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8  Eisenhüttenstadt brennt

 

 

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Die Stadt veränderte sich. Die Schlote des EKO qualmten weniger, an manchen Tagen schien es, als sei das Feuer ausgegangen. Große Limousinen mit westdeutschen Kennzeichen fuhren vor. Männer in Anzügen stiegen aus, sie gingen grußlos an den Männern vorbei, die Transparente in der Hand hielten. Stirbt das EKO, stirbt die Stadt, stand auf ihnen. Dreitausend Mann waren schon entlassen worden. Innerhalb eines Jahres. In der Schule hatten wir früher vom Manchester-Kapitalismus gehört, jetzt erlebten wir den Manchester-Treuhand-Kapitalismus.

Ein Bild von damals habe ich vor Augen, wie ich in meinem Bett lag. Es war dunkel, schon spät, ich schreckte kurz auf. Ich hatte etwas gehört. Es war nach elf, vielleicht halb zwölf, normalerweise säße ich um diese Uhrzeit im Eastside, in der Disko und würde darauf warten, dass der DJ ein gutes Lied spielte. Aber das Schuljahr hatte gerade erst angefangen, in diesem Jahr würde ich Abitur machen. Meine Zimmergenossin lag gegenüber, schlief fest. Noch einmal krachte es. Es klang wie ein Silvesterknaller.

Aber es gab kein Feuerwerk. Es war auch nicht der 31. Dezember, sondern der 1. September 1992. Der Tag, den wir früher Weltfriedenstag nannten.

1992 sprach keiner mehr von kalten, heißen oder sonstigen Kriegen.

Im Trockendock begrüßten sich die Jungs unter den Augen der Sozialarbeiterinnen mit Heil Hitler. Da es der einzige von vierzehn Jugendklubs in Eisenhüttenstadt war, der die Wende überlebt hatte, grüßte man entweder zurück oder trieb sich lieber auf der Straße herum.

Jahre später lese ich vom Winzerclub in Jena, zweihundert Kilometer entfernt, in dem sich ab 1991 ein gewisser Uwe Mundlos aufhielt und seinen späteren Mordkomplizen Uwe Böhnhardt traf. Dort wurden die Rechten in Ruhe gelassen, sogar Skinhead-Bands durften auftreten. »Akzeptierende Jugendarbeit« hieß das Konzept, das offensichtlich zur gleichen Zeit auch in Eisenhüttenstadt im Trend lag.

In den achtziger Jahren waren in der DDR rechtsradikale Gruppen entstanden. Der Antifaschismus gehörte zwar zur Staatsräson, machte aber nicht jeden automatisch zum Antifaschisten. Bei manchen bewirkten die regelmäßigen Besuche von Konzentrationslagern, die für Pioniere vorgeschrieben waren, und die penetrant wiederholten Merksätze über die deutsche Schuld das Gegenteil. Wenn man als Jugendlicher die Autoritäten provozieren wollte, musste man Nazi-Symbolik verwenden oder etwas gegen die Sowjetunion sagen. Das war der größte Tabubruch. Uwe Mundlos ging zwar auf eine Schule, die den Namen eines Widerstandskämpfers trug, ritzte aber in der neunten Klasse im Werkunterricht Hakenkreuze. Das war 1988.

Das Ausländerheim war nicht weit weg vom Lehrlingswohnheim, in dem ich schlief. Manchmal sah ich unter dem Fenster Gestalten vorbeihuschen. Frauen mit Kopftüchern und langen Röcken. Männer mit hungrigen Blicken und fremden, lauten Stimmen. Am Montag, wenn ich in die Kaufhalle ging, standen dieselben Gestalten am Eingang und bettelten.

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Bettler kannte ich bisher nur aus dem Westen. Eine Freundin, die mit dabei war, sagte, ich solle nichts geben, die würden alles umsonst bekommen, Essen, Klamotten, Computer, Kameras.

Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass ich damals vorm Einschlafen besonders an die Menschen im Heim gedacht hätte. Ich kannte keine Ausländer und ich kannte keine Neonazis, zumindest nicht persönlich. Wenn mir eine Gruppe Jungs mit Glatzen und Springerstiefeln auf dem Bürgersteig entgegen kam, wechselte ich die Straßenseite. Sie suchten Streit, wollten auf sich aufmerksam machen.

Jetzt durfte man endlich alles sagen, was vorher verboten war.

Die Tabus fielen, und manche wurden übermütig. An den Mauern von Eisenhüttenstadt tauchten Hakenkreuze auf und Deutschland-über-alles-Sprüche. Es gab keine Regeln mehr, keinen funktionierenden Staat. Jede Woche wurden Behörden aufgelöst und wieder neu gegründet. Die Beamten, auch die Lehrer, wussten nicht, was sie nach Westgesetzen erlauben sollten und was nicht. Rechts-Sein wurde zu einer Jugendkultur.

Neben mir schlief meine Zimmergenossin Nancy. Sie hatte sich verändert in letzter Zeit. Sie war immer eher unpolitisch gewesen, sie las keine Zeitung, sah keine Nachrichten, sie interessierte sich für Selbsterfahrungsbücher, Betty Mahmoody und solche Sachen, ihre Lieblingsband war Roxette. Neuerdings hörte sie Böhse Onkelz und hatte Freunde, die mit Springerstiefeln und Bomberjacke rumliefen.

