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3  Das Haus der jungen Talente 

 

 

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Sommer 2012. In der Mitte von Eisenhüttenstadt klafft ein Loch. Wo früher der siebte Wohnkomplex stand, liegt nun eine Brache. Die Häuser wurden abgerissen, die Menschen, die dort noch wohnten, umgesetzt, wie man so sagt. Als Nächstes kommt der sechste Wohnkomplex dran. Mehrere Blöcke stehen schon leer. Ein Abrisskran reißt die Plattenbauten ab, das Haus zerbröselt, als wäre es aus Teig. Ich mache ein paar Fotos, um die Vergangenheit festzuhalten. Der Abrissbagger rückt immer näher an meine alte Schule. Bald wird sie auch verschwinden.

Als der sechste und siebte Wohnkomplex in den siebziger Jahren entstanden, war von dem Optimismus der sozialistischen Gründerväter nichts mehr zu spüren. Die Bauherren gaben sich keine Mühe mehr, es musste schnell gehen und billig sein. Alle Gebäude wurden aus denselben Platten zusammengesetzt, die Wohnhäuser, die Kindergärten, die Schulen. Jetzt kommt der Kran und reißt alles wieder ab.

Ich blicke auf einen der Flachbauten. Die rostrote Farbe blättert ab, es sieht aus, als wäre die Schule eilig verlassen worden, wie nach einem Katastrophenfall, einer Epidemie. Aber es war nur die Wende.

In Fenstern scheinen noch dieselben Gardinen und dieselben Basteleien zu hängen wie damals, als wir Anfang der neunziger Jahre umziehen mussten. Ist das dort nicht eine

Friedenstaube, die am Fenster klebt? Ich habe sofort wieder das Lied im Kopf, »Kleine, weiße Friedenstaube«.

Die Wände sind mit Graffiti besprüht, »Skin Girls Eisenhüttenstadt« steht an der Wand. Das hätte es früher nicht gegeben. Die Direktorin hätte uns mit Schrubbern zum Putzdienst geschickt. Die Direktorin lebt nicht mehr in Eisenhüttenstadt, und ihre Schule ist längst geschlossen. Alles wirkt verlassen. Durch die Risse in den Betonplatten wächst Gras.

Ich suche nach der Kaufhalle, in der ich im Sommer 1990 nach der Währungsunion zum ersten Mal mit Westgeld einkaufte. Doch dort, wo sie stand, klafft auch ein Loch. Ich laufe ein paarmal um die leerstehenden Blöcke und kann es nicht fassen. Ich finde sie tatsächlich nicht mehr. Ich finde überhaupt kein Geschäft, nicht mal ein Cafe oder einen Kiosk. Vermissen das die Leute, die hier wohnen, nicht?

Immerhin, das Internat, in das ich 1989 zog, steht noch. Der Block ist grau und schmucklos, wie früher. Er stimmt mich komischerweise heiter, dieser ehrliche Plattenbau, der nicht vorgibt, etwas Besseres zu sein. Es ist früher Nachmittag, aus den Fenstern hängen Köpfe, als gebe es etwas zu sehen.

Ein Typ, Jogginghose, Kippe im Mund, ruft zu einem der Fenster nach oben: Was is' los?

Eine andere Stimme erwidert: Ick koch mir watt, danach muss ick zum Arbeitsamt.

Ist das die Möglichkeit: Kaum steht man zwei Minuten hier, erlebt man so eine Klischee-Szene. Man könnte sich umdrehen, wieder zurück in den Westen oder nach Berlin fahren und dann wäre diese Szene alles, was vom Osten bliebe.

Ein Mann steigt aus einem Auto mit der Aufschrift »Hausmeisterdienst Fleißiges Bienchen«. Er schleppt zwei Eimer in

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das Haus. Ich gehe entschlossen auf ihn zu und erzähle dem Mann, dass ich vor über zwanzig Jahren hier gewohnt habe. Ich würde gern noch mal ins Haus hineinschauen. Er zögert keine Sekunde und kommt meiner Bitte gern nach. Er öffnet die Tür, ich trete hinein. Es ist dunkel und ich stehe in dem kühlen, stillen Flur vor einem rot angestrichenen Metallkasten, an den ich mich nicht erinnere. Das Fleißige Bienchen plappert los: »Die haben hier einen Fahrstuhl reingebaut und da hamse natürlich gleich auf die Miete raufgeschlagen. 420 zahlen wir für die kleinen Buchten. 57 Quadratmeter, kein Fenster im Bad und in der Küche. Die ham neue Fenster reingemacht, sonst ist alles gleich geblieben.«

Jetzt merke ich es. Es riecht noch immer wie früher, die Mischung aus Putzmitteln, Beton und kaltem Essen. Wie es das geben kann, nach all den Jahren. Die Putzmittel riechen doch heute ganz anders.

