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6  Die Kunst besteht im Warten 

 

 

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Auf dem Rummelplatz war ich mal in einem Raum voller Spiegel. Ich ging hinein, erst forsch, dann vorsichtiger. Die Menschen, die mir in den Spiegeln begegneten, sahen verzerrt aus wie Monster, mit riesigen Köpfen und kleinen kurzen Beinen. Man hätte kleine Kinder damit erschrecken können. Ich ging weiter und stand kopf. Als wäre die Schwerkraft ins Gegenteil verkehrt. Der nächste Spiegel verschluckte Arme, Beine und Rumpf. Mein Kopf schwebte im Nichts, wie ein Geist aus dem Märchen, ein Aladin, aber ohne magische Kräfte. Ich erinnere mich, dass ich Schwierigkeiten hatte, den Weg zurück ins Freie zu finden.

Wenn ich an die erste Zeit nach dem Mauerfall zurückdenke, fällt mir das Spiegelkabinett ein. Ich hatte die Orientierung verloren. Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und lachte zu laut, wenn ich gegen eine Spiegelwand lief. Im Rückblick erscheint es mir, ich hätte sehen können, wie verloren ich war, wie unsicher ich durch die Gegend lief. Ich würde mich irgendwann an ein Bild klammern, das mir Halt versprach.

Ich beobachtete die Lehrer, wie sie sich bewegten. Wie langsam sie über die Gänge schlichen. Der Cowboy, den Conny aus dem Raum getrieben hatte, war wieder da. Der weinende Staatsbürgerkundelehrer.

Es war, als hätte er das Genre gewechselt und sei jetzt Held in einem Science-Fiction-Film, in dem Pillen verteilt werden, die die Vergangenheit vergessen lassen. Er war in ein neues Westler-Kostüm geschlüpft, feine Hemden, farbige Hosen, große Armbanduhr.

Ich sah ihm zu, wie er neue Merksätze von Ludwig Erhard an die Tafel schrieb: »Die Sozialleistungen in der DDR waren gemessen an der Produktivität viel zu hoch.« - »Arbeitslose sind völlig normal.«

Herr Weinlein war der neue Gesellschaftskundelehrer. Er wiederholte die neuen Phrasen mit der gleichen Überzeugung wie die alten. Aus »Frieden und Sozialismus« wurde »Demokratie und Toleranz«. Beides klang gleich hohl und leblos. Ich fand alte Aufzeichnungen: Im März 1989 verteidige ich den Mauerbau als antifaschistischen Schutzwall. Ein Jahr später ist der Mauerbau ein Akt der Unmenschlichkeit. Ich kam bei dem Tempo nicht mehr mit.

Es stieß mich ab, wie leicht Weinlein von einem System ins nächste glitt, gleichzeitig war ich merkwürdig fasziniert. Ich stand vor den verzerrten Bildern und konnte nicht wegsehen. Die Macht des Spiegelkabinetts.

Der Staatsbürgerkundelehrer verschwand im Frühjahr 1990. Er kam von einem Tag zum anderen nicht mehr in die Schule. Natürlich gab es sofort die abenteuerlichsten Gerüchte. Es hieß, dass er vor einer Stasi-Überprüfung geflohen war. Er arbeitete angeblich als Versicherungsvertreter. Sein neuer Chef sei ein ehemaliger Stasi-Hauptmann. Aber das waren nur Gerüchte. Weinlein blieb verschwunden, der alte Deutschlehrer übernahm.

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Es ist zwanzig Jahre später nicht genau zu klären, was damals wirklich passierte. Mir leuchtet folgende Erklärung am meisten ein: Herr Weinlein hatte die neuen Meinungen zu schnell übernommen. Es wurde eine Schulkonferenz einberufen. Weinlein musste sich rechtfertigen. Die, die dabei gewesen sind, sprechen von einem »Tribunal«. Das schlimmste Verbrechen in Eisenhüttenstadt im Frühjahr 1990 war es, sich zu schnell anzupassen. Wendehälse nannte man solche Leute. Es reichte damals zu wissen, was man nicht sein wollte: kein Wendehals, kein Stasi-Hauptmann, kein Arbeitsloser.

Ich beobachtete die Veränderungen an unseren Lehrern. Die Russischlehrerin, die das gleiche Engagement, das sie früher in den Unterricht gesteckt hatte, jetzt in eine New-Age-Bewegung steckte, Herr Weise, der sich mehr und mehr zurückzog und zur aktuellen Lage uns Schülern gegenüber nie Stellung bezog, Frau Wilke, die sich nicht mehr traute, im Unterricht hart durchzugreifen.

Im Lehrerzimmer schienen sie damals die Direktoren zu klonen. Dauernd kamen neue heraus. Man verlor schnell den Überblick. Frau Koschke, die Direktorin, vor der alle Angst hatten, ging, und eine Frau, die ihr aufs Haar glich, übernahm als neue Direktorin. Die neue Frau Koschke trug dieselben Röcke, dieselbe Frisur und dieselben Ansichten im Kopf wie die alte Frau Koschke. Die neue Frau Koschke hieß Frau Heinrich und war die ehemalige Parteisekretärin. Den Mauerfall erlebte sie, als sie auf einer Parteischulung war. Parteisekretäre, die anderswo entlassen wurden, bekamen bei uns eine Beförderung. Die DDR wurde gerade zusammengefaltet, bei uns wurde sie wieder ausgepackt. Wie das passieren konnte, kann heute auch niemand mehr so richtig erklären. Vielleicht wurde sie dazu gezwungen, weil niemand anders den undankbaren Job machen wollte. »Es war Anarchie«, sagt mein damaliger Geschichtslehrer, Herr Weise, viele Jahre später.

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Am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, schrieb ich in mein Tagebuch: Meine lieben Landsleute, sagt Kohl. Er ist nicht mein lieber Landsmann!! Mein Land gibt es nicht mehr. Und ich kann nichts dagegen tun. Ich weiß, dass wir keinen richtigen Sozialismus hatten, aber wir hätten es probieren können. Aber wir sind ja nur die doofen Ossis! Dieser heutige Tag bedeutet mir nichts!

