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2  Die Prüfung

 

 

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Es war ein heißer Tag im Mai 1989, an dem die Temperaturen bis fast an die dreißig Grad kletterten, und ich trug ein Winterkleid.

Das Kleid kam aus einem goldenen Westpaket. Ich probierte es an, es passte sofort. Es war aus einem grauen Stoff, mit langen Ärmeln, rosa Stehkragen und einem Petticoat-Rock. Ich fühlte mich sicher in dem Kleid, wie eine Schauspielerin aus einem Film der vierziger oder fünfziger Jahre, die immer am Sonntagnachmittag im Fernsehen liefen. Wenn ich mich im Kreis drehte, schwang der Rock hoch. Ich hatte das Kleid zum ersten Mal bei der Jugendweihe getragen. Das Land, dem ich im April 1989 die Treue schwor, sollte sich fünf Monate später auflösen. Aber das wusste ich damals noch nicht. Mein West-Kleid sollte mir Glück bringen.

Ich stand vor dem Lehrerzimmer der EOS Clara Zetkin in Eisenhüttenstadt. Es war eine besondere Schule, zumindest für mich. Wenn ich aufgenommen würde, könnte ich im nächsten Schuljahr Französisch lernen. Für mich war die EOS Clara Zetkin die einzige Schule, an der man in der DDR Französisch lernen konnte. Später sollte ich erfahren, dass das nicht stimmte. In den größeren Städten konnte man oft zwischen Englisch und Französisch wählen.

Ich hörte Stimmen von drinnen. Mein Herz klopfte schneller. Ich hatte Angst gehabt, zu spät zu kommen. Eisenhüttenstadt lag rund fünfzig Kilometer von meinem Dorf entfernt, aber es war mir vorgekommen wie eine Weltreise.

Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist sehr klein. Jeder kennt jeden, es gibt keine Geheimnisse. Fremde erkennt man sofort. Es gibt drei Dutzend Häuser, an jedem zweiten hängt ein Schild: Vorsicht, bissiger Hund! Mit Fremden hat man hier keine guten Erfahrungen gemacht. Nicht, dass sich besonders viele Fremde in unsere Gegend verirrten. Das Dorf liegt an einer großen Straße. Die meisten kennen es nur vom Durchfahren, eines dieser ausgestorben wirkenden Dörfer, wie es viele gibt in Brandenburg. Nichts bewegt zum Halten, keine hübsch renovierten Katen, kein Schloss, kein Bioladen.

Früher gab es einen Konsum, eine Gaststätte, eine Post, ein Pfarrhaus und eine Genossenschaft, die das Land kollektiv bestellte. Aber es wäre zu viel gesagt, wenn man behaupten würde, es wäre früher alles besser gewesen. Es ist ein armes Land, zerschunden von Jahrhunderten von Kriegen. Selbst der Adel, dem das Land früher gehörte, baute eher bescheidene Schlösser. Man lebte damals, als ich klein war, wie man vor hundert Jahren schon gelebt hatte, nur dass man nicht mehr für Gutsherren arbeitete, sondern für die Genossenschaft. Die Jahreszeiten bestimmten den Rhythmus des Lebens. Nach dem Frühling kam der Sommer, nach dem Sommer kam der Herbst und es gab im Garten immer etwas zu graben, zu säen, zu jäten.

Meine Eltern und ich wohnten in einem alten Bauernhaus. In der Küche stand ein uralter Ofen, auf dem wir Wasser heiß machten und kochten. Wenn wir uns waschen wollten, füllten wir heißes Wasser in eine gelbe Plastikschüssel. Ein Bad hatten wir Anfang der achtziger Jahre noch nicht. Im Winter wurde es bitterkalt, meine Mutter hängte Decken vor die Fenster, aber am Morgen hatten sich innen trotzdem Eisblumen aus unserem Schweiß und unserem Atem gebildet.

