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4  Die Tränen des Cowboys  

 

 

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24 Schüler gingen in die Klasse 9a, sie zerfiel in zwei gleich große Teile, die nie recht zusammenwachsen wollten, die Internatler und die Eisenhüttenstädter. Der Graben zwischen den Stadtkindern, für die sich mit dem Schulwechsel nicht viel verändert hatte und den anderen, für die etwas Neues begann, schloss sich nie. Wir hielten Abstand, freundeten uns nur mit Einzelnen an.

Eine von ihnen war Conny. Conny sah mit 14 aus wie zehn, sie war klein, mit einem schmalen, langen Gesicht, aber sie schien so viel erwachsener als ich. Conny nahm mich mit ins Trockendock, einen Jugendklub am Kanal. Es war eine düstere Garage, die Musik war überraschend fortschrittlich und elektronisch, Anne Clark und solche Sachen. Es gab Gruftis da, die ihre Augen schwarz geschminkt hatten und schwarze lange Kutten trugen. Sie tanzten, drei Schritte vor, drei Schritte zurück. Das war gewöhnungsbedürftig, so etwas hatte ich noch nicht gesehen.

Noch etwas unterschied Conny und mich. Ich interessierte mich nicht für Politik. Ich nahm die Unzulänglichkeiten des Staates hin wie Naturkatastrophen, die man nicht ändern konnte. Ich hielt mich pflichtbewusst an die Regeln.

Conny liebte die DDR, verteidigte sie gegenüber westdeutschen Verwandten, aber wenn ihr etwas nicht passte, dann schluckte sie das nicht herunter.

»Man muss aufstehen und sagen, was falsch ist an dieser Welt«, schrieb sie als ihr Lebensmotto in das Steckbriefheft. Es waren nicht nur leere Worte. Manchmal, wenn ihr ein größerer Schüler widersprach, kletterte sie auf einen Tisch und stritt weiter. Ich hörte ihr bewundernd zu. Sie konnte gut diskutieren. Während ich noch überlegte, Argumente hin und her wog und zu keinem Schluss kam, hatte sie schon eine Meinung. Sie war die Kleinste und die Mutigste in der Klasse. Bei ihr zu Hause diskutierten sie auch dauernd. Das kannte ich nicht.

Meine Eltern waren vorsichtiger. Alles wurde verklausuliert und flüsternd in Andeutungen verpackt. Manchmal verstummten sie plötzlich, wenn ich den Raum betrat.

Einmal hatte es im Dorf Ärger gegeben, weil mein Vater aus der Gewerkschaft ausgetreten war. Die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft war in der DDR Pflicht, doch mein Vater war ein Einzelgänger, er hasste den Kollektivdruck. Er wollte so wenig Berührungspunkte wie möglich mit dem Staat. Sein Austritt hatte Folgen: Erst kam die Gewerkschaftstante, dann kam der ABV, der Abschnittsbevollmächtigte, eine Art Dorfpolizist, ein Typ, der auf dem Moped in Uniform nach Hause knatterte, nachdem er aus der Kneipe kam. Er saß in unserem Wohnzimmer und redete auf meinen Vater ein: Er schade dem Kollektiv. Doch mein Vater konnte stur sein, und der ABV zog erfolglos wieder ab. Mein Vater wurde nie wieder bedrängt. Meine Eltern konnten nicht verhindern, dass ich die Auseinandersetzung mitbekam. Danach zischte meine Mutter in meine Richtung, dass ich das, was ich hier, in diesem Raum, gehört hatte, auf keinen Fall draußen erzählen durfte. Es gab drinnen und draußen.

Gleich am Anfang des Schuljahres in Eisenhüttenstadt gab es Ärger. Conny hatte eine führende Position in der FDJ.

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Dort hatte sie in einer Sitzung einen Witz erzählt. Es war die Zeit, in der viele Witze über das alte Politbüro machten. »Was hat vier Beine und sechzig Zähne? Ein Krokodil. Und was hat sechzig Beine und vier Zähne? Das Politbüro«, sagte Conny.

Es war kurz still, einige grinsten, dann ging der Sitzungsleiter zum nächsten Thema über. Am nächsten Tag musste Conny zu Frau Koschke, der gefürchteten Direktorin. Sie nannte Conny eine Staatsfeindin und drohte ihr damit, dass sie von der Schule fliegen würde. Sie sei auf dem falschen Weg und solle Selbstkritik üben, schärfte ihr die Lehrerin ein. Das Gespräch verschlug Conny für einige Tage die Sprache.

Sie erinnert sich heute, viele Jahre später, an die Wirkung des Gesprächs:

»Das Allerschlimmste an all dem war für mich, dass ich mich zunächst nicht traute, zu Hause davon zu erzählen, weil ich mir und meinem losen Mundwerk die Schuld an meiner Misere gab. Auch beschäftigte mich lange, dass die Direktorin es sogar geschafft hatte, dass ich mich vor meinen Eltern schämte. Mein Elternhaus war ein offenes und diskutierfreudiges; es bestand eigentlich keine Veranlassung, diesen Schlag in die Magengrube vor meinen Eltern geheim zu halten. Tage später erst erzählte ich am Abendbrottisch davon, als ich glaubte, die Wogen hätten sich etwas geglättet. Meine Eltern waren hell empört von den Anschuldigungen, dem Druck und der Einschüchterung, denen ich ausgesetzt gewesen war und gleichzeitig auch davon, dass ich erst so spät alles erzählte. Ihre unumschränkte und sofortige Unterstützung vertrieb meine allerletzten Zweifel daran, dass ich Opfer und nicht Täter war. Das gab mir Halt und Zuversicht zurück«, schreibt mir Conny in einem Brief.