Ich verstehe nicht, warum ich so wütend war. Nicht alle waren wütend, aber viele waren enttäuscht. Es gab eine Zeit lang die Träume der bärtigen Bürgerrechtler, eine andere DDR aufzubauen. Es war nur ein schöner Traum. Heute mögen das einige bestreiten, aber ich weiß, dass ich damals niemanden kannte, der sich über die Wiedervereinigung freute.

Als ich später im Ausland gefragt wurde, wie ich den Nationalfeiertag feiere, antwortete ich, dass ich niemanden kenne, der den 3. Oktober feiert.

Es ist nur ein freier Tag, an dem man sich ausruhen, mit dem Neffen Fußball spielen, in eine Ausstellung gehen, eine ganze Serienstaffel auf DVD gucken kann.

Doch, einmal wurde ich auf eine Einheitsfeier eingeladen. Es war eine Party, die die deutsche Botschaft in London organisierte. Ich erinnere mich an die Villa im feinen Belgravia, ein roter Teppich, der über der Treppe lag, ein Raum voller Nadelstreifenanzüge, die Männer waren Chefs deutscher Sparkassenbüros in London, zogen sich jetzt aber so an wie englische Banker. Ich sah den Westlern zu, wie sie die Einheit feierten. Sie feierten sich selbst. Der Botschafter, ein jovialer, aufgeräumter Schwabe, tänzelte über den dicken Teppich. Die philippinischen Hausdiener in Livree servierten den Herren frisch gezapftes deutsches Bier und Buletten. Marius Müller-Westernhagen stand in der Ecke und aß ein Würstchen.

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Vielleicht gab es keine prominenten erfolgreichen Ostdeutschen in London. Dann fiel mir Michael Ballack ein, Neuzugang beim FC Chelsea, ich hoffte fast, er würde kommen, obwohl ich Chelsea nicht mochte und obwohl Ballack auf mich den Eindruck machte, dass er eigentlich kein Ostler mehr sein wollte, sondern Münchner, aber er kam trotzdem aus Karl-Marx-Stadt. Michael Ballack kam nicht, nur der Torwart Jens Lehmann mit seiner Frau. Ich blieb die einzige Ostdeutsche. In der BBC sollte ich erzählen, wie ich die Wende erlebte, damals. Sie wollten unbedingt hören, wie toll es gewesen war, auf der Mauer zu tanzen und plötzlich in Freiheit zu leben. Es war schwer zu vermitteln, dass ich nicht auf der Mauer getanzt habe. Dass die Wende viel länger dauerte als eine Nacht im November '89.

Nach und nach verschwand der alte Staat, aber der neue war noch nicht entstanden. Kombinate wurden aufgelöst. Straßenschilder abmontiert, Gebäude geleert. Nach ein paar Jahren sah man überall frisch geteerte Straßen, pink und gelb gestrichene Plattenbauten.

Überall wurden Schulen geschlossen, zusammengelegt und umbenannt. Zwanzig Jahre später sollten sie wieder geschlossen, zusammengelegt und umbenannt werden. Erst dann würde man die Schulen, in denen die Kinder so lange wie möglich zusammen lernten, wieder schätzen. Aber sie durften nie wieder polytechnische Oberschulen genannt werden. Sie mussten Gemeinschaftsschulen heißen. Gemeinschaft, dagegen konnte niemand etwas haben.

Ich registrierte das alles wie in Trance. Alles, was bisher richtig war, galt nicht mehr. Wir hatten, und das wurde mir erst langsam klar, das falsche Leben gelebt, nicht nur meine Eltern, auch ich, mit meinem stillen Ehrgeiz, meinen großen Plänen.

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Wir zogen in ein neues Schulgebäude, es schien größer, ich irrte durch die Flure, fand die Klassenräume nicht mehr. Neue Schülerinnen und Schüler kamen in unsere Klasse, ohne dass sie eine Aufnahmeprüfung bestehen mussten. Wir sollten ein Gymnasium werden, aber ich konnte mich nicht darüber freuen, denn die Talente-Klasse wurde abgewickelt. So wie die Kombinate, die Kinderkrippen, die Polikliniken. Wir, die Internatsschüler, waren ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit.

Das Talente-Förder-System der DDR galt auf einmal als unmoderner Drill, Leistungsdenken war verpönt.

Ich erinnere mich an den Satz meiner Klassenlehrerin, der wahrscheinlich beruhigend klingen sollte. Ihr werdet trotzdem euer Abitur machen können, versicherte sie uns Zehnt -klässlern. Leider sei noch nicht klar, ob das Abitur auch im Westen anerkannt würde.

Ich fühlte mich gekränkt, ich nahm das alles persönlich. Als ich in der Schule aufgenommen wurde, war mir Sicherheit versprochen worden.

Niemand brauchte jetzt mehr die Talente der DDR. Es wirkte so, als seien wir gerade noch gut genug, um einen Traktor über die Felder zu fahren. Wie die meisten Menschen war ich davon ausgegangen, dass das Leben eine gute Zukunft für mich plante. Die DDR war nicht perfekt, aber man musste sich nicht um Arbeit, Wohnung und das Gesundheitssystem sorgen. Ich war davon ausgegangen, dass ich studieren und einen guten Arbeitsplatz finden werde, fetzt war ich mir nicht mehr so gewiss. Dazu kamen ganz praktische Probleme, die sich zu unvorhergesehenen Hürden entwickelten: Zu DDR-Zeiten war das Internat kostenlos, nun musste man jeden Monat rund 85 D-Mark für die Unterkunft überweisen. Dazu kamen Fahrgeld und Essensgeld. Wie sollte ich das bezahlen?

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Das neue Punkte- und Kurssystem war kompliziert. Ich habe es bis heute nicht verstanden. 

