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1  Die Aktivisten

 

 

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Ich verlasse die Autobahn vor der polnischen Grenze und biege auf eine Landstraße. Sie führt durch Dörfer, vorbei an endlosen Feldern und Kiefernwäldern. Es gibt schönere Bäume als Kiefern, aber sie wachsen gut auf den Sandböden, sie sind anspruchslos, widerstandsfähig, so wie man sein muss, um es hier auszuhalten. Das gilt auch für die Menschen. Die Natur ist sparsam in dem, was sie gibt. Vierzig, fünfzig Meter schießen sie hoch, dürre Stangen, von denen man meint, der Wind müsste sie umreißen.

Schneller als erwartet finde ich mich mitten in der Stadt wieder, die vor vielen Jahren aus den Sandböden gestampft wurde. Eine Vorzeigestadt des neuen Staats. Hier sollte nach dem Krieg der neue Mensch geformt werden, der siegessicher und stolz in eine bessere Zukunft marschiert, in der Ausbeutung und Unterdrückung überwunden sind. Die erste sozialistische Stadt, so nannten sie Eisenhüttenstadt.

Ich passiere einen Betonklotz, der auch in Bukarest oder Warschau stehen könnte, davor informiert ein Schild, dass es sich um ein Hotel mit dem Namen »Berlin« handelt. Früher hieß das beste Hotel in Eisenhüttenstadt »Lunik«, nach der Mondsonde. Jetzt begnügt man sich mit der Hauptstadt. Auf der anderen Straßenseite steht eine Reihe schmuckloser Wohnblöcke, sie sehen so aus, wie man sich heute die ganze DDR vorstellt. Grau und verwittert, sozialistische Tristesse.

Ein Fenster steht offen, daraus hängt eine Deutschlandfahne mit einem Adler. Ich überlege, wofür das Gebäude des »Hotel Berlin« früher genutzt wurde. Ein Arbeiterwohnheim? Eine Berufsschule? Es ist lange her, dass ich in Eisenhüttenstadt gelebt habe. Ich habe die Stadt 1993 verlassen und wollte nie wieder zurück. Eigentlich.

In Eisenhüttenstadt endete meine Kindheit. Ich habe hier gelebt, während der Staat zusammenbrach. Von der Utopie blieben nur die Trümmer. Nicht wie nach 1945, so schlimm nicht, denn die Trümmer waren nicht sichtbar, aber ein bisschen wie ein Nachkriegskind konnte man sich schon fühlen.

Ich nehme die Abbiegung in die Leninallee, die jetzt anders heißt. Lindenallee. Da haben sie nicht gezögert, die Straßen wurden als Erstes umbenannt. Schilder lassen sich schnell ändern. Ich habe den neuen Namen schnell wieder vergessen, er war so auswechselbar, für mich bleibt es die Leninallee.

Die Leninallee ist breit wie eine Flugschneise, links und rechts erheben sich Wohnblöcke. Die Zeit scheint in den vergangenen zwanzig Jahren stillgestanden zu haben. Alles sieht so aus wie damals, als ich mit meinem Dacia die Allee auf und ab fuhr. Nur etwas stimmt nicht.

Wo sind die Menschen hin? Giftgas? Ein Bombenanschlag? Ein Erdbeben? Die Leere lässt die Architektur noch bombastischer wirken. Die Einwohnerzahl Eisenhüttenstadts hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren fast halbiert, noch dreißigtausend Menschen leben in der Stadt. Bis zum Jahr 2030 sollen es einer Studie zufolge zwanzigtausend sein.

Das Stahlwerk, für das die Stadt erfunden wurde, gibt es noch. Es wird inzwischen von Arcelor-Mittal betrieben und gehört zum Imperium des britisch-indischen Milliardärs Lakshmi Mittal. Es heißt, er möge Eisenhüttenstadt.

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Ausländer mögen die Stadt meistens. Sie sind hier nicht aufgewachsen. Von 12.000 Beschäftigten des Stahlwerks EKO sind rund 3000 übrig geblieben.