Das war auch eine neue Mode: Mütter kauften ihren Söhnen Bomberjacken, allein aus ökonomischen Gesichtspunkten war das sinnvoll. Die Jacken hatten eine gute Qualität, sie hielten ein paar Jahre, und sie waren, auch das ist nicht unwichtig in kleinen Städten, unauffällig, weil sie alle trugen.

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In der Zeitung, die in der Schule herumlag, hatte ich gelesen, dass siebzig Jugendliche das Asylbewerberheim, das fünf Minuten vom Lehrlingsheim entfernt stand, am letzten Wochenende der großen Ferien in Brand gesteckt hatten. Sie ließen die Ferien mit einem Feuerwerk ausklingen. Glücklicherweise war niemand zu Schaden gekommen. In den Tagen danach versammelte sich jeden Abend ein Mob und warf Brandsätze. Ich fragte mich, warum die Polizei das Problem nicht in den Griff bekam. Oder wollte sie es nicht in den Griff bekommen? Jeder kannte doch die Jungs mit den tiefer gelegten Autos, Runen auf der Heckscheibe, kurzgeschorene Haare, jeder wusste, wo sie sich trafen. Ich lernte damals, dass die Polizei schwach ist. Ich wollte lieber nicht in eine Situation kommen, in der ich auf ihre Hilfe angewiesen war.

Die Beamten waren nach den Ausschreitungen schnell dabei, ihre Stadt zu schützen. Es hieß, dass die Täter aus Rostock kamen, der Polizeipräsident sprach von einem »Randale-Tourismus«. In Rostock-Lichtenhagen hatte ein Mob tagelang Vietnamesen, ehemalige Vertragsarbeiter, gejagt. Daneben standen die Nachbarn und klatschten. Die Bilder von aufgehetzten Jugendlichen, brennenden Gebäuden und der flüchtenden Polizei gingen um die Welt, seitdem waren alle Ostler Nazis. Gegen die Bilder von Rostock anzukommen war unmöglich.

Eisenhüttenstadt schaffte es nicht in die Nachrichten, obwohl sich im Kleinen etwas Ähnliches abspielte. Überall in Deutschland brannten damals Asylbewerberheime. Politiker heizten die Stimmung noch an, in der erregten Asyldebatte klangen die Äußerungen mancher Politiker nicht viel anders als die der Neonazis. Es war die schlimmste Welle rassistischer Ausschreitungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

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Gegen wen richtete sich die Wut? Hans-Joachim Maaz, Autor des Buches Der Gefühlsstau, erklärt sie so: »Sie schlugen den Ausländer und meinten den Westdeutschen.« Im Prinzip hat er wahrscheinlich recht. Die »Fidschis«, »Neger« und »Zigeuner« lagen einfach näher als die übermächtigen Westler.

Im Januar 1991 hatte das Asylbewerberheim in Eisenhüttenstadt eröffnet. Über zwanzig Jahre später lese ich die Artikel der Lokalzeitung dazu nochmal. »In den nächsten Tagen sollen die ersten Asylanten in unserer Stadt eintreffen. Mit diesem Gerücht macht sich Angst und Verunsicherung breit«, schreibt die Lokalzeitung am 17. Januar. Asylant, das klingt nicht gut, es klingt wie Intrigant, Simulant, Pedant. Es ist ein Neonazi-Wort, aber das wussten die Journalisten der ehemaligen Bezirkszeitung damals wahrscheinlich nicht. Eine Woche später fliegen die ersten Molotowcocktails. Wer nicht viel nachdenken und seinen Frust ablassen wollte, hatte jetzt ein Ziel gefunden.

Im Nachhinein könnte man fragen, wer die kuriose Idee hatte, Tausende Flüchtlinge ausgerechnet in eine Gegend des Landes zu schicken, in der die Menschen selbst gerade dem Zugriff eines diktatorischen Staates entkommen waren. Zwanzig Prozent aller Asylbewerber wurden nach Ostdeutschland geschickt, unter Protest von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International. Woche für Woche wurden Hunderte traumatisierte Menschen aus Kriegsgebieten durch eine Stadt durchgeschleust, die selbst ihr Trauma noch nicht verarbeitet hatte. Die Ostler fingen gerade erst an, für sich selbst zu denken, Grenzen auszutesten. Aber Eisenhüttenstadt lag gut, in einer leeren Landschaft, am Rande Deutschlands, abseits von Autobahnen und Erholungsgebieten, ideal, um Probleme zu entsorgen. Wie Giftmüll.

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1991 und 1992 wurden rund 34000 Asylbewerber durch Eisenhüttenstadt geschleust, bevor sie auf andere Heime verteilt wurden.

Es gab keine Dolmetscher, keine erfahrenen Anwälte, keine Begegnungsstätten, die sich um die Verständigung zwischen den Fremden und den Einheimischen kümmerten. Kurzum, es gab die Infrastruktur nicht, die Westdeutschland über vierzig Jahre aufbauen konnte.