Die Lehrer schrieben kaum noch Kontrollen, weil es zu viel Arbeit machte. Sie wurden angehalten, keine schlechten Noten zu vergeben. Sie kamen mit einem Stapel Kopien unter dem Arm in den Raum, Schulbücher gab es lange Zeit nicht, weil die westdeutschen Verlage mit dem Drucken nicht hinterher kamen. Es durften nicht einmal mehr die Mathebücher des unterlegenen Systems verwendet werden. Die Lehrer standen vorn an der Tafel und zogen ihren Unterricht durch. Sie waren von den Umwälzungen so überrascht wie wir.

Sie schauten uns an, aber sie sahen uns nicht. Sie waren sich ihrer neuen Rolle nicht sicher. Früher durften sie Schüler, die den Unterricht störten, verwarnen, jetzt musste man vorsichtiger sein. Es gab die Parole von oben, möglichst alle Schüler mitzuziehen, Auffälligkeiten zu übersehen.

Strafarbeiten und Nachsitzen galten auf einmal als verpönt, als »Stasi-Methoden«. »Alle Staatsbediensteten der DDR wurden mit der Stasi gleichgesetzt, wir wurden degradiert. Der Ansehensverlust reicht bis heute«, klagt eine pensionierte Lehrerin, die ihren Namen nicht nennen will.

Die Lehrer liefen durch die Gänge, als läge eine schwere Last auf ihren Schultern, über die sie mit niemandem reden können. Sie mussten um ihre Stellen fürchten, sie hatten sich beim Schulamt neu beworben, mit Anschreiben und Lebenslauf. Manche waren überfordert, andere traurig oder wütend.

Später treffe ich meine ehemalige Englischlehrerin, Frau Mai, die damals mit uns Pet Shop Boys gehört hat. Nach der Wende wirkte sie manchmal überfordert.

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1992 kamen zwei Neue in unsere Klasse, die ein Austauschjahr in den USA verbracht hatten. Ihr Englisch war viel besser als das der Lehrerin. Ich erinnere, wie sie hinten in der Bank saßen, Grimassen schnitten und sich über die Aussprache von Frau Mai lustig machten. Wenn sie etwas davon mitbekam, ließ sie es sich nicht anmerken.

Zwanzig Jahre sind vergangen, aber sie hat sich äußerlich kaum verändert. Derselbe dynamische Schritt, dieselbe direkte Art, diesselbe helle Stimme. Sie erinnert sich so:

»Einmal haben wir eine Schulung von Lehrern aus Nordrhein-Westfalen bekommen. Ich fand es schrecklich, dass wir kritiklos alles übernehmen mussten. Später habe ich in einem Gymnasium in Berlin-Steglitz im Englischunterricht hospitiert. Es gab kein Klingeln zu Stundenbeginn, das war schon mal komisch. Ein Schüler stand mitten im Unterricht auf, ein anderer biss in ein Brötchen, der Nächste trank aus einer Flasche Cola. Das war alles erlaubt. Es gab eine klare Aufteilung: Die, die arbeiten wollen, saßen vorn, die anderen hinten. Das waren wir nicht gewöhnt, dass auf Störungen nicht eingegangen wird. Ein anderer West-Lehrer riet mir: die Kunst besteht im Warten. Ich dachte, wenn das bei uns so wird, dann höre ich auf.«

Sie hat dann doch nicht aufgehört, sondern hat angefangen Latein als neues zweites Fach zu studieren, weil nur noch wenige Russisch lernen wollten.

Ich habe damals von den inneren Kämpfen der Lehrer nichts mitbekommen. Ich hatte alle möglichen Gefühle: Angst, Gleichgültigkeit, Enttäuschung, aber das zeigte ich nicht. Man wurde eher in Ruhe gelassen, wenn man seine Pflicht erfüllte, da hatte sich nichts geändert. Da waren wir ganz pragmatisch.

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Meine Russischlehrerin aß nur noch Rohkost. Sie futterte sich durch das neue westliche Warenangebot, Bananen, Orangen, Papayas und Kiwis und selbst Erdbeeren konnte man im Winter kaufen, obwohl die Ersten schon vor dem Ozonloch warnten.

Sie erinnerte mich an eine Figur aus dem Struwwelpeter-Buch, den Mäkelfritzen, der nur noch Stachelbeeren aß, bis ihm die Nadeln aus der Haut wachsen.

In das Leben meiner Russischlehrerin war ein neuer Mann getreten. Er hieß Harvey Diamond und hatte ein Diätkonzept namens Fit for Life entwickelt. Er lehnte Medikamente als Gift für den Körper ab und lehrte, dass der menschliche Körper sich selbst heilen kann. Er empfahl, rohes Obst und Gemüse statt Fleisch zu essen. Seine Bücher verkauften sich in rund 14 Millionen Exemplaren und wurden in 33 Sprachen übersetzt.

Harvey Diamond versorgte meine Russischlehrerin in seinen Büchern nicht nur mit Speiseplänen, sondern auch mit Lebensweisheiten. »Verändern Sie Ihr Leben!«, »Sie sind selbst für Ihr Leben verantwortlich!«, »Nehmen Sie Ihr Glück selbst in die Hand!«.

Die Lehrerin funktionierte unsere Russisch-Klasse zu Fitfor-Life-Seminaren um. Sie schwärmte, wie viel jünger und vitaler sie sich fühle. Ich habe ein Bild im Kopf, wie sie einmal Gymnastik-Übungen vormachte, in einem blauen Kleid machte sie den Hampelmann. Komischerweise fanden wir es überhaupt nicht seltsam, dass unsere Russischlehrerin den Hampelmann machte. Es passte ins Bild.

Harvey Diamond war ein amerikanischer Selbsthilfe-Guru, und es passte gut zum neuen System, wie er den Glauben an eine zweite Chance, ein Ur-Dogma des Kapitalismus, propagierte. Ich kann verstehen, wie anziehend das auf Menschen wie meine Lehrerin gewirkt haben muss, die nach neuen Werten suchten. Auch wenn die Regeln von Fitfor Life nicht gerade überraschten: Dass Obst und regelmäßige Bewegung gesund waren, wusste jedes Kind.