Ich sehe mich mit meiner Reisetasche nach oben laufen, ein Mädchen vom Land, das sich gerade Locken hatte machen lassen, ein großer Fan der Dauerwelle. Ich ging in den dritten Stock rechts. Ich bedanke mich bei dem Fleißigen Bienchen und mache die Tür hinter mir zu. Ich atme aus.

Ich mochte das Haus anfangs nicht. Es glich einer großen Bienenwabe, vollgestopft mit bedrohlich fremden Menschen, die treppauf und treppab liefen. Die Erzieherin brachte mich in die Wohnung im dritten Stock. Ich hatte eine Reisetasche dabei, Kleider für sechs Tage, Schulhefte, Federtasche, Schulbücher, ein Buch des Schriftstellers Guy de Maupassant. Ich sollte ja Französisch lernen und er war der einzige Franzose, den ich kannte. Er sollte mir in meiner neuen Heimat Gesellschaft leisten. Früher hatte ich Abenteuerromane gelesen. Jules Verne, Karl May, Mark Twain. Erst kürzlich hatte ich

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im Regal meiner Tante die klassischen französischen Romanciers entdeckt. Ich verschlang die Bücher. Ich las überall, an der Bushaltestelle, im Bus, unter der Schulbank. Die Werke von Maupassant und Flaubert eröffneten mir eine neue Welt, voller interessanter Menschen, exotischer Orte, ungekannter Abgründe. Mich faszinierte, wie frei die Menschen sich bewegten, wie sie ihren Gelüsten und Wünschen nachgingen, ohne Vorschriften und Regeln.

Ich hatte als Kind oft das Gefühl zu spät geboren worden zu sein, die interessanteste Zeit der Weltgeschichte, das 19. Jahrhundert, verpasst zu haben.

Im September 1989, als Tausende junger Menschen, nur wenig älter als ich, in der westdeutschen Botschaft in Prag ihre Ausreise erzwingen wollten, zog ich vom Dorf in die Stadt. Eisenhüttenstadt ähnelte der DDR im Kleinen, die Stadt war ein Traum junger Leute gewesen. Zwei Generationen später glich sie einer Betonwüste.

Ich war, so kam es mir vor, schon wieder zu spät gekommen.

Als mich meine Eltern nach Eisenhüttenstadt gefahren hatten, war ich plötzlich von einer Angst erfasst worden. Ich fragte mich, auf was ich mich da eingelassen hatte, als ich mich um einen Platz an der Schule beworben hatte.

Ich war ein Landkind, relativ frei aufgewachsen, ich hatte Angst vor Fremden. Und jetzt sollte ich die ganze Woche allein bleiben, mit lauter Fremden? Würde ich Freunde finden? Wie streng würden die Lehrer sein?

Ich wurde mit drei anderen Neuen in ein Viererzimmer einquartiert. Es war spartanisch eingerichtet. Vier Betten standen in den Ecken, dazu ein Schrank, in der Mitte ein großer Tisch, an dem wir die Hausaufgaben machen sollten. Es war ungewohnt, mit drei Fremden das Zimmer zu teilen, aber die anderen sahen genauso schüchtern und unsicher aus wie

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ich. Nancy, Jacqueline und Ina. Nancy schleppte einen Kassettenrecorder aus dem Westen. Jacqueline hatte auch eine Dauerwelle.

Vier ältere Mädchen schlenderten durch das Wohnzimmer, unser Zimmer, als wären wir gar nicht da, und stellten sich auf den Balkon. Sie rauchten. Später kamen sie wieder durch und musterten uns ein wenig verächtlich, wie ich fand. Welche Klassenlehrerin habt ihr?, fragte ein hübsches Mädchen mit dunklen, lockigen Haaren.

Ich sagte: Frau Wilke.

Die Lockige sagte: Oh.

Die Älteren tauten allmählich auf, warnten uns vor dieser Frau Wilke, sie sei unnahbar, kühl. Der beste Lehrer der Schule, das sei ein gewisser Herr Weise, der Geschichtslehrer. Ich hörte aufmerksam zu und merkte mir alles.