Auch in der alten Ladenzeile haben ein paar Geschäfte überlebt. Es ist Sonntag, sie sind bis auf den Bäcker, der auch Kaffee anbietet, geschlossen. Es gibt eine Boutique, die »Mode für alle Anlässe« in großen Größen verkauft, einen Haushaltswarenladen, sogar eine Buchhandlung. Demnächst stellen Maxi Arland und die Geschwister Hofmann ihre neue CD »Wunderland der Träume« im Friedrich-Wolf-Theater vor. Am Ende der Straße blättert der Putz von den Wänden des »Hotel Lunik«. Dem Investor ging das Geld aus, seitdem steht die Ruine leer.

Nicht immer waren die Straßen so leer, so still, die Mauern so brüchig. Wenn man sich alte Bilder anschaut, laufen ganz viele Leute die Leninallee hoch und runter, es sieht aus wie in der Friedrichstraße in Berlin. Arbeiter aus der ganzen Republik strömten Anfang der fünfziger Jahre in das Stahlwerk, sie bezogen eine neue Stadt, die für sie errichtet worden war. 1953 kam der stellvertretende DDR-Ministerpräsident Walter Ulbricht, um ihr einen Namen zu geben, Stalinstadt.

Die Stadt hatte seit ihrer Gründung schon viele Namen. Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO). Stalinstadt. Eisenhüttenstadt. Hüttenstadt. Hütte.

Hüttentown. Iron-Hut-City. Iron-Hut-City?

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»Da wollen zwei Amerikaner eine Stadtführung«, sagte die Frau vom Tourismusbüro, als sie Jörg Weise im November 2011 anrief. Das Tourismusbüro Eisenhüttenstadt hat vor einigen Jahren entdeckt, dass man die Architektur der Stadt vermarkten kann. In der Agentur träumt man davon, in der Stadt Info-Säulen mit Kopfhörern aufzustellen, ganz Eisenhüttenstadt wäre dann ein Museum, ein in Stein gegossenes Geschichtsbuch. Auf der Website heißt es: »Eisenhüttenstadt, die frühere Stalinstadt, ist die erste industrielle Gründungsstadt der DDR und galt als gebaute Utopie. Errichtet ab 1950, repräsentiert sie einen nach Planung und Ausführung geschlossenen Städtetyp, der in dieser Form in Deutschland einmalig geblieben ist. Fachkundige Führung 2h.«

Der fachkundige Führer heißt Jörg Weise, ein Historiker, ein begnadeter Geschichtenerzähler. Er ist, um das gleich zu sagen, mein früherer Lehrer und Schulleiter. Geschichte und Geografie. »Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Klassenkampfes, vom Spartakusaufstand bis zur Französischen Revolution«, lautet einer der Sätze, die aus dem Geschichtsunterricht hängengeblieben sind. Ich hatte trotzdem den Eindruck, dass Herr Weise lieber über die Erdgeschichte sprach, Pleistozän, Holozän, Tertiär, alles, was vor dem Klassenkampf lag. Er war streng. Wenn man nicht alles beim ersten Mal verstand, wurde er ungeduldig. Ich habe ihn bewundert, aber ich hatte auch ein wenig Angst vor ihm.

Herr Weise stammt ursprünglich aus Jena in Thüringen, nach dem Studium 1962 wurde er nach Eisenhüttenstadt delegiert. Es wurde seine Heimat. Nun führt er Touristen durch die Überreste einer Welt, die ihren Sinn verloren hat.

Er ist einer der Überlebenden.

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Zwei Amerikaner, mehr sagte die Frau vom Tourismusbüro am Telefon nicht. Sie hätten nur an einem Tag Zeit, an einem Mittwoch im Dezember. An dem Tag hatte seine Frau einen Arzttermin, Weise wollte sie begleiten. Sollte er seine Frau im Stich lassen wegen zweier Amerikaner? Jörg Weise überlegte nicht lange und sagte ab. Ein Kollege übernahm die Amerikaner.