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Für meine Russischlehrerin war Fitfor Life dennoch eine Offenbarung, ein Weg zur Selbstfindung.

Eisenhüttenstadt war eine Stadt, die nicht zum Sitzen in Cafes oder zum Flanieren gebaut worden war, sondern eine Stadt zum Marschieren. Es gab keine verwinkelten Gassen, keine romantischen Treppen, dafür gab es jede Menge Aufmarschplätze. Man marschierte an den Geburtstagen der Republik und um an den Sieg der Arbeiterbewegung zu erinnern. Platz für Panzer gab es genug. Der Krieg hatte etwas sehr Aufgeräumtes. 1991 marschierten wir wieder. Wir lebten in einer merkwürdigen Zwischenwelt. Die Leninallee heißt jetzt zwar Lindenallee, aber die Feindbilder ließen sich nicht so schnell wie die Straßenschilder ändern.

Der Irak hatte Kuwait besetzt, und die USA schritten nun ein, um den Irak zu vertreiben. Die ganze Schule versammelte sich morgens in der Lindenallee. Es war fast wie früher beim Fahnenappell. Ich hasste diese Zwangsveranstaltungen und ich hatte insgeheim gehofft, dass damit nach der Wende Schluss sei. Ich fühlte mich nicht imstande, eine Meinung zur Lage in Kuwait zu haben, wenn ich nicht mal wusste, wo Kuwait lag.

Meine Hoffnung, dass die neue Freiheit darin bestand, dass man auch mal keine Meinung haben konnte, verflog.

Alle gingen. Ich sah meine Mitschüler, einige hatten Kerzen, Plakate und Transparente dabei. »Kein Blut für Öl« stand auf einem Plakat, »Nieder mit dem Imperialismus der USA« auf einem anderen. Ich glaube, sie demonstrierten mehr aus Gewohnheit, denn aus Überzeugung.

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Ein Reporter der Lokalzeitung protokollierte anschließend, dass die Schüler des Gymnasiums Eisenhüttenstadt an die irakischen Machthaber appellierten, sich aus Kuwait zurückzuziehen. Die irakischen Machthaber ließen sich aber nicht beeindrucken. Zwei Tage später begann die Operation Desert Storni. Es war der erste Krieg, den ich im Fernsehen verfolgte.

Im Herbst 1991 bekam die Schule einen neuen Direktor, der dritte in zwei Jahren.

Aus heutiger Sicht stellt man sich gerne vor, dass nach der Wende sofort neue Leute in die Ämter kamen, unverbrauchte Gesichter, kleine Freiheitslehrer. Aber in Eisenhüttenstadt und vielen anderen ostdeutschen Städten gab es solche Leute nicht. Es wird oft vergessen, dass die DDR nicht mehrheitlich aus Bürgerrechtlern bestand, die nur darauf warteten, Gerichte, Polizei und Schulen aufzubauen.

In Eisenhüttenstadt gab es nicht einmal eine nennenswerte kirchliche Opposition, aus der man Personal hätte rekrutieren können. Westler trauten sich schon gar nicht in das Niemandsland an der polnischen Grenze. Einmal kam eine Referendarin aus dem Westen ans Gymnasium. Sie hielt es ein halbes Jahr aus.

Also nahm man die, die schon da waren. Das Schulamt leiteten 1991 zwei Blockflöten, einer von der CDU, einer von der NDPD, zwei Parteien, die in der DDR zwar erlaubt waren, aber nichts zu sagen hatten. Diejenigen, die mit der SED unter einer Decke steckten, waren dafür verantwortlich, die Schulen zu reformieren und den Nachwuchs zu Toleranz und Freiheit zu erziehen. Man darf annehmen, dass sie versuchten, ihre Arbeit anständig zu machen. Sie wählten Jörg Weise aus. Er war auch nicht gerade unbelastet, aber er war verlässlich. »Wir kennen uns schon seit vierzig Jahren, du machst uns keinen Ärger, du musst das machen«, sagten sie ihm.

Unter Weise wurde das Gymnasium umgebaut, man wirbt heute mit »Weltoffenheit, Tradition, Sprachkompetenz und naturwissenschaftlichem Profil«, wie es auf der Website heißt. 1996, als ich bereits in Hamburg lebte, kam sogar der damalige Bundespräsident Roman Herzog und weihte das »Albert-Schweitzer-Gymnasium« ein. Dass die Schule vor der Umbe-nennung zum Gymnasium 1991 eine EOS war, dass die Schule vor 1991 überhaupt existierte, das wird nicht erwähnt. Es ist, als ob die Vergangenheit nicht existierte. So viel zum Traditi-onsbewusstsein.

1992 endete eine Ära. Es gab keine Talente-Klasse mehr, also kamen auch keine neuen Internatsschüler hinzu. Das Internat wurde nicht mehr gebraucht. Ich gehörte zu den letzten, die übrig blieben, für uns wurden ein paar Zimmer im Lehrlingswohnheim frei geräumt. Ich mochte das Gebäude nicht. Ich vermied die Gemeinschaftsküche, die wir uns mit künftigen Fleischern und Krankenschwestern teilten. Sie hatten es richtig gemacht, Krankenschwestern und Fleischer würden immer gebraucht.

Das Gebäude war ein langer Schlauch mit glänzendem, stets frisch gebohnert aussehendem Linoleum, rechts lagen die Gemeinschaftsduschen, von dem langen Flur gingen viele kleine Türen und Nummern ab, eigentlich eher amerikanisch. Die Regeln von früher waren weg, die Verbote, aber auch das Gemeinschaftsgefühl. Jeder machte von nun an sein eigenes Ding. Ich sah meine alten Mitbewohnerinnen nur noch selten. Ich freundete mich mehr mit Marlene an, dem Mädchen, das Turbo Pascal programmieren konnte. Uns einte, dass wir das Interesse an der Schule verloren.

