Start    Weiter 

12   Jesus und die Moorsoldaten

 

 

159-187

Die wirklich Radikalen, die Gefährlichen in der Gesellschaft, das sind nicht die Lauten, die an Hyde Park Corner predigen oder die ihre Wahrheiten auf einem kleinen Podest vor dem Supermarkt herausschreien. Die wirklich Gefährlichen sind die Stillen, Unauffälligen, scheinbar Angepassten.

An der Uni lernte ich Billy kennen. Billy machte sich hässlich, sie versteckte ihre schmale Figur hinter weiten Sweat-shirts, ihre schönen langen Locken band sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen. Make-Up oder Schmuck trug sie nie. Das war vom Teufel.

Von all den Fundamentalisten, die ich in der neuen Welt kennenlernte, hatte sie wohl den größten Einfluss darauf, dass ich radikaler wurde. Billy wurde fast wie eine Schwester für mich. Dabei hatten wir bis auf unser Studium keine Gemeinsamkeiten, zu anderen Zeiten hätten wir uns nichts zu sagen gehabt: Sie kam aus dem tiefsten Westen, aus Süddeutschland, ihre Eltern engagierten sich bei der Partei Bibeltreuer Christen. Doch die Religion schuf eine neue klassenlose Gemeinschaft: Wenn man in den Klub eingetreten war, zählten diese Kategorien der westlichen Welt nicht mehr. Statusunterschiede verschwanden. Billy gehörte zu der Sorte Christen, die nach jedem Satz Halleluja rufen.

Ich erzählte ihr, wie ich Jesus in mein Herz gelassen hatte, und sie rief »Halleluja«, umarmte mich spontan und schlug vor, dass wir uns hinsetzen und zusammen beten. Mir ging das fast ein wenig zu schnell, Billy hatte schon einen Platz in der Mensa gefunden. Sie fragte, woher ich käme, und als ich es ihr sagte, benahm sie sich, als wäre ich unter Einsatz meines Lebens der DDR entflohen und hätte mit meinen Händen einen Tunnel von Berlin nach Hamburg gegraben. Halleluja. Mich rührte ihre kindliche Begeisterung.

Billy war meist gut gelaunt. Aber sie hatte auch düstere, dunkle Stunden, in denen man sie nicht erreichte. Dann sah ich sie wochenlang nicht. Mobiltelefone, E-Mail, SMS gab es damals noch nicht. Ich weiß nicht, was sie machte, wohin sie verschwand. Irgendwann tauchte sie wieder auf ohne zu sagen, wo sie gewesen war.

Ich fragte nach ihrem Namen und sie erklärte mir, dass ihre Eltern sie nach dem amerikanischen Fernsehprediger Billy Graham benannt haben. Wie bei ihrem berühmten Namensgeber war auch Billys Welt voller Wunder. Dass wir uns an einer Massenuni mit Hunderttausenden Studenten getroffen hatten. Dass wir beide Politik studierten. Dass ich wie sie in die Anskar-Kirche ging. Das waren Wunder.

Ich fand Billys Blick auf die Welt faszinierend. Sie gehörte zu den Fundamentalisten, die alle historischen Ereignisse religiös interpretierten. Der Lauf der Welt, das war für sie ein ständiger Kampf zwischen »Gut« und »Böse«. Es ähnelte der Weltsicht, mit der ich aufgewachsen war, nur mit verkehrten Vorzeichen. Den Kommunismus bekämpfte sie wie den Teufel. Wir hatten merkwürdige, im Rückblick fast surreale Gespräche. Es passte uns beiden: Ich wollte nichts von der DDR erzählen, und Billy fragte mich nichts. Sie wusste ja schon alles.

Nicht die Montagsdemonstranten, nicht Gorbatschow, sondern Jesus habe die Mauer eingerissen. Die Mauer, erfuhr ich, sei ein Werk des Teufels gewesen. Gott habe Satan überwunden.

160


Sie persönlich habe dafür gebetet. Sie sei sogar beim Jesusmarsch 1988 oder 1989 in Berlin gewesen. Das hätte der Mauer einen richtigen Riss gegeben. So hatte ich den Mauerfall noch nie gesehen.

Die Vorstellung von Walter Ulbricht als Luzifer mit einem langen Schwanz war etwas gewöhnungsbedürftig. Ich konnte ihr nicht folgen und trotzdem widersprach ich nicht.

