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10  Brüder und Schwestern 

 

 

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Ich war in Eile, ich rannte durch die Republik, ich verschickte Bewerbungen für Praktika in Zeitungsredaktionen, immer aus Angst, später als Taxifahrerin zu enden, wenn ich mich nicht genügend anstrenge. Meinen Eltern erzählte ich nichts von dem Druck, den ich spürte. Sie sahen nur, wie unabhängig und selbstständig ihre älteste Tochter war. Ich wollte sie nicht belasten. Ich hätte auch nicht gewusst, wie sie mir hätten helfen können. Sie kannten niemanden bei einflussreichen Stellen und sie wussten auch nicht, wie man Bewerbungen am Computer schrieb.

Im Frühjahr 1995 machte ich eine Bekanntschaft, die mein Leben verändern sollte. Für eine Hospitanz ging ich nach Hamburg und zog in eine WG mit einer Frau, die nur wenige Jahre älter war als ich, eine Modedesignerin.

Obwohl Hamburg viel reicher und fremder war, wirkte die Stadt auf mich weniger bedrohlich als Berlin, die Großbaustelle. Die U-Bahn war keine richtige U-Bahn, sondern ähnelte einer überdimensionierten Modelleisenbahn, die auf Stelzen durch die Stadt glitt. Kein Krümelchen lag in den Wagen auf dem Boden, blonde Menschen saßen selbstzufrieden auf den Sitzen und schauten aus dem Fenster.

Die Hamburger hielten ihre Stadt für die schönste der Welt. Die Bahnhöfe trugen lustige Namen: Sternschanze, Schlump, Mümmelmannsberg. Das klang eher nach den sieben Zwergen als nach Großstadt. Was sollte Schlimmes in einer Stadt passieren, deren U-Bahn-Stationen Schlump und Mümmelmannsberg hießen? Ein Überfall auf Schneewittchen? Die Mümmelmänner schlagen zurück? Nachdem ich monatelang auf einer Baustelle geschuftet und abends einsam in einem Lichtenberger Wohnheim über die Grenzen der Freiheit nachgedacht hatte, fühlte ich mich schon auf der U-Bahn-Fahrt zur WG seltsam beschwingt und heiter.

Das Haus, in dem ich die nächsten zwei Monate wohnen sollte, stand an einer großen Straße im Stadtteil Winterhude. Gleich am Eingang gab es einen Bäcker, daneben reihten sich Geschäfte, die teuer aussahen. Auf fünfzig Metern konnten sich die Hanseatinnen dreimal die Haare fönen lassen, im Haarlekin, im Haarexpress und im Haarkontor. Das Restaurant Arizona servierte Steaks. Wahrscheinlich gab es diese Läden schon seit zwanzig Jahren, und es würde sie auch zwanzig Jahre später noch geben.

Auf jemanden wie mich, in dessen Leben in den vergangenen Jahren wenig gleich und verlässlich geblieben war, wirkte diese Beständigkeit beruhigend. Im Treppenhaus lag ein Teppich, an der Tür hing ein Messingschild mit dem Namen der Frau. Katharina war groß und schlank, die schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Obwohl sie nur Jeans, T-Shirt und sehr wenig Make-Up trug, sah sie perfekt gestylt aus. Nichts saß schief. Kein Haar lag an der falschen Stelle.

Ihre Anmut wirkte noch stärker, wenn man mich neben ihr sah. Ich war leicht übergewichtig, trug Reno-Schuhe, Billigjeans und ein weites Sweatshirt mit der Aufschrift »Steffi-Moden«. Meine Haare klebten am Gesicht, ich schwitzte von den Treppen und der schweren Tasche.

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Ich sah mich um. Die Wohnung war riesig, allein schon der Flur schien nicht zu enden, überall entdeckte ich Türen. Hier hätte eine Großfamilie wohnen können. Kaum zu glauben, dass eine 28-jährige alleinstehende Frau so viel Platz brauchte. Weiße Flügeltüren öffneten sich zu einem mit Stuck dekorierten, spärlich eingerichteten Wohnzimmer.

Auf dem Parkett stand ein schneeweißes langes Sofa. Sonst sah ich kaum Möbel, auch wenige persönliche Gegenstände. Selbst die Tasse auf dem Couchtisch schien unbenutzt zu sein und nur aus dekorativen Gründen dort zu stehen.

Ich traute mich nicht, mich zu regen. Ich wollte nichts schmutzig machen. Ich stand nur da und bestaunte alles mit großen Augen. Es war für mich, als würde der Westen in dieser Hamburger Altbauwohnung noch einmal seine Überlegenheit zur Schau stellen. Vor dem Fenster rankten Rosen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sich jemand, der nur wenige Jahre älter war als ich, eine solche Wohnung leisten konnte. Ich wollte wissen, wo Katharina arbeitete. Die Antwort verblüffte mich. Sie sagte, sie sei arbeitslos. »Im Moment«, fügte sie hinzu. Deshalb sei sie gezwungen, ein Zimmer unterzuvermieten.

Katharina schien nicht darunter zu leiden, keine Arbeit zu haben. Es hatte offenbar auch keine Auswirkungen auf ihren Lebensstandard. Sie hatte diese große Wohnung, im Bad lagen teure Lippenstifte.

Ich dachte an meinen Vater, der sieben Monate lang zu Hause gesessen hatte. Der Unterschied war, dass sich Katharinas Kombinat nicht aufgelöst, sondern dass sie selbst entschieden hatte, zu Hause zu bleiben. Sie wollte sehen, was sich ergab. Ich musterte sie neugierig.

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Sie schien genau zu wissen, was sie wollte. Und sie schien sich sicher zu sein, dass sie das auch bekommen würde. Ich wäre gern so gewesen wie sie. Ich hatte noch nicht mal meine Tasche ausgepackt, und fing bereits an, meine neue Mitbewohnerin zu bewundern.

Sie übereichte mir ein Stück Papier, das in Zellophan eingeschweißt war. Hausordnung, stand darauf. Darunter hatte sie Verhaltensregeln aufgelistet, über eine stolperte ich besonders: Männliche Gäste waren nicht gestattet.

Solch ein Verbot schien so altmodisch, das passte gar nicht zu der modernen, coolen Frau, die neben mir stand. Sie sagte, dass sie in der Vergangenheit oft schlechte Erfahrungen mit Untermieterinnen gemacht hätte. Ich fragte nicht nach, sondern händigte ihr die Miete aus.

Am ersten Abend machte sie Salat zum Essen. Sie nahm dazu einen besonderen Essig, der sämig und fast schwarz war. Sie legte mit hölzernem Salatbesteck sorgfältig ein paar Blätter auf meinen Teller, ich probierte die dunkle Soße, sie schmeckte süßlich, mit einer feinen Säure. Der Essig schmeckte viel aromatischer als der, den ich von zu Hause kannte. Das sei Balsamico, belehrte mich Katharina. Aus Italien. Ich dachte, vielleicht hatte die Wende doch ihre guten Seiten: Balsamico, Mozzarella, Cappuccino.

Ich aß meinen Teller schnell leer, ich hatte im Zug nichts gesessen und war hungrig, ich wartete auf einen Nachschlag. Aber Katharina stellte die Salat­schüssel schon in den Kühlschrank. Für morgen. Sie sagte das mit Nachdruck in der Stimme, die keinen Widerspruch zuließ.

Danach verschwand sie in ihrem Wohnzimmer, und ich hatte das Gefühl, dass sie allein sein wollte. Sie brauchte das gar nicht zu sagen, sie hatte so eine Art, die mich auf Abstand hielt.

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In meinem Zimmer stand eine Schale mit Schoko-Hasen, es war nach Ostern. Ich schaute die Schoko-Hasen an, ihr Anblick machte mich ein wenig traurig. Ich fühlte mich einsam. 

An dem Abend rief ich meine Mutter an, nur kurz, weil Ferngespräche zu teuer waren. Ich hörte ihr zu, sie lobte den jungen Nachbarn, wie gut er den Garten pflege, und ihre Stimme klang sehr weit weg.

Ich hätte lieber mit Katharina im Wohnzimmer gesessen, aber ich traute mich nicht rüberzugehen. Ich hörte den Fernseher laufen. Ich aß die Schoko-Hasen auf und hoffte, dass es Katharina am nächsten Tag nicht auffiel.