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Die Geschichte, dass sie wegen eines Witzes von der Schule fliegen sollte, verbreitete sich schnell und sorgte für Unruhe. Ich bekam noch mehr Angst, wich Connys Blick aus. Ich hatte Angst, dass mein Pflichtbewusstsein, mein Anpassungsvermögen irgendwann nicht mehr reichen würden.

Conny war schnell über den Vorfall hinweg. Die Direktorin, Frau Koschke, wollte sie bloß verwarnen, ein Exem-pel statuieren, damit hatte sie uns anderen schon genug Angst eingejagt. Zur Feier des 40. Geburtstags der Republik am 7. Oktober 1989 durfte Conny mit einer Delegation von FDJlern nach Berlin fahren. Das Mädchen, das eben noch als Staatsfeindin galt, marschierte am 7. Oktober fähnchenschwenkend an der Tribüne mit Erich Honecker und Michail Gorbatschow vorbei.

So war die Zeit, voller Widersprüche.

Nach außen hin verbargen die Lehrer im Herbst 1989 ihre Zweifel, im Lehrerzimmer redeten sie schon offener. Lehrer an der EOS galten als Autoritäten, als Vorbilder und Repräsentanten des Staates, nur die Überzeugtesten durften hier unterrichten.

Das Verbot der Zeitschrift Sputnik hatte viele aufgeschreckt. Die deutschsprachige Ausgabe des Magazins hatte über Veränderungen berichtet, die Michail Gorbatschow in der Sowjetunion bewirkt hatte, die DDR-Bürger lasen darin auch erstmals über die Verbrechen Stalins. 1988 verbot die SED die Auslieferung des Magazins. Unter den Lehrern in Eisenhüttenstadt schlug die Nachricht ein wie eine Bombe. Etliche Lehrer waren empört darüber. Etwas geriet in Bewegung.

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Seit Mitte der achtziger Jahre durfte man in Ausnahmefällen zu runden Geburtstagen von Verwandten reisen. Eigentlich gehörte es sich nicht, als EOS-Lehrer in den Westen zu fahren. Die Parteisekretärin an der Schule sah das nicht gern, sie drohte, sprach von Verrat, aber ihre Macht schwand. In den letzten zwei Jahren vor der Wende stellten mehrere Kollegen Besuchsanträge. Davon durfte außerhalb des Kollegiums niemand erfahren. Drinnen und draußen, die Unterscheidung galt auch hier.

Auch unsere Lehrer, ihren Worten nach stramme Kommunisten, spielten ihre Rollen im Indianerspiel. Sie sprachen die Texte, die ihnen das Drehbuch vorgab, schimpften auf den Klassenfeind und verboten Westfernsehen. Und spürten doch den Widersinn des Spiels am eigenen Leib. Die einen schienen sich aufzuteilen, spielten professionell ihre Rolle weiter und reisten privat und heimlich in den Westen, grandiose Schauspieler auf der Schulbühne, die ein Doppelleben führten.

Anderen gelang das Doppelspiel nicht, sie ließen auch uns gegenüber Kritik durchblicken, eckten damit bei der Schulleitung an und rieben sich, unbemerkt von uns Schülern, an den Konflikten auf, bis sie daran zu zerbrechen drohten. 

Wieder andere versuchten das Spiel mit letzter Konsequenz durchzuhalten bis zum Schluss, sie sprachen und glaubten die leeren Parolen noch, als die Kulissen um sie herum mit dem Staat in sich zusammenbrachen. Meine Klassenlehrerin, Frau Wilke, war so eine, sie nannte Erich Honecker in einer Elternversammlung im Herbst 1989 sogar noch »den Landesvater«. Tausende flüchteten über Ungarn aus der DDR, und meine Klassenlehrerin kommentierte das mit den Worten: »Warum sagt der Landesvater denn nichts?« So rief sie über die Köpfe der verdutzten Eltern. 

So erzählt es meine Mutter. Frau Wilke kann sich daran nicht mehr erinnern. Selbstschutz der Psyche, vielleicht.

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Landesvater, das bedeutete Volkstümlichkeit, Nähe, Wärme. Nichts davon erzeugte Honecker. Honecker war ein Apparat-schik, eine Witzfigur. Niemand, der sich nicht absolut lächerlich machen wollte, nannte ihn Landesvater. Wenn man heute von Honecker als Diktator spricht, kann ich das nicht mit dem Bild zusammenbringen, das ich damals von dem Mann hatte, der in jedem Klassenzimmer hing. Er schien so gefährlich wie ein Opa, der sein Gebiss vergessen hatte.

Wie er beim 40. Geburtstag der Republik auf der Bühne stand und winkte, als würde er wirklich glauben, die Menschen würden ihm zuwinken, sah er aus wie ein Mann, der aus der Zeit gefallen war. Die Menschen hatten »Gorbi, Gorbi« gerufen. Sie winkten Michail Gorbatschow zu.