Ich fand die Stadt und das kühle Neue an ihr am Anfang unangenehm. Die Wohnungen waren zwar heller und moderner als das Bauernhaus meiner Eltern, es kam fließend warmes Wasser aus der Wand und es gab eine richtige Toilette. Aber das Alte, Charakteristische vermisste ich. Hier gab es keine Tradition, keine Romantik. Nur Beton.

In der Schule ging es so streng zu, wie mein alter Deutschlehrer prophezeit hatte. Der Staat zerfiel, der Führung rannte das Volk davon, doch die Lehrer in Eisenhüttenstadt ließen sich davon nicht beeindrucken. Die Produktion kleiner sozialistischer Persönlichkeiten musste weitergehen. »Wir weinen ihnen keine Träne nach«, sagte Honecker über die Ausreisenden.

In meiner alten Schule im Dorf konnte man damals schon mal mit der Bravo, die Oma aus dem Westen geschmuggelt hatte, unterm Arm herumlaufen. In der neuen Schule hätte man dafür einen Schulverweis bekommen.

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Dauernd mussten wir zu Fahnenappellen antreten. Wir standen auf dem Schulhof, Befehle wurden gebrüllt.

Links. Rechts. Stillgestanden.

Hunderte Münder gelobten, dass die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse eines Tages ein Ende haben würde.

Die Lehrer forderten viel. Der Deutschlehrer ordnete einen Aufsatz über Büchners Woyzeck an, der Biologielehrer fragte die Grundlagen der Photosynthese ab, die Russischlehrerin wollte Gedichte über die heroischen Taten der Sowjetmenschen im Großen Vaterländischen Krieg auswendig hören. Ich hatte Mühe, mitzukommen. Nur Französisch und Englisch fielen mir leicht. Unsere Englischlehrerin, Frau Mai, war etwa 26 Jahre alt, sie war in ihrem Leben noch nicht in England oder in Amerika gewesen, all ihr Wissen stammte von einem gewissen Peter aus Birmingham, der sie in Leipzig am Sprachinstitut unterrichtet hatte, aber das schmälerte nicht ihre Begeisterung. Sie machte alles ein wenig anders. Bei ihr durften wir verbotene Musik hören, die Pet Shop Boys und Michael Jackson. Danach übersetzten wir die Liedtexte gemeinsam.

Die Tage im Internat folgten einer festen Struktur, fast wie in einer Kaserne. Wir lernten zehn bis zwölf Stunden am Tag. Alles war geregelt, nichts wurde dem Zufall überlassen: 6:00 Uhr wecken, 6:45 Uhr Frühstück, 7:00 Uhr Schulbeginn, 15:00 Uhr Hausaufgaben, 17:00 Uhr Sport, 18:00 Uhr Abendessen, 22:00 Uhr Nachtruhe. Freizeit war nicht vorgesehen.

Regelmäßig wurden wir zum Tagesdienst eingeteilt. Da musste man wie ein Pförtner am Eingang sitzen und den Verkehr bewachen. Es gab auch ein Hausbuch, in das sich jeder von uns eintragen musste, wenn wir das Internat betraten oder verließen. Ich fügte mich den Regeln, die im Internat galten, automatisch, ich war es gewohnt, nicht aus der Reihe zu tanzen.

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Manchmal vermisste ich es, allein mit meinen Gedanken und Träumen zu sein. Im Internat war man nie allein.

Aus meiner Klasse lebten acht Mädchen im Internat, wir waren alle neu und alle zum ersten Mal von zu Hause weg. Ich lernte Ina und Marlene kennen. Sie trugen riesige Hornbrillen und sahen aus wie Schwestern, eine blond, eine brünett. Sie kamen aus Berliner Vororten, was man ihnen sofort anmerkte. Sie waren in allem schon etwas weiter, jede auf ihre Art. Ina hörte The Communards, eine Band, von der ich noch nie gehört hatte, und sprach schon etwas französisch, weil sie in Berlin Privatstunden genommen hatte. Marlene war stiller, sie mochte Computer und beherrschte die Programmiersprache Turbo Pascal.

