hergerichtet. Da brauchte sie sein Schnarchen nicht zu hören, das sie viele Nächte wachgehalten hatte, in denen sie sich mit der Frage quälte: Mußte ich nicht bei der Trauung die Wahrheit offen sagen, als der Pastor fragte: „Und wollt Ihr, Berta Raspe, diesen Johann von Vieth zu Eurem christlichen Ehegemahl?"

Ihr Vater, der norddeutsche Patriziersohn, stand hinter ihr. Sie wußte, daß er ihr Ja unbedingt forderte. Wie konnte sie aber vor Gott eine solche Unwahrheit sagen! Sie war freilich noch unmündig, erst achtzehn Jahre.

Weil sie nicht antwortete, blickte sie der Pastor stumm an und wartete. Sie hörte hinter sich die Sporen ihres Vetters, des Ulanenrittmeisters von Arnim, klirren. Nach einem peinlichen Schweigen segnete der Pastor das Paar ein. Er durfte das eigentlich nicht, und sie konnte innerhalb eines Jahres

ihre Ehe anfechten. Das aber hätte einen Skandal bedeutet; und nur keinen Skandal! Von einer anständigen Frau spricht man nicht in der Öffentlichkeit! Und zurück zu ihrem Vater? Er hatte ihr das Kreuz aufgeladen.

Diesem Unheil war ein anderes vorausgegangen. Sie liebte einen Mann, und eines Tages erschien er bei ihren Eltern. Man ließ ihn in den Salon. Sie stand im nächsten Zimmer und konnte nur wenig von dem Gespräch hören. Ein großes Glücksgefühl stieg in ihr auf. Wie schön würde er ihr das Leben machen, ihre ewigen Angstgefühle wegnehmen! Die Welt mit einer ganz neuen Freude erfüllen!

„Junger Mann", hörte sie ihren Vater sagen, "können Sie denn eine Frau aus guter Familie ernähren?" Sie verstand die Antwort nicht. Der junge Mann verließ den Salon. Nie sah sie ihn wieder.

Kurze Zeit darauf machte Herr von Vieth bei ihren Eltern Besuch und hielt um sie an. Er legte auch gleich ein Verzeichnis seines bedeutenden Vermögens vor. In dieser Stunde hatte ihr Vater sie an den reichen Mann verkauft! Das Herz krampfte sich in ihr zusammen, weil ihr sonst so gütiger, kluger Vater sie dazu gezwungen hatte!

Nun lag sie in dem riesigen Bett, den Kopf auf den drei Kissen. Sie wünschte sich unbedingt einen zweiten Jungen, der so aussehen sollte wie der Mann, den sie nicht vergessen konnte. Ihr erster Sohn, Victor, war zu früh und elend angekommen, aber versprach so zu werden, wie sie ihn wünschte. Manchmal machte sie sich Vorwürfe, daß sie so dringend Kinder ersehnte, denn sie fühlte sich nicht gesund: ihre Ängste, ihre Neurasthenie, wie die Ärzte es nannten! Durften solche Frauen Kinder bekommen? Aber war das ihre Schuld? Man hatte sie doch an einen Mann verheiratet, der unbedingt Kinder haben wollte. Gerade ging er im Nebenzimmer mit heftigen Schritten auf und ab, um zu warten, bis das Kind ankäme.

Meine Mutter bat die Hebamme, ihm zu sagen, es wäre nach Mitternacht, und er sollte sich schlafen legen. Sie hörte vor der Tür seinen lauten Protest. Er meint es gut! dachte sie. Aber wie soll ich zur Ruhe kommen, wenn er da draußen herummarschiert! Drei Uhr morgens kam die Hebamme heraus: „Herr Doktor, ich kann Ihnen Glück wünschen. Es ist ein großes, strammes Mädchen." Am folgenden Tage durfte mein Vater mich betrachten. Da war es eindeutig ein Junge. Lachend rief er: „Das sollte die Hebamme bei ihrem Beruf doch unterscheiden können!"

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Dresden um 1895

Wenn meine Mutter gehofft hatte, in mir ihr Ideal zu finden, so wurde sie enttäuscht, denn ich zeigte bald die Körperformen meines Vaters. Im Charakter hatte ich allerdings nicht seine unbändige Lebhaftigkeit, sondern war im Gegenteil still. Zum Essen mußte ich gezwungen werden. Man gab sich die größte Mühe, mich mit allem Guten zu füttern, aber das vermehrte nur meine Abneigung zu essen. So war ich bald ein mageres, zurückgebliebenes Kind, das auch nicht sprechen wollte.