Auch das Internatsleben war nach den Regeln der Planwirtschaft organisiert. Selbst das Putzen wurde generalstabsmäßig angegangen. Wir lernten früh, dass man seinen Dreck selbst wegräumen muss. In jeder Wohngemeinschaft hing ein Zettel, der regelte, wer wann Bad, Flur und Küche sauber machte. Am beliebtesten war der Flur, der war klein.

Am Ende des Putztages ging die Erzieherin Frau Schinke mit einem Komitee von zwei Schülern durch die Räume. Ihre Inspektionen waren gefürchtet. Sie vergab Punkte, drei, zwei, einen oder null. Am Ende des Jahres bekam das Putzkollektiv mit den meisten Punkten eine Schachtel Konfekt. Die Jungs-WG bewertete sie stets besser. Die Jungs mussten nur ordentlich Staub saugen, schon bekamen sie drei Punkte. Donnerstag war Putztag. Der 9. November 1989 war ein Donnerstag.

Ich putzte nicht gern, mochte die Donnerstage aber trotzdem, denn sie vergingen schneller als andere Schultage. Erschöpft vom Wischen lagen wir an jenem Donnerstag zeitig im Bett, hörten Musik und redeten über unsere Pläne fürs Wochenende. 

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Wir ahnten nicht, dass uns das wahrscheinlich aufregendste Wochenende unseres Lebens bevorstand. Die großen Ereignisse kündigten sich nur vorsichtig an. Wir hörten Rias 2 aus Westberlin, unseren Lieblingssender. Nancy lag neben dem Recorder, jederzeit bereit, den Sender umzuschalten, falls die Erzieherin sich nähern würde.

Aber die Vorbereitung war unnötig, Frau Schinke kam an jenem Abend nicht. Die Putzkontrolle und auch die Lichtkontrolle um 22 Uhr fielen aus. Frau Schinke war sehr genau und pünktlich, sie hatte noch nie die Kontrollen ausfallen lassen, es hätte uns ein Zeichen sein können, dass es sich um eine besondere Nacht handelte.

Am Abend des 9. Novembers klang Rias 2 anders als sonst. Der Sender hatte kurz nach acht sein Programm kurzfristig geändert. Es lief keine Musik, es wurde nur geredet. Immer wieder war die Rede von einem »Reisegesetz«. Ich verstand nicht, was gemeint war. Wir unterhielten uns beiläufig darüber, was es bedeuten und ob es etwas mit den Flüchtlingen in Ungarn zu tun haben könnte. Wir hatten keine Ahnung und auch kein echtes Interesse. Nancy schaltete das Radio aus. Ich lag noch eine Weile wach und dachte an zu Hause. Die Schulwoche dauerte noch sechs Tage, am Samstagnachmittag würde mich mein Vater abholen. Meine Mutter dachte sich immer etwas Besonderes aus, wenn ich nach Hause kam, um mich zu überraschen. Vielleicht würde sie sogar Mohnkuchen backen, meinen Lieblingskuchen.

An dem Abend, der als der Moment in die Weltgeschichte eingehen sollte, an dem wir Ostdeutschen die Freiheit erlangten, an dem Abend lag ich im Bett in Eisenhüttenstadt. Während in Berlin die Menschen zu Tausenden auf die Straßen rannten, Volkspolizisten umarmten und immer wieder »Wahnsinn!« schrien, dachte ich an den Mohnkuchen meiner Mutter.

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Der Freitag, der 10. November, begann wie immer. Um sechs klingelte der Wecker, wir standen auf, wuschen uns, danach gingen wir in die Schule. In der Schulküche wurde für die Internatsschüler Frühstück gemacht. Auf einem Tresen lag geschnittenes Mischbrot, Margarine, Käse, Wurst, Vierfruchtmarmelade. Auf den Tischen standen große Kübel Hagebuttentee. Beim Frühstück erzählte eine andere Schülerin aus Ostberlin, dass ihre Eltern sie am Morgen angerufen hatten. Die Berliner Mauer sei offen, jeder könne rüber. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte das sofort begriffen, hätte meine Teetasse fallen lassen und wäre nach Berlin gefahren, um auf der geöffneten Mauer zu tanzen. Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber ich glaubte ihr kein Wort. Ich bin mit der Mauer aufgewachsen, sie war immer da gewesen. Ich konnte mir eine Welt ohne Mauer nicht vorstellen. Immerhin nahm ich mir vor, am Abend zur Tagesschau-Zeit in den Fernsehraum zu gehen.

Am Wochenende hatte es eine sehr große Demonstration auf dem Alexanderplatz gegeben. Ich hatte das im Fernsehen verfolgt. Dort redeten nicht die üblichen Wachsfiguren aus dem Politbüro, sondern Künstler, von denen ich schon gehört hatte, die Schriftsteller Stefan Heym, Christa Wolf, Christoph Hein, die Schauspielerin Steffi Spira. Ich erinnere mich an einen Satz, den Stefan Heym gesagt hatte. Am heutigen Tag sei ein Fenster aufgestoßen worden. Ein Fenster. Welches Fenster? Ich hatte vor dem Fernseher gesessen und nicht alles verstanden. Trotzdem merkte ich, dass sich etwas bewegte.