Ich war fasziniert von dem, was ich sah: Sie funktionierte wie ein Sandwich, auf der Oberfläche schien sie völlig normal, eine vorbildliche Studentin, hervorragende wissenschaftliche Arbeiten, nur um eine tiefere Schicht zu schützen, die von ganz anderem Material war, hart, unnachgiebig, für Argumente nicht zugänglich. Die dritte Schicht war dazu da, alles zusammenzuhalten, die Brüche zu verdecken.

Wieder wurde zwischen drinnen und draußen unterschieden. Drinnen die Gemeinde, draußen die Welt des Verfalls. Dazu dasselbe absolute Denken: Homosexualität ist immer »Sünde«, Abtreibung ist immer verboten, Aids ist die Rache Gottes.

Ich wollte der Vergangenheit entfliehen und merkte nicht, dass die neue Welt nach ähnlichen Regeln funktionierte.

Meine Wut auf den untergegangenen Staat, der mich alleingelassen hatte, war nicht weg, sie wurde nur umgepolt.

In der Psychologie gibt es die Theorie, dass man sich immer wieder an seinem Vater (oder an der Mutter) abarbeitet. Gilt dasselbe für das Vaterland, das verschwunden war? Wollte man sich immer wieder daran abarbeiten und suchte geschlossene Systeme, die ähnlich funktionierten?

Wer erst einmal die erste Schwelle überschritten hat, wenn man sich dazu entschieden hat, etwas zu glauben, das die Mehrheit der Menschen aus wissenschaftlichen oder politischen oder sonstigen Gründen ablehnt, dann werden die nächsten Schritte einfacher. Es half, dass es eine geheime Welt war, voller Codes, die nur Insider verstanden.

161


Billy erklärte mir, dass sie eine geheimnisvolle Gabe besäße. Die Zungenrede, diese Uraltform des Gebets, die Paulus im Korinther-Brief erwähnte. Sie habe eines Tages im Gebet fremde Silben formuliert, eine fremde Sprache, die ganz tief aus ihr herauskam. Sie schaute mich an, mit unbeweglichen geweiteten Pupillen, als könnte sie mehr sehen als andere. Jemand anders habe ihr erklärt, das sei Aramäisch gewesen, die Sprache Jesu. Mit einem Schlag war mir klar, was das Lallen in der Anskar-Kirche war: Zungenrede. Ich war in der Phase, in der mir die verrücktesten Vorgänge normal vorkamen. Ich war in eine neue Welt getreten, ich erwartete nicht, dass in dieser neuen Welt dieselben Regeln galten wie in der alten. Es gab einen Orientalen in Schlapplatschen, dem ich die Treue geschworen hatte, ich wartete eigentlich darauf, was als Nächstes Verrücktes geschehen würde.

Mit der Taufe, so erklärte es Billy, würde der Heilige Geist von nun an auf mich aufpassen. Er sah alles, er war immer dabei, wurde aber selbst nicht gesehen. Ungefähr so wie Patrick Swayze in dem Film Ghost - Nachricht von Sam.

Ich fragte Billy, was sie auf Aramäisch gesagt hatte. Doch sie zuckte mit den Schultern. Sie hatte es nicht verstanden. Sie sprach ja kein Aramäisch.

Ich war ein bisschen enttäuscht, andererseits machte das die Zungenrede noch geheimnisvoller. Mein Ehrgeiz war geweckt. Ich wollte auch in Zungen reden - und nach einer Weile redete ich in Zungen. Jedenfalls stellte ich mir vor, dass das Gebrabbel, das ich von mir gab, eine fremde Sprache war. Ich hatte den Eindruck, dass meine neuen Freunde mich dadurch ernster nahmen. Es bewies, dass ich kein Fake war. Dass ich wirklich dazugehörte.

162


In der DDR wollte der Staat die Kirche abschaffen. In dem Land, in dem ich nun lebte, war es umgekehrt, da gab es konservative Gläubige, die den liberalen Staat abschaffen wollten. 

Die <Partei Bibeltreuer Christen>, eine Kleinpartei, die vor allem im Süden Deutschlands aktiv ist, forderte das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen, Pornografie und Scheidungen sowie die Einführung der Schöpfungslehre an Schulen. Sie wollten auch einen Paragrafen wiedereinführen, der Eltern unter Strafe stellt, die ihren Kindern vorehelichen Geschlechtsverkehr erlauben. Die Partei setzte sich für eine Intensivierung der Beziehungen zu Israel ein, weil der Staat Israel die Erfüllung einer Prophetie aus der Bibel sei. Sie wollten einen Gottesstaat errichten. Einen christlichen Iran. Meine Freundin Billy brachte mir Flyer von der Partei Bibeltreuer Christen mit, bei der ihre Eltern mitarbeiteten. Billy war auch Mitglied.