In den ersten Tagen stand Frau Schinke, die Internatserzieherin, Punkt drei in unserem Zimmer im dritten Stock und scheuchte uns von unseren Betten: »Hausaufgabenzeit«, krähte sie. Ich beobachtete, wie sie dastand, die Hacken zusammengeschlagen, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Frau Schinke war klein, drahtig, mit kurz geschnittenen, rötlichen Haaren. Sie war im Alter meiner Oma, hatte ansonsten aber gar nichts Omahaftes an sich. Sie war Sportlehrerin und als Erzieherin ans Internat versetzt worden. Ich weiß nicht, ob sie Kinder hatte, jetzt steckte sie jedenfalls all ihren erzieherischen Ehrgeiz in uns. Sie hatte eine Wohnung im ersten Stock, in der sie nur schlief. Die restliche Zeit rannte sie umher und pflügte durch das Internat. Ihr Lieblingsspruch war: »Wer rastet, der rostet.« Sie hätte ebenso gut an einer Schule der zwanziger oder dreißiger Jahre funktioniert.

Wir sprangen von unseren Betten auf und setzten uns an den Tisch. 

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Sobald die Erzieherin weg war, schaltete Nancy ihren Recorder an und wir hörten Roxette. Komischerweise nahm uns die Internatsleiterin den Recorder nie weg. Kassetten waren erlaubt. Wir machten Witze über Frau Schinke und ihre Kontrollwut. Wahrscheinlich schnüffelte sie in unseren Sachen, wenn wir in der Schule waren. Später merkten wir, dass sie ganz in Ordnung war. Sie konnte fürsorglicher sein, als ich ihr auf den ersten Blick zugetraut hatte. Wenn eine von uns Fieber hatte, machte sie Wadenwickel.

Nach einer Weile fing ich an, die Bienenwabe zu mögen. Wenn ich an das Internat zurückdenke, denke ich nicht an Kontrolle und Druck, sondern an die Schlupflöcher, die wir schufen, die kleinen Tricks, mit denen wir ausbrachen.

An die kleinen Freiheiten, die wir uns eroberten. Obwohl West-Fernsehen verboten war, verpassten wir keine Folge von »Alf«, dem zotteligen Außerirdischen vom Planeten Melmac, der Katzen für eine Delikatesse hielt und auf der Erde bruchlandete. Die Sitcom über sein Leben bei einer amerikanischen Familie lief damals im ZDF und war Pflichtprogramm im Internat.

Die Anziehungskraft eines zotteligen Außerirdischen war größer als die von Frau Schinke, der Repräsentantin des Staates, zu dessen vielversprechendem Kadernachwuchs wir gehören sollten. Das sagte eigentlich schon alles.

Wir hatten ein ausgeklügeltes Kettensystem. Eine saß direkt neben dem Fernseher am Schaltknopf, die nächste stand an der Tür, um nach Schritten zu horchen. Sobald sie die Erzieherin hörte, wurde umgeschaltet. Wenn Frau Schinke den Raum betrat, lief die »Aktuelle Kamera«, »Du und dein Garten« oder sonst irgendeine Sendung, von der Frau Schinke ahnen musste, dass sie 15- und 16-Jährige nicht interessieren konnte. Aber auch sie spielte mit.

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Es ging einzig und allein darum, die Rollenverteilung aufrechtzuerhalten. Die DDR - ganz großes Volkstheater. Manche Rollen sollten noch sitzen, als die DDR schon Geschichte war.

Ich lernte gern, das hatte mich in der alten Schule zu einer Außenseiterin, heute würde man sagen, zu einem Nerd gemacht. Hier waren die meisten wie ich. Wir waren uns ähnlich. Wir kannten niemanden in der Stadt, das schweißte uns zusammen. Es war nicht wichtig, ob unsere Eltern Lehrer, Ärzte oder Schlosser waren. Wir hielten zusammen, wenn es Ärger gab. Wir halfen uns bei den Hausaufgaben, wir trösteten die, die traurig waren. Wir teilten unsere Geheimnisse und Sorgen, unsere Vorlieben und Vorsätze. Vom ersten Tag an gab es ein Wir, ein Gemeinschaftsgefühl, das ich vorher nicht gekannt hatte.

In unserer freien Zeit lagen wir auf unseren Betten und feilten an unseren Einträgen in Nancys Steckbriefheft. Das war, neben dem Fernsehen, die andere Art, dem Alltag zu entfliehen. Sie hatte das Heft mit Sprüchen verziert: »Ärgere nie deinen Lehrer, denn du weißt nie, wie er wirklich ist!«, »I love lambada«, »Ich glaub, mich schubst ein Ufo!« Drumherum grinsen Gesichter von Stars, die heute längst vergessen sind: Robin Beck, Richard Marx, Mandy Smith, Martika.