Freitags stand Staatsbürgerkunde auf dem Stundenplan. Der Lehrer, Herr Weinlein, ackerte und drillte uns, er paukte Statistiken ein, fragte die Jahreszahlen der Parteitage der SED ab und das Wirken der sozialistischen und kapitalistischen Produktivkräfte.

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Auch an jenem 10. November 1989 wollte Weinlein seinen Unterricht durchziehen, als wäre nichts gewesen. Er war dünn, trug Brille und sächselte. Die schlimmsten Lehrer sächselten immer.

Ich saß seinen Unterricht meistens ab, ich schaute aus dem Fenster und verbrachte die Stunde wie in Trance. Ich lernte gerade genug, damit es für eine Eins reichte.

Jemand meldete sich. Das folgende Gespräch gab einen Vorgeschmack darauf, wie sich die Machtverhältnisse zwischen Lehrern und Schülern umkehren würden. Es war, natürlich, Conny. Sie fragte den Lehrer, ob er nicht etwas zu den aktuellen Ereignissen sagen wolle. Ihr Ton klang herausfordernd, provokant. Herrn Weinleins Blick flackerte. Er wich aus. Conny ließ nicht locker. Ich staunte. Ich hätte mich das nie getraut.

Ich hatte bei meiner Jugendweihe-Rede Erich Kästner zitiert. Ein Mensch muss Kind bleiben, um erwachsen zu werden. Danach hatte es Ärger wegen Kästner mit der FDJ-Lei-tung gegeben. Das hatte gereicht, um mich zum Verstummen zu bringen.

Der Unterricht ging immer noch nicht los. Der Staatsbürgerkundelehrer berief sich auf den Lehrplan, den er einzuhalten habe. Die aktuellen Ereignisse kämen darin leider, leider nicht vor. Er könne da auch nichts machen.

Ich wartete darauf, wie Conny reagieren würde. Ich sah sie an, sie hatte ihren starren Blick. Ich kannte ihn, er verriet ihre Wut. Sie stammelte. Was jetzt kam, hatte sie sich nicht überlegt, es kam spontan.

Aber Honeckers Rücktritt. Aber die Demonstration auf dem Alexänderplatz.

Sie blickte den Lehrer herausfordernd an. Ich sagte nichts, niemand sagte etwas, niemand bewegte sich. Es war unheimlich still. Ich wartete darauf, dass Weinlein anfangen würde zu brüllen, zu schreien. Er musste etwas tun, wenn er nicht als Unterlegener aus diesem Gefecht hervorgehen wollte.

Alle fixierten den Lehrer. Was sich hier vollzog, war außergewöhnlich. Selbst die unbeliebtesten Lehrer hatten sich bisher darauf verlassen können, dass ihre Autorität nicht in Frage gestellt würde. Doch genau das passierte. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Ich hielt die Anspannung kaum aus. Es war ein Duell, das denen, die ich in den Romanen Karl Mays gelesen hatte, in nichts nachstand.

Weinlein war der Cowboy, Conny war Winnetou. Ich sah gebannt zu. Winnetou nahm den Cowboy ins Visier. Winnetou griff nach seinem Tomahawk und schleuderte ihn heraus. Conny hatte die besseren Argumente, sie redete immer weiter. Weinlein guckte ängstlich. Ein Cowboy hätte jetzt seinen Revolver gezogen. Weinlein hatte keinen Revolver.

Stefan Heym hatte auf dem Alexanderplatz gesagt, ein Fenster sei aufgestoßen worden. Unsere Fenster waren zu, und trotzdem schien eine frische Brise durch den Raum zu wehen. Ich bekam eine Gänsehaut.

Weinlein schwieg. Es sprach nur noch die Angst, in seinen Augen. Der Cowboy hatte seine Waffe verloren und er wusste es. Er schluckte, kämpfte mit den Tränen. Schließlich stürmte er aus der Klasse. Es war still im Klassenraum. Wir schlugen unsere Hefte zu.

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5  Jenseits von Eden

 

 

Das Besondere am 10. November, dem ersten Tag in Freiheit für die DDR-Bürger, war seine Unscheinbarkeit. Der Rest des Schultages verging unauffällig, nur das Bild vom weinenden Staatsbürgerlehrer würde in meinem Kopf haften bleiben. Am Abend ging ich in den Fernsehraum, um die Nachrichten zu sehen. Ich sah die jubelnden Erwachsenen, die meine Eltern hätten sein können, die sich aber viel ausgelassener und fröhlicher benahmen, als das bei Erwachsenen normalerweise der Fall war. Es war wie ein Rausch. Man hätte schon ahnen können, dass das nicht anhält und dass danach der Kater kommen muss. Ich schaute den tanzenden Menschen zu, ich fand das alles etwas seltsam. Die große Euphorie, sie sah von Eisenhüttenstadt betrachtet etwas irre aus.