Beide Eltern betrachteten das mit Sorge. Mein Vater versuchte, mich mit plumpen Spaßen aufzumuntern, ich aber riß aus, sobald ich konnte. Meine Mutter wieder war um uns Kinder zu ängstlich besorgt. Jede kleinste Erkältung wurde von ihr mit solchem Ernst behandelt, daß wir uns ständig krank fühlen mußten. Auch Victor, mein ebenfalls nicht heldenhafter Bruder, überwand diese gut gemeinte, aber unzweckmäßige Erziehung trotz seiner unglaublichen Lebhaftigkeit kaum. Mit seiner Zappelei tyrannisierte er mich. Alles, was ihn erregte, mußte auch mich interessieren. Das machte mir meine Umwelt nicht schöner. Ich fror immer, und meine Erinnerung ist so, als wäre damals nur trübes Wetter gewesen. Abends zerrte er mich ungeduldig ans Fenster, um das Anzünden der Straßenlaternen anzusehen. Ununterbrochen redete er dabei und zeigte mir vieles, was ich aber wegen meiner Kurzsichtigkeit nur verschwommen sehen konnte.

Bald nach meiner Geburt waren wir in die Löbauer Straße 22 gezogen und bewohnten das Erdgeschoß. Das Haus lag, wie alle in dieser Gegend, in einem kleinen Garten. An den schmalen Gehsteigen der Straße standen in Abständen hölzerne Pfähle mit Petroleumlampen.

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In der Abenddämmerung erschien ein vollbärtiger Mann, über die Schulter eine Leiter gehängt, die er an die Pfähle lehnte, um die Lampen anzuzünden. Weshalb das meinen Bruder gar so interessierte, begreife ich nicht mehr, denn auch in unserer Wohnung zündete das Stubenmädchen abends die Petroleumlampen an und brachte sie in die Zimmer. Bei Tage standen sie im Korridor auf dem Lampentisch. Da wurden die oft angerußten, unten ausgebauchten Glaszylinder abgenommen und geputzt sowie die Dochte beschnitten. In jedem Hause konnte man den Lampentisch auch im Dunkeln finden, denn dort roch es noch stärker nach Petroleum als sonst in den damaligen Wohnungen.

Die Räume wurden auch bei Tage nie recht hell, weil Möbel und Tapeten ziemlich dunkel waren und die Fenster halb zugehängt wurden. Die weißen gestärkten Gardinen hingen von der Mitte in großen Bögen herab und waren nach der Seite gerafft. Darüber befanden sich schwere dunkle Vorhänge, die vom Dekorateur ebenfalls teils an der Gardinenstange in kleinen Bögen, teils zu beiden Seiten in langen Schals unten an großen Holzrosetten mit dicken Schnüren befestigt waren, an denen schwere Seidenquasten hingen.

Mein Vater nannte das geschmacklosen Plunder, der als Staubfänger diente und die bleichsüchtigen Damen durch das Abhalten des Sonnenlichts noch ungesünder machte. Meine Mutter aber war gegen seinen verstandesmäßigen Geschmack und hielt auf Wohlanständigkeit im Sinne der damaligen Mode. Dazu gehörten auch die schief in den Raum gestellten Polstermöbel, die langen, getrockneten Gräser in Vasen und künstliche Palmen, die giftig grün aussahen und hin und wieder mit einem Pinsel entstaubt wurden.

In den Schlafzimmern brannte man keine Petroleumlampen, sondern Stearinkerzen in reich verzierten Messingleuchtern. Kerzen bezeichnete Mama als eine besonders vornehme und teure Beleuchtung. Etwas später wurde auch aus unserem Salon die Petroleumlampe als ordinär verbannt und durch eine Menge Kerzen in einem Kronleuchter und in Wandleuchtern ersetzt. Das Anbrennen der vielen Kerzen war, ebenso wie das Löschen, jedesmal eine Angelegenheit von zwei bis drei Leuten.

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Manchmal stellte sich mein Vater zu diesem Schauspiel und betrachtete es lachend: „Als ob es nicht längst Gas und neuerdings auch elektrisches Licht gäbe!"

„Vom Standpunkt des Praktischen", erwiderte meine Mutter, „ist beides natürlich besser. Aber sieh dir die Gäste an, wenn sie bei Gaslicht sitzen, fahl wie Gespenster! Und das elektrische Licht macht wieder jede Ecke des Raumes so hell. Da bleibt nicht die Spur von etwas Anheimelndem."

„Was du da anheimelnd nennst", sagte mein Vater unnötig schroff, „ist einfach eine Vornehmtuerei mit dem Veralteten."