Ich merkte erst gar nicht, wie religiös sie war. Religion war etwas für Schwache, sie schien nicht der Typ. Nur als mir einmal im Gespräch ein »Oh Gott« herausrutschte, reagierte sie komisch. Sie guckte streng, und mahnte, dass ich so etwas bitte nicht mehr sagen solle, solange ich in ihrer Wohnung wohne.

So etwas? Sie sagte, ich hätte gegen das Zweite Gebot verstoßen. Ich konnte mich nicht mal an das erste erinnern.

Ich kam aus der DDR, dem Land der Atheisten. Nach vierzig Jahren Repressionen gegen die Kirche gab es nirgendwo auf der Welt weniger Gläubige als im Osten. Man hatte sich in einem Leben ohne Gott eingerichtet, selbst am Ende, zu Beerdigungen, holte man lieber einen Redner als einen Pastor. Das ist bis heute so.

Religion hatte bei uns zu Hause nie eine große Rolle gespielt. Meine Mutter ging einmal im Jahr zu Weihnachten in die Kirche. Wie die meisten Kinder im Osten waren meine Geschwister und ich nicht getauft worden.

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Von den Zehn Geboten hatte ich als Siebenjährige gehört, in der Christenlehre. Wir waren eine kleine Gruppe gewesen, vielleicht zehn Kinder aus den Dörfern der Umgebung, die einmal die Woche ins Pfarrhaus kamen. In den Dörfern hatte die Religion überlebt, wenn auch nur als Ritual. Es war zu DDR-Zeiten üblich, dass Bauernkinder Konfirmation und Jugendweihe zusammen machten. An Weihnachten füllten sich die Kirchbänke, dann fror man auf den Holzbänken, wie aus einer perversen Lust heraus, sich vor dem großen Fressen und Saufen, zu dem Weihnachten geworden war, selbst zu bestrafen.

In der Christenlehre las der Pastor aus der Kinder-Bibel vor und erzählte von Jesus. Danach ging er um den Tisch und gab jedem ein Stück Westschokolade in die Hand. Es war kein schlechter Deal.

In der zweiten Klasse ging ich trotzdem nicht mehr hin, weil ich den Pastor nicht leiden konnte und nicht mehr an einen Mann mit weißem Bart im Himmel glauben wollte. Ich glaubte ja auch nicht mehr an den Weihnachtsmann. Als ich nach Eisenhüttenstadt zog, verschwand der Glaube völlig aus meinem Leben. In Eisenhüttenstadt gab es nicht mal Kirchtürme.

In der schicken Hamburger Altbauwohnung versuchte ich mich an das, was ich als Christenlehre-Kind gelernt hatte, zu erinnern. Du sollst nicht stehlen, du sollst Mutter und Vater ehren und du sollst nicht die Ehe brechen. Das waren drei. Welches war das zweite? Katharina half mir schließlich und sagte das Gebot auf: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.«

Oh. Das war das zweitwichtigste Gebot? Katharina nickte, es wäre nur erlaubt, Gott in der Not anzurufen, ihn zu preisen und ihm zu danken, erklärte sie. 

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Fluchen beschmutzte den Namen des Herrn. Dafür käme man in die Hölle. Nicht nur »Oh Gott«, sondern auch »Mein Gott«, »Oje«, »Meinje«, »Herrgott«, »Herrje« sowie »Gottogott« waren ab sofort verboten.

Ich hörte schweigend zu und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich sagte dauernd »Oje« oder solche Redewendungen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass sich jemand durch ihren Gebrauch beleidigt fühlte.

Aber meine Mitbewohnerin meinte das ernst. Das war kein Witz. Ich fand das durchgeknallt und war zugleich beeindruckt, wie sehr sie ihren Gott verteidigte, selbst bei solchen Kleinigkeiten. Sie funktionierte wie eine Soldatin.

Wie würde sie erst reagieren, wenn ich wirklich etwas Fieses über ihren Gott sagte? Mit Prügeln, mit Ausgehverbot?

Mir fiel danach auf, dass Katharina öfter über Gott redete, sie sprach über ihn, als wäre es nicht eine abstrakte Idee, sondern ein Freund. Ihr Gott. Sie begann ihre Sätze gern mit: »Und dann hat Gott zu mir gesagt.«

Ich merkte nicht, dass sie meistens über sich redete. Ihre Pläne, ihre Wohnung, ihr Gott.

Sie las mir abends aus der Bibel vor, den Korinther-Brief. »Nun bleiben aber Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Der Spruch wurde tausendfach vorgetragen, missbraucht, benutzt, ein ewiges Tauf-, Konfirmanden- und Hochzeitsmotto, wahrscheinlich ist kein anderer Bibelspruch so abgenutzt, aber mich, das DDR-Kind, konnte man damit 1995 beeindrucken. Ich war gerührt und wollte mir den Spruch aufschreiben. Das sei nicht nötig, sagte Katharina und schenkte mir ihre Bibel. Ich bedankte mich überschwänglich. Ich hatte jemanden gesucht, an dem ich mich orientieren konnte. Jetzt hatte ich jemanden gefunden.

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Erst im Nachhinein verstand ich, dass Katharina nur ihre Routine abspulte, sie hatte mich längst als das perfekte Opfer erkannt. Sie wusste, dass ich aus dem gottlosen Osten kam.

Sie erklärte mir, die Entscheidung für oder gegen Gott sei die wichtigste Entscheidung, die man im Leben zu treffen habe, wichtiger als die Wahl des Berufs oder des Partners. Denn wer sich nicht für Gott entscheide, lande in der Hölle.

Als ich meinen Mund verzog, weil mir das Wort Hölle so albern vorkam, wurde sie ernst. Sie sagte, die Hölle wäre nicht nur ein heißes Feuer, sondern der schrecklichste Ort, den ich mir vorstellen kann. Ein nicht enden wollender Alptraum. Ich fragte, was mit den Menschen sei, die getauft sind, wie meine Mutter, kommt sie in den Himmel? Katharina schüttelte den Kopf.

Der sanfte Druck gehörte auch zum Programm, das ich später selbst lernen würde.

Katharinas Freund, Frank, war Rettungssanitäter. Er wohnte nicht in Hamburg, sondern in einer Kleinstadt in Süddeutschland. Sie kannten sich nicht gut, aber Katharina war überzeugt davon, dass Frank der Richtige war. Sie hatten sich auf einem Missionseinsatz in Südafrika kennengelernt. Die Missions­gesellschaft hatte nicht erlaubt, dass sie sich küssten oder Händchen hielten. Sie durften sich nur heimlich treffen, das erhöhte den Reiz. Sie hatten gebetet, und ihnen sei klar geworden, dass sie zusammengehörten. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland wollten sie sofort heiraten.

Wenn Katharina ihre Geschichte vortrug, klang alles logisch und nachvollziehbar.

Sie zeigte mir ein Foto, auf dem sie mit ihrem Freund zu sehen war. Er sah auch sehr gut aus, mit Dreitagebart und längeren, lockigen Haaren. Ich war mir sicher, noch nie ein hübscheres Paar gesehen zu haben. Optisch passten sie perfekt zusammen.

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So viel Schönheit strahlte auch auf mich ein wenig ab. Ich war stolz, bei Katharina wohnen zu dürfen.

An einem Sonntagmorgen fragte Katharina mich, ob ich zum Gottesdienst mitkommen wolle. Mich interessierte dieser Gott, der so streng auf seine Namensrechte achtete wie ein amerikanischer Konzern und der sich auch als Heiratsvermittler betätigte. Außerdem wäre ich mit Katharina überall hingegangen. Als ich in Berlin war, hatte ich mich allein gefühlt, orientierungslos, das vermeintliche Selbstbewusstsein meiner Kommilitonen hatte mich eingeschüchtert, die Widersprüche der Zeit hatten mich durcheinandergebracht, auf einmal fand ich jemanden, an den ich mich klammern konnte. Ich verehrte sie still und sehnte mich nach Anerkennung von ihr. In ihrem Badezimmer benutzte ich ihren teuren Lippenstift und guckte im Spiegel, wie ich aussah. Danach wusch ich die Farbe schnell wieder ab.

Der Gottesdienst fand im Norden Hamburgs in einer umgebauten Fabrik statt. Nichts erinnerte an eine Kirche, wie ich sie kannte: kein Turm, keine Orgel, keine Holzbänke.