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7  Temple of Love

 

 

Eines Tages wurden wir, meine Freundin und ich, von zwei jungen Männern angesprochen. Beide fielen in Eisenhüttenstadt sofort auf: Sie trugen graue Anzüge, weiße Hemden und Krawatten. In Eisenhüttenstadt trugen nur Versicherungsvertreter Krawatten. Aber sie waren keine Versicherungsvertreter. Sie stellten sich als Jim und Michael aus Amerika vor. Obwohl mich meine Mutter immer davor gewarnt hatte, mich von Fremden ansprechen zu lassen, blieb ich sofort stehen.

Marlene und ich waren damals 16 oder 17 Jahre alt, und wir hatten bisher keinen einzigen Amerikaner kennengelernt. Wir kannten überhaupt keine Ausländer. Jim und Michael sahen nett aus und wirkten kaum älter als wir. Während wir unser Schulenglisch ausprobierten, warfen wir uns ungläubige Blicke zu. Wir fühlten uns wie Auserwählte.

Jungs kennenzulernen war in Eisenhüttenstadt schwierig. Die vier in unserer Klasse waren aus verschiedenen Gründen indiskutabel. Wir schauten in der Pause zu den älteren Jungs aus der 12. Klasse rüber, aber für die waren wir uninteressant. Unsere Klasse hatte in der Schule einen Spitznamen: »die Hässlichen«. Das erfuhr ich erst Jahre später, ich fand es erst ein bisschen gemein. Aber dann schaue ich mir noch mal alte Fotos an und ich sehe die unbeweglichen Gesichter, mit denen wir in die Kamera gucken und ich verstehe, woher der Spitzname kam. Schlechte Frisuren hatten wir alle, auch die

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glücklichen, selbstbewussten Teenager, aber mich überrascht vor allem etwas anderes, wie verstört und verzweifelt wir damals aussahen.

Die Unsicherheit der Zeit spiegelte sich auch in den Mienen und machte uns hässlich.

Mein Liebesleben war bisher enttäuschend verlaufen. Meine Zimmergenossin ließ die Pille offen herumliegen, es schien mir wie eine Mahnung an meine eigene Rückständigkeit. Ich war schüchtern, ich las zu viele alte Bücher, die Vergangenheit erschien mir lebendiger als die Gegenwart. Ich machte Witze darüber, wie altmodisch ich sei.

Nach Charles Dickens, den Bronte-Schwestern und Thomas Hardy war ich bei Guy de Maupassant hängengeblieben. Bei den Engländern endete die Geschichte meist mit einer Hochzeit. Bei den Franzosen fing die Geschichte damit an. Die Ehe, ein Fiasko. Ich hatte keine gute Meinung von der Liebe.

Ich las mich durch die Bücherregale meiner Tante. Jedes Wochenende ging ich zu ihr und bediente mich, auch wenn sie längst aufgehört hatte, sich für alte Bücher zu interessieren. Ich verbrachte das Wochenende eingerollt auf einem alten Sessel mit einem Buch in der Hand. Nur zum Essen bewege ich mich heraus.

Mein damaliges Lieblingsbuch, das ich dreimal gelesen habe, handelte von einer gewissen Jeanne. Jeanne ging auf eine Klosterschule, sie wurde mit dem erstbesten Grafen, der sie gut findet, verheiratet. Sie war sehr verliebt und merkte zu spät, dass er kein guter Mensch war.

Die beste Stelle war, als sie mitbekommt, dass ihr Mann das Dienstmädchen geschwängert hat und dieses Kind bei ihr im Haus zur Welt kommt. Das war für Jeanne ein Schock. Aber sie drehte nicht durch, sie blieb ganz ruhig. Dabei ist sie erst 18. Das Buch ging darum, wie sie später im Leben zu sich selbst und innerer Freiheit findet.

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Das Buch war eigentlich nichts für 16-Jährige, und ich bin nicht sicher, ob ich wirklich alles verstand, aber ich kam mir sehr reif und erwachsen vor, als ich es las. Als ob ich von den großen Gefühlen wüsste, die die Menschen durch die Geschichte treiben.

Auch Maupassants irres Leben faszinierte mich. Er nahm Drogen, schlief mit unzähligen Frauen und starb mit 43 an Syphilis. Ich musste im Lexikon nachschlagen, was Syphilis war und wurde rot, als ich die Stelle las.

Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, es hat mit den Amerikanern, die meine Freundin und ich auf der Straße trafen, nichts zu tun. Wir standen mit Jim und Michael zusammen und unterhielten uns. Nach einer Weile baten sie uns, ob sie mit ins Wohnheim kommen dürften. Wir nahmen sie mit.

Michael und Jim wirkten sympathisch und höflich, viel höflicher als die Jungs, die wir kannten. Außerdem gab es sonst keinen Ort, an dem wir uns hätten hinsetzen können. Cafes gab es nicht und für die Kneipe waren wir zu jung. Niemand hielt uns im Lehrlingswohnheim auf, niemand fragte, was wir mit den Fremden in unseren Zimmern wollten.

Wir betraten das Zimmer meiner Freundin, weil ihre Mitbewohnerin nicht da war. Die beiden Amerikaner setzten sich auf die Betten. Meine Freundin und ich nahmen auf den Stühlen Platz. Ich stellte Fragen. Ich wollte wissen, woher sie kamen und wie es sie ausgerechnet nach Eisenhüttenstadt verschlagen hatte. Sie beantworteten die Fragen zögernd, so als ob sie dauernd überlegten, was sie sagen dürften und was nicht.

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Sie sagten, dass sie Mormonen seien und jeder Mormone die Pflicht habe, ein Jahr nach der Schule seiner Kirche als Missionar im Ausland zu dienen. Sie hatten ihre Schule kürzlich beendet und ihre Kirche hatte sie nach Germany geschickt. Es gebe da einen Ort an der polnischen Grenze. Aisenchuttenschdaaad. Sie kannten Munich, sie kannten Bör-lin, aber von Aisenchuttenschdaaad hatten sie noch nie gehört. Es klang nach einem Abenteuer.