Meine Mutter lächelte. „Damit triffst du schon etwas Richtiges, aber können wir uns von dem Lebensstil ausschließen, in dem alle deine Vettern leben, die hier in jedem zweiten Hause wohnen?"

Über uns wohnte ein Herr von Barry, den ich nie richtig sehen konnte, weil ich zu kurzsichtig war. Er ging auch nur ab und zu in seinen Garten. Das geschah stets in Begleitung seiner Pflegerin, denn er war wahnsinnig. Sonst brüllte und

(rummte er in seinen Räumen, wie mir Victor erzählte, enn ich konnte ohne Erklärung eine so merkwürdige Sache 'ie den Wahnsinn noch nicht verstehen. Dieser alte Herr onnte sich an alles Neue noch weniger gewöhnen als die )ffiziere, die um uns wohnten. Wenn er etwas essen wollte, Jirie er oder schlug mit der Faust an die Tür. Dann kam die Pflegerin und sagte: „Aber, Herr Baron, da ist ja die

Ilektrische Klingel!" Wütend blickte er den Klingelknopf an und schrie: „Ich all nicht drücken, ich will ziehen!" Dabei machte er die Be-'egung des Ziehens am breiten perlenbestickten Klingelzug, er sich in manchen alten Häusern noch neben der Tür be-ind. Ein Gelenk, von dem aus ein Draht durch die Mauer ing, bewegte ein Glöckchen auf dem Flur. Man erzählte, daß irgendein alter Onkel von uns mit noch rößerer Energie als der Wahnsinnige bei jeder Gelegenheit, renn er läuten sollte, genauso zu brüllen pflegte: „Ich will icht drücken, ich will ziehen!" Dadurch wurde dieses Wort bei uns zum Musterbeispiel der vornehmen Rückständigkeit.

Im Schlafzimmer meiner Mutter gab es für uns etwas besonders Feines. Am großen Spiegel ihres Kleiderschranks

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Waren zwei Armleuchter mit Saugvorrichtungen aus Gummi angebracht. Wir durften manchmal zusehen, wenn meine Mutter vor dem Spiegel saß und eine Friseuse ihr die Haare brannte und sie für das Theater oder eine Gesellschaft herrichtete. Wenn sie allerdings durch das Stubenmädchen angezogen wurde, durften wir nicht dabeisein und warteten ungeduldig, bis wir sie bewundern konnten. Die schweren Seidenkleider mit den ballonartig abstehenden Ärmeln und der langen Schleppe erschienen uns als das Schönste und Eleganteste, was es gab, besonders wenn meine Mutter mit der linken Hand ihr Kleid an der Seite hochnahm, so daß die Schleppe nicht auf dem Boden schleifte. Freilich wurden wir in unserer Bewunderung fast immer durch meinen Vater gestört, der mit gestärkter Hemdenbrust und spitzgedrehtem Schnurrbart hereingestürmt kam, die Bartbinde noch in der Hand. „Bist du nun endlich fertig? Die Droschke wartet schon lange!"

Wo auch der Vater auftauchte, gab es Hast und Unruhe. Wir Jungen verzogen uns sofort zu Marie Päßler, die vor allem Victor sehr liebte und, wie meine Mutter sagte, uns ein entsetzliches Sächsisch beibrachte. Sie stammte von einem Dorf bei Freiberg im Erzgebirge. Aus einem Gespräch, das nicht für uns bestimmt war, hatte der stets neugierige Victor aufgeschnappt, daß die alte Marie - die übrigens noch gar nicht alt war - neulich betrunken in der Küche gelegen hätte. Das schadete aber ihrem Ansehen bei uns nicht, denn Betrunkenheit erschien uns beiden als fein und komisch.

In unserer Gegend wohnten fast nur adlige Familien und Leute, die von ihnen abhängig waren: Hausmannsleute mit vielen Kindern, die in den Kellerwohnungen hausten, Stubenmädchen, Offiziersburschen, sorbische Ammen, die einen weit ausladenden Kopfputz mit riesiger Schleife und grünrote Kleider trugen. Entweder war das Mieder rot und der weit abstehende Rock grün oder umgekehrt. Manche Offiziere steckten auch ihre Burschen in bunte Livreen, die den jungen Männern recht gut standen. Es gab gelbe Röcke mit roter Weste, wenn die Wappenfarben des Herrn Gold und Rot waren, oder blau und weiß oder rot und gelb. Dazu trugen sie enge Hosen verschiedener Farbe, schlecht sitzende Tuchgamaschen und derbe Schuhe.