Als ich klein war, sind wir öfter zum Einkaufen nach Ostberlin gefahren. Als ich neun oder zehn war, nahmen mich meine Eltern mit auf den Fernsehturm. Ich fuhr im Fahrstuhl die vielen Stockwerke hinauf. Oben stieg ich aus, ich traute mich kaum zu atmen, aus Angst, ich würde sofort hinunterfallen, obwohl mich vom Abgrund doch eine Kugel aus Stahl und Glas trennte. Nach einer Weile gewöhnte ich mich an die Höhe. Jemand sagte, guck mal, das ist der Westen. Ich war überrascht, dass dieser Westen, aus dem die Weihnachtspakete und Milka-Schokoladen kamen, so nah sein sollte, dass man ihn sehen konnte, ich hatte immer gedacht, es sei ein

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fernes Land, in das man viele, viele Stunden reisen musste. Dann schaute ich hinunter. Ich heftete meinen Blick angestrengt nach unten, ich fasste die Straßen ins Auge, aber ich sah nichts, fand nichts Besonderes. Von oben sah Westberlin genauso aus wie Ostberlin. Es war vielleicht gar nicht wirklich Westen, sondern nur so ein Überbleibsel, das irgendwann, wenn Unterdrückung und Ausbeutung verschwunden waren, auch vergehen würde.

Ich finde ein altes Schulheft. Papier war in der DDR knapp, das sieht man dem Heft noch viele Jahre später an, das Papier ist dünn und inzwischen gelb wie Zeitungspapier. Die Linien sind kaum mehr zu sehen. »Jenseits der Mauer - jenseits von Eden«, so überschrieb ich meine ersten Eindrücke von Westberlin im November 1989 in meinem Tagebuch. Ich lese und stutze. Ich weiß nicht, wie ich auf diese Überschrift gekommen bin. Ist das nicht ein Schlager von Drafi Deutscher, »Jenseits von Eden«? Was soll das überhaupt sein, Eden? Es klingt pathetisch, kitschig, ich fand das witzig, vielleicht dachte ich, ein Zitat des großen Volkssängers Drafi Deutscher wäre dem Ernst der Lage angemessen.

Am 12. November fuhren wir nach Westberlin, meine Oma, meine Schwester und meine Eltern. Wir quetschten uns zu fünft in den Dacia und fuhren über den Grenzübergang Dreilinden nach Berlin-Zehlendorf. Ich saß im Auto und beobachtete die Erwachsenen. Meine Mutter redete viel, um die Aufregung zu vertreiben. Meine Oma, die mit uns hinten saß, murrte: »Dass sie uns ja auch wieder rauslassen.« Mein Vater starrte auf die Straße, um seine Nervosität zu verbergen.

Die Grenzer machten sich nicht mal die Mühe, unsere Ausweise zu kontrollieren, sie winkten uns und die anderen Ostler durch - und plötzlich waren wir im goldenen Westen.

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Es war fast zu einfach gewesen. Ein Soldat hätte wenigstens bedrohlich mit der Waffe schwenken können.

Wir besuchten im Stadtteil Zehlendorf ein kinderloses Ehepaar, das uns regelmäßig Pakete zu Weihnachten geschickt hatte. Sie waren nicht verwandt, sondern auf verschlungenen Wegen mit meiner Mutter bekannt. Er war pensionierter Architekt, sie Hausfrau. Das Haus des Architekten lag in der Nähe eines Friedhofs, ringsherum standen Koniferen. Man war in der Stadt und trotzdem fühlte man sich sehr ländlich.

Eine kleine graue Frau öffnete die Tür und begrüßte uns so salopp, als würden wir jeden Sonntag zum Kaffee kommen. Wir betraten das Haus, ich schaute mich neugierig um. Aber die Fenster waren verhängt, ich konnte kaum etwas erkennen. Wir wurden ins Wohnzimmer gebeten, das sehr düster wirkte, mit dunklen, schweren Möbeln, die Wände waren mit Bücherregalen vollgestellt.

Die Frau des Architekten stellte uns Getränke hin, Sherry für die Erwachsenen, Saft für mich und einen Teller Butterkekse. Das fand sie offenbar der Situation angemessen. Die Ostler sollten nicht denken, dass es im Westen besonders üppig zugehe, dass es gar etwas zu holen gebe.

Es wirkte, als hätte die Frau des Architekten von dem Sherry selbst schon ein paar Gläschen getrunken. Sie fragte nun schon zum dritten Mal, wie die Fahrt war. Ich hatte den Eindruck, dem Architekten und seiner Frau war unser Besuch ein wenig unangenehm. Ich mochte auch den devoten Ton nicht, den meine Mutter gegenüber den Westlern anschlug. In langen Briefen bedankte sie sich für die Pakete, erwähnte jede Schokolade, jede Packung Tortenguss einzeln. Zu Weihnachten schickte sie selbstgebackenen Stollen und Plätzchen.

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Man hätte schon wissen können, dass es mit der inneren Einheit nicht so einfach wird, das Verhältnis von Ost und West war schon lange gestört.

Ich ärgerte mich über meine Mutter, die sich so klein machte, und ich verachtete die Westler, die sich groß machten.

Nach der Wende ließen sie uns fallen. Meine Mutter hatte gedacht, die West-Bekannten sehen uns als Freunde, dabei waren wir nur Steuerabschreibungen. Es waren künstliche Beziehungen, die sofort zerbrachen, als die Mauer fiel. Onkel Ulf aus Hamburg fuhr Anfang der neunziger Jahre lieber an den Plattensee nach Ungarn. Das sei günstiger und die Menschen seien dort dankbarer, ließ er uns per Ansichtskarte wissen. Man könnte sagen, er arbeitete strategisch weiter an der europäischen Einigung.