Einer von ihnen hieß Tom Hanks, der zum Dreh in Berlin war und einen Abstecher in die erste sozialistische Stadt machen wollte. Keine Ahnung, woher Tom Hanks von Eisenhüttenstadt wusste. Er war danach jedenfalls so begeistert, dass er bei einem Auftritt in der Show des US-amerikanischen Talkmasters David Letterman von der Stadt schwärmte. Er konnte das ü nicht aussprechen, also sagte er: Aisenchutten-schdaat.

Letterman hatte keine Ahnung, wovon Hanks sprach: What is this? Was ist das, dieses Aisenchuttenschdaat?

Vielleicht dachte er an ein Bierfest - Bier und Autos, dafür sind die Deutschen doch berühmt.

Hanks sagte: Eine Modellstadt, die 1953 errichtet wurde, um den Menschen zu zeigen, wie toll der Sozialismus ist.

Es war zwar drei Jahre früher, 1950, aber was heißt das schon, ist ja schon lange her.

Tom Hanks sprach von »Iron-Hut-City«.

Das Tourismusbüro ließ nach dem Auftritt T-Shirts mit dem neuen Namen drucken. Sie hängen im Tourismusbüro, man kann sie kaufen. Seitdem wartet die Stadt auf die Scharen von Amerikanern, die sich »Iron-Hut-City« ansehen wollen.

Der Mann, der Tom Hanks verpasste, trägt eine braune Hose und ein rot kariertes Hemd. Seine weißen Haare sind zurückgekämmt, sein Gesicht gebräunt. Er ist der einzige Mensch, der am Sonntagmorgen vor dem Tourismusbüro in der Frühsommersonne steht. Der letzte Überlebende. Jörg Weise hat denselben abschätzenden, überlegenen Blick, den er schon früher hatte.

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Ich fühle mich sofort wieder wie eine 16-Jährige und habe Angst, etwas falsch zu machen. Das ärgert mich, ich bin eine erwachsene Frau, und so sage ich vielleicht eine Spur zu kühl: »Guten Tag, wie geht's?« und nenne dann meinen Namen, obwohl er doch weiß, wie ich heiße, wir haben vorher telefoniert. Es entsteht eine kleine Pause.

Mein Lehrer starrt mir ins Gesicht, als suche er nach etwas. Er kann sich nicht an mich erinnern. Ich werfe ihm das nicht vor, es ist lange her, dass er mein Lehrer war. »Wie geht es Ihnen?«, erwidert er, er zieht das letzte Wort besonders lang, Iiihnen. Vielleicht findet er es merkwürdig, dass ich mich durch eine Stadt führen lasse, die ich doch kennen müsste. Es ist ja auch merkwürdig, aber ich brauche ihn.

Meine Brücke in die Vergangenheit.

Ich habe sechs Freunde mitgebracht, drei Westdeutsche, darunter meine Freundin Flora, die aus Köln stammt und inzwischen bei einem großen deutschen Verlag arbeitet, ihren Freund Till, ein Schweizer. Mit dabei sind außerdem meine Freundin Wiebke, eine selbstbewusste Ostberlinerin, die am Tag der Einheit 1990 schwarze Sachen trug, und Ivan, ein Engländer, der den Kalten Krieg nur aus den James-Bond-Filmen kennt. Die Jüngste ist 28 Jahre alt, der älteste 48. Alle haben studiert, die Westdeutschen in Paris, London und York, die Ostdeutschen in Dresden und Hamburg. Keiner außer mir kennt Eisenhüttenstadt. Ich habe sie eingeladen und in die Betreffzeile der E-Mail geschrieben: Reisen wie Tom Hanks. Das hatte keiner kapiert, weil sie diese Schlagzeile, dass Hanks in Eisenhüttenstadt war, verpasst hatten. Ich will ihnen Eisenhüttenstadt zeigen, die Stadt, in der ich aufwuchs, das ist der eine Grund. Der andere ist etwas komplizierter: Ich habe sie auch als Schutz mitgebracht.