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Die Offiziere hatten dunkelblaue, grüne, hellblaue Uniformen mit roten oder weißen Kragen, die zum Teil bestickt waren. Diese Röcke liefen von den unheimlich breiten Schultern zu der strammen Taille wie ein V zusammen. Dieser Eindruck wurde durch schräg laufende Reihen blinkender Knöpfe noch verstärkt. Daß diese unglaublich männlichen Figuren durch dicke Wattepanzer im Innern der Röcke hergestellt waren, wußten wir von den Uniformen meines Vaters, die in einem Schrank auf dem Korridor hingen. Nichts beeindruckte mich aber so wie die riesigen Stiefel, die zu den Uniformen gehörten. Immer verglich ich meine Kinderschuhe mit diesen Ungetümen aus einer fremden Welt.

Eines Tages gab es bei uns eine große Aufregung. Mein

(fater, der für gewöhnlich schwarze Anzüge trug, war als lauptmann der Reserve zu einer militärischen Übung ein-ezogen. Gern hätten wir ihn in seiner bunten Pracht fort-eiten sehen. Als wir aber am Morgen aufwachten, befand er sich schon beim Felddienst. Victor lehnte den ganzen Morgen über die Balustrade unserer Terrasse, um Papas Rückkunft nicht zu verpassen. Immer wieder kam er ins Haus gerannt: „Mama, kommt er jetzt bald?"

Stundenlang konnte er dasselbe fragen. Er rannte auf seinen kurzen Beinen wieder hinaus, aber gleich erschien er wieder: „Mama, steht die Zuckerdose noch da, daß ich dem Pferd zwei Stück Zucker geben kann?"

Endlich kam mein Vater wie ein Standbild angeritten, hinter ihm der Bursche. Victor schrie nach dem Zucker. Marie Päßler kam mit der Dose gerannt. Auch meine Mutter eilte zum Gartentor. Sie fürchtete, das Pferd würde Victor etwas tun, wagte sich aber nicht in die Nähe des Tiers. Ich blieb noch hinter ihr und sah voll Staunen, wie Victor dem großen Braunen auf der flachen Hand den Zucker hinhielt, ohne sich im geringsten zu fürchten. Später erzählte er mir, der Braune wäre zwar sehr groß, aber schon alt und sehr ruhig. Er kannte sämtliche Reitpferde der Umgebung und ihre Eigenschaften, während für mich ein Pferd einfach ein Pferd war. Wenn auf einem mal ein anderer als der zugehörige Hauptmann oder Rittmeister saß, so regte ihn das sehr auf. Ich aber hatte weder Pferd noch Offizier erkannt und begriff nur die Hälfte

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seiner erregten Vermutungen, weshalb das Pferd den Herrn gewechselt hatte.

Im Gegensatz zu diesem bunten, sonst aber sehr stillen Viertel erschien die übrige Stadt recht grau. Dunkel waren die meist wenig eleganten Kleider. Viele Männer waren wohlbeleibt und trugen Vollbärte. Die Arbeiter hatten einen Gang tief in den Hüften, als ob sie vor Kraft nicht recht gehen könnten. Auch sie trugen Bärte, um den Hals Bartstoppeln. Denn sie rasierten sich nicht täglich, die Bauern meist nur einmal in der Woche.

Auf der heutigen Bautzener Straße, die damals Schillerstraße hieß, kamen schwere Botenfuhrwerke in die Stadt herein. Ihre Räder ratterten hart auf dem Kopfpflaster. Der Kutscher mit großer Lederschürze pflegte neben dem Wagen zu gehen, die Zügel in der Hand. Hinten baumelte eine Laterne. Vor vielen Gasthöfen sah man hölzerne Futterkrippen für die Pferde stehen. Es gab auch noch die Kutscherkneipen, an denen wir mit Neugier, aber einem gewissen Grauen vorbeigingen, denn vielfach hörte man das Grölen der Betrunkenen heraus.