Kein Politiker in Eisenhüttenstadt hielt es für nötig, den Menschen zu erklären, warum ausgerechnet in ihrer Stadt ein Ausländerheim eröffnet wurde, warum sie sich an den Anblick von Fremden in ihrer Stadt gewöhnen müssen und warum es eine zivilisatorische Errungenschaft war, Verfolgte aus anderen Ländern aufzunehmen. Die Bundesregierung wollte ja gerade das Asylrecht abschaffen.

Aus Angst vor der Wut der Bürger heizten auch die Lokalpolitiker die Stimmung noch an. »Über die Ausländer, über die man sich hier beschwert, beschwert man sich auch anderswo«, diktierte der FDP-Bundestagsabgeordnete Jörg Ganzschow im September 1992 in den Block eines Lokalreporters. Er schien den Steinewerfern recht zu geben. Der SPD-Innenminister, Alwin Ziel, empfahl einen Zaun um das Ausländerheim zu bauen. Er versprach, den Zuzug von Ausländern zu begrenzen. Als müsste man die Heiminsassen einsperren. Als seien sie das Problem.

In der Lokalzeitung werden die Ausländer durchweg einseitig dargestellt, als Diebe, Ungeziefer, Krankheitsüberträger. Ich zitiere hier die Überschriften in der Lokalausgabe der Märkischen Oderzeitung in den ersten acht Monaten des Jahres 1992:

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»Rumänen mit Diebesgut gefasst« »Rumänischer Asylbewerber stiehlt Lebensmittel

im Konsum Fünfeichen«

»Wenn wir aufpassen, schnappen wir manchmal

fünf Ladendiebe die Stunde«

»Auch Ausländer haben keinen Freibrief beim Stehlen«

»Nierenklau in Polen: Kidnapperstory erfunden?«

»Bulgarische Großfamilie schleppt Ruhr

nach Eisenhüttenstadt«

»Rumäne mit Spaten in 17 Gärten unterwegs«

Erschreckend, wie einseitig die Berichterstattung damals war. Immer wieder wurden die Ausschreitungen als »Protest« verniedlicht. Kein einziges Mal kommen die Menschen, um die es ging, zu Wort. Die Steinewerfer konnten sich im Einklang mit dem Rest der Gesellschaft fühlen.

Nach den tagelang andauernden Ausschreitungen, die die Stadt schockierten, ging Ende September 1992 ein Lokalreporter in den Jugendklubs auf Spurensuche. Die Sozialarbeiterin sagte, dass die wenigsten Gewalt wollten: »Die Jugendlichen sagen nur laut, was andere denken. Sie wollen auf sich aufmerksam machen.« Nach dem monatelangen Gerede über die Zukunft des Stahlwerks EKO seien die Jungen verunsichert.

Zwischen 1991 und 1992 wurden dreitausend Menschen aus dem Stahlwerk entlassen. Siebentausend waren in Kurzarbeit. Der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Ruprecht Vodran, wurde mit den Worten zitiert: »Jede Tonne Stahl, die in Ostdeutschland produziert wird, ist eine Tonne zu viel.«

»Den Jugendlichen gehen in einer solchen Situation die Orientierungen der Neonazis runter wie Öl«, meinte die Sozialarbeiterin Helga Parcewski.

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Heute habe ich manchmal das Gefühl, ich müsste mich rechtfertigen, warum wir uns damals an der Schule nicht gegen die Ausschreitungen engagierten. Es gab keine Lichterkette, keine Solidarität mit den Asylbewerbern. Die Ausschreitungen waren meiner Erinnerung nach kein großes Thema, weder unter den Schülern noch unter den Lehrern.

Meine Lehrer hatten inzwischen Übung darin, Ereignisse, die nicht in ihr Weltbild passten, zu ignorieren. Als die Amerikaner in den Irak einmarschierten, als Bagdad brannte, hatten sie uns auf die Straße gescheucht, um zu demonstrieren.

Meine Lehrer halten daran fest, dass es an ihrem Gymnasium keine Rechten gab. Die Schwachen brauchten Führer, sagt der ehemalige Schuldirektor, Jörg Weise. Es klingt, als hätte es an seiner Schule keine Schwachen gegeben.

Meine damalige Klassenlehrerin gibt allerdings zu, dass sie Anfang der neunziger Jahre auch keinen Neonazi erkannt hätte. Sie hatte keine Vorstellung, wie man einen Neonazi identifiziert, wenn er nicht gerade im Stechschritt durch das Klassenzimmer stolzierte und Sieg Heil brüllte. »Ich wurde erst später darauf hingewiesen, dass es bestimmte Marken gibt, die Rechte bevorzugen«, sagt Frau Wilke heute.

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9  Homo Oeconomicus

 

 

Im Sommer 1993 machte ich Abitur. »Bildungsgang erweiterte Oberschule« stand auf den Abschlusszeugnissen, als Zeichen dafür, dass ich eine Schule besucht hatte, die es nicht mehr gab. Sie werden ins Leben eintreten, sagten die Lehrer. Ich trat ins Leere. Ich hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde.

Es gibt Fotos von der Abiturfeier, die im Friedrich-Wolf-Theater stattfand. Ich trage einen glänzenden Hosenanzug, ich will elegant aussehen, doch die schwarzen Straßenschuhe, die an meinen Füßen stecken, passen nicht. Auf dem Foto sehe ich meine Unsicherheit.

Kein Vergleich zu den Abiturfeiern heute: Mädchen in Hollywood-Roben, mit komplizierten Hochsteckfrisuren und professionellem Make-Up.

Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte ich mein Abitur in der Talente-Klasse wie geplant abgeschlossen, dann hätte ich Journalistik an der Universität Leipzig studiert. Einen anderen Weg gab es nicht, wenn man Journalistin werden wollte. Im Sommer 1993 schien es mir fast gleichgültig, welches Studium ich wählte. Aber nach Leipzig wollte ich auch nicht mehr.

Die Zeitungen schrieben, diejenigen, die jetzt Abitur machten, seien die Wendegewinner. Sie würden unbelastet von der Vergangenheit die neue Freiheit zu nutzen wissen -

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und die Einheit nebenbei vollenden. Einheit vollenden, das klang so, als wäre das Zusammenwachsen von zwei Ländern ein 8oo-Meter-Lauf, man müsste nur genügend Runden drehen, dann käme man ans Ziel.

Ich wollte weg aus Eisenhüttenstadt. Schon die letzten beiden Schuljahre hatte ich als Zeitverschwendung empfunden, ich wollte, dass die Zukunft endlich beginnt.

Die Aussichten seien ganz unsicher für Journalisten, warnte mich die Frau vom Berufsinformationszentrum in Berlin-Tiergarten. Wenige Stellen, sehr viele Bewerber. Ob ich nicht lieber ein Lehramt in Erwägung ziehen wolle?

Aus meiner ehemaligen Klasse wählten die meisten Ausbildungsberufe, sie wurden Versicherungsangestellte, Bankkauffrauen, relativ wenige studierten, und wenn, dann wählten sie Fächer, die Sicherheit und Geld versprachen, Jura und Betriebswirtschaft, oder die bequem waren, wie Kulturwissenschaft an der neu gegründeten Europa-Universität Viadrina im Nachbarort Frankfurt/Oder.

»Jeder muss zuerst an sich denken«, notierte ich im Herbst 1993 in mein Tagebuch, es ist ein Satz, der in Variationen immer wieder auftauchen wird. Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn zuerst aufgeschnappt habe. Es war ein Satz, der damals kursierte, den man sich unter Freunden zuflüsterte, warnend, ermahnend. Ein Lehrsatz der »Ellenbogen-Gesellschaft«. Noch so ein typisches Wort für die Zeit.

Ich hatte im Berufsinformationszentrum ein Faltblatt über den Studiengang Politologie an der FU Berlin gefunden. Ich dachte, es könnte nicht schaden, etwas über politische Systeme zu lernen. Unter »Berufsaussichten« stand, dass laut einer Studie ein Drittel aller Abgänger von 1988 Taxifahrer wurden. Die Aussicht, zur Not in Berlin Taxi zu fahren, machte mir ein wenig Angst, aber hielt mich nicht ab.

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Im Herbst 1993 schrieb ich mich an der Freien Universität Berlin ein, am Otto-Suhr-Institut. Ich hatte keine Ahnung vom Mythos des Osi, wie die Studenten das Institut nannten.

1968 hatten die Studenten eine radikale Hochschulreform angetrieben, bei Demonstrationen gegen den Staat waren sie vorn dabei und träumten vom Sozialismus. Anfang der neunziger Jahre hatte das Institut seine besten Zeiten hinter sich. Die Jüngeren, die jetzt herumliefen, plapperten die Slogans der 68er nur nach. Man verehrte Rudi Dutschke, man hasste den Springer-Verlag, man kaufte im Dritte-Welt-Laden.

Wenn man in der DDR aufgewachsen war, sagte einem der Name Rudi Dutschke zunächst nichts. Ich kannte Tamara Bunke, die Gefährtin von Che Guevara, die in Eisenhüttenstadt Abitur gemacht hatte, oder Juri Gagarin, den ersten Mann im All, aber nicht Rudi Dutschke und die 68er.

Das Land, das jetzt meins war, kam mir ziemlich fremd vor.

Ich bezog ein Wohnheimzimmer in Berlin-Lichtenberg. Zur Universität brauchte man eine Stunde mit der U-Bahn, aber ein näheres Zimmer gab es nicht. In meinem Zimmer standen ein Schrank, ein Schreibtisch, ein Bett. An der Wand hingen keine Bilder, nicht von meinen Eltern, nicht von meinen Geschwistern und nicht von Freunden.

Es war so unpersönlich wie ein Hotelzimmer. Als wäre ich allein auf der Welt.

Es fiel mir schwer, mich an die Stadt zu gewöhnen. Alles schien voller unfreundlicher, graugesichtiger Personen.

Ich sah Menschen allein in Cafes sitzen, mit einem Buch in der Hand. Wie machen die das? Woher haben sie die Kraft?

In einem Erstsemesterseminar zur politischen Theorie saßen lauter Schwaben und Bayern und redeten so eloquent

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über Hegel, Weber und Kant, dass ich den Eindruck hatte, sie wüssten schon alles, als hätten sie schon alles gelesen. Sie meldeten sich dauernd und diskutierten mit dem Professor. Ich saß stumm mittendrin und verstand kein Wort. Ich verstand die Sprache nicht, in der meine Kommilitonen redeten, und ihr zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein erschien mir zu aufdringlich. Nach dem Seminar rannte ich in die Bibliothek, um Bücher von Max Weber auszuleihen. Ich ging zur Uni, wie ich früher zur Schule gegangen war. Ich versuchte herauszufinden, was in der nächsten Klausur gefragt war, und lernte das auswendig.