Ich sah Michael und Jim an und ich konnte mir vorstellen, wie sie morgens ihre Missionsuniformen gebügelt hatten, die Männer müssen Anzüge mit Hemd und Krawatte tragen, das schrieb ihnen ihre Kirche vor, wie sie ihre Namensschilder auf das frisch gebügelte Jackett gesteckt hatten, Eider Michael, Eider Jim. Wie sie am Frühstückstisch über ihre Route durch die Stadt geredet haben, die sie wieder zu Fuß ablaufen würden. Erst Wohnkomplex 1, dann Wohnkomplex 2, dann Wohnkomplex 3. Sie fühlten sich fremd in ihrer neuen Stadt, aber auf eine anregende, gute Weise. Sie fanden es lustig, dass die Wohnkomplexe keine Namen hatten, nur Zahlen. Vielleicht erinnert es sie an Science-Fiction.

Vielleicht erinnerte sie der Ort auch an ihre amerikanischen Städte, die ebenso für einen neuen Menschentyp aus dem Boden gestampft worden waren, ohne Tradition, ohne Erinnerung, nur auf die Zukunft gerichtet.

Hier, in Aisenchuttenschdaad, war alles nur etwas grauer als zu Hause. Auf den Straßen fuhren keine oder nur wenige Autos. Viele Läden waren geschlossen. Die Supermärkte sahen noch aus wie früher, als es dort einmal im Jahr Apfelsinen aus Kuba gab.

Michael und Jim fühlten sich wie Eroberer, wie ihre Vorväter. Sie haben alle großen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts gewonnen. Nun, da niemand mehr von heißen oder kalten Kriegen redete, steckten sie neue Grenzen im Osten ab.

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Vielleicht machten sie manchmal Fotos, die sie später noch ihren Enkeln zeigen konnten, guckt mal, so sah es hinter dem Eisernen Vorhang aus. We've been there - Michael and Jim.

Und mitten in diesem Museum des Kalten Krieges saßen zwei Mädchen, die darauf warten, dass etwas passierte, wie festgefroren.

Mormonen, was machten die noch mal? Ich hatte keine Ahnung, dass es zwischen der DDR-Staatsführung und den Mormonen seit langem freundschaftliche Beziehungen gab. 1985 wurde im sächsischen Freiberg der erste Tempel für ganz Deutschland eröffnet. Erich Honecker, der inzwischen tot ist, und Thomas S. Monson, der immer noch den Mor-momen vorsteht, lobten sich 1988 bei einem Treffen gegenseitig. Damals, in Eisenhüttenstadt, waren mir die Mormonen fremd.

In einem Buch hatte ich von einer amerikanischen Sekte gelesen, deren Mitglieder sich in den Urwald zurückgezogen hatten. Irgendwann brachten sie sich mit Zyankali um, weil sie dachten, dass die Endzeit naht.

Ich musterte die beiden Männer auf dem Bett vor mir gründlich, mit ihren rasierten Gesichtern, den kurz geschnittenen Haaren. Sie wirkten nicht unsportlich. Sie sahen nicht so aus, als ob sie in nächster Zeit einen Massenselbstmord planen. Sie wollten nur unsere Seelen retten.

Der eine Mormone kramte in seinem Rucksack und holte ein blaues Buch heraus. Er schenkte uns das Buch Mormon. Ich verstand, dass das eine Art Bibel für die Mormonen war. Sie erzählten uns von Joseph Smith, einem Landarbeiter, der Gott und Christus und später einem Engel namens Moroni begegnet war. Ich hörte ihnen zu, es klang alles ausgedacht. Andererseits hätte ich dem Klang ihres Englisch ewig zuhören können. Es war, als wäre die Welt in unser Wohnheimzimmer gekommen.

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Der Engel hatte Smith goldene Platten übergeben, auf denen in altägyptischer Schrift die neue Religion geschrieben stand. Der Landarbeiter Joseph Smith hatte plötzlich Altägyptisch verstanden. 1830 war das Buch Mormon erschienen, und Smith wurde ein Prophet, den Tausende anbeteten.

Ich fand es interessant, dass ein Mensch Gott werden konnte, bei den Christen, so hatte ich das aus meinen rudimentären Kenntnissen im Hinterkopf, ging das nur umgekehrt. Außerdem rührte es mich, wenn Menschen für ihre Überzeugungen und Ideen einstanden, auch wenn sie noch so absurd waren.

Vielleicht dachten sie, Deutschland stehe nach der Wende an einer ähnlichen Stelle wie Amerika 1830, es war ein aufgewühltes, neues Land, das neue Götter brauchte.

Die Mormonen hatten strenge Regeln. Jim und Michael wollten bald heiraten und dann viele Kinder mit einer anderen Mormonin zeugen. Sie sagten, dass ein Mormone nur einen anderen Mormonen heiraten darf. Früher sei es erlaubt gewesen, mehrere Frauen zu haben, aber das sei nun leider verboten. Joseph Smith soll 27 Frauen gehabt haben. Ich hörte ein leichtes Bedauern in Jims Stimme.

Ich glaubte ihnen, dass diese Polygamie-Zeit vorbei ist. Ich schaute mir die beiden an, sie waren eigentlich recht attraktiv. Ich dachte darüber nach, wie es wäre, Mormonin zu sein. Vielleicht würde ich Jim oder Michael heiraten und in eine amerikanische Kleinstadt nach Utah oder Illinois ziehen und viele Kinder bekommen. Ich stellte es mir schön vor, irgendwo dazuzugehören. Als ostdeutsche Mormonin in Salt Lake City.

Habt ihr Freundinnen?, fragte ich. Nein, sagten sie. Das wäre nicht erlaubt während des Missionsjahres. Da gebe es ein Gelübde. Ich war enttäuscht, als ob ich mir ein bisschen Hoffnungen gemacht hätte.

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War ich wirklich so naiv? War ich so leicht zu beeindrucken? Ein bisschen Freundlichkeit, ein bisschen internationales Flair, und dafür hätte ich meine Seele an irgendeinen Sektenführer verkauft?