Der Architekt und seine Frau in Berlin-Zehlendorf entdeckten an jenem historischen Sonntag sofort die Vorteile des Mauerfalls für sich: Einen Gärtner und eine Haushälterin hatten sie schon. Aber der Gärtner könne leider kein Vogelhaus zimmern, das sie sich so wünschten. Ob mein Vater wohl? Er sei doch handwerklich so begabt. Da die Grenzen offen waren, könnte er den Transport auch gleich übernehmen.

Mein Vater war kaum eine Stunde im Westen und hatte gleich seinen ersten Arbeitsauftrag. Und die Westler sparten sich praktischerweise einen Handwerker. Der Mauerfall hatte sich schon gelohnt. Sie spielten weiter die Überlegenen. Und mein Vater sagte nicht nein, natürlich nicht.

Das meistgesprochene Wort eines Ostlers zu einem Westler lautete: ja.

Ich fühlte mich beengt in dem Wohnzimmer. Die Frau des Architekten gab uns noch ein paar Tipps, wir sollten nicht gleich unser Begrüßungsgeld auf einen Schlag ausgeben. Sie empfahl uns, morgens in die Zeitung nach Sonderangebo-

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ten zu schauen. Das mache sie seit Jahren so. Jetzt verstand ich, warum sie eine Haushälterin brauchte. Als wir nach einer Stunde gingen, waren alle froh. Ich sah den Architekten und seine Frau nie wieder.

Wir fuhren zum Ku'damm, den wir aus dem Fernsehen kannten. Alles wirkte seltsam vertraut und gewöhnlich, ich fühlte mich an die Fernsehserie »Drei Damen vom Grill« erinnert. Mit dem Westen, von dem ich träumte, den ich von Dickens und Maupassant kannte, hatte Westberlin nichts zu tun. Ich hatte mir alles etwas prächtiger vorgestellt.

Wir holten die Hundertmarkscheine von der Bank und setzten sie sofort um. Ich gab das ganze Geld allen Warnungen zum Trotz auf einen Schlag aus. Das war, glaube ich, das einzige Mal, dass ich eine Art Euphorie über den Mauerfall fühlte, als ich in einem vollgestopften Laden im Europacenter eine lilafarbene Jeansjacke von Levis für 99 DM kaufte. Gleichzeitig fühlte ich mich schmutzig, es war mir peinlich, dass ich mich wie die anderen Ostler an Waren berauschte.

Am Abend schrieb ich in mein Tagebuch:

Es war erschreckend, erdrückend, enttäuschend. Der große Jubel über die große Freiheit blieb aus. Etwas anderes hatte ich mir unter dem Westteil Berlins vorgestellt. Eine Weltstadt! Ein Witz. Ich dachte, dort ist alles ganz anders als bei uns, schön und gut. Es sieht wirklich überall aus wie bei »Drei Damen vom Grill«. Nur die Architektur ist abwechslungsreicher. Aber wer weiß, wie hoch die Miete ist. In manchen Teilen Berlins fühlt man sich wie in einem Dorf, wenn nicht die großen Kaufhäuser wären. Dort kann man alles kaufen von der Zahnbürste bis zum Blumentopf. Und in jedem Warenhaus sind die Preise anders. Man kann den ganzen Tag suchen, um das Billigste zu finden.

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Die Straßenverhältnisse sind mit unseren nicht zu vergleichen. Ein Trabbi kommt sich neben einem Mercedes verlacht vor. Genauso wie ein kleiner Trabbi fühle ich mich, wenn ich in der Commerzbank nach Begrüßungsgeld anstehe. Verlacht! Wenn ich meine Landsleute ansehe, schäme ich mich, das sind also die Produkte des Sozialismus. Wie die verhungerten Raubtiere, wie Bettler stürzen sie sich auf die Produkte des Westens, sogar auf Zeitungen und Taschentücher. Auch die Pornokinos sind voll besetzt.

Ich lese heute die Tagebuch-Auszüge, ich verstehe selbst nicht mehr, auf wen ich so wütend war. Auf die Raubtiere? Auf mich selbst?

Wenn ich alte Fernsehbilder aus der Zeit nach der Maueröffnung sehe, wirken die Menschen immer so euphorisch, gelöst, freudig. War es nicht die beste Zeit, um in der Pubertät zu sein? Mitten im Aufbruch? Waren die Jüngeren nicht die Gewinner der Wende?

Meine Aufzeichnungen scheinen nicht dazu zu passen. Ich spürte keine Freude, keine Aufbruchsstimmung. Die DDR, das Experiment, war nicht zu Ende gegangen. Es war abgebrochen worden. In meinem Kopf kreisten damals die Gedanken, wie es hätte sein können. Ein anderer, ein besserer Sozialismus.

Ich finde in meinen Tagebüchern ein nicht zu Ende geschriebenes Theaterstück, in dem ich das Verhältnis zwischen Ostlern und Westlern aufgreife, es geht um Unterlegenheit, um Siegerposen. Es spielt in Zürich, an einem fiktiven Hotel namens La Grande Belle. Als handelnde Personen tauchten ein Ostler namens Schulze, ein Schweizer Portier sowie der Russe Iwan Orgarowitsch und die Amerikanerin Gloria Glamour

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auf. Ich spiele das Ende des Kalten Krieges als Parodie durch. Alle machen sich über den Ostler Schulze lustig, sie verspotten ihn, weil sie glauben, dass er sich verlaufen hat, dass er nicht dort hinpasst, in diese glamouröse Welt des La Grande Belle. Der Schweizer Portier zieht ihn wegen seines Akzents auf, die Amerikanerin fragt, ob er hungrig sei und steckt ihm einen Zehn-Dollar-Schein zu, damit er etwas zu essen kaufen kann. Am Ende holt Schulze einen Packen Geld hervor und zahlt das Zimmer im Luxushotel in bar.