Mein Blick glitt durch den modernen vertäfelten Saal, ich sah eine Videoleinwand und eine große Lichtanlage. Im Saal füllten sich langsam die Stuhlreihen. Es lag eine Vorfreude in der Luft, die sich auf mich übertrug. Auf der Bühne lehnten Instrumente, als würde gleich ein Popkonzert losgehen, selbst ein Schlagzeug entdeckte ich. Vorn prangte ein dezentes, gläsernes Kreuz. Ansonsten deutete nichts darauf hin, dass es sich um eine Kirche handelte.

Später lernte ich, dass viele Freikirchen so gestaltet waren, um nicht abschreckend auf Ungläubige zu wirken. Bei meinem ersten Besuch wusste ich noch nicht mal, was eine Freikirche war, wie viele Ausprägungen es gab, worin der Unterschied zwischen »evangelisch« und »evangelikal« bestand.

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Ich merkte nur, dass meine neue Freundin mit einer gewissen Verachtung über die Landeskirchen sprach. Sie bemängelte, dort gebe es kaum »wiedergeborene Christen«. Wiedergeboren, das klang für mich nach Esoterik, nach Buddhismus. Ich dachte an Männer, die behaupteten, in ihrem früheren Leben der Zar von Russland gewesen zu sein oder ein Hund. Aber damit hatte das, was Katharina meinte, offenbar nichts zu tun. Ich musste noch viel lernen. Katharinas Kirche gehörte einem unabhängigen Bund an, der 1874 in Wuppertal gegründet wurde und zu dem heute 426 Gemeinden mit rund vierzigtausend Mitgliedern zählen.

Ich war ein bisschen aufgeregt, wegen der vielen fremden Gesichter, ich lief nur Katharina hinterher. Ich bemerkte die vielen jungen Leute, die in den Saal kamen. Sie umarmten sich herzlich, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.

Ich weiß nicht, ob mir schon damals auffiel, wie übertrieben das alles war, das Lachen, die Umarmungen. Als müsste das Innere nach außen gekehrt werden. Wie im Theater. Ich fügte mich dort ganz leicht ein, als ob ich meine Rolle schon lange früher einstudiert hätte.

Ein älterer Mann, vielleicht der Pfarrer, begrüßte die Besucher und fragte, ob Gäste da wären. Eine Frau hinter mir stand auf und stellte sich vor. Sie sagte ihren Namen und ihre Gemeinde. Katharina stieß mich an. Also stand ich auch auf. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Alle Augen ruhten auf mir, mein Herz klopfte, mein Gesicht färbte sich rot. Ich nannte nur meinen Namen und gab an, dass ich aus Berlin käme. Das schien auszureichen, denn der Gottes­dienst fing an.

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Jemand trommelte auf das Schlagzeug, ein Mädchen trat ans Mikrofon und begann zu singen. Die Leute standen auf, manche hoben ihre Hände und sangen mit. Der Text war englisch, die Melodie eingängig. Bei der zweiten Strophe stimmte ich mit ein. Ich hatte als Kind gern gesungen, auch die Kampf- und Pionierlieder, auch wenn man das fünf Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr sagen durfte, ohne als Kindersoldat zu gelten.

Ein junger Mann ging nach vorn, er trug Shorts und einen Bart, er sah nicht wie der Pfarrer aus. Er stellte sich als Sigmar vor und erzählte eine Geschichte aus der Bibel, es ging um einen Vater und seine zwei Söhne. Der Vater teilte das Erbe auf, der jüngere Sohn ging in ein fernes Land und gab sein Geld aus, bis nichts mehr übrig war. Als eine Hungersnot kam, musste er als Tagelöhner arbeiten und Schweine hüten. Er aß aus dem gleichen Trog wie die Schweine und fühlte sich verlassen. Sigmar sagte, dass der Junge sich leer und einsam fühlte, weil er sich von seinem Vater entfernt hatte.

Dann machte er eine Kunstpause. Wir sollten darüber nachdenken, was das mit unserem Leben zu tun hat. 

Hast du dich von deinem Vater, von Gott entfernt? Direkte Anrede. Es war ein einfacher psychologischer Kniff, den ich tausendmal wieder hören würde, der sich abnutzen würde, aber damals funktionierte er.

Sigmar sagte, die Menschen hätten sich abgewendet von Gott, um ihr eigenes Ding zu drehen. Weil sie sich stark fühlten, hätten sie Gott lächerlich gemacht. Sie hätten sich anderen Göttern zugewandt, Geld, Karriere, Sex, Drogen. Spürst du nicht manchmal auch eine Leere in deinem Leben?, hörte ich. Ich nickte unwillkürlich. Ich hatte nun das Gefühl, dass Sigmar, der Prediger, nur zu mir sprach. Ich verstand genau, was er sagte. Hatte ich nicht vor kurzem dieselben Worte benutzt, um das Gefühl nach dem Mauerfall zu beschreiben? Diese Leere, die folgte?

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Ich hatte zwei Semester in Berlin studiert und alles getan, was das System verlangte, ich hatte Seminare und Sprechstunden besucht, Papiere abgegeben und Scheine gemacht. Doch wozu das Ganze?

Ich dachte an den Staat, in dem ich nun lebte. Soweit ich es verstanden hatte, ging es im Westen hauptsächlich darum, viel Geld zu verdienen und Besitz anzuhäufen. Mir erschien das zu wenig für ein Leben. Die DDR, das alte Skelett, wollte ich auch nicht wiederhaben. 

Aber ich vermisste einen höheren Sinn. Ich spürte, wie sich eine Enttäuschung in mir breitmachte, die ich nun klar mit dem westlichen System verband.

Gepredigt wurde Freiheit und Toleranz und Mitbestimmung, aber in Wahrheit war der Einzelne so unfrei wie früher. Wie mein Vater gesagt hatte: Wir träumten vom Reisen und bekamen die Arbeitslosigkeit. Die Wände waren aus Gummi.

Bei Vaclav Havel hatte ich gelesen, dass die Entfremdung des Menschen im Westen ähnlich fortgeschritten sei wie im Osten, das westliche System manipuliere nur unendlich feiner.

Heute denke ich, ich hätte dort sitzen bleiben können, meinen Gedanken nachhängen, ich hätte nicht aufstehen müssen, um mein Leben Jesus zu übergeben. Aber damals hatte ich keine Wahl.

Wie die Geschichte aus der Bibel weitergeht, ist bekannt: Sohn kehrt zum Vater zurück, Sohn bereut, Vater freut sich, Happy End.

Sigmar musste jetzt nur noch das Happy End im Saal herbeiführen. Es wurde ganz still. »Gott ist auch jetzt hier«, rief er.

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»Die Leere, die ihr spürt, das ist die Leere, die Gott hinterlassen hat. Der Vater möchte mit euch zusammen sein, er will euch eine neue Heimat geben«, Sigmar machte eine weitere bedeutungsvolle Pause. »Er liebt dich, er liebt jeden Einzelnen hier.«

Es klang kitschig, aber auch tröstlich.

Sigmar setzte nun sein feierliches Gesicht auf. »Ihr könnt Jesus nicht mit dem Verstand fassen, sondern nur mit dem Herzen. Wenn euer Herz jetzt klopft, dann solltet ihr das ernst nehmen als ein Zeichen von Gott. Alle, die Jesus in ihr Herz lassen wollen, bitte ich nach vorn«, sagte er. Ich schaute zu Katharina. Sie rührte keine Miene.

Die Geschichte mit dem Vater, der seinen Sohn sterben ließ, um die Menschen zu retten, gefiel mir in ihrer Einfachheit. Ich wiederholte still den Satz. Gott liebt dich.

Warum nicht? Wer wollte nicht geliebt werden?

Ich gab mir einen Ruck, stand auf und ging nach vorn. Ich schaute mich um und sah beruhigt, dass ich nicht die Einzige war, drei, vier andere Besucher stellten sich neben mich. Wir fassten uns an den Händen. Sigmar legte nacheinander die Hände auf unsere Köpfe und betete für uns. Ich spürte seine warmen Hände und stellte mir vor, dass es Gottes Hände waren.