Meine Freundin starrte die beiden die ganze Zeit nur an, sie lächelte nicht, sie stellte keine Fragen, sie saß mit verschränkten Armen da. Am Ende forderte sie die beiden auf zu gehen. Es gäbe nichts mehr zu bereden. Ich war erst wütend auf meine Freundin, ich hätte gerne noch weitergeredet, aber insgeheim war ich auch ein bisschen erleichtert.

Wir sahen Jim und Michael manchmal auf der Straße wieder und grüßten sie freundlich. Ich hörte, dass sie Englischkurse anboten.

In Eisenhüttenstadt öffnete eine Disko, das Eastside. Meine Freundin und ich rannten da drei Tage die Woche hin und suchten weiter. Jedes Mal, wenn wir durch den Eingang in den dunklen Saal kamen, spürten wir eine Gänsehaut. Allein die Vorstellung, dass etwas passieren könnte, war aufregend genug.

Wir wussten selbst nicht genau, was wir erwarteten, aber wir waren mit einer Hartnäckigkeit von Forschern dabei.

Das Eastside war eine leere Halle, die mit wenig Aufwand umfunktioniert worden war. Am hinteren Ende stand eine Bühne, davor lag eine kleine Tanzfläche, mit bunten Platten, die aufleuchteten, eine Nebelmaschine gab es auch. Aber die wurde nur am Donnerstag, Freitag und Samstag angemacht. Rund um die Tanzfläche standen Stühle und Tische, als würden mehrere Schulklassen erwartet, die aber niemals kamen. Viele blieben unbesetzt.

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Wir setzten uns an einen Tisch und warteten. Gegen zehn füllte sich der Laden etwas. Die Tanzfläche füllte sich mit Hausfrauen, die sich zu Modern Talking hin und her schoben. Die Männer: Sonnenbankgebräunte Prolls. Jungs in Stonewashed-Jeans-Anzügen. Einer trug zum Anzug weiße Cowboystiefel. Die, die Anzug trugen, das waren die Westler, die Versicherungsvertreter.

Mormonen und Versicherungsvertreter, das waren die einzigen Westler, die nach der Wende in unser Niemandsland fanden. Und beide trugen Anzüge und Krawatten. Wie eine Uniform, ein Anstrich von Bürgerlichkeit, damit konnte man die Ostler beeindrucken.

Die Männer kamen in Dreier- und Vierergrüppchen, die guckten, wir guckten zurück. Ein Spiel, das ewig laufen konnte.

Wir hatten diesen Blick perfektioniert, bei dem man so aussieht, als ob man in die Leere starrt und gar nichts mitkriegt, aber trotzdem den Raum erfasst und genau sieht, wer wo sitzt und wer was bestellt.

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns besonders gestylt hätten. Nicht wie die Mädchen heute. Wenn ich mich schick machen wollte, zog ich einen anthrazitfarbenen eng anliegenden Rollkragenpullover an. Meine Freundin trug manchmal eine durchsichtige weiße Bluse, durch die man ihren BH sah. Sie lächelte, wenn die Männer sie anstarrten.

Ich bestellte einen Kirschsaft und einen Bananensaft. Ich muss fast lachen, wenn ich daran denke. Unsere Saft-Obsession. Ich war verrückt nach Kirschsaft. Alkohol tranken wir nie oder nur ganz selten.

Wir hielten uns an einem Glas Saft fest und dachten uns Spitznamen für die Gäste aus. Wir schufen uns eine Parallelwelt.

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Wir träumten, wir wären in einer anderen Stadt, einer Fantasiestadt. Den Sonnenbank-Prolls gaben wir Namen wie Dave oder Angelo, den DJ machten wir zu einem Filmstar, der nebenbei auflegt. Die trostlose Theke verwandelte sich in eine wilde Bar, an der Drogen in die Drinks gekippt wurden, die unsere Rivalinnen müde und hässlich machten. Die Abende waren eigentlich nie langweilig.

Wie jedes Mädchen in den neunziger Jahren himmelte ich den DJ an. Er war blond, hatte etwas längeres Haar und kam aus Berlin. Berlin!

Die Stadt war zwei Stunden mit dem Zug entfernt und für uns sehr weit weg. Dort war das Leben. Der DJ stand erhöht auf der Bühne hinter einem Pult. In seinem Mund hing eine Zigarette. Wenn man sich ein Lied wünschen wollte, musste man zu ihm hinaufklettern und ihm den Titel ins Ohr flüstern. Er entschied, ob er den Wunsch erfüllen würde oder nicht. Er war der Star des Eastside.

Ich konnte Stunden damit verbringen zu überlegen, was ich mir wünschen sollte. Bevor ich das Treppchen hinaufstieg, atmete ich tief durch und zählte bis zehn. Einerseits hielt ich mich für reif, andererseits traute ich mich nicht, mit dem DJ zu reden.

In Berlin war damals alles offen und chaotisch, eine neue Musik entstand, Techno. Aber der DJ in Eisenhüttenstadt spielte die Playlist eines Achtziger-Jahre-Kindes, das nicht erwachsen werden will: ABC, New Order, Depeche Mode, The Smiths. Er spielte die Musik, als stünde er im Radiostudio, hinter jedem Lied machte er eine Ansage, immer mit den gleichen Worten. Und jetzt, Pause, ein Lied für Claudia, »The Look of Love« von der wunderbaren Band ABC!, Und jetzt, Pause, ein echter Klassiker, »Blue Monday« von New Order aus Manchester!

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Marlene und ich spezialisieren uns darauf, die Songs schon an den ersten Rhythmen zu erkennen.

Langsam erweiterte sich mein Musikgeschmack. Ich entdeckte The Sisters of Mercy. Ich mochte das Düstere, das Aggressive, dazu die dunkle Stimme von Andrew Eldritch. Meine Freundin und ich kürten »Temple of Love« zur Hymne des Eastside, wir konnten den Text irgendwann auswendig und sangen ihn laut mit. Wir ließen uns von der Musik treiben.