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Ich war ein braves, stilles Kind. Ideales Elternglück. Eines, das beim Essen am Tisch mit den Erwachsenen saß, schon früh Messer und Gabel benutzte und wartete, bis jemand sagte, dass ich aufstehen dürfe. Ich weinte höchstens, wenn ich einen Fleck auf meiner Pionierbluse hatte und ich sprach wenig. Auch mein Vater und meine Mutter waren eher stille Personen. Wir waren keine Familie, in der man sich ständig fragte, wie geht's dir, was denkst du, wie war dein Tag? Manchmal ließ meine Mutter mich mit ihr Kuchen essen und einen Romy-Schneider-Film gucken. Sie liebte Romy Schneider, Cary Grant, Marilyn Monroe. Wenn ich mich langweilte, sagte sie, geh raus, geh spielen, guck ein Buch an. Ich habe das nicht als Nachlässigkeit empfunden. Es waren die achtziger Jahre, die Zeit vor Erziehungsratgebern, Pekip-Kursen und pädagogisch wertvollem Spielzeug.

Ich ging hinaus in den Garten, kletterte auf Bäume und baute mit den Nachbarskindern Baumhäuser. Aber am liebsten war ich allein. Ich legte mich auf die Wiese und sah den Käfern und Schmetterlingen zu, ich hörte auf die Geräusche, das Summen, das Rascheln, und der Wind streichelte das Gras. Ich weiß nicht, ob Kinder das heute noch machen, im Gras liegen und den Käfern zusehen. Wahrscheinlich gibt es Workshops dafür oder Anleitungsbücher.

Am liebsten ging ich rüber zum Nachbarhaus, dort wohnten meine Oma und mein Opa. Mein Opa war, wenn ich zurückdenke, ein Anker in meinem Leben. Er kümmerte sich um ein paar Pferde, und ich half ihm dabei. Ich striegelte ihr Fell, ich fütterte sie, ich wechselte ihr Stroh. Am Wochenende nahm er mich mit auf lange Spaziergänge durch den Wald. Er lehrte mich, die Spuren von Hasen und Rehen zu unterscheiden.

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Er zeigte mir, welche Pilze essbar und welche giftig sind. Er brachte mir bei, dass man sich vor Wildschweinen in Acht nehmen muss, wenn sie mit ihren Jungen unterwegs sind. Mit meinem Opa wurde der Wald zu einem geheimnisvollen Ort, in dem unabhängig von uns Menschen eine verborgene Welt existierte.

Er starb, als ich neun war. Meine Mutter sagte, es habe etwas mit dem Kriegsgefangenenlager in Sibirien zu tun, in dem er während des Zweiten Weltkrieges gesessen hatte. Er war 1942 in der Nähe von Smolensk den Russen in die Hände gefallen und erst 1949 entlassen worden. Mir blieb haften, dass die Russen irgendwie schuld am Tod meines Opas waren. Ich wusste damals noch nicht, dass ich später selbst einmal in einen Feldzug nach Russland ziehen würde.

Fünf Jahre war es her, dass mein Opa gestorben war, als wir im Auto nach Eisenhüttenstadt saßen. Ich dachte an ihn, ver-misste ihn immer noch. Wir passierten auf dem Weg sechs kleine stille Dörfer, die alle aussahen wie mein Dorf, mit Koniferen in den Gärten und Schäferhunden am Zaun. An einer Eisenbahnschranke mussten wir anhalten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich wieder hob. Dann mussten wir noch einen Berg erklimmen, so kam es mir zumindest vor, als das Auto den Hügel hinaufschlich, hinter dem Eisenhüttenstadt lag.

Fremdsprachen fielen mir leicht. Ich hatte in den Jahren zuvor ein paarmal an Russisch-Bezirksolympiaden teilgenommen.

Solche Olympiaden fanden dauernd statt, und es galt als Auszeichnung, daran teilzunehmen, es gab Mathe-Olympiaden, Chemie-Olympiaden, Spartakiaden und Wettkämpfe, die »Mach's mit - mach's nach - mach's besser« hießen.