Ich erinnere mich weniger an Ereignisse als an ein Gefühl: die Angst hängenzubleiben, mich nicht zu verbessern. Jeder Tag, an dem ich nichts lernte, jeder Tag, an dem ich kein Geld verdiente, war ein verlorener Tag. Zeit war mein Feind. Ich war 19 Jahre alt.

Anderen Studienanfängern mag das ähnlich gegangen sein, auch wenn sie nicht in der DDR aufgewachsen sind. Massenunis und ihre Anonymität können einschüchtern. Doch für mich war es die erste, prägende Begegnung mit einer westdeutschen Institution. Ich dachte, alle Unis sind so: kalt, unpersönlich, unübersichtlich. Der Studienstart an einer Massenuni in der größten Stadt Deutschlands schien mir ein Symbol für mein neues Leben.

In meinem Tagebuch notierte ich mir das, was ich für die Regeln in der Bundesrepublik hielt:

Man muss kämpfen, Ellenbogen ausfahren, oberflächlich sein, nicht so viel nachdenken. Jeder kämpft für sich!

Leistung allein genügte nicht mehr, es wurde wichtiger, sich gut zu verkaufen und durchzusetzen.

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An eine Unterhaltung erinnere ich mich besonders, weil sie mich auf Jahre danach prägte.

Ich kam in der Mensa mit einer Kommilitonin, die auch Politik studierte, ins Gespräch. Sie stammte, das verriet ihr Dialekt, aus Süddeutschland. Als sie hörte, dass ich aus dem Osten kam, platzte sie heraus: »Und, waren deine Eltern auch bei der Stasi? Wie war das, bespitzelt zu werden? Hattet ihr Angst? Waren die wirklich gefährlich?«

Ich war solche direkten Fragen nicht gewöhnt und fühlte mich sofort angegriffen. Und ich fand es merkwürdig, dass die Kommilitonin über meine Eltern reden wollte. Was hatte ich mit meinen Eltern zu tun? Vor der Wende hatte mich nie jemand nach meinen Eltern gefragt. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass es in der DDR keine soziale Ungleichheit und keine Statusunterschiede gab, aber Herkunft war nicht so wichtig. In dem neuen Staat entschied die Herkunft über den Aufstieg, wen man heiratete, mit wem man befreundet war. Das Klassensystem war nicht so offensichtlich wie in England, wo man die feinen Leute schon daran erkennt, ob sie ihr Bad »loo« oder »bathroom« nennen, aber wer damit aufgewachsen war, orientierte sich daran.

Eine Schulfreundin erzählte mir, dass sie am ersten oder zweiten Tag an der Humboldt-Universität von einer Frau angesprochen worden sei: »Mein Vater ist der Manager bei einem Bundesliga-Fußballverein. Und was machen deine Eltern?« Als meine Freundin erwiderte, ihr Vater sei Ingenieur in Eisenhüttenstadt, wandte sich die Fußball-Managertochter ab.

Ich antwortete schließlich, dass meine Eltern nicht bei der Stasi gewesen wären und dass ich auch niemanden persönlich kennen würde, der bei der Stasi gewesen war. Die Frau schien mir nicht zu glauben. Sie kannte Zahlen, die belegten, dass jeder zehnte DDR-Bürger Inoffizieller Mitarbeiter war. Ich

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müsste doch einen davon kennen. Ich zuckte mit den Schultern und wusste nicht, was ich sagen sollte.

Danach änderte ich meine Strategie. Ich sagte nicht mehr, woher ich kam.

Die DDR war verschwunden, entwertet, ein peinlicher Irrtum, den man lieber vergaß. Mit der DDR war auch meine eigene Vergangenheit verschwunden und entwertet.

Im November 1993 lege ich auf den zwei letzten Seiten des Tagebuchs Listen an.

Was ich mag:

Laut Musik hören

Das Meer

Mich verlaufen

Maupassant, Nietzsche

Provozieren

Vollkornbrot

Naturkosmetik

Fremde Städte kennenlernen

Was ich hasse:

Sächsischer Dialekt

Dauerwelle

Schrankwände

Mallorca

Hauptschüler mit rechter Gesinnung

Leberwurst

Über den Alex gehen

Menschenmassen

Wenn ich das heute lese, amüsiert es mich. Schrankwände, Dauerwelle, sächsischer Dialekt und Leberwurst. Das sind die

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Dinge, die ich mit der DDR assoziierte. Am ehesten kann ich noch die Abneigung gegen das Sächsische nachvollziehen. In der DDR kamen die schlimmsten Kommunisten aus Sachsen. 1990 bekam dort die CDU die höchsten Stimmergebnisse. Sachsen, das war für mich die Hochburg der Opportunisten.

Aber sonst? Ein Jahr, bevor ich das schrieb, hatte ich selbst noch eine Dauerwelle, und im Wohnzimmer meiner Eltern stand eine Schrankwand. Nun hasste ich das alles. Ich hasste meine Kindheit, meine Vergangenheit.