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Die Vergangenheit ist wie eine nachtragende Freundin, die man lange nicht gesehen hat. Man kann sich nicht einfach vor die Tür stellen und klingeln, man muss sich langsam annähern. Ich will mit meiner Vergangenheit nicht allein sein, zumindest noch nicht.

Mein Lehrer, Herr Weise, übernimmt sofort die Kontrolle. Er will wissen, woher wir im Einzelnen kommen, Osten oder Westen, welche Berufe wir haben. Er macht es geschickt, wirkt nicht neugierig, sondern fürsorglich.

»Ich frage, um herauszufinden, was ich an Wissen bei Ihnen voraussetzen kann.«

Westdeutschen müsse man die Geschichte nun mal anders erklären als Ostdeutschen. Wenn nur Ostler da seien, mache er gern Walter Ulbrichts Stimme nach. Bei uns ist er sich wahrscheinlich nicht sicher, ob wir Walter Ulbricht überhaupt kennen. Wahrscheinlich hält er mich und meine Freundin Wiebke auch für zu jung, um ihn noch erlebt zu haben. Man könnte auch sagen: Er fragt vorher ab, um zu wissen, was er nachher sagen darf oder nicht. Damit er nichts Falsches sagt.

Es funktioniert. Wir gehorchen sofort, als wären wir seine Schüler, und zählen reihum nicht nur unsere Wohn-, sondern auch unsere Geburtsorte auf. Wir hätten ihm auch unsere Personalausweisnummern gegeben, hätte er sie abgefragt.

Herr Weise führt uns ins Tourismusbüro an einen großen Tisch und wedelt mit einem Stadtplan. Auf dem Entwurf der Stadtanlage von 1952 sieht man den Werkeingang des EKO, es sieht aus wie ein Märchenschloss, mit Kuppel, Säulen und Torbogen. Fabriken sollten Schlösser sein, die Werktätigen ihre Herren. So träumte man damals. Man wollte eine Stadt erschaffen, die die Schönheit, die Überlegenheit des Sozialismus in Stein bannt. »Man dachte, dass die Umgebung den Menschen prägt, hier sollte der neue Mensch entstehen«, erklärt Weise.

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Seine Stimme: ohne jede Emotion. Kalt. Als hätte ihm die DDR nie etwas bedeutet. Wie sehr er mich gleichzeitig damit an die DDR erinnert. Wie er mit der Stimme leiser wird, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Wie er immer wieder erst unsere Meinungen abzutasten scheint, bevor er selbst etwas sagt. Zur Vollendung des Entwurfs von 1952 kam es übrigens nie.

Die Sonne scheint, als wir vor die Tür treten. Die ersten Wohnhäuser für die Stahlarbeiter wurden billig und schnell hingestellt, die Wohnungen hatten kleine Fenster und niedrige Decken. Bald beschwerten sich die Arbeiter, auch die SED-Führung war nicht zufrieden. Die mickrigen Häuser, die im Stil der zwanziger Jahre gebaut wurden, passten nicht zur einer Vorzeigestadt. Die Bauherren suchten neue Ideen. Sie wurden nicht beim deutschen Bauhaus fündig - das lehnte man als zu avantgardistisch ab -, sondern anderswo. »Damals wurde ein ganzer Sonderzug mit Architekten von Berlin nach Moskau geschickt«, sagt Weise.

Wir bleiben am Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten stehen, vor dem sich ein weiterer Aufmarschplatz erstreckt. Der Platz des Gedenkens. Dahinter beginnt der zweite Wohnkomplex. Die Häuser sehen schon ganz anders aus als ihre Vorläufer. Die Fassaden mit Putzornamenten, Arkaden, Säulen, Baikonen dekoriert, alles streng symmetrisch. Die Wohnungen mit ihren Parkettböden, groß und hell. Besonders viel Mühe gaben sich die Baumeister mit den Eingängen der Wohnhäuser, sie schufen aufwendig verzierte Torbögen, betonten die Aufgänge.