In die innere Stadt fuhren wir mit der Straßenbahn. Das waren Deichselwagen, die in Schienen liefen und von zwei Pferden gezogen wurden. Vorn auf dem kurzen Wagen stand ein Kutscher mit Zügeln und langer Peitsche. So ging die Bahn bis zum Neustädter Markt. Dort hielten die Vorspannpferde, immer zwei. Auf dem linken saß der Vorreiter. Diese Pferdepaare standen hinter dem Denkmal Augusts des Starken gut ausgerichtet nebeneinander. Sobald eine Straßenbahn die breite Hauptstraße entlanggekommen war und an der steilen Augustusbrücke hielt, setzte sich ein Vorspannpaar vor die angekommene Bahn. Der Vorreiter hob mit einer Stange den Ring des Ortscheits in einen Haken an der Deichsel. Das Ortscheit war ein Querholz, an dem die Vorderpferde mit ihren Strängen zogen. Stets stand dort eine Schar Kinder, um das Einhängen zu bewundern. Äpfelte eins der Pferde, so freuten sie sich und betrachteten nun mit Interesse, wie diese Verunschönung eines so stattlichen Platzes gleich weggeschaufelt wurde. Der Vorspann war deshalb nötig, weil die alte

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Augustusbrücke, die bald durch eine neue ersetzt wurde, eine zu steile Anfahrt hatte.

Ähnlich steil ging die enge Forststraße hinauf, die vom Linkschen Bad zu unserem Viertel und den Grenadierkasernen führte. Dort gab es keinen Vorspannbetrieb, sondern die Wagen waren so kurz, daß die gewöhnlichen Gespanne sie hinaufbrachten. Im Winter fuhren wir einmal mit meinem Vater diese Strecke nach Hause. Der Boden war glatt, so daß die Pferde rutschten. Alle Männer stiegen aus und schoben als fröhlicher Schwärm den Wagen. Der fröhlichste war sicher mein Vater, der solche Abwechslung liebte. Im Sommer fuhr er mit uns öfters vom Linkschen Bad die heutige Bautzener Straße zum Waldschlößchen. Denn dann wurden Wagen eingesetzt, auf deren Dächern man sitzen konnte. Es ging dicht unter dem hellgrünen Laub der Kastanienbäume entlang. Manchmal mußte man sich bücken, um nicht von den Blättern das Gesicht abgewischt zu bekommen, ein Spaß, bei dem mein Vater mit seinen dunklen Augen blitzend lachte.

Noch Interessanteres gab es am Linkschen Bad. Dort standen am Anfang der Radeberger Straße Droschken, rechts die gelben erster Güte, links die blauen zweiter Güte. Die Kutscher saßen darauf in hellblauen Röcken, umgearbeiteten Uniformen der sächsischen Infanterie, die von der Droschkengesellschaft billig gekauft worden waren, als die sächsische Armee nach preußischem Muster neu eingekleidet wurde. Sie trugen schwarze Lackzylinder mit einer schwarzen Rosette, die gelb gerändert war, an der Seite. Vor sich hatten sie meist eine Zeitung ausgebreitet, die sie vom ersten bis zum letzten Wort auszulesen pflegten, wie man uns erzählte. Außerdem sollten sie stets halb im Dusel sein, weil sie bei jedem Wetter im Freien sitzen mußten und daher gern einen tranken. Ich wollte immer einmal nahe herantreten, um ihre angeblich roten Nasen zu sehen, hatte aber Angst vor ihrer sprichwörtlichen Grobheit. Victor erklärte, er wollte Droschkenkutscher werden, wenn er erst einen Bart hätte. Mir erschien es unvorstellbar, jemals einen Bart zu haben. Sogar Onkel Karl hatte keinen. Mit diesem Onkel, dem jüngsten Bruder meiner Mutter, war es aber sehr einfach: Wie konnte er schon einen Bart haben, da er noch auf das Gymnasium ging? Ich mochte ihn gern, wenn er sich auch wenig um mich kümmerte.

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Vielmehr spielte er Fußball, war ein vorzüglicher Springer, und vor allem besaß er ein Hochrad. Damals gab es noch zwei Arten von Fahrrädern, die heutigen mit zwei gleichen Rädern und die älteren, bei denen man über einem großen Rad saß, während an einem gebogenen Stahlschwanz ein ganz kleines hinterherlief. Stolz kam der Onkel öfters auf seinem Hochrad angefahren, mit einer enganliegenden Mütze und langem Schirm. Mir blieb stets unverständlich, wie er auf das hohe Rad kam und wie er es machte, um nicht herunterzufallen. Er aber behauptete lachend, es wäre ganz leicht. Meine Bewunderung war jedenfalls unbegrenzt.

Viel weniger imponierte uns die Tante Sonny, eine seiner Schwestern, die auf einem Rad heutiger Form fuhr, dazu weite Pumphosen anhatte sowie eine Ballonmütze trug, mit einer großen Bummel darauf. Unsere geringe Bewunderung kam vielleicht auch daher, daß unsere Eltern die Tante für zu emanzipiert hielten. Natürlich wußten wir nicht, was emanzipiert sein sollte, aber sicher war es nichts Gutes.