Ich lese aus den Zeilen schon die Verzweiflung heraus, die später noch größer werden wird. In mir baute sich damals ein Druck auf, mich neu zu erfinden. Ich wollte von vorn anfangen, so neu und blank sein wie weißes Papier.

Ich wusste nur noch nicht wie.

Im Februar 1994 machte ich ein Praktikum bei einer Zeitung in Bremen. An einem Abend rief mich mein Freund Andre an. Er war ein paar Jahre älter, wir kannten uns aus Eisenhüttenstadt, aus dem Eastside, und waren seit dem vorherigen Sommer zusammen. Wir hatten unterschiedliche Berufswünsche und Vorstellungen von der Zukunft, er studierte BWL in Kiel, ich Politik in Berlin, wir sahen uns selten.

Während ich in Bremen war, jobbte er in Hannover. Ich fuhr mitten in der Nacht zu ihm, eineinhalb Stunden mit dem Auto, aber als ich da war, wusste ich nicht, was ich sagen sollte.

Andre klagte über die neue Zeit, die Jagd nach materiellen Werten und Konsum. Geld, Karriere, Erfolg seien die einzigen Dinge, die heutzutage zählten, nicht mehr menschliche Beziehungen. Der Mensch sei ein »Homo oeconomicus«, der sich nur nach seinem Nutzen entscheide, referierte er.

Er hatte sich verändert, seitdem er aus Eisenhüttenstadt weggegangen war.

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Andre studierte BWL, trug neuerdings Anzug und hatte für die Zeit nach seinem Abschluss schon einen Vertrag bei Volkswagen. Er lebte ganz gut mit den Werten, die er angeblich ablehnte. Er roch auch schon wie ein Westler.

Ich sagte ihm, er sei ein Heuchler.

Wir stritten uns, am Ende fuhr ich in den frühen Morgenstunden davon, als könnte ich so der neuen Zeit entkommen.

Auf der B6 Richtung Bremen blieb mein alter Dacia stehen und sprang eine Weile nicht mehr an. Ich stand neben einem Feld, auf der Straße kam kein anderes Auto. Ich konnte in der Ferne noch mehr Felder sehen, keine Häuser, keine Telefonzelle. Es war vier Uhr morgens. Es war kalt und still.

Ich fuhr nach Bremen, packte meine Sachen. Das Praktikum beendete ich nicht. Ich zog während der Semesterferien wieder bei meinen Eltern ein und arbeitete bei der Lokalzeitung.

Liebe, schlussfolgerte ich, hielt mich nur zurück in meinen Anstrengungen.

13. März 1994

Ein 19-jähriges Mädchen hat sich in Beeskow erschossen. Ich bin 19. Ich bewundere sie, gleichzeitig verstehe ich sie nicht. Den Mut zu haben, aufs Leben zu verzichten, dazu gehört schon was. Ich glaube, das geht nur, wenn man nicht nachdenkt, impulsiv handelt, aus einer Laune heraus. Ein Selbstmord ist so unnötig.

Als ich das viele Jahre später lese, versuche ich, Genaueres über den Fall zu recherchieren. Bis auf eine kleine Meldung entdecke ich nichts. Ich schrieb so kühl über den Selbstmord, aber der Fall löste etwas aus. Zwei Tage später schrieb ich:

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15- März 1994

Nach Berlin bin ich heute die ganze Strecke 30 gefahren. Ich hatte den ganzen Tag Angst vor einem großen Unglück, das ich nicht aufhalten kann. Ich benahm mich seltsam. Guckte in die Luft und sah nichts. Ich hatte Todesangst. Was ist los mit mir? Todesangst mit 19, aus heiterem Himmel? Den ganzen Tag fürchtete ich, ich müsste sterben. Mein Körper gehorchte meinem Verstand nicht. So muss es sich anfühlen, wenn man verrückt wird. Ist nicht alles, was ich tue, sinnlos und leer? Ich darf nicht weiter nachdenken.

Ich lese das heute und komme mir selbst fremd vor. Hab ich das wirklich geschrieben? Meine Tagebuchaufzeichnungen nach dem Abitur sind widersprüchlich, oft launisch, manchmal wütend, das Tagebuch steckt voller Briefe, die ich nie abgeschickt habe. Aber es ist selten so deprimierend zu lesen wie an dieser Stelle.

Woher kommt diese Endzeitstimmung? Diese Verzweiflung? Etwas Neues hatte angefangen, mein Erwachsenenleben, doch ich schrieb, als ob etwas zu Ende ging.

Meine Eltern konnten mir nicht helfen. Schon die Bafög-An-träge, die sie ausfüllen mussten, machten ihnen Angst. Sie gaben mir Ratschläge, die wenig nützten. Sie hatten die neue Zeit hingenommen wie einen Wetterumschwung, mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit.

Wenn ich über die hohen Anforderungen an der Universität klagte, sagten meine Eltern, ich solle nicht mehr hingehen. Wenn ich eine schlechte Note bekam, vermuteten sie, dass die Professoren Ostdeutsche benachteiligen würden. Wenn ich mich beklagte, dass ich mich allein fühlte, empfahlen sie, ich sollte aus Berlin zurückkommen.

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Meine Eltern hielten die Stadt für zu laut, zu dreckig und zu gefährlich. Wenn ich zurückfuhr, gab meine Mutter mir Essenspakete mit, als wäre in Berlin eine Hungersnot ausgebrochen.