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Marktplätze wie in bürgerlichen Städten gab es in Eisenhüttenstadt nicht, das Leben sollte sich in den Höfen hinter den Torbögen abspielen. In den Hinterhöfen wurden Bäume gepflanzt, Beete angelegt, Künstler schufen Skulpturen gesunder Jünglinge, die zwischen Sandkasten, Springbrunnen und Wäscheplatz aufgestellt wurden. Ich laufe meinem Lehrer und meinen Freunden hinterher, ich finde es schwer, zuzuhören, ich verfolge meine eigenen Gedanken. Als Weise noch Schulleiter war, grüßte ich ihn manchmal im Flur und er ging ohne ein Wort zu sagen vorbei. Als hätte er mich gar nicht gesehen. Er hatte immer dieselbe Haltung, Hände auf dem Rücken, den Kopf leicht erhoben, den Blick auf einen fernen Punkt geheftet.

Stadtführer Weise ist weitergelaufen. Er läuft schnell und entschuldigt sich dafür, die Zeit, Sie verstehen. Nicht länger als zwei Stunden sind für die Tour angesetzt. »Sehen Sie, Schloss Pillnitz«, ruft Weise und zeigt auf eine Villa in der Karl-Marx-Straße mit dunklem Schieferdach, davor stehen Säulen, Springbrunnen und Glockenturm. Das Haus erinnert tatsächlich an das Barockschloss an der Elbe. Nach der Wende wurde alles aufwendig renoviert. »Was war in dem Haus?«, will meine Freundin Flora wissen. Sie stammt aus der Nähe von Köln, ist aber in Brüssel als Tochter eines Korrespondenten aufgewachsen und strahlt von daher eine gewisse Weltläufigkeit aus. Vielleicht die Wohnung des örtlichen Stasi-Chefs? Das Parteibüro?

Ich ahne, was meine Freunde denken, obwohl ich die Antwort schon kenne. »Ein Kindergarten«, erwidert Weise und lächelt triumphierend. »Für Kinder wurde in der DDR alles getan. Warum macht man das heute nicht? Man könnte sie zu Toleranz und Demokratie erziehen«, sagt er und blickt ein bisschen provokant in unsere Gesichter.

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Es macht ihm Spaß, mit den Wahrnehmungen seiner Zuhörer zu spielen. Flora und ihr Freund Till, den sein Schweizer Akzent noch verrät, obwohl er seit Langem in Berlin lebt, machen sich ihre Gedanken über den Stadtführer. Wie lebte er in der DDR? War er Dissident? Mitläufer? Täter? Kritisch oder angepasst? Weise lässt immer wieder Sätze fallen, die mal das eine, mal das andere zu belegen zu scheinen. Er kritisiert die »geschlossene Gesellschaft« der DDR, die gegenseitige Überwachung in den hübsch begrünten Hinterhöfen. Dort passte immer jemand auf, wer in welchem Hauseingang verschwand. Er lobt aber auch Helmut Kohls Einsatz für Eisenhüttenstadts Stahlwerk nach der Wende. Er, Kohl, sorgte dafür, dass ein Warmwalzwerk gebaut wurde, damit das Stahlwerk wettbewerbsfähig bleibt. »Sonst hätten hier alle Linkspartei gewählt.«

Dann wieder spricht er von »meinem Parteisekretär«, der ihn gerügt hat, als er einmal am 1. Mai die Fahne nicht rausgehängt hatte. Er ist kritisch, aber nicht zu kritisch. Später werden meine westdeutschen Freunde fest davon überzeugt sein, dass er zu DDR-Zeiten ein Oppositioneller war. Den Satz von »meinem Parteisekretär« überhören sie.