Ich ließ mich gern in das Gefühl hineinschaukeln: Ich musste bekennen, dass ich gesündigt hatte und dass ich Jesus in mein Herz lasse. Das fiel mir leicht, das klang harmlos. Ich merkte gar nicht, wie ich manipuliert wurde. Ich wollte es vielleicht nicht merken. Ich fühlte mich geborgen in den fremden Händen.

Die anderen Gottesdienstgäste klatschten, fremde Menschen kamen auf mich zu und umarmten und küssten mich. Ich gehörte plötzlich dazu. Vielleicht war es die ganze Zeit um nichts anderes gegangen: das Dazugehören-Wollen.

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Ich bekam Geschenke überreicht, ein kleines Päckchen, das mit einer Schleife umwickelt war, darin eine kleine Bibel, Broschüren und Bonbons. Es war wie eine warme Welle, die Hoffnung, Liebe und Trost versprach. Ich fragte mich nicht, woher diese Päckchen kamen, wer das vorbereitet hatte. Wer konnte wissen, dass ich nach vorne gehen würde?

Später erfuhr ich, dass ich an jenem Sonntag an einer missionarischen Großveranstaltung teilgenommen habe, die die Gemeinde alle zwei Jahre organisierte. Alle Mitglieder wurden aufgefordert, Ungläubige mitzubringen. Meine Mitbewohnerin, die Missionarin, hatte nur das gemacht, was sie immer machte.

Ich war nur eine von vielen verlorenen Seelen, die sie gerettet hatte. Jahre später würde sie sich nicht mehr an mich erinnern können.

Nachdem ich Jesus in mein Herz gelassen hatte, war ich auch würdig, zu Katharinas Hochzeit zu kommen. Sie lud mich zu ihrer Feier ein. Ich half ihr, die Rosen auf ihr seidenes Hochzeitskleid zu sticken, das sie selbst entworfen hatte, und bastelte die Tischdekoration. Die Feier fand in einem exklusiven Segelklub an der Alster statt. Es war meine erste Hochzeit, ich erzählte stolz meiner Mutter davon. Dass meine Freundin Katharina eine wiedergeborene Christin war und mich auch konvertiert hatte, das sagte ich nicht.

Ich sprach lieber davon, dass ich neuerdings öfter in die Kirche ginge, ohne das genauer zu differenzieren. Das müsste ihr schmeicheln, da sie doch selbst in meinem Alter in die Junge Gemeinde gegangen ist.

Katharina hatte Frank für die Trauung die Finger mit farblosem Nagellack lackiert, so dass sie glänzten. Sie sahen beide wie Models aus. Das Fest, mit Tänzen und Opernmusik, war eine Show der Eitelkeiten, aber ich dachte, ich würde nie wieder eine stimmungsvollere Hochzeit erleben. Die meisten Gäste gingen am späten Nachmittag. 

Am Abend war eine kleinere Feier für Freunde und Familie geplant. Ich nahm selbstverständlich an, dass ich dazugehörte.

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Ich stand an der Alster auf dem Bootssteg, das Holz knarzte unter meinen Füßen, der Wind strich über meine Haut, ich sah das Wasser, das aussah, als hätte jemand einen Haufen Diskokugeln hineingeworfen. Darauf tanzten die Boote. Hinter den Bäumen am Ufer lugten weiße Villen hervor. An einem sonnigen Tag konnte man fast glauben, man wäre in Italien.

Während ich auf das Wasser schaute, fühlte ich eine Gelassenheit und Freude, die mir fremd war. Und ich dachte, das muss der Gott sein, zu dem ich nun bete. Es konnte kein Zufall sein, dass ich ihn in Hamburg gefunden hatte. Sollte ich vielleicht ganz nach Hamburg ziehen?

Als das Abendessen losgehen sollte, suchte ich nach einem Namensschild. Ich ging mehrmals um die Tische herum, doch ich fand meinen Namen nicht. Ich war davon überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handeln musste. Ich fühlte mich Katharina besonders verbunden, ich hatte mit ihr gelebt, sie hatte mich zu Gott geführt.

Es gab aber kein Schild. Katharina hatte mich nicht eingeladen. Sie war überrascht, dass ich die Feier nicht mit den anderen Gemeindemitgliedern verlassen hatte. Als sie das Missverständnis merkte, wollte sie aber auch nicht so herzlos sein und mich wegschicken. Sie malte mir schnell ein Schild, und für mich wurde ein Stuhl an einen Tisch dazugestellt. Ich war so beseelt, dass ich die Blicke der anderen Gäste ignorierte.

Es war ein kleines Missverständnis, aber ein Vorzeichen für die größeren, die noch kommen sollten.

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Ich mag die klare, poetische Sprache der Bibel: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, lautete der erste Satz des Buches Mose. »Und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach, es werde Licht! Und es ward Licht!« Das klang so schön, dass ich es unbedingt glauben wollte.

Ich ging mit Gott einen unausgesprochenen Deal ein. Er würde mir zuhören, mich trösten und mir meine Entscheidungen abnehmen. Im Gegenzug dazu würde ich ihn als übernatürliche Intelligenz und übermenschliche Kraft akzeptieren. Die Bibel würde ich Wort für Wort, buchstäblich als Gottes Botschaft annehmen. Es war eine Entscheidung, an der ich keinerlei Zweifel hatte.

Sechs Jahre nach der Wende sehnte ich mich nach Vorbildern, nach einem Halt, nach einer Orientierung.

Wenn Katharina eine clevere Neonazi-Frau gewesen wäre, oder eine radikale Muslimin, hätte sie mich vielleicht ganz genauso auf ihre Seite gezogen. Der Inhalt schien fast austauschbar. Ich kam aus einer Welt, in der zwischen Gut und Böse unterschieden wurde. Man konnte nicht beides sein, man musste sich entscheiden. Das machte mich anfälliger für einfache Wahrheiten.

Mit diesen Mustern war ich aufgewachsen, die legt man nicht so schnell ab. Das war mir damals nicht bewusst. Wäre ich gefragt worden, hätte ich wahrscheinlich sogar abgestritten, dass die sozialistische Erziehung Spuren in mir hinterlassen hatte.

Erst im Nachhinein ergab alles Sinn. Ich fiel in eine angelernte Rolle zurück.

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Auch der Kommunismus funktionierte wie eine Religion, mit Merksätzen, Heiligenfiguren und einem Heilsversprechen. Das Leben war wie im Christentum auf die Zukunft ausgerichtet, auf ein Paradies, in dem alle Klassengegensätze überwunden sind.

Die Geschichte war die Geschichte des Klassenkampfes, Freie gegen Sklaven, Patrizier gegen Plebejer, Baron gegen Leibeigene. Irgendwann würden die Gegensätze überwunden und zu einer neuen Gesellschaft, zu Wohlstand und dem Ende der Unterdrückung führen. Proletarier aller Länder vereinigt euch!

Ich ersetzte eine Religion durch die andere, mit dem Unterschied, dass ich diesmal mit vollem Herzen dabei war.

Mein neuer Lenin hieß Jesus.

Die ersten Wochen und Monate, nachdem ich Jesus in mein Herz gelassen hatte, erlebte ich als Befreiung. Das Leben fiel mir leichter, ich brauchte weniger Schlaf, trat selbstbewusster auf. Es war ein Gefühl, wie es Verliebte kennen.

 

Im Sommer meldete ich mein Wohnheim-Zimmer in Berlin ab, packte meine Sachen und fuhr nach Hamburg. Über eine Annonce fand ich ein kleines Zimmer in einer WG in Hamburg, nicht weit weg von der Universität.

»Die U-Bahnstation heißt Christuskirche«, jubelte ich in meinem Tagebuch. Das reichte für mich als Zeichen, dass Gott das Zimmer für mich ausgesucht hatte.

Für eine junge Frischbekehrte, die ehrgeizig und lernwillig war, boten die Fundamentalisten zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten. Ich besuchte dauernd Schulungen, ließ mich indoktrinieren. Ich wollte alles richtig machen.

Ich nahm alle Regeln an, ich lehnte Sex vor der Ehe und praktizierte Homosexualität ab, ich ließ mich taufen, organisierte Jugendgottesdienste und betete täglich.

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Gerade die Regeln, die dem postmodernen Mainstream widersprachen - kein Sex, gegen Homosexualität - gefielen mir. Sie gaben mir Halt und Bedeutung. Es waren die Grenzen, die ich mir noch vor knapp einem Jahr gewünscht hatte. Ich hob mich ab von den Gleichaltrigen, die Oasis und Madonna hörten, Liebeskummer hatten und vom Rucksacktrip durch Indien träumten.