Ich war gegen Billys Partei, und zwar nicht wegen ihrer Werte, sondern weil sie meiner Meinung nach einen Denkfehler machte. Sie glaubte an die Veränderbarkeit des Staates auf politischem Wege. Ich glaubte nicht an Parteibücher. Ich glaubte nicht daran, dass politische Parteien etwas bewirken können.

Wenn über den Mauerfall gesprochen wird, ist meist die Rede von einer friedlichen Revolution. Doch es war keine Revolution, keine von einer Partei oder einer sonstigen politischen Einheit gesteuerte Aktion, die mit dem Ziel einer Umwälzung agierte. Es war ein Zerfall. Ein Land zerfiel in seine Einzelteile. Bevor seine Bewohner sich dessen bewusst werden konnten, ich meine: wirklich bewusst werden konnten, waren sie schon zu Bürgern eines anderen Landes geworden. Etwas war zu Ende gegangen, aber nichts Neues hatte begonnen.

Die <Partei Bibeltreuer Christen> kam selbst in ihrem Stammland Baden-Württemberg kaum über ein Prozent der Stimmen, selbst die Tierschutzpartei war beliebter.

163


Zu meiner Verteidigung muss ich vorbringen, dass ich es zwar genoss, selbst radikalen Regeln zu folgen, mir aber nicht sicher war, ob ich in einem Land leben wollte, in dem alle diesen Regeln folgen mussten. Sollten wirklich alle Schwangerschaftsabbrüche illegal sein, selbst solche nach Vergewaltigungen? Ich fand das zu hart. Ich dachte an die Berichte aus dem Jugoslawienkrieg, die vielen traumatisierten Frauen. 

Es war das einzige Mal, dass ich Billy widersprach. Sie fand, dass ich zu weich sei, und schrieb das meiner mangelnden Glaubensreife zu. Für sie war Abtreibung Mord, und die Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführten, waren Mörder, die bestraft werden mussten. 

Ich wusste nie, ob sie sich nur wichtigmachen wollte oder ob sie das ernst meinte. Sie war über ihre Eltern gut über die evangelikale Rechte in den USA und ihre Aktionen informiert. Sie zeigte mir eine militante Seite der Religion, die ich faszinierend fand, gefährlich, verboten.

Sie lebte in einem Studentenwohnheim und war immerzu dabei, anderen zu helfen. Sie kochte für ihren Flur, half beim Umzug und bei Hausarbeiten, machte Geschenke. Sie gab sich so großherzig, dass Mutter Theresa gegen sie wie eine engherzige, selbstsüchtige Person erschien. Man hätte ihr das nicht zugetraut, diesem freundlichen, selbstlosen Persönchen, dass sie von einem Gottesstaat, einer Diktatur träumte.

Billy und ich verloren uns ein paar Jahre später aus den Augen. Ich erfuhr, dass sie nach ihrer Promotion in den Sudan gegangen war, um Muslime zu bekehren. Sie gehörte zu den Fundamentalisten, die befürchteten, Europa würde ein islamischer Kontinent, wenn man sich nicht dagegen wehrt. Aber damals, in den Jahren 1995/96, redete kaum jemand über Muslime. Die Worte »Salafismus«, »Burka« und »al-Qaida« waren weitgehend unbekannt, zumindest kaum gebräuchlich.

164


Billy kannte sich in der Szene aus wie kaum jemand sonst. Sie war in keiner Gemeinde Mitglied, war mal hier, mal da. Woher diese Ruhelosigkeit kam, diese Unfähigkeit, sich festzulegen, fand ich nie heraus. Vielleicht war sie ähnlich auf der Suche wie ich. Vielleicht war es das, was uns zusammengebracht hatte.

Unser gesellschaftliches Leben in der Woche spielte sich in geschlossenen Räumen ab, in zu Kirchen umgewandelten Fabrikhallen oder in Privathäusern. In Kneipen oder Bars gingen wir nie.

Man lernte dauernd neue Leute kennen und die Versuchung war groß, sie für »Freunde« zu halten. Man musste nur die Codes benutzen, die alle benutzten, bestimmte Bibelstellen zitieren, Namen von Predigern, die man gesehen hatte, fallen lassen, schon war man drin. Ich, die noch vor einem Jahr allein durch die Uni geirrt war, hatte plötzlich unzählige »Freunde«. Mein Tagebuch war voller neuer Namen, mein Terminkalender war voll.

Ich hatte keine Zeit, mich mit den Fragen zu befassen, die Außenstehende an radikalen Fundamentalisten interessieren. Warum müssen Homosexuelle Buße tun? Wie kann es sein, dass bestimmte, aus dem Kontext gerissene Bibelstellen Gottes Wille sein sollen? Darüber redete niemand. Das war kein Thema.