Dass ein Oppositioneller es in der DDR als Lehrer sehr schwer gehabt hätte, dass beides gar nicht zusammengehen konnte, ohne denjenigen, der es versuchte, um den Verstand zu bringen, bedenken sie nicht.

Ich erinnere mich, dass mein Lehrer zu DDR-Zeiten die berüchtigten Wehrlager in der Schule organisiert hat, in denen 15-, 16-jährigen Jungs das Schießen auf Menschen beigebracht wurde. Es war eine Art Vorbereitung auf die Armee. In der Schule warb er bei den Jungs dafür, sich länger als die üblichen eineinhalb Jahre für die Volksarmee zu verpflichten. Ich weiß nicht, wie weit das Werben ging. Ob er Sätze gesagt hat wie: »Wenn Sie später studieren wollen, dann...« Weise war jedenfalls ein treuer Genosse. Das erzählt er in großer Runde aber nicht.

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Ich verstehe, warum er nach der Wende nochmal Karriere machen konnte. Er hat in beiden Systemen gut funktioniert. Er wurde 1991 zum Schulleiter befördert und baute die Schule zum Gymnasium um. Zwischen Wendehälsen und DDR-Verklärern stand er mittendrin: ein vernünftiger Pragmatiker. Er glitt mit einer geräuschlosen Eleganz vom Sozialismus zum Kapitalismus. Als Jüngere, die mit dem Systemwechsel größere Schwierigkeiten hatte, bringt mich das in einen Zwiespalt, ich bin hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Verachtung. Es gab solche Leute, genauso wie es Westdeutsche gibt, die gut im Osten funktioniert hätten.

Später, Tage nach der Führung, werde ich ihn allein in seinem Häuschen im Grünen besuchen. Er wird Kaffee machen und uns beiden je ein Stück Torte hinstellen. Er wird sofort anfangen zu plaudern, wird ohne ins Stocken zu geraten über die Anarchie in den neunziger Jahren erzählen, er ist es gewöhnt, dass man ihm zuhört. Aber ich bin nicht nur gekommen, um zuzuhören. Ich habe eine Frage, die ich stellen muss. Ich zögere sie hinaus, ich habe Angst davor, sie zu stellen. Meine Angst vor ihr ist vielleicht eine spezifisch ostdeutsche Angst: die Angst, das unausgesprochene Agreement zu brechen, dass wir, die Jüngeren, die Älteren nichts fragen, was ihre Vergangenheit im untergegangenen Staat in Frage stellen könnte. Als wäre es besser, keine Wunden aufzureißen. Als wäre alles schon schwer genug. In all den Jahren, die wir das unausgesprochene Agreement gehalten haben, sind die Fragen, die wir nicht gestellt haben, größer und größer geworden. Auch jetzt, während ich all meinen Mut zusammennehme, um sie zu stellen, scheint die unausgesprochene Frage zwischen uns weiterzuwachsen. Erst in dem unerhörten Moment, in dem ich sie stelle, klingt sie auf einmal ganz banal: Wie war es als Geschichtslehrer für ihn, die Lügen in der DDR zu unterrichten?

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Herr Weise wird ganz ernst. Er legt die Kuchengabel hin und verwandelt sich. Jetzt ist er nicht mehr der Geschichtenonkel. Er verteidigt sich zunächst, sagt, dass die Unterschiede im Geschichtsunterricht nicht so groß gewesen sind. Geschichte sei wie eine Literaturwissenschaft, alles nur eine Frage der Interpretation. »Die Fakten kannte ich, nur die Interpretation war bei uns anders.« An Samstagen, wenn klar war, dass es keine Kontrolle von oben geben würde, sei er manchmal vom Lehrplan ein wenig abgewichen. Aber im Großen und Ganzen hielt er sich an die Vorgaben. Die Partei hatte immer recht. »Wenn Sie so wollen, habe ich mein Mäntelchen in den Wind gehängt«, sagt er. Es ist das einzige Mal, dass ich einen Lehrer erlebt habe, der sich selbstkritisch äußert.