Im Juli 1995 besuchte ich eine Schulung von amerikanischen Missionaren, sie wurde auf Englisch gehalten, ihr Titel: <Strategies of non-conformism>. 

Ich hatte inzwischen gelernt, dass das Wort evangelikal aus den USA kam und die wahren Christus-Gläubigen beschrieb. Die deutsche evangelikale Bewegung orientierte sich an Amerika, von dort kamen die Vorbilder, sie hießen Billy Graham, Benny Hinn, Bill Hybels. Man sprach in einem Mix aus Deutsch und Englisch, das gab den Zusammenkünften ein internationales Flair.

In dem Seminar ging es darum, wie man sich am besten dem Zeitgeist entzieht. Ich notierte mir die wichtigsten Regeln in mein Tagebuch. Die Botschaften, die die Missionare übermittelten, klangen auf Englisch auch viel besser als auf Deutsch. Das war wie bei Popsongs. Widersprüche fielen nicht so schnell auf.

Exit from temptation hörte sich besser an als Geh der Versuchung aus dem Weg, No compromises klang radikaler als Keine Kompromisse, und selbst der Satz: Loyalty to god not society las sich wilder als Diene Gott, nicht der Gesellschaft und dem Staat.

No compromises ist drei Mal unterstrichen. Kompromisse sah ich als Zeichen von Schwäche und Unordnung.

Wenn ich das heute lese, frage ich mich, ob ich wirklich verstanden hatte, was diese Aussage in voller Konsequenz bedeutet hätte: Diene Gott, nicht der Gesellschaft und dem Staat. Das hätte bedeutet, dass ich das Grundgesetz ablehnen müsste, die Meinungsfreiheit, die Kritik an Religionen erlaubt, und wenn ich in einen Konflikt mit dem Gesetz gekommen wäre, hätte ich weltliche Gerichte nicht akzeptieren dürfen. Diene Gott.

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Ich lese die weiteren Merksätze, die ich notiert habe:

Verhalte dich, wie Jesus sich verhalten hätte, egal ob du Krankenschwester oder Journalist bist.

Ich weiß nicht mehr, wer mir diese Sätze diktiert hat. Mich erschreckt meine Naivität. Woher sollte ich wissen, wie Jesus sich im Jahr 1995 verhalten hätte? Wie kann Jesus, ein pazifistischer Orientale, der vor zweitausend Jahren lebte, ein Vorbild für das Leben im 20. Jahrhundert sein? Was bedeutet es, wenn sich eine Krankenschwester so verhalten soll wie ein Zimmermann? Und wie konnte Gott ein liebender Vater sein und sich zugleich wie ein kleinlicher Diktator aufführen?

Aber solche Fragen stellte ich mir offensichtlich nicht. Ich fiel in meine angelernte Rolle zurück, keine Fragen zu stellen.

Jesus war mein Held, mein Idol.

Mein Tagebuch wurde mehr und mehr zu einem Gebetbuch, jede Seite ist mit Bibel- und Sinnsprüchen gespickt. Ich hatte ein Gegenüber: Jesus ist für mich gestorben, er hat mich neu gemacht, ich will ihn durch mich leben lassen, ich unterwerfe mich seinem Willen. Herr, gib mir Weisungen, wo ich wirken soll.

Die religiöse Sprache erscheint mir oft falsch und unnatürlich. Wie auswendig gelernt. Es war Teil des neuen Drehbuchs.

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Wenn Menschen zum Islam oder zum Buddhismus übertreten, geben sie sich neue Namen. Ich gab mir eine neue Biografie.

Ich sah überall Zusammenhänge, dass Gott mich schon zu DDR-Zeiten geführt hatte. Selbst die Mormonen in Eisenhüttenstadt deutete ich als Zeichen Gottes.

Ich war eine Bilderbuch-Konvertitin, wahrscheinlich kursierten längst Lehrvideos über mich: How to catch an Ossi.

Wie viele, die neu zu einem Glauben gefunden hatten, wollte ich alles richtig machen.

Die meisten in der Gemeinde hatten schon als kleine Kinder Jesus-Traktate verteilt, viele gingen auf christliche Schulen, in denen die Evolution nicht gelehrt wurde, sie empfanden ihren Glauben auch nicht als fundamentalistisch, sondern als normal. Ich hatte ständig das Gefühl, beweisen zu müssen, dass ich kein Fake war, indem ich mich besonders anstrengte und eifrig mitmachte.

Gleich im nächsten Sommer meldete ich mich freiwillig für einen Missionseinsatz in Berlin. Auf dem Breitscheidplatz in Berlin sprach ich nun Passanten an und erzählte von Jesus. Ich lief in einem langen Rock umher, unter dem Arm eine Bibel. Ich hatte eine zweitausend Jahre alte Geschichte hinter mir, die Spott und Kriege und Revolutionen überstanden hatte.

Mein Vater besuchte mich einmal auf dem Breitscheidplatz, aber er hatte es eilig, schnell wegzukommen. Mein Vater, der überzeugte Atheist, würde später sagen, dass er mein Auftreten befremdlich fand. Damals sagte er nichts.

Als ich schon in Hamburg lebte, entdeckte eine meiner neuen Freundinnen, Ruth, ein Pentagramm in meinem Regal. Ich hatte sie zum Beten eingeladen. Ich hatte gelernt, dass man die netten Mädchen aus der Kirche nicht zum Kaffee, sondern zur Andacht einladen musste, damit sie auch wirklich kamen.

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Das Teufelszeichen prangte auf einem Cover von <The Sisters of Mercy>. Ich hörte die Musik manchmal noch, sie erinnerte mich an Eisenhüttenstadt, als ich im Eastside zu »Temple of Love« getanzt habe.

Ruth bekam rote Flecken am Hals und sagte, dass der Teufel Musik benutze, um Menschen in sein Reich zu ziehen.

Bevor ich Jesus in mein Herz gelassen hatte, hatte ich mir nie Gedanken über den Teufel gemacht.

Ich hatte vor allem Möglichen Angst, vor Bakterien, Viren, Mundgeruch, einem Autounfall, einem Blitzeinschlag. Aber vor dem Teufel fürchtete ich mich nie.

Damit war es offenbar vorbei, wenn ich Ruths Aussagen richtig deutete. Jesus gab es nur im Doppelpack, der Teufel kam gratis dazu. Gut und Böse, Freund und Feind.

Ich wandte ein, dass die Musik harmlos sei, der Teufel sei auch nur in einer Liedzeile erwähnt. Ich konnte sie sogar auswendig: »And the devil in a black dress watches over / my guardian angel walks away.« Als ich die Zeile vortrug, nickte Ruth, das seien genau die Botschaften des Teufels. Sie würden das Unterbewusstsein beeinflussen.

Mir fielen Fragen ein: Nur weil ich ein Lied höre, in dem das Wort Teufel vorkommt, werde ich doch nicht zur Satanistin und schlachte Babys? Was ist das für ein kleinlicher Gott, der so wenig Vertrauen in seine Anhänger hat, dass er denkt, sie rennen bei der ersten Gelegenheit zum gegnerischen Team?

»Das Fleisch ist schwach«, flüsterte Ruth. Sie schloss die Augen und betete laut für mich, dass Gott mir den rechten Weg weisen solle. Ich verstand die Aufforderung. Keine Kompromisse, das hatte ich versprochen. Ich schmiss gleich alle CDs von <The Sisters of Mercy> weg. Ich vernichtete damit auch die Erinnerungen.

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Es gab nicht mehr viel, was mich mit früher verband. Die letzte Verbindung war meine beste Freundin, Marlene, die ich aus dem Internat in Eisenhüttenstadt kannte. Wir waren zusammen nach Berlin gezogen, aber seit wir beide studierten, hatten wir uns voneinander entfernt. Sie studierte an der TU Berlin, Wirtschaftsinformatik, ein klar strukturiertes Fach, das nur wenige Frauen auswählten. Sie schloss sich einer Lerngruppe an, fand neue Freundinnen.