Ich schrieb weiter. Meine Geschichten spielten in Paris, in Chicago, an fernen Orten, die Heldinnen heißen Victoria, Antonia, Jane. So hieß niemand in der DDR. Die Veränderungen, die im Lande vor sich gehen, Volkskammerwahl, Währungsunion, Zwei plus vier, erwähne ich nicht. Sie sind für mich Nebensachen.

Die DDR verschwand, nur in Eisenhüttenstadt lebte sie weiter. Es schien, als habe der Mauerfall für unser Leben keine Bedeutung. Die Internatsleiterin lief immer noch im Kostüm herum und sprach von »ihrem« Internat, »ihren« Schülern, »ihren« Zimmern.

In der Kaufhalle stand plötzlich Zott-Joghurt und auf der Straße fuhren zwischen Trabis und Wartburgs auch alte VW und Fords. Der Neue Tag - die sozialistische Tageszeitung -wurde von einem Tag zum andern zur Märkischen Oderzeitung - überparteilich, unabhängig, überregional - und kostete immer noch fünfzehn Pfennig. Die ersten Westler, die nach Eisenhüttenstadt kamen, waren Versicherungsvertreter und Mormonen. Sonst kam niemand. Am Straßenrand standen reihenweise ausrangierte Schrankwände. Die Menschen dachten, wenn sie ihre Möbel rauswarfen, räumten sie die Vergangenheit gleich mit aus.

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Einmal wurde ich im neuen Penny-Markt in der Kreisstadt vom Ladendetektiv aufgegriffen. Er war sich sicher, dass ich eine Schachtel Zigaretten in meine Tasche gesteckt hatte. Ich weigerte mich, mit ihm mitzugehen, ich beteuerte meine Unschuld. Ich rauchte nicht. Er sagte, er müsse die Polizei rufen. So lange müsste ich warten. Im Übrigen glaubte er mir kein Wort, er vermutete, ich würde mit einem Freund operieren, der wahrscheinlich schon über alle Berge sei. 

Ich saß in der Ecke in ihrem Ladenbüro, ich trug eine abgewetzte Lederjacke, abgelaufene Schuhe und eine große Reisetasche. Wahrscheinlich stellten sich die Verkäuferinnen so Ladendiebe vor. Früher waren wir alle arm gewesen. Jetzt wurden Unterschiede gemacht. Wer arm und noch dazu jung war, machte sich verdächtig. Dabei hatte ich mir im Penny-Markt nur die Zeit vertreiben wollen, bis mein Bus ins Dorf abfuhr. Eine Polizistin kam, sie wühlte in meiner Reisetasche. Am Ende mussten sie mich gehen lassen.

Mein Vater verlor als Erster seine Stelle. Er arbeitete beim Verkehrs- und Tiefbaukombinat Frankfurt/Oder, das verschiedene Betriebsteile im ganzen Bezirk hatte. Als sein Sommerurlaub 1990 zu Ende ging, wurde ihm mitgeteilt, dass er nicht zurückkehren musste. Das Kombinat wurde nicht geschlossen, es löste sich auf, seine Werkstatt übernahm eine Firma aus Westberlin.

Mein Vater wurde nicht mehr gebraucht.

Mein Vater saß von da an zu Hause, er redete wenig. Wenn er etwas sagte, dann beschwerte er sich über das, was er »die neue Zeit« nannte.

Meiner Erinnerung nach markierte die Kündigung einen tiefen Einschnitt, eine existentielle Katastrophe, auf die niemand eingestellt war. In der DDR verdiente man als Schlosser fast so viel wie ein Arzt. Jetzt waren seine Fähigkeiten nichts

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mehr wert. Obwohl mein Vater später wieder einen Job in einer neuen Firma finden würde, verschwand die Verbitterung nie ganz. Die neue Stelle hatte er bis 1998, danach hangelte er sich von Umschulung zu Umschulung, von einem befristeten Job zum nächsten.

Wenn ich meinen Vater heute frage, ob ihn die Arbeitslosigkeit getroffen hat, dann antwortet er darauf nicht direkt. Es ist ihm unangenehm, über damals zu sprechen. Es gelingt ihm nur, als ich ihm einen Fragenkatalog per E-Mail schicke. Er habe damals unter der Arbeitslosigkeit nicht gelitten, teilt er mir mit. Mich überrascht das nicht. Er würde es auch nicht zugeben, wenn es anders gewesen wäre. Er kommt aus der Generation, in der Männer keine Schwäche zeigen. Er schreibt sachlich: »Ich habe die Tragweite der Situation nicht erfasst.« Er sei überzeugt gewesen, dass es weitergehe, irgendwie. »Hier in der DDR bleibt keiner auf der Strecke«, schreibt er weiter. Hier in der DDR.

Ich habe die Zeit ganz anders wahrgenommen.