Es ist nur ein kurzer Moment, ein einziger Satz, in den man viel hineinlesen kann: Enttäuschung, Selbsthass, Bitterkeit.

Ich frage ihn, ob er mit der Stasi zu tun hatte. »Natürlich«, sagt er. Er erzählt, wie die Stasi regelmäßig in der Schule ein und aus gegangen sei. Ich höre das und komme mir unglaublich naiv vor, weil ich davon nichts geahnt habe. Bevor ein Schulabgänger als Soldat an die Grenze geschickt wurde, sei seine Entwicklung als sozialistischer Bürger überprüft worden. Ob es etwas Verdächtiges gegeben habe. Ich will ihn auch nach dem Wehrlager fragen. Ich selbst habe das nicht mehr erlebt. Weil ich jung genug bin, blieb es mir erspart. Wer nicht mitmachte, wer sich weigerte zu marschieren, der konnte seinen Studienplatz verlieren. Weise versichert, dass er persönlich nie negative Berichte geschrieben habe. Aber es gab natürlich noch militärische Leiter in dem Wehrlager.

Weise, der inzwischen Mitte siebzig sein dürfte, sichert sich immer noch ab. Ich kann seine Aussagen nicht überprüfen, aber ich glaube ihm.

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Die Stadtführung läuft schon eine Weile, wir stehen in der Straße der Republik, als ein tiefergelegter BMW mit schwarz getönten Fensterscheiben an uns vorbeizieht, gefühlte 90 Stundenkilometer. Ich muss lächeln, es hat sich nicht viel geändert in Eisenhüttenstadt. Ein paar aus dem Internat und ich nutzten die Straße früher als Rennstrecke und ließen nachts, wenn wir von der Disko Eastside kamen, die Motoren aufheulen. Das war, als ich aufgehört hatte, die Schule ernst zu nehmen.

Wir schlendern zur alten Gaststätte der DDR-Handelsorganisation Aktivist, dem Akki, wie die Hüttenstädter sagen. Dort, wo früher die Feiernden bei Wein und Steak zusammensaßen, wurden inzwischen Glaswände eingezogen, Lüftungen eingebaut, Schreibtische und Telefone hingestellt. Ein Wohnungsunternehmen hat den »Akki« vor wenigen Jahren gekauft. Die neuen Besitzer haben das alte, zerfressene Parkett herausgerissen und Auslegeware über den Boden gespannt. Trotzdem hat das Haus seine Wirkung nicht verloren.

Ich bewundere die fein getäfelten Wände, die hohen weißen Decken, von denen golden glänzende Leuchter hängen, bedächtig steige ich die Treppe in den zweiten Stock zum Tanzsaal hinauf. An der Wand hängen bunte Bilder von fröhlichen Arbeiterfrauen. In meinem Gedächtnis wird die DDR immer trister, je mehr Zeit vergeht, hier sehe ich eine andere DDR. Ich sehe den Optimismus der Aufbaujahre, die Hoffnungen, ein besseres Deutschland aufzubauen, die, als ich aufwuchs, längst zu Dogmen erstarrt waren. Ich stehe wehmutig in dem Saal und streiche mit den Fingern über die Täfelungen. Als meine Augen feucht werden, verlasse ich ihn, so schnell ich kann.

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Till, der Schweizer, und Ivan, der Engländer, posieren vor dem Schriftzug »Aktivist«, sie ballen ihre Fäuste, wie sie es auf Bildern gesehen haben, und fotografieren sich gegenseitig. Würde ich das machen, würde ich als unverbesserliche Nostalgikerin gelten, wie eine PDS-Wählerin mit beigefarbenen Sandalen. Ich beneide Till und Ivan um ihre Unbekümmertheit, sie laufen durch Eisenhüttenstadt wie durch ein Museum des Kalten Krieges.