Die Ideologie meiner neuen Welt war wie eine Festung, die von außen geschlossen und monolithisch wirkte, innerhalb ihrer Wände aber gab es enorme Verästelungen und Parallelgänge.

Ich benutzte das Wort evangelikal inzwischen wie eine Art Qualitätssiegel. Wenn ich fragte, ist die Gemeinde evangelikal, hieß das etwa: Ist sie sicher? Ist sie koscher?

165


Ich lernte eine Gruppe kennen, die sich die christlichen Punks nannte. Sie nannten ihre Gottesdienste »Abhängabende«, und man durfte währenddessen rauchen (nicht dass ich diese Möglichkeit ergriffen hätte, ich rauchte nicht, natürlich nicht). Es lief Hip-Hop, Gebete wurden gerappt und Jesu Auferstehung war ein »fettes Comeback«. Die Jesus-Freaks, so hieß die Gruppe, hatte eine Kneipe im Vergnügungsviertel St. Pauli gemietet. Sie gingen dahin, wo der Verfall war, den wir bekämpfen sollten. Am Freitagabend organisierten die Freaks einen Umzug auf der Reeperbahn. Sie verteilten Einladungen, auf denen stand: »Komme nur, wenn du wirklich willst! Es könnte dich dein Leben kosten!« 

In einer Art Trauermarsch trug eine Gruppe schwarz gekleideter Jugendlicher einen selbstgebauten Sarg durch den Kiez. Irgendwann stellten sie die Holzkiste ab. Heraus stieg ein junger Mann, geschminkt als Untoter, und begann zu predigen. Es war eine tolle Show. Selbst die Prostituierten vernachlässigten für einen kurzen Moment ihre Kundenwerbung. Mich beeindruckte das, so könnte man die Welt ändern, nicht mit einer Partei.

Ich kaufte mir ein schwarzes Sweatshirt mit dem Logo der Jesus-Freaks, auf dem ein Alpha und ein Omega verschlungen drauf sind. Es sieht ein bisschen aus wie ein Antifa-Zeichen, obwohl die Freaks politisch eher auf der anderen Seite standen.

Der Mann, der aus der Kiste sprang, war Martin Dreyer, der Chef der Hamburger Jesus-Freaks, der Star der jungen christlichen Fundamentalisten. Alle Mädchen waren in Dreyer verliebt, die Jungs wollten so sein wie er. Er war selbstbewusst, charismatisch und konnte gut reden. Dreyer war auch von Wolfram Kopfermann entdeckt worden.

166


Er lernte von dem Anskar-Chef das Gespür für den Zeitgeist: »Wenn du jemanden wirklich zum Nachdenken bringen willst, dann musst du dir etwas Radikales, Schrilles, Lautes, etwas Provozierendes einfallen lassen«, schreibt er in seiner Biografie <Jesus-Freak - Leben zwischen Kiez, Koks und Kirche>. 1994 war Dreyer von einer evangelikalen Zeitschrift für seinen Einsatz mit den »Jesus-Freaks« zum »Christ des Jahres« gekürt worden.

Dreyer tauchte eine Zeitlang überall auf. Ich erinnere mich an einen Abend, wo er überdreht wirkte und dem Publikum entgegenwarf, dass alle keine Ahnung hatten, wie man richtig betete, weil wir zu undankbar, verlogen und stolz wären. Ich fühlte mich nicht beleidigt, sondern inspiriert von diesem Wutausbruch. »Martin Dreyer heute total vom Hlg. Geist erfüllt«, schrieb ich danach in mein Tagebuch.

Erst später erfuhr ich aus seiner Biografie, dass er damals wahrscheinlich mit etwas anderem als dem Heiligen Geist erfüllt war. Mitte der neunziger Jahre, kurz nach seiner Wahl zum »Christ des Jahres« fing er offenbar an, Drogen zu nehmen, erst Ecstasy, dann Koks. 1999, als ich mich von den Fundamentalisten abwendete, spritzte er sich eine Überdosis Kokain und fiel ins Koma. Dreyer überlebte und würde später seine Drogensucht überwinden, mit Gottes Hilfe.

In der Kirche lernte ich reden. Am Anfang musste ich noch aufgefordert werden, später wartete ich darauf, dass der Moment kam, wenn gefragt wurde, ob jemand »Zeugnis« geben will. Ich sagte nur ein paar wenige allgemeine Sätze: »Früher war mein Leben leer und sinnlos, ich dachte nur an mich und mein