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Die DDR war ein kleines Land ohne große Ressourcen, das unbedingt in der Welt anerkannt werden wollte. Als wichtigster Rohstoff galten die Menschen, es war wichtig, Talente früh zu entdecken. Auf die Herkunft kam es nicht an. Wer sich in einem Wettbewerb hervortat, wurde weiter gefördert, egal, ob man das Kind eines Lehrers oder eines Schlossers war. Es gab nicht nur die zehnklassige Einheitsschule, es gab spezielle Schulen für jedes Talent, Sportschulen, Sprachschulen und naturwissenschaftliche Schulen.

Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, der schon an der Spitze der DDR stand, bevor ich geboren wurde, und dort fast bis zu ihrem Ende bleiben sollte, hatte einmal gesagt: »Jeder Junge und jedes Mädchen soll sich nach seinen Fähigkeiten entwickeln.« Leistungsdenken war Staatsräson.

Einmal hatte ich zu meiner eigenen Überraschung eine Olympiade gewonnen und einen Zwanzig-Mark-Büchergut-schein als Geschenk erhalten. Den Gutschein setzte ich in ein Spanisch-Lehrbuch mit dunkelrotem Einband um. Ich saß in der Schule und konnte es nicht erwarten, mit meinem außerschulischen Programm weiterzumachen. Jeden Nachmittag setzte ich mich mit dem Spanischlehrbuch auf dem Schoß hin und schrieb mir Vokabeln heraus.

Como estas?  - Yo soy bien, y tu? -  Como te Ilamas? -  Yo soy Sabine.

Ich lernte kleine Dialoge und redete mit mir selbst Spanisch. Ich mochte den Klang und die Melodie der Worte. Es klang warm, melodisch, gefühlvoll. Mit jedem Wort träumte ich mich ein bisschen weiter weg aus der DDR.

Mein Deutschlehrer hielt mich für begabt.

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Er hatte mich eines Tages gefragt, ob ich Lust hätte, auf eine andere Schule zu gehen, die Sprachtalente fördern würde. Er erzählte von der Französisch-Klasse. Er nannte sie »Talente-Klasse«. Normalerweise gingen die Schüler in der DDR zehn Jahre gemeinsam zur Schule, danach zwei Jahre weiter bis zum Abitur. Ich würde bereits ab der neunten Klasse auf die EOS gehen. Allerdings, fügte er hinzu, müsste ich in ein Internat ziehen. Eisenhüttenstadt lag zu weit weg, um täglich zu pendeln.

Meine Zukunft im Dorf schien absehbar: Ich könnte Melkerin im Kuhstall, Verkäuferin oder Sekretärin werden, einen Traktorfahrer namens Ronny oder Maik heiraten und mit 19 ein Kind bekommen, das ich Sandy nannte. Ich träumte von Größerem. Ich wollte etwas Eigenes schaffen.

Ich dachte, wenn ich in diese Schule gehen würde, könnte ich Abitur machen, studieren, vielleicht sogar später im Ausland arbeiten. Der Gedanke war so aufregend, dass ich kaum stillstehen konnte, meine Hände wurden feucht. Ich sagte dem Lehrer, er solle mich zu der Aufnahmeprüfung anmelden. Er fragte, ob ich nicht erst meine Eltern fragen wolle. Aber ich konnte sehr überzeugend sein.

Als ich meinen Eltern von der Schule in Eisenhüttenstadt erzählte, waren sie skeptisch. Mein Vater sagte, ich sollte lieber die Schule bis zur zehnten Klasse zu Ende machen und danach in der Kreisstadt einen Beruf lernen, in dem ich gut verdienen würde. Sekretärinnen und Krankenschwestern würden immer gebraucht. 

Mein Vater war Dreher. Er hatte die Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates verinnerlicht: Akademiker galten nichts für ihn, Studieren hielt er für Zeitverschwendung.

Meine Mutter sah das anders: Ich sollte nicht auf meinen Vater hören. Weil er selbst kein Abitur habe, hätte er eine Abneigung gegenüber höherer Bildung. Meiner Mutter gefiel die Vorstellung, dass ihre älteste Tochter auf eine bessere Schule gehen sollte. Sie ließ nur die Besten gelten. Sie rezitierte beim Abwaschen gern Goethe.