Außer den erwähnten Droschken für Menschen gab es noch eine, die gar keine war, die Stinkdroschke. Welche wunderbare Kinderbelustigung der alten Zeit, und welcher Greuel für die Erwachsenen! In unserem Villenvorort gab es noch keine Kanalisation. Wenn die Abortgruben geleert werden mußten, so kam die Stinkdroschke angefahren. Das war ein Gefährt mit einer Maschine darauf und einem quergerippten Schlauch. Der wurde in die Grube gesteckt, und nun begann die Maschine mit Fauchen und Zischen die Grube auszupumpen. Die Erwachsenen schlossen sofort alle Fenster. Wir natürlich standen bei der Stinkdroschke, und mein lebhafter Bruder rannte immer einmal zur Wohnungstür, läutete Sturm und berichtete etwas über den interessanten Vorgang. In seiner hellen Begeisterung blieb er in der Tür stehen, durch die dann der unbeschreibliche Duft kräftig in die Wohnung zog.

Sonntag vormittags gingen die Leute feierlich und schwarz gekleidet zur Kirche, in der Hand das schwarze Gesangbuch mit dem goldenen Kreuz. Mein Vater ging nie dorthin, und meine Mutter hatte zu tun, sich für die morgendlichen Besucher zurechtzumachen.

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Manchmal ging sie auch mit meinem Vater aus, den Schleier vorm Gesicht, er im Zylinder, beide in schwarzen Glacehandschuhen. Sie pflegten nicht weit zu gehen, denn fast alle Bekannten und Verwandten wohnten in den nächsten Straßen. Hier sah man die Damen mit dünnen Taillen und spitzen feinen Schuhen, die nur wenig unter den langen Röcken hervorguckten. Anders sah das in den ärmeren Stadtteilen aus. Auch da waren die Frauen vielfach sehr geschnürt, aber die Korsetts saßen schlecht, so daß die Stäbe durch das Kleid abstanden, i,. vor allem am Rücken. Oder es quoll das Fett am oberen Korsettrand heraus. Die sogenannten Schinkenärmel ließen die Schultern unglaublich breit erscheinen. Freilich die Marktweiber kümmerten sich wenig um die Eleganz. Sie saßen breitbeinig und massig auf ihren Schemeln und waren für mich gefährliche Wesen aus einer anderen Welt. Noch lange ahnte ich nicht den Grund dieser Massigkeit, die vor allem daher kam, daß diese Frauen jeder Witterung ausgesetzt waren und ein Kleidungsstück über das andere zogen. Man sah sie am Altmarkt mit Blumen und auf den großen Marktplätzen mit Gemüse und Obst sitzen.

Die Männer waren meist dunkel angezogen. Die Hosen wurden sorgsam zu Röhren gebügelt, wenn sie durch das Liegen Falten bekommen hatten. Diese Röhrenform wurde noch dadurch betont, daß viele Männer unter den Hosen Stiefel mit weiten Schäften trugen, deren oberer Rand sich durch das Hosenbein abzeichnete. Nur modernere Leute trugen Knöpfschuhe oder als Allerneustes Schnürschuhe. Wer es sich leisten konnte, steckte sich gestärkte Manschetten in die Ärmel, die wie die Hosenbeine rund sein mußten und daher Röllchen genannt wurden. Diese weißen, gestärkten Dinge fuhren bei jeder Bewegung aus den Ärmeln, so daß sie von vielen bei jeder Gelegenheit herausgenommen wurden. Daher sah man in den Behörden auf dem Schreibtisch neben dem Tintenfaß meist ein Paar nicht mehr ganz saubere Röllchen aufgestellt. In den Ecken standen Spucknäpfe, um den Leuten das Spucken auf den Fußboden abzugewöhnen.

Es ist nicht anzunehmen, daß ich damals eine Ahnung von der Kleinbürgerlichkeit dieser Dinge hatte. Dagegen stieß mich schon früh die mangelnde Farbigkeit ab, die graue Sandsteinarchitektur, die dunklen Tapeten, die mit fast farblosen

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Blumen besät waren. Aber dieses Urteil kam nicht von mir, sondern meine Mutter lehnte diese Kümmerlichkeit ab, weil sie sich aus ihrer Heimat, Rußland, an stärkere Farben und ein direkteres Wesen erinnerte und in ihrer Abneigung gegen meinen Vater alles, was sie als häßlich und charakterlos empfand, deutsch nannte. Von diesem Zusammenhang ihrer Urteile mit ihrer Ehe ahnte ich natürlich nichts, denn meine Mutter war bemüht, ihre Kinder davon nichts merken zu lassen.