Als sie von meiner Verwandlung erfuhr, reagierte sie geschockt. Sie sagte, dass Gott nur etwas für labile, leicht beeinflussbare Menschen sei. Marlene, Tochter zweier engagierter Kommunisten, hatte in ihrem Leben noch keine Kirche von innen gesehen. Sie wollte erst verhindern, dass ich nach Hamburg ziehe. Als das nicht funktionierte, ging sie zu einer Sektenberatungsstelle und schickte mir Informationsmaterial.

Mir gefiel das. Ich war auf einmal gefährlich.

Die Kirche wollte, dass ich den Kontakt zu Marlene abbreche. Wahrscheinlich, damit ich mich besser indoktrinieren lasse.

»Selbst die engsten menschlichen Beziehungen können enden, du bist abhängig von den Schwächen der anderen«, sagte Katharina, die ich immer noch bewunderte. Als mich Marlene in Hamburg einmal besuchte, hatte Katharina deutlich gemacht, dass sie meine alte Freundin nicht mochte. Sie wäre zu negativ, verbreitete schlechte Stimmung.

Ich ließ mich von ihr beeinflussen, als habe es die Jahre mit Marlene in Eisenhüttenstadt nicht gegeben. Es gelang ihr, mir einzureden, dass nicht ich, sondern meine Freundin schuld an dem Bruch war. Ich glaubte das gern, weil es für mich bequemer war. Ich hatte nichts falsch gemacht. In mein Tagebuch schrieb ich im Oktober 1995:

Ich bin nicht traurig oder wütend, dass ich sie verliere, ich spüre nur Mitleid. In ihrer Schwäche kann sie Gott, die Leere ihres Lebens, ihre Ängste nicht erkennen. Ich werde für sie beten. Ohne Gott hätte ich es nie geschafft, mich von ihr zu lösen.

Was ich damals nicht zugab: Ich rächte mich auch ein wenig an Marlene. In unserer Beziehung war sie stets die Stärkere gewesen. Sie war die Macherin, ich die Verträumte. Sie entschied, auf welche Konzerte wir gingen, welche Musik wir hörten. Sie sprach Jungs an und wurde angesprochen. Jetzt, mit meinem neuen Gott, fühlte ich mich überlegen.

Ich sah sie noch ein einziges Mal wieder, zwei oder drei Jahre später. Sie war inzwischen in eine Ein-Raum-Wohnung in den tiefsten Osten Berlins gezogen, nach Hohenschönhausen. Sie spielte tagsüber Billard in einer Eckkneipe und schaute sich Filme mit der Olsen-Bande an, eine dänische Serie, die in der DDR beliebt gewesen war. Über ihr Studium redete sie nicht mehr. Sie lebte in einer anderen Welt, unsere Welten waren nicht mehr kompatibel.

Wir redeten ein bisschen, umkreisten beide, was uns auseinandergebracht hatte, ohne es anzusprechen. Marlene würde mir nicht mehr verzeihen können, dass ich mich abgewandt hatte. Wir rangen beide mit dem Gestern, jeder auf seine Art. Wir waren zwei Verlorene, die durch die Zeit drifteten.

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11  Dämonen  

 

 

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Von außen hätte man mir nichts angesehen. Ich wirkte voll integriert, besuchte Seminare, hielt Vorträge, machte Scheine. Ich arbeitete still und diszipliniert an meinem Uni-Abschluss. Aber innerlich wanderte ich aus.

An den Sonntagabenden ging ich in eine neue Freikirche, die sich in einer verlassenen Fabrikhalle am Großmarkt in Hamburg niedergelassen hatte. Die Anskar-Kirche wurde 1988, ein Jahr vor der Maueröffnung, als Verein gegründet. Auch wenn sie in ihrer Werbebroschüre jeden religiösen Bezug vermeidet, gehört sie zu jenen evangelikal-charismatischen Kirchen, die beides beschwören: eine perfekte Bibel und eine persönliche Beziehung zu Jesus. Sie steht dem konservativen Netzwerk Evangelische Allianz nahe.

Als ich 1995 dazustieß, herrschte großer Enthusiasmus. Die Anskar-Kirche sollte eine Megachurch nach amerikanischem Vorbild werden. Im Rückblick gesehen hatte die Kirche Ende der neunziger Jahre ihre beste Zeit. Die Gottesdienste waren voll, jede Woche strömten zwar nicht Tausende wie bei Gemeinden in den USA, aber immerhin Hunderte in die ehemalige Fabrikhalle, um sich segnen zu lassen. Regelmäßig fanden Heilungsgottesdienste statt. Eine Kanzel gab es nicht. Wolfram Kopfermann, der Gründer, stand auf gleicher Höhe und sprach zu den Gläubigen wie zu den Mitgliedern eines elitären Klubs, sie waren die Klügeren, die Rechtschaffenen.

Anders als in den traditionellen Kirchen durfte jeder kommen und mitmachen, ohne sich sofort zu einer Mitgliedschaft zu verpflichten. Mir gefiel das. In der DDR war der Glaube ein Unterscheidungsmerkmal gewesen: Wer in der Kirche war, machte deutlich, dass er nicht dazugehören wollte. Es forderte Mut. Manche Pastoren genossen auch besondere Privilegien: Sie durften lange vor dem Mauerfall in den Westen reisen.

Nach der Wende wurde die Nähe zum Kirchenmilieu nützlich, wenn man politisch Karriere machen wollte. Die Bedeutung des Glaubens verringerte sich. Die evangelische Kirche akzeptierte Pfarrer, die Gott für eine Einbildung hielten und traute Paare, die nur wegen der schönen Fotos in die Kirche kamen.

Die Anskar-Kirche dagegen vertrat die reine Lehre.

Ich stand in einer Masse von Menschen, die Arme hoch in der Luft. Sie sangen das Lied vom Gott, der größer sei als alle anderen Götter, größer als Allah, größer als Jahwe. Dabei reckten sie ihre Arme nach oben, als wollten sie den Himmel berühren.

Ich sang mit, mir wurde warm dabei. Der Arm des Mädchens neben mir berührte meinen Arm zufällig. Ich kannte sie nicht, aber wir fassten uns an den Händen und sangen. Die Hand des Mädchens war warm und trocken. Ich fühlte mich leicht, als würde ich fliegen, ich war ganz frei. Es war wie in einem Traum, wenn man in einem Raum eingesperrt ist und plötzlich öffnet jemand die Tür.

Ich schloss die Augen, vor meinem inneren Auge bildeten sich Muster, helle Kreise oder Kugeln, die umhertanzten. Ich hielt das für ein Zeichen Gottes. Ich sah plötzlich überall Zeichen Gottes.

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Wir wiederholten manches Lied zehn, fünfzehn, vielleicht fünfzig Mal, bis wir uns in eine tranceartige Stimmung gesungen hatten. Manche fingen an zu lallen, als seien sie betrunken, bachalla tarall bachalla. Ich öffnete meine Augen einen Spalt, die Gesichter der anderen glänzten vor Verzückung. Ich ließ mich treiben. Das hatte alles so was Tierisches, Ekstatisches, Unvernünftiges. Da wo ich herkam, hätte man diese lallenden Geister für verrückt erklärt. Die gehört nach Teupitz, sagten die Erwachsenen früher, wenn jemand nicht ganz richtig im Kopf war. Das Städtchen Teupitz südlich von Berlin wurde gleichgesetzt mit dem Psychiatrie-Krankenhaus oder der Irrenanstalt, wie man unkorrekterweise sagte.

In der DDR galt die Wissenschaft als heilig, aber in den Dörfern war der Aberglaube nie ganz verschwunden. Wenn man eine Gürtelrose hatte oder schlecht schlief, ging man nicht in die Poliklinik in der Kreisstadt, sondern zu einer alten, weisen Frau, um die Gürtelrose und die Schlaflosigkeit mit magischen Sprüchen wegbeten zu lassen. Schwarze Katzen wurden im Dorf ertränkt. Zwischen Weihnachten und Neujahr durfte meine Mutter nie die Wäsche waschen, sonst würde der Tod im nächsten Jahr die Dorfbewohner bestrafen, in jedem Monat einen, bis zum Dezember zwölf Menschen tot wären, deren Seelen nicht zur Ruhe kamen, sondern unerlöst weiter herumspuken würden. Mit der Religion fand ich zur Magie zurück. Zu einer anderen Zeit, einer anderen Welt.