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Sie war die Erste in der Familie, die Abitur gemacht hatte. Wollte Richterin werden. Doch nach nur einem Jahr hat sie ihr Jurastudium abgebrochen, aus Gründen, die ich damals nie ganz verstanden hatte. Später, während dieser Recherche erst erfahre ich, dass sie unter Druck gesetzt worden war, weil sie sich in der Jungen Gemeinde engagierte. 

Sie war keine Dissidentin, sie ging ins Pfarrhaus, weil es dort Bücher gab und sie über Themen reden konnte, die zu Hause niemand interessierten. Trotzdem wurde sie bedroht. Sie sollte ihre politische Meinung überdenken, sonst werde sie exmatrikuliert. Meine Mutter ging, bevor man sie hinauswarf. Sie hat um diese Geschichte nie viel Wirbel gemacht. Vielleicht war sie froh, weil sie wusste, dass es sie vor schwierigen Entscheidungen bewahrte. Sie hätte Republikflüchtlinge verurteilen müssen. Oder Asoziale. Alle, die nicht in den Staat passten.

Im Rückblick verblüfft mich, dass sie dem Staat trotzdem die Treue hielt. Sie glaubte lange, dass die DDR das bessere, antifaschistische, menschlichere Deutschland sei. Dass die Härte notwendig sei. Sie verteidigte gegenüber Besuchern aus dem Westen die DDR und auch den Mauerbau.

Direkt nach ihrem Studienabbruch lernte sie meinen Vater kennen und wurde relativ schnell schwanger. Seitdem trieb sie der Ehrgeiz einer Frau, die ihre eigenen Träume in der Tochter verwirklicht sehen wollte. Ich durchschaute das früh, ohne genau zu wissen, wie ich damit umgehen sollte.

Wenn ich am Ende des Schuljahres mit einem Zeugnis nach Hause kam, prüfte sie jede Note. Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger auf jede Zwei. Eine Drei war eine Katastrophe. Ich weiß nicht, was sie gemacht hätte, wenn ich eine Vier oder eine Fünf geschrieben hätte.

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Aber ich habe das zweitbeste Zeugnis, verteidigte ich mich.

Nächstes Jahr hast du hoffentlich das beste, sagte sie.

Als es um die neue Schule ging, konnte ich den Ehrgeiz meiner Mutter für meine Sache nutzen. In der DDR war es nicht einfach, Abitur zu machen. Aus jeder Klasse wurden nur ein oder zwei Kinder zugelassen. Wenn ich an die EOS Clara Zetkin kommen würde, könnte ich Abitur machen und hätte meinen Studienplatz fast sicher. Meine Mutter überredete meinen Vater, nach Eisenhüttenstadt zu fahren. Meine Eltern saßen auf der Bank vor dem Lehrerzimmer, während ich den Flur auf und ab lief. In dieser Situation konnte ich nicht stillsitzen.

Die Tür öffnete sich, eine Frau im langen Rock bat mich in den Raum. Zwei weitere saßen hinter einem langen Tisch, davor stand ein einzelner Stuhl. Zwischen ihren Köpfen sah ich den leeren Schulhof. Es war Nachmittag, die Schüler waren zu Hause. Die Sonne schien auf den Beton.

Die Frau mit dem Rock war die Direktorin. Sie hatte graue glatte Haare, die ein Scheitel akkurat trennte. Sie trug eine graue Bluse und einen grauen Rock. Sie sah aus wie die Frauen von den Bildern nach dem Krieg, die wenig zu essen, aber viel zu tun hatten und selten in den Arm genommen wurden. Sie hieß Frau Koschke und war, wie ich später erfuhr, weit über die Schule hinaus gefürchtet. Alle hatten Angst vor ihr. Jüngere Kolleginnen, die es wagten, in Hosen oder gar Jeans zur Schule zu kommen, ermahnte sie. Andere wurden gerügt, weil sie Karten an Verwandte in den Westen schrieben. An den Klassenfeind! Ein EOS-Lehrer tat so etwas nicht. All diese Dinge wusste ich damals nicht.