  Montreux  

Zu Ostern 1895 sollte ich in die Schule kommen, und wir gingen zum Schularzt. Gemütlich saß er vor seinem Schreibtisch, auf dem zwischen den Papieren ein Apfel lag.
Er betrachtete mich und fragte einiges. Dann wandte er sich an meine Mutter: „Er ist körperlich und geistig noch zuwenig entwickelt. Solche Kinder können wir nicht in die Schule aufnehmen." Herzlich fügte er hinzu: „Warten Sie ruhig noch, bis er sieben Jahre alt ist! - Und du", er nahm den Apfel und gab ihn mir, „du mußt essen, daß du groß und kräftig wirst!"
Der Arzt bestand darauf, daß ich den Apfel gleich äße. Ich biß ungern hinein, weil Äpfel für mich zu sauer waren. Apfelsinen konnte ich überhaupt nicht essen, da ich sofort Brechreiz bekam. Ihren Geruch liebte ich aber sehr. Niemand kam auf den Gedanken, einmal meinen Magen untersuchen zu lassen.

Victor ging schon zur Schule und fand sie schrecklich. Das verstand ich nicht und dachte, es müßte doch schön sein, zusammen mit andern Jungen. Er war rundlich, im Gegensatz zu mir, hatte sehr tiefliegende Augen und ganz krumme Beine. Das kam von der Rachitis, die man englische Krankheit nannte.

Meine Mutter machte sich Gedanken darüber und sagte oft: „Wenn ich nur verstehen könnte, woher Victor das hat. . Es ist doch eine Krankheit der armen Leute, die von dunk-

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len Räumen und Unsauberkeit kommt! Und was haben wir nicht alles für ihn getan! Er bekam immer die beste Milch, und wir kochten sie, wie es mein Vater anordnete, zwanzig Minuten in einem Spezialapparat. Wie können da noch Bakterien gelebt haben?"

Wegen Victors Rachitis fuhren wir im Frühjahr 1895 in die Schweiz. Tante Mieze, die Schwester meines Vaters, reiste mit uns. Sie hatte rote Bäckchen und trug einen Klemmer mit so scharfen Gläsern, daß ihre Augen ganz klein aussahen. Mir erschien sie sehr schön, aber ich war auch ihr Liebling, wie mein Bruder der meiner Mutter. Die Tante pflegte mich oft zu necken: „Du hast ja keine Nase, sondern nur einen Stubs!"
Das beleidigte mich, und ich antwortete jedesmal: „Ich habe nicht nur einen Stubs!"

Regelmäßig machte sie mir das nach. Denn ich stieß mit der Zunge an und konnte das Wort Stubs nicht aussprechen. Das Reden machte mir überhaupt Mühe.

Während der Eisenbahnfahrt nach der Schweiz war Victor sehr aufgeregt und blickte angespannt zum Fenster hinaus. Er hatte gehört, daß wir über Hanau führen, und das wollte er nicht verpassen. Immer wieder fragte er die Tante, ob es bald käme. Schließlich in der Dämmerung näherten wir uns Hanau. Graue Schieferdächer und rußige Häuserwände waren zu sehen, aber kein einziger Hahn in Hanau. Welche Enttäuschung!

Weshalb wir über Hanau und Frankfurt an den Bodensee fuhren, weiß ich nicht. Jedenfalls sollten wir von der Eisenbahn auf ein Schiff steigen, das uns über den See brächte. Victor fragte die Tante mit seiner ganzen Unentwegtheit, wie das Schiff aussähe, wie groß es wäre? Größer als die Schiffe auf der Elbe?

Ich konnte mir einen See nicht vorstellen, auf dem richtige Schiffe schwimmen. Und was für ein Boden war denn das beim Bodensee? Ich habe weder das Schiff noch den Bodensee gesehen, sondern es gibt bei mir eine Erinnerung, daß ich todmüde und klappernd vor Frost von der handfesten Tante über einen dunklen Platz gezerrt wurde. Vielleicht ist das der Weg vom Bahnhof zum Schiff gewesen?

Wie wir am Genfer See ankamen, weiß ich auch nicht. Wir

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wohnten nicht in Montreux selbst, sondern in dem höher gelegenen Ciarens in einer Pension. Das Frühstück aßen wir hinter dem Haus auf einem netten Platz mit grauem Kies. Zu den Brötchen gab es Butter und Honig. Von der Tante wurde das gemischt und aufgestrichen. Victor fand: Erst das ist das Wahre. Daher ich auch.