Die cooleren Jungs tanzten auch zu den Sisters. Sie kamen meist an Donnerstagen. Sie trugen Schwarz und waren toll aufgestylt, mit engen Hosen und spitzen Schuhen, die Haare trugen sie wie Dave Gahan von Depeche Mode. Sie stürmten auf die Tanzfläche, wenn »Tainted Love« von Softcell gespielt wurde. Dann pustete die Nebelmaschine dicke weiße Flocken auf die Tanzfläche. Todesmutig sprach meine Freundin den Kleinsten aus der Gruppe an. Er nahm sie später mit nach Hause. Er hatte keinen Job, aber eine Band. Eine Depeche-Mode-Cover-Band in Frankfurt/Oder.

Ich erinnere mich an einen Abend, Marlene war beschäftigt, ich saß allein da und ließ mich von dem Versicherungsvertreter zu einem Kirschsaft einladen. Er setzte sich neben mich und blies mir Rauch ins Gesicht. Ich fand das albern und wollte erst aufstehen, dann zog er an meiner Hand und ich setzte mich wieder. Er erzählte von seinem Leben als Versicherungsvertreter. Er war 25 und doch kein Westler.

Ich war enttäuscht.

Ich hatte unbedingt einen Westler kennenlernen wollen. Er war Dreher wie mein Vater und hatte seine Arbeit im EKO verloren. Wie Tausende andere damals. Er hatte kein Büro, sondern musste von Tür zu Tür gehen. Er bekam nur Geld, wenn er Policen verkaufte, Er sagte, er macht sich Sorgen,

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weil er noch keine Police verkauft hatte und wahrscheinlich bald wieder bei seiner Mutter einziehen müsste. Er hatte schwarze Haare, braune Augen. Er war der mit den weißen Cowboystiefeln.

Irgendwann versuchte er, mich zu küssen. Er steckte seine Zunge in meinen Hals, so dass ich dachte, ich muss würgen, aber ich würgte nicht und fühlte mich auf einmal sehr erwachsen. Es war mein erster Kuss. Der Mann fragte mich, ob ich mit zu ihm komme, und ich sagte nein.

Um Mitternacht lag ich im Wohnheim im Bett. Ich bereute meine Entscheidung. Vielleicht war das meine letzte Chance für ein Rendezvous? Über dieser Frage schlief ich ein. Love is always over in the morning.

Meine Freundin und ich verarbeiteten unsere Erlebnisse allein. Vielleicht war unsere Internatssituation speziell, doch auch anderswo ließen die Eltern in jener Zeit ihre Kinder aus den Augen. Wir wurden Waisen.

Wenn ich müde war, ging ich manchmal nicht in die Schule und schrieb mir selbst eine Entschuldigung. Als meine Noten ein wenig schlechter wurden, begründete ich das mit dem Druck in der Schule, mit dem neuen westlichen System. Meine Eltern waren damit zufrieden.

Der Druck war weg, aber was man mit der neuen Freiheit anfangen sollte, wusste auch niemand so genau. Es gab keine Vorbilder, die bestimmte Ideen oder Ideale vertraten. Wir waren die, die Ideen hatten.

»Es gab keine Regeln mehr«, sagt Oliver Marquardt, der als DJ Jauche Platten auflegt, in dem Buch Der Klang der Familie. In dem Buch geht es um Techno und ich habe mit Techno nichts zu tun und trotzdem war es so. Es gab keine Regeln mehr.

Es stimmt wahrscheinlich nicht, es muss ja neue Regeln und neue Gesetze im vereinigten Deutschland gegeben haben. Es gab nur niemanden, der darauf achtete, dass sie eingehalten wurden.

»Man konnte auf der Straße neben Polizisten kiffen und es gab keinen Ärger. Die Polizisten aus der DDR kannten das ja eh nicht, und der Rest hatte andere Sorgen. Es gab so eine Gruppe aus Magdeburg, die haben sich immer Autos geklaut, um nach Berlin zu fahren. Zum Raven, die haben das dann wahrscheinlich hier stehen lassen, weil sie zu druff waren«, erinnert sich DJ Jauche.

Man hatte solche Jungs wie die Magdeburger damals überall. In Eisenhüttenstadt. In Chemnitz. In Prenzlau. In Jena. Überall.

Ich klaute keine Autos und nahm auch keine verbotenen Drogen. Ich empfand aber eine ähnliche Langeweile. Ich hatte ein Auto, einen Dacia, für 300 DM von meinem Onkel gekauft. Es wurde mein Wohnzimmer. Ich fuhr mit meinem Auto die Lindenalle hinab, vorbei an den Geschäften, die jetzt leer standen, weil alle lieber zu den billigen Discountern gingen, rechts um die Post herum die Straße hinunter und drehte eine Runde.

In der Erich-Weinert-Allee gab es eine Aral-Tankstelle. Dort hingen meine Freundin und ich oft ab.

Wir saßen im Auto, kurbelten das Fenster hinunter. Wir guckten uns die anderen Autos an. Wir guckten nach links, wir guckten nach rechts. Wir sahen ein Auto, fünf Minuten später tauchte es von der anderen Seite wieder auf. Jeder drehte so seine Kreise, wir kannten bald die üblichen Kunden. Wir prägten uns Autokennzeichen ein. Und wenn wir ins Eastside gingen, prüften wir schon auf dem Parkplatz, wer da war.

Die Autos, die nicht aus der Gegend kamen, kannten wir schnell. Es gab einen BMW mit Hamburger Kennzeichen und einen Opel aus dem Lahn-Dill-Kreis, wo immer das auch lag.

Wenn wir Geld hatten, kauften wir uns abends bei Aral eine Flasche Sangria und teilten sie uns. Danach fuhr ich ins Eastside. Wenn ich zurückkam, drückte ich in der Lindenallee auf das Gaspedal, bis es nicht mehr weiterging. Wir flogen durch die Stadt. Wir waren ganz allein im Weltall.

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