Während mein Vater zu Hause war, hielt er sich an eine strikte Disziplin, er schlief nicht aus, sondern stand weiter um fünf Uhr morgens auf und machte sich eine Thermoskanne Kaffee, die er mit in die Werkstatt nahm, als würde er in den Betrieb gehen. Er zeigte sich nur zum Mittagessen, setzte sich an den gedeckten Tisch, drumherum wir Kinder, meine Mutter stellte einen warmen Topf hin. Sie gab meinem Vater zuerst, er fing an zu essen, mit hängendem Kopf, während wir anderen noch warteten. Alle schwiegen, man hörte nur das Geklapper der Messer und Gabeln. Meine Mutter versuchte, die Stille zu durchbrechen, schmeckt's, fragte sie. Mein Vater: unbeweglich, als gehöre er nicht dazu.

Es war, als würde er ohne eine Arbeitsstelle aufhören zu existieren. Früher kurvte er stolz mit seinem Betriebswagen,

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einem Barkas 100, herum, er holte mich damit von der Schule ab. Arbeitskollegen, die regelmäßig auf ein Bier vorbeikamen, ließen sich nicht mehr blicken.

Es gab auch keine Dienstreisen mehr nach Bukarest, auf die mein Vater einst geschickt wurde und von denen er mit einem fröhlichen Gesicht und einem Koffer voller Geschenke zurückkam: eine Puppe für mich, Weingläser für meine Mutter.

Mein Vater versteckte sich hinter den Türen seiner fensterlosen Werkstatt. Wie verkraftet man das als Kind, wenn die Eltern und Verwandten, das nächste Umfeld, plötzlich die Hoffnung verlieren?

Meine Tante, deren Verkaufsstelle aufgelöst wurde, saß im Nachbarhaus hinter zugezogenen Gardinen in ihrem Wohnzimmer. Wir hatten uns meistens über Bücher unterhalten, alle Werke, die ich gelesen hatte, stammten aus ihrem Regal. Nach der Wende hörte sie auf zu lesen. Sie wurde eine Andere, unsere Gespräche schliefen ein.

Das Geld wurde knapp. Meine Mutter dachte sich immer wieder neue Methoden aus, wie man Kohl und Kartoffeln zubereiten konnte. Für größere Anschaffungen, neue Möbel oder eine Urlaubsreise, gab es keinen Spielraum.

Mein Vater hatte viele Fähigkeiten, jeden Motor, der nicht mehr funktionierte, brachte er wieder in Gang. Im Haus verlegte er alle elektrischen Leitungen selbst und konstruierte eine Gasheizung. Doch er hat nicht gelernt, aus seinen Fähigkeiten eine Karriere zu machen. Das DDR-System forderte, dass man sich still verhält.

Auch für meine Mutter ist die Wende kein Aufbruch. Den Brief der Behörden, der ihr Studium beendete, hat sie 1987 verbrannt. Sie hatte niemandem von der Drohung erzählt und den einzigen Beweis vernichtet. 

Sie fühlte sich danach nirgendwo mehr sicher und zog sich in ihr Refugium zu Hause zurück. Wenn ich meiner Mutter damals Unternehmungen außerhalb des Dorfes vorschlug, brachte sie eine Liste von Hindernissen vor, zu weit weg, zu teuer, zu gefährlich. Sie interessierte sich für Politik, für Literatur, sie verpasste keine politische Sendung im Fernsehen, aber sie setzte keinen Fuß vor die Tür.

Das war vielleicht das Schwierigste am Aufwachsen in der Wendezeit: zu sehen, wie hilflos und gekränkt die Eltern waren. Wie soll man einen Platz in der Welt finden, wenn diejenigen, die einem dabei helfen sollen, selbst verloren waren?

Nicht allen ging es so wie mir, aber viele Väter und Mütter verloren damals ihre Arbeit. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wurden in den Jahren 1990 und 1991 rund 2,5 Millionen Ostdeutsche arbeitslos. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte verloren so viele Menschen in so kurzer Zeit ihren Arbeitsplatz.

Eine halbe Million Menschen verließ allein in den ersten zwei Jahren nach der Wende ihre Heimat, um anderswo Arbeit zu finden. Bis 2012 kamen aus Ostdeutschland mehr als 1,5 Millionen Wirtschaftsflüchtlinge in den Westen. Wer nach 1990 nicht wegzog, um woanders zu arbeiten, hangelte sich oft mit Mini-Jobs oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch. Depressionen und psychische Krankheiten breiteten sich aus. Besonders Männer, die ihr Selbstwertgefühl stärker aus ihrer Karriere, ihrem Marktwert ziehen, litten unter der Arbeitslosigkeit.

Damals war die Zeit, in der ich es nur schwer zu Hause aushielt. Ich fieberte dem Sonntagabend entgegen, wenn ich zurück nach Eisenhüttenstadt konnte. Im Zug traf ich meine Mitschülerinnen. Jede hatte ihre eigene Geschichte. Inas Familie sollte ihr Haus aufgeben, weil die alten West-Eigentümer zurückgekommen waren. Claudias Eltern wurden arbeitslos. Der Einzige, der begriffen hatte, wie die neue Zeit funktionierte, war Nancys Vater. Er wollte das größte Fahrrad der Welt bauen und damit ins Guinness-Buch der Rekorde kommen.

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