Ich hatte so ein Gefühl der Entrückung wie in Hamburg schon einmal erlebt, in Berlin, es war ein Samstagnachmittag, ich bummelte an den Schaufenstern am Tauentzien vorbei, als ich die Beats von Lastwagen hämmern hörte. Ich wusste nicht, wie die Musik hieß, es war nicht mein Stil, es war zu elektronisch, rau und hart.

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Dann kamen die Wagen näher, überall tanzten Menschen, nicht klassisch, sondern mit eckigen, abrupten Bewegungen, jeder für sich und doch alle zusammen, die Männer hatten ihre T-Shirts ausgezogen, die Mädchen trugen nur BHs. War das eine Demonstration? Eine Party? Die Tänzer kletterten auf Laternenpfähle und wippten dort weiter. Sie hatten weite, aufgerissene Pupillen, als sähen sie mehr als andere. Sie wirkten entrückt, wie Geister. Als würden sie einen unsichtbaren Gott anbeten. Den Ravergott. Es war ein toleranterer Gott als der, auf den ich später in Hamburg stoßen würde, man unterwarf sich keinen Regeln, keiner Kontrolle. Man tanzte alles weg. Der Rhythmus entwickelte einen Sog, es gab nur den Sound, meine Beine zuckten, ich wippte mit, begann auch zu tanzen, unbeholfen, aber hier guckte niemand. Ich tanzte bis zum Kurfürstendamm, und plötzlich waren die Geister verschwunden.

In der Anskar-Kirche stand ich nun schon eine Weile, ich vergaß die Zeit, vielleicht war eine Stunde vergangen, vielleicht auch nur zehn Minuten, so klar konnte ich das nicht mehr sagen.

Meine Hände hielt ich immer noch oben, mir war schwindelig, ich hatte Mühe, gerade zu stehen, ich schaukelte nach vorn und nach hinten, erst leicht, dann schneller. Die anderen schaukelten heftiger, einer fiel um und lachte.

Niemand saß nur auf der Bank und hörte mit gesenktem Kopf zu, wie in der Kirche, die ich von zu Hause kannte, wo der Pastor mit falscher, leidender Stimme sang. Selbst sein Händedruck fühlte sich hoffnungslos an.

Der Gottesdienst in der Anskar-Kirche war wie ein Event, laut, lebendig, modern. 

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»Wer von euch hatte eine Prophetie?«, rief der Pastor Kopfermann, mit einer Stimme, die keine Enttäuschung duldete, wie ein Lehrer, der Schulstoff abfragte. Einige Leute standen auf und wankten nach vorn auf die Bühne. Etwas in ihrer Haltung, ihrem Blick erinnerte mich an die Raver, an die Geister von Berlin. Doch es fehlte die Leichtigkeit, dieses Alles-egal-Gefühl. Die Geister traten mit einer Botschaft auf.

Ein Mann um die 50 erklärte, er habe einen dunklen Tunnel gesehen, dahinter ein Licht. Er interpretierte das so: Die Gemeinde werde das Licht nach Hamburg bringen und eine Erweckung erleben. Spätestens bis zum Jahr 2010.

Diese Prophetien entwickelten ihre eigene Dynamik. Der Pastor sprach ein Paar in der ersten Reihe an. »Ich sah euch Musik machen, Menschen sprachen englisch, ihr habt selbstgeschriebene Lieder aufgeführt, und Menschen übergaben ihr Leben an Jesus.« Das Paar guckte nervös, er starrte sie an, sie strich verschämt über ihre Augen.

Und jetzt?

Was, wenn sie das nicht wollen?

Wenn er will und sie nicht?

Ich bewunderte das Selbstbewusstsein, die Sicherheit, mit der der Mann seine Weissagungen traf. Ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, was in dem Gottesdienst passierte, ich war damit beschäftigt, die Geheimnisse der neuen Welt aufzusaugen. Ich wollte das alles so gerne glauben. Das vergangene Jahr nach dem Abitur hatte ich wie unter Strom verbracht. Jetzt war Ruhe. Zumindest für eine kurze Zeit war ich betäubt.

In der Gemeinde wurde nicht über den Osten geredet, und wenn, dann nur in überheblichem Ton. Es war die Phase der »Jammer-Ossis« und »Besser-Wessis«. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, aus der DDR ist längst ein Schauermärchen geworden.

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Aber damals, 1995/96, taugte die DDR noch zum Spott. Eine Freundin, die nach der Wende als 19-Jährige bei der neu gegründeten Regionalredaktion der Bild-Zeitung in Magdeburg anfing, erzählte mir später, wie ihr Wessi-Chef ihr jahrelang jeden Morgen eine Banane hinlegte.

Es war eine Anspielung auf das berühmte Titelbild aus der Titanic - Zonen-Gaby und ihre erste Banane. Das fanden sie lustig, die Westler. Die Ostler schlugen später zurück. »Besser-Wessi in Bernau erschlagen«, titelte die Super-Illu etwa auf dem gleichen Niveau. Die Schlagzeile führte dazu, dass manche Westdeutsche bis heute lieber im Kongo Urlaub machen würden als in Ostdeutschland. Jeder fünfte Westdeutsche war noch nie im Osten, fand eine repräsentative Umfrage heraus - 23 Jahre nach der Wende. Umgekehrt waren nur neun Prozent der Ostler noch nie im Westen.

Meine Freundin von der Bild-Zeitung nahm die Banane und zwang sich, ihren Chef anzulächeln. Jeden Tag. Man durfte keine Schwäche zeigen. Sie lernte mehr, arbeitete härter als alle anderen, und bald machte sie sich auch über die Ostler lustig. Anders kam man nicht weiter.

Ich wollte keine Ostlerin mehr sein, aber eine Westlerin wollte ich auch nicht werden. Ich suchte nach einer neuen Welt, mit neuen Regeln, neuen Ritualen, einer neuen Sprache und einer neuen Familie.

Ich las keine Romane mehr, sondern die Bibel. Ich hatte eine King-James-Bibel, eine Gute-Nachricht-Neuübersetzung, die Luther-Übersetzung und die Thompson-Studienbibel. Selbst in der Uni rannte ich zwischen den Seminaren aufs Klo, kniete vor dem Klodeckel und redete mit Jesus. 

Meine neue Sprache würde mir später in der Yoga-Stunde wiederbegegnen, aber zunächst erschien sie mir wie eine Geheimsprache. Sorgen und Gefühle werden an Gott abgegeben, Herzen werden geöffnet, Ruhe wird geschenkt. Alles im Passiv, nie tauche ich als handelnde Person auf.

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Ich lese in meinem Tagebuch die Worte Frieden, Ruhe, Versöhnung, sie sind als Sehnsucht formuliert, als Wunsch nach Harmonie. Es ist, als herrschte in meinem Kopf immer noch der Kalte Krieg, als suchte ich nach einem System, das Ordnung in das Chaos bringt.

Mir fallen die vielen Vergleiche zu Mutter und Vater auf, während meine richtigen Eltern gar nicht mehr auftauchen. Die Sätze aus meinem Tagebuch sind in einem Mix aus Englisch und Deutsch formuliert. Der Kitsch, die Widersprüche, das Unplausible störten auf Englisch weniger.

I have been adopted god's child.

Gott hat mich adoptiert. Ich hatte eine neue Familie. Als hätte ich zuvor nie eine gehabt.

Nicht alle wandten sich so von ihren Eltern ab und suchten sich Ersatzfamilien. Aber bei vielen, die die Wende als Kind oder Jugendliche erlebt haben, drehte sich danach das Verhältnis. Die Jüngeren passten sich an, lernten, zogen in den Westen, während die Älteren allein vom Alltagsleben überfordert schienen. Meine Eltern wissen bis heute nicht, wie man einen Geldautomaten bedient. Sie schlossen Versicherungsverträge ab, die sie nicht brauchten.

Die Familie zu Hause schien eine Falle, die mich daran hinderte, weiterzukommen.

Wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, dann erzählte ich wenig von meinem Leben. Sie hatte starke Migräneanfälle, sie konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als ihren Kopf. Sie sagte, sie sei depressiv und vielleicht war sie das auch. Sie redete über Backrezepte und Migränetabletten. Sie erzählte, wer im Dorf ein neues Auto und wer ein Kind bekommen hatte. Sie redete über Menschen, deren Namen mir nichts sagten. Manchmal erzählte sie von Menschen, über die sie in der Zeitung gelesen hatte. Ich saß am anderen Ende der Leitung in Hamburg und hörte zu.