Meine Freunde werden nervös, Weise bringt ihre Vorstellungen vom Osten durcheinander. So viel Luxus in der DDR? Sie suchen nach etwas Negativem, das ihrem Bild von der Diktatur entspräche. »Wer bekam denn die Wohnungen mit Baikonen? Waren das die Fabrikdirektoren? Musste man dafür extra zahlen?« Meine Freundin Flora, bekannt für ihre bohrenden Fragen, feuert eine Salve ab. Gute Fragen, denke ich, die ich trotzdem nie gestellt hätte. Die man vielleicht nur so stellen kann, wenn man im Westen aufgewachsen ist. Im Osten sprachen wir nicht von Fabrikdirektoren.

Weise antwortet, dass durchaus zwischen der Bedeutung der Mieter unterschieden wurde. Führenden Mitarbeitern des EKO wurde schon mal ein Häuschen mit Garten vermittelt. Denn ein Häuschen im Grünen war noch begehrter als eine neue Wohnung mit Parkett und Ornamenten. Meine Freundin Flora scheint das zu beruhigen. Sie nickt. In ihrer Spießigkeit sind sich Deutschland (Ost) und Deutschland (West) sehr einig.

Für die nächste Ecke, die Saarlouiser Straße, hat Weise eine Anekdote parat, die er gern und regelmäßig erzählt. Zwischen Eisenhüttenstadt und Saarlouis im Saarland wurde 1986 die erste deutsch-deutsche Partnerschaft geschlossen. Erich Honecker soll Eisenhüttenstadt, die Vorzeigestadt, höchstpersönlich ausgesucht haben. In der ersten Delegation war auch der Lehrerchor, der kurz vor der Abreise noch schnell in Volkschor umbenannt wurde, weil das besser klang. Weise fuhr mit.

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In Saarlouis hielt ihm ein Fernsehreporter ein Mikrofon ins Gesicht. Stimmt es, dass der Volkschor bis vor einer Woche Lehrerchor hieß? Weise war die Frage unangenehm. Er verwies an den Delegationsleiter. Der Reporter ließ aber nicht locker: Wie, Sie dürfen wohl nicht reden? Weise macht nach, wie er gestottert hat und nicht wusste, was er sagen sollte. Alle lachen. Weise kann auch selbstironisch sein.

Was haben Sie denn nun gesagt, Herr Weise? -- Ich habe gesagt: Früher hieß der Chor wohl mal Lehrerchor. Damit ließ er offen, wann die Umbenennung stattfand. Ein typischer Weise-Satz.

Von der Saarlouiser Straße ist es nicht weit zu meinem ehemaligen Internat, einem länglichen Flachbau, mit Zimmernummern an allen Türen. In einem der Zimmer saß ich und wartete darauf, dass etwas passierte. Das Haus ist verdeckt von einer Gruppe Koniferen. Dazwischen zerrt eine etwa hundert Jahre alte Dame mit rosa T-Shirt und rosa Jogginghose ein Hündchen hinter sich her. Auch ihr Haar schimmert rosa.

Die Führung ist fast zu Ende. Ab dem dritten Wohnkomplex ging es bergab mit der sozialistischen Architektur. Die Stalinbauten kamen aus der Mode. Es hieß nun: Baut deutsch. So kam es, dass über die Fassaden im dritten Wohnkomplex plötzlich Häschen und Schweinchen aus Holz hüpfen. Schnitzereien mit Motiven aus Grimms Märchen. Die Häuser haben nur noch drei Stockwerke, davor ein Treppchen, wie im Reihenhaus. Die Spießer republik DDR war geboren.

Wir beenden die Tour in der Lindenallee, Weise drückt uns die Hand, ich gebe ihm als Dank ein Buch, dann verschwindet er. Meine Freunde wollen wissen, wo meine Schule war, doch ich weiß nicht, was ich ihnen zeigen soll. Meine Schule, die Erweiterte Oberschule Clara Zetkin, gibt es nicht mehr. Die Vergangenheit ist unauffindbar.

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