Ich setzte mich hin und strich meinen Rock glatt. Meine Nervosität war mit einem Schlag weg. Ich konzentrierte mich auf die Fragen, die auf mich einprasselten.

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Wie stehen Sie zur DDR? Erläutern Sie Ihren Klassenstandpunkt! Welche Funktionen hatten Sie im Gruppenrat? Lesen Sie die Junge Welt7. Hat Ihre Familie West-Kontakte? Haben Sie einen gefestigten Berufswunsch? Sind Sie sich be-wusst, was es bedeutet, zu den künftigen Kadern der DDR zu gehören?

Was das Wort »Kader« genau bedeutet, davon hatte ich keine Vorstellung. Ich wusste nur, dass man eine einflussreiche, mächtige Person ist, wenn man zu den »Kadern« zählt.

Das »Sie« irritierte mich. Nach der Jugendweihe galten Schüler als erwachsen und wurden von Lehrern gesiezt, ich hatte mich daran noch nicht gewöhnt.

Was im Rückblick wie ein Verhör klingt, war für mich eher ein Rollenspiel. Wenn ich heute an diese Aufnahmeprüfung zurückdenke, muss ich an Brigitte Reimann denken. Sie beschrieb die DDR als ein Indianerspiel für Erwachsene, mit Spähern und Fallen, Geheimnamen und -Operationen, mit Aktionen und Gegenaktionen. Mir gefiel die Beschreibung. Sie traf.

Wenn man mit offiziellen Stellen zu tun hatte, musste man eine Rolle spielen. Ich war so erzogen worden, dass ich wusste, was ich sagen musste, um nicht aufzufallen. Die Phrasen gingen mir leicht von den Lippen. Dass wir zu Hause West-Fernsehen guckten und dass ich Erich Honecker für eine Witzfigur hielt, behielt ich für mich.

Wer damals aufwuchs, der wusste instinktiv, dass die eigene Meinung niemanden interessierte, niemanden zu interessieren hatte und sogar gefährlich werden konnte. Ich hatte mir das nicht ausgedacht, ich kannte es nicht anders. Mir fiel, wie den meisten meines Alters, auch nicht ein, was ich ändern sollte. Erst später, nach der Wende, sollte ich merken, wie sehr mich die DDR geprägt hatte. Dass das politisch-gesellschaftliche Indianerspiel mehr als ein Spiel war.

In der Aufnahmeprüfung ging es mir einzig und allein darum, an dieser Schule aufgenommen zu werden. Das war die erste Etappe auf dem Weg dahin, etwas Großes zu schaffen. Die zweite Etappe würde das Studium sein. Ich erzählte, dass ich später gerne im Ausland arbeiten würde. Vielleicht für die Wochenpost, das war eine Zeitung, die bei uns zu Hause immer herumlag und die man, anders als die meisten Blätter, auch lesen konnte. Die Lehrer machten sich eifrig Notizen. Frau Koschke fragte, ob ich denn auch regelmäßig die Junge Welt las, das Zentralorgan der FDJ?

Ja, log ich. Selbstverständlich.

Hat Ihre Familie West-Kontakte, hakte die Direktorin nach. Ich zupfte an den Ärmeln meines Kleids aus dem West-Paket, dachte an Onkel Ulf aus Hamburg, der uns im Sommer besuchte. Sollte ich erzählen, wie er sich in den Liegestuhl unter die Kirschbäume legte, sich Kuchen, Bier und Kartoffelsalat servieren ließ und immerzu rief: »Kinder, geht's uns nicht gut?« Sollte ich erzählen, dass selbst Kapitalisten aus Hamburg sich in unserer kleinen DDR wohlfühlten? Ich merkte, dass die Lehrer auf meine Antwort warteten.

Nein, keine West-Kontakte. Ich lächelte schief.

Meistens war es in der DDR besser, sich zu schützen.

Zwei Wochen später kam ein Brief aus Eisenhüttenstadt. Es war der bis dahin schönste Tag in meinem Leben. Ich hatte die erste Etappe genommen. Ich war auf Kurs. Und dann kam alles erst mal anders.

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