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Mit 21 wird man von den Gerichten der Bundesrepublik als volljährig anerkannt. Mit 21 kann man sich in Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt zum Bürgermeister wählen lassen. Mit 21 darf man in den USA legal Alkohol trinken. Mit 21 bekamen unsere Mütter früher Kinder.

Ich wollte nochmal von vorne beginnen. Das wurde zumindest versprochen, wenn man sich zur Taufe meldete: eine Neugeburt, nicht weniger. Ich wurde mit 21 selbst wieder zum Kind.

Vorher ging ich zum Friseur, ließ mir die Haare kurz schneiden und dunkel färben. Als ich aus dem Friseur kam und an den Schaufenstern der Mönckebergstraße vorbeilief, schaute mich ein Jungsgesicht an. Ich erkannte mich selbst kaum.

Zur Taufe lud ich ein paar Freunde ein, die zusehen sollten, wie ich nun offiziell mein Leben als Ostlerin ablegte.

Das Taufbecken war in den Boden eingelassen, es war bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Der Pastor, Herr Kopfermann, gab mir ein weißes, langes Gewand, das ich über einen Badeanzug zog. Er selbst trug auch ein weißes, langes Gewand, wie man es im Orient bei den Urgemeinden getragen hatte. Wir waren angezogen, als stünden wir bei großer Hitze am Jordan und nicht in einem klimatisierten ehemaligen Konferenzzentrum in Hamburg.

Hinter mir stand noch eine Reihe anderer weiß gekleideter Gestalten, hier wurden neue Menschen wie am Fließband geformt.

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Wolfram Kopfermann war der Gründer der Anskar- Kirche und in Hamburg als Seelenfänger bekannt. Als ich ihn kennenlernte, war Kopfermann Mitte 50, er trug graumeliertes Haar, Goldrandbrille und einen Bauchansatz. Alles an ihm strahlte Seriosität aus. Er war der Typ, von dem man sich eine neue Niere oder neue Leber einsetzen lassen wollte.

Er sprach in seinen Predigten mit einer ruhigen Radiostimme, klang überlegen und streute Bezüge zu aktuellen Debatten ein. Er hatte Theologie und Soziologie studiert, das war etwas Besonderes, die meisten Prediger der evangelikalen Freikirchen hatten keine klassische Hochschulausbildung, sondern kamen von eher dubiosen Bibelschulen. Ich merkte nicht, dass vieles nur aufgesetzt war, er zitierte ein, zwei Sätze von Kierkegaard und Schopenhauer in seinen Predigten, und schon wirkte er selbst wie ein Philosoph auf mich.

Wenn Kopfermann keinen Talar trug, hatte er einen Anzug an und immer ein mildes Lächeln auf den Lippen. Wie es sich für einen wahren Seelenfänger gehört, war er für das Fußvolk unerreichbar. Nach den Gottesdiensten verschwand er schnell.

Was die Altnazis in Jena waren, war Kopfermann für mich: eine Autorität, eine Vaterfigur, ein Vorbild.

Er war akademisch gebildet, gleichzeitig war er sich nicht zu schade, eine schlichte Theologie zu vertreten: Jesus hat vor zweitausend Jahren Wunder gewirkt, er wirkte auch heute noch Wunder. Er stellte sich gegen den Zeitgeist, gegen die liberale Theologie, ich hielt das für mutig und unangepasst. Seit der Wende waren mir wenige Erwachsene begegnet, die für ihre Überzeugungen einstanden, mögen sie noch so unpopulär sein.

Kopfermann hatte sich selbst vor wenigen Jahren neu erfunden. 

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Er war über Jahrzehnte der Leiter der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung der Evangelischen Kirche Deutschland gewesen. Zu seinen Heilungsgottesdiensten in der Hamburger Innenstadt waren Tausende Wundergläubige gekommen, und die Kirchenleitung hatte ihn gewähren lassen. Gottesdienstbesucher berichteten, wenn Kopfermann die Hände auflegte und betete, würden Migräne und Arthrose verschwinden, Schwindelgefühl und Druck ließen nach. Er sprach in einem Jargon aus Esoterik und Soziologie. Er wolle Gottesdienste feiern, »in denen der Mensch sich ganz stark ganzheitlich einbringen könne«, diktierte Kopfermann 1987 einem Stern-Reporter in den Block.

Die große Zeit der Evangelisation stehe in Westdeutschland noch bevor, sagte Kopfermann. »Gott will sein Volk in Deutschland erneuern und heilen und Erweckung schenken.«

Er gab sich nicht mit dem zufrieden, was er hatte, er wollte mehr. 1988 verließ er die sichere Beamtenlaufbahn und gründete seine eigene Kirche. In einem Buch mit dem Titel <Abschied von einer Illusion - Volkskirche ohne Zukunft> rechnete er mit der Landeskirche ab.

Er benannte seine neue Kirche nach dem ersten Bischof Hamburgs aus dem neunten Jahrhundert: Anskar. Jener Anskar hatte von Hamburg aus den Norden missioniert, Kopfermann hat etwas Ähnliches vor. Ein Jahr später öffneten sich die Mauern und ließen Hunderte gottlose Seelen frei. In der Anskar-Kirche wurde es eng. Als ich dazustieß, rechnete man fest mit einer großen Erweckung bis zum Jahr 2010. Es war eine eigene Agenda 2010.

Ich lernte Kopfermanns Predigten auswendig und nahm jedes Wort ernst. Wenn er sagte, man müsse mehr beteten, betete ich mehr. Wenn er sagte, wir müssen mehr Menschen zu Jesus holen, sonst treffe uns der Zorn Gottes, wollte ich sofort auf die Straße laufen und Leute bekehren. 

Vor gar nicht langer Zeit hatte ich mich über die gedankliche Leere beschwert, Kopfermanns Anweisungen gaben mir einen Sinn, einen Zweck im Leben.

Ich war nun an der Reihe und sollte ins Taufbecken steigen. Kopfermann stand bereits bis zum Bauchnabel drin. Die Temperatur fühlte sich warm an, die Baumwolle sog sich sofort mit Wasser voll, mein Gewand wurde schwer, ich konnte mich kaum bewegen, der Stoff klebte auf meiner Haut.

Dann legte Kopfermann seine Hand auf meinen Kopf und tauchte mich unter das Wasser. Er hielt meinen Kopf fest im Griff, es waren bestimmt nur Sekunden, aber diese Sekunden kamen mir wie Minuten vor. Bilder schossen durch meinen Kopf: Mein erstes Pionierhalstuch. Meine Jugendweihe, als ich dem Sozialismus die Treue geschworen hatte. Das graue Wollkleid bei der Aufnahmeprüfung. Ich bekam kaum noch Luft. Dann ließ mich Kopfermann los, und ich kam wieder nach oben. Ich hustete und spuckte, aber es machte mir nichts aus. Die Vergangenheit war weit weg, wie abgewaschen.

Kopfermann tauchte mich noch zwei Mal unter, ich tauchte diesmal ohne Angst unter, ich ließ mich in die Arme von Kopfermann fallen.

Die ganze Zeit nach der Wende hatte ich mein Leben in der Hand gehabt, ich hatte alle Entscheidungen alleine getroffen, was ich studiere, wo ich hinziehe, wie ich mein Geld verdiene. Hier, in diesem Taufbecken, wurde ich wieder ein Kind.

Als ich aus dem Taufbecken stieg, klatschten meine Freunde, ein bisschen zu schnell und heftig, als hätten sie eine gute Theatervorstellung erlebt.

Im Umkleideraum suchte ich im Spiegel nach meinem neuen Ich. Doch ich sah nur ein Mädchen mit nassen Haaren und einem nassen, weißen Gewand. Ich sah aus, als sei ich von Jericho nach Hamburg zu Fuß gelaufen.

Später am Tag wurde es tatsächlich noch so, als hätte ich Geburtstag. Ich bekam Geschenke und Karten und man beglückwünschte mich zu meinem neuen Leben. Ich gehörte nun offiziell zu den Christen, die sich »born again«, wiedergeboren, nannten und die sich untereinander stolz erzählten, wie sie ihre Erweckung erlebt haben. So wie Ostdeutsche sich erzählen, was sie beim Mauerfall gemacht haben.

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