Als ich 19 war, führte mein Vater ein erstes Gespräch mit mir. Danach notiere ich mir seine Worte in mein Tagebuch:

Heute langes Gespräch mit Papa. Er hat gesagt, nicht Glück und Freude bestimmen das Leben, auch nicht Geld und materielle Werte. Die kurzen Momente des Glückes werden ständig überschattet. Tränen, Schmerz, Angst, das ist der Sinn des Lebens. Das Leben ist ein Kampf.

Was sagt man dazu? Wahrscheinlich meinte er es gut, wollte mich warnen, mir Illusionen oder falsche Erwartungen zu machen. Optimismus oder Hoffnung zu verbreiten war nicht seine Stärke.

An einem Morgen im Mai 1993 meldete ich mich bei der Studentenarbeitsvermittlung der FU Berlin an. Ich schrieb darüber wie aus einer fernen Welt:

27. Mai 1994

Ich bin heute um fünf aufgestanden und habe mich bei der FU-Arbeitsvermittlung Heinzelmännchen angemeldet. Kurz-und langfristig werden Jobs vermittelt, dreimal täglich erklingen in den Lautsprechern der Thielallee die verschiedenen Angebote. Vom Rasenmähen über Krankenpflege bis zum Bühnenaufbau gehen die Jobs. Zehn Angebote gibt es, auf die sich 40 bis 50 Studenten stürzen. Soziologisch betrachtet ist der typische Heinzelmann ein Ausländer. Heinzelfrauen sind ebenso selten wie die Angebote für Frauen, also Prospekte ver-

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teilen, Etiketten kleben, Briefe sortieren. Die Jobs für Männer sind auch nicht verlockend. Möbeltransport scheint sehr begehrt zu sein. 20 Mark gibt's dafür die Stunde für Knochenarbeit. Möbeltragen in den 5. Stock, Fahrstuhl nicht vorhanden. Ob Plackerei auf dem Bau, Nachtarbeit, die Heinzelmännchen sind nicht zimperlich. Sie haben alle Hemmschwellen überschritten. »Mach ich nicht« gibt es nicht. Alles, was zählt, sind die Scheine, die man später in der Hand hält. Die Leute brauchen das Geld, deshalb stehen sie morgens um halb sieben in der Silberlaube, werfen ihre Ausweise in den Korb und hoffen, dass sie eine Nummer weit vorn bekommen. Zwei Stunden später füllt sich der Raum wieder. Alle hören auf die Stimme aus dem Lautsprecher, die die Angebote verkündet. Noch zweimal am Tag die gleiche Prozedur. Noch eine Chance für Frank, Guy, Katrin, Hassan und mich. Der Job geht immer an den Interessenten mit der niedrigsten Wartenummer. Die Studenten haben es nötig. Sie sehen nicht aus wie aus dem Ei gepellt. Haben keine reichen Eltern. Die meisten haben dunkle Haut und schwarze Haare. Deutsch sprechen sie nicht perfekt. Sie müssen sich irgendwie ihren Unterhalt finanzieren. Sie sind die Heinzelmänner.

Der Besuch der Heinzelmännchen lehrte mich, dass es so etwas wie Statusunterschiede auch unter Studenten gab. Wer sich bei den Heinzelmännchen traf, wie die Ausländer und die Ostdeutschen, stand ganz unten. Mir fällt auf, wie distanziert ich schreibe: »Sie haben es nötig.« Als ob ich noch etwas Besseres sein wollte.

Über die Arbeitsvermittlung fand ich einen Sommerjob auf der zweitgrößten Baustelle Berlins am Ostkreuz. Ich arbeitete dort als Sekretärin in einem Baucontainer. An meinem 20. Geburtstag war mein erster Arbeitstag.

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i6. Juli 1994

Meine Füße stecken in klobigen braunen Sicherheitsstiefeln. Wenn ich über die Baustelle laufe, ziehe ich alle Blicke auf mich. Das hat nichts mit meinem Aussehen zu tun. Es gibt hier sonst keine Frauen. Die Bauarbeiter testen mich, probieren aus, wie weit sie gehen können. Man kann nur mit ihnen arbeiten, wenn man eine Balance zwischen zweideutigem Geplänkel und Distanz hält. Es ist sehr anstrengend. Die meisten sind Moslems aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie sind jung und ihre Augen flackern. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Flackern, was ist das für ein Wort.

Manchmal stehen sie plötzlich im Büro und wollen Schrauben, Schlüssel, Scherze. Ich habe keine Angst, sprachlich bin ich ihnen überlegen. Schlimmer sind die Bauleiter, bei denen jede zweite Bemerkung unter die Gürtellinie zielt. Ich bleibe locker, obwohl ich heulen könnte. Man darf nicht schreien, weil man damit Schwäche zeigt. Dann haben sie einen Angriffspunkt, in den sie immer wieder bohren.

Ich versuchte, die DDR zu vergessen, und zu ignorieren, dass mein Leben zweigeteilt war. Doch das Verdrängte kam immer wieder hoch. Ende August beobachtete ich eine Szene in der U-Bahn, die mir so wichtig war, dass ich sie aufschrieb.