Ich weiß nicht mehr, ob Nancy deren Musik wirklich mochte, oder ob sie die Gesichter nur aufgeklebt hatte, weil sie als Sticker in ihrer Bravo steckten. Jede westliche Symbolfigur galt als cool, selbst Mandy Smith, ein One-Hit-Wonder aus England. Wie weit wir uns von der DDR schon entfernt hatten. Noch während wir zu sozialistischen Persönlichkeiten erzogen werden sollten, suchten wir im Westen nach Leitbildern.

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Mittendrin steht: »Steckbriefheft, Kl. 9, Eisenhüttenstadt«. Wir inszenierten uns wie kleine Popstars, wir nennen unsere Lieblingsfilme, unsere Lieblingsbands, unser Lieblingsessen.

Erster Eintrag, 27.9.1989, Name: Karina, 15 Jahre, Augenfarbe braun, Haarfarbe braun, Gewicht 45 Kilo. Hobbys: Radeln, Lesen, Sticken. Lieblingsessen: Broiler, Frikassee, Spaghetti. Lieblingsgruppe: Bon Jovi, a-ha, Duran Duran. Lieblingssänger: Billy Idol, Herbie. Lieblingssängerin: Cyndi Lauper, Whitney Houston. Lieblingsfilm: Die 2, Magnum.

Ich schrieb meinen Eintrag am 9. Oktober 1989, acht Tage, bevor der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker von all seinen Ämtern zurücktrat, einen Monat, bevor die Mauer fiel. In meinem Eintrag ist keine Rede von den Veränderungen, die im Land vor sich gingen. Gleichaltrige in Berlin rannten auf die Straße, zündeten Kerzen an, doch in Eisenhüttenstadt bekam ich von den Montagsdemonstrationen nichts mit.

Trotzdem sind zarte Andeutungen des Wandels zwischen den Zeilen zu lesen. Bands oder Filme der DDR spielten für uns keine Rolle mehr.

Wie man die Zerrissenheit, die uns immer begleiten würde, schon damals hätte sehen können: Wir liebten Broiler und Bon Jovi, unsere Körper waren noch im Osten, die Köpfe schon im Westen. Ich schrieb:

Name: Sabine, 15 Jahre, Augenfarbe blau, Haarfarbe braun, Gewicht 53 kg, Hobbys: Lesen, schreiben. Lieblingsessen: Frikassee, Eis, Pommes. Lieblingsfilm: Harem (mit Ben Kings-ley). Lieblingsgruppe: Erasure, Eurythmics. Lieblingssänger: Weiß der Geier. Lieblingssängerin: Tijfany.

Es ist, glaube ich, nicht nötig zu sagen, dass ich mich nicht besonders gut mit Popmusik auskannte. Zu Hause lagen nur Platten von Wagner, Strauss und Beethoven, aus den Glanzzeiten der Oper. Ich mochte klassische Musik und hörte sonst nur, was im Radio lief.

Mein erstes Album, für das ich Geld bezahlt habe, war »Forever Young« von Alphaville, allerdings erst sechs oder sieben Jahre, nachdem es 1984 in Westdeutschland erschienen war. Im Sommer 1989 summten alle den Song »I Think we're Alone Now«, es war ein Remake eines Hits aus den Sechzigern, den eine junge Kalifornierin namens Tiffany vortrug. Ich glaube, ich mochte diese Tiffany gar nicht besonders.

In dem Video tanzte sie überall herum, in einem Einkaufszentrum, am Strand, im Auto, vor einem Flugzeug. Ich hasste es, wie ausgelassen und unbeschwert sie wirkte, als ob es toll wäre, jung zu sein. Ich war eine jener 15-Jährigen, die es nicht erwarten konnten, erwachsen zu werden. Ich trug trotzdem Tiffany ein, weil mir niemand anders einfiel.

So vergingen im Internat die Wochen. Unser Land zerfiel, und wir flüchteten uns in eine Art Facebook-Profil. Im Rückblick ist das Steckbriefheft ja nichts anderes als ein analoges Facebook. Wir wollten längst nicht mehr als Kollektiv wahrgenommen werden, sondern als individuelle Charaktere.

Die letzte Frage im Steckbriefheft lautete: Berufswunsch?

Die künftigen sozialistischen Persönlichkeiten träumten von bürgerlichen Berufen. »Unternehmer«, schrieb Ina. »Rechtsanwalt«, trug Conny ein. Ich schrieb: »Journalistin«.

Am besten gefällt mir Anjas Eintrag. Anja schrieb: »Über Indianer forschen und einmal 2-3 Monate mit Indianern leben«. Sie hatte längst begriffen, wie die DDR funktionierte, es war ein Indianerspiel.

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