Im Garten gab es ein Tropfsteinbecken, gerade in der richtigen Höhe für uns, um darin zu pantschen und den dicken Schlamm umzuwühlen.

Nach dem Mittagsschlaf kam die Tante herunter. „Aber Kinder, wie seht ihr denn aus!" Sie lachte, daß wir uns Blusen und Gesichter so gründlich vollgeschmiert hatten. Trotzdem verbot sie, im Becken weiter zu wühlen.
Wie sollten wir uns nun die Zeit vertreiben, wenn die Erwachsenen nach Tische schliefen? Wir sprangen mit Maurice und Jeanette herum, die so alt waren wie wir. Victor fand sie geziert. Ich wußte nicht, was das ist, und mußte ihn erst fragen. Die Tante sagte sogar, das Mädchen hätte nur daher so hübsche Löckchen, weil sie jeden Morgen von der Zofe ihrer Mutter, einer eleganten Pariserin, gebrannt wurden.

Diese Bedenken machten mir nichts aus. Mir gefiel es, daß die beiden so leicht und fröhlich herumsprangen. Auch ihre Sprache klang nett. Victor und ich konnten bald mit ihnen etwas französisch schwatzen. Sie aber lernten kein Wort Deutsch, wie die Tante feststellte. Bald reisten sie nach Paris zurück.

Nun fand Victor eine große Weinbergschnecke. Wir betrachteten sie genau, tupften auf die Fühler, die sich schnell zurückzogen und langsam wieder vorkamen-. Alle Schnecken, die wir auflasen, setzten wir auf einen Tisch im Garten.

Beim Trinken der Nachmittagsmilch hörten wir einen i Schrei. Ein Herr sprang auf, die Hände vor Entsetzen erhoben. An allen Tischen war man erschrocken. Die Damen sprachen so schnell französisch wie Klappermühlen. Mehrere blickten vorsichtig unter den Tisch und entdeckten unsere Schnecken.

„Die haben wir aber obendrauf gesetzt", rief Victor, „nicht drunter!"
Eine Dame, die Deutsch konnte, kam lächelnd herüber.

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Unsere Tante lachte, daß ihr die Tränen über die Backen liefen.

Victor hörte nicht auf, laut zu beteuern: „Wir haben sie obendrauf gesetzt, nicht drunter 1"

Je öfter er das betonte, desto mehr lachte man. Schließlich sagte die Tante unter Tränen: „Natürlich habt ihr sie drauf-gesetzt, aber vor der Sonne haben sie sich drunter verkrochen. Man soll aber Schnecken überhaupt nicht auf Eßtische setzen!"

So wurden uns nach dem Schlammwühlen die Schnecken verboten. Da erfand Victor das Getreidedreschen, was sehr einfach war. Auf dem Felde rissen wir Kornähren ab und schlugen sie daheim auf die Hand oder den Tisch, so daß die Körner überall herumflogen. Als eins in das Tintenfaß sprang, fanden wir das ungeheuer komisch.

Während dieser Beschäftigung kam die Tante herein. Nach zwei Schritten rutschte sie auf den Körnern aus und ging dann weiter wie ein Anfänger im Schlittschuhlaufen. Sie war sehr duldsam, auch, als wir das Korn in Schubladen warfen, gleichgültig, was sonst noch darin lag.

Victor erfand auch das Korntrinken. Er streute einige Getreidekörner in ein Schnapsgläschen und goß Wasser darauf. Aber so durfte das noch nicht getrunken werden, sondern nur durch einen Strohhalm. Mir machten die Vorbereitungen immer großen Eindruck. Ich bewunderte Victors Wissen. Wenn ich aber am Strohhalm saugte, war ich jedesmal enttäuscht. Der Korn schmeckte genau wie sonstiges Wasser.

Dann bat Victor die Tante um Säckchen für sein Getreide. Er konnte stundenlang betteln, immer wieder am Ärmel ziehen und immer wieder das gleiche sagen. Das hielt selbst die Tante auf die Dauer nicht aus und nähte ihm ein paar. Dadurch wurden ihre Schubfächer geleert. In ihren Malkasten hatten wir übrigens kein Korn getan. Unsere Hochachtung vor ihrer Malerei hinderte uns daran.

Öfters nahm die Tante den Malkasten mit ins Freie und klappte eine Staffelei auf. Sie besaß auch einen geheimnisvollen dicken Stock. Wenn man dessen Griff abschraubte, konnte man ihn zu einem dreibeinigen Sessel auseinanderklappen, dessen Sitz ein Stück Leder war. Auf die Palette drückte sie aus einer Tube eine Farbwurst. Victor verglich

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