31.8.1994

Ein Mann spricht einen anderen schroff an, der gerade eine Zeitung liest. »Scheiß Kommunisten-Blatt. Warum liest du das?« Der Leser des Neuen Deutschland schaut auf meint der mich?

»Die Kommunisten sollten alle eingesperrt werden, die haben Deutschland geteilt.«

Der ND-Leser widerspricht.

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»Ach, hör bloß auf mit den zwei deutschen Staaten. Es gab immer nur ein Deutschland«, sagt der Schroffe.

»Aber die BRD!«

»Die BRD sagt der! Das war doch kein Ausland. Wir gehörten immer zusammen.«

Der Mann regt sich weiter auf. Er scheint ein Kurzzeitgedächtnis zu haben.

Ich kenne ihn, vor sieben Jahren sah ich ihn mit einem Transparent marschieren: Wir bauen den Kommunismus, Frieden, Wohlstand für alle.

Ich möchte kreischen schreien heulen.

Wer war der Mann, den ich meine erkannt zu haben? Es ist vielleicht nicht wichtig. Die Szene war typisch für die Zeit. Es gab zwei Möglichkeiten, mit der Vergangenheit umzugehen, man konnte vor dem Fernseher sitzen, sich Nostalgieshows angucken, Plattenbau-Memory spielen und Neues Deutschland lesen, oder man konnte so tun, als sei man schon immer für die deutsche Einheit gewesen. Beides forderte viel Selbstverleugnung.

Wenn ich meine Aufzeichnungen lese, spüre ich zwischen den Zeilen immer mehr den Druck, mich für etwas entscheiden zu müssen.

I. September 1994

Ich beschäftige mich mit der Frage, inwieweit der Mensch sein Leben selbst bestimmen kann. Inwieweit hat er die Fähigkeit dazu?

Ich möchte wissen, ob der Mensch glücklicher ist in einer liberalen Gesellschaftsordnung, die dem Individuum das Recht auf Selbstbestimmung ermöglicht. Oder ob der Mensch sich eher wohl fühlt in einer Ordnung die Werte und Rich-

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tungen vorgibt? Kann der Mensch mit der Freiheit umgehen? Kann der Mensch selbst Orientierungspunkte jenseits von Schule, Beruf usw. setzen? Und diese auch im Auge behalten?

Alle klagen heute über den Verlust der Werte. Früher scheint alles besser gewesen zu sein. Heute sieht sich jeder nur selbst und seinen Konsum. Die Jugend ist verwahrlost, so sagen es alle.

Den Menschen fehlen feste Orientierungspunkte. Sie wissen nicht mehr, wie viel Beziehungen zu anderen wert sind. Sie wissen nicht, was morgen kommt.

Sie haben Angst vorm Ozonloch, vor vergiftetem Fleisch und davor, dass ihre Lieblingsfernsehserie ausfällt.

Andererseits: Wie breit war die Basis in der DDR, auf der es idealistische Ziele gab?

In die Gegend, in der ich wohnte, waren nach der Wende viele Neonazis gezogen. Wenn ich abends am S-Bahnhof Nöldnerplatz ausstieg, hatte ich Angst, den kürzeren, aber dunklen Pfad zum Wohnheim zu benutzen. Einige Studenten waren schon überfallen worden. Ich machte lieber einen größeren Bogen.

 

3. September 1994

Streit zu Hause. Ich verschwinde. Ich wünschte, jemand würde mich davon abhalten.

Mir wurde irgendwann zu viel Freiheit gewährt. Ich glaube, anderen in meinem Alter geht es auch so.

Sie schneiden sich die Haare ab, rasieren sich den Schädel, obwohl sie lieber lang trügen. Sie küssen irgendwelche Typen, die sie gar nicht mögen. Sie hoffen, jemand hält sie auf, straft sie. Aber es passiert nichts. Lass den Jungen doch, er muss selbst wissen, was er tut. Sagen die Alten im Dorf.

Dann pinnt er sich die Deutschlandkarte mit den Grenzen von 1939 an die Wand und dreht die Stereoanlage auf. Wir wollen nur eingeschränkt werden, auch wenn wir das nie zugeben würden.

Woran sollen wir uns orientieren, wenn wir alles dürfen. Bis das Gesetz greift, ist es zu spät.

Alles ist erlaubt, keine Grenze darf nicht überschritten werden. Da sind wir wieder bei der Selbstbestimmung.

Täglich liest man von Überfällen auf Ausländer. Schändung von Friedhöfen. Dauernd grölen Glatzköpfe rechte Parolen und pöbeln Leute in der S-Bahn an. Es ist kein politisches, sondern ein soziales Problem! Wie ist das jetzt mit den Grenzen?

Wenn ich das heute lese, bin ich überrascht, wie viel ich damals schon erkannte - und wie blind ich gleichzeitig war. Nicht nur die anderen, die sich den Schädel rasierten und die Deutschlandkarte in den Grenzen von 1939 aufhängten, waren empfänglich für einfache Wahrheiten. Auch ich sehnte mich nach Übersichtlichkeit, nach Einfachheit, nach einer Heimat. Ich hätte wahrscheinlich auch Islamistin, Scientologin oder vielleicht, unter besonderen Umständen, Neonazi werden können. Es war nur eine Frage, wer mich zuerst ansprach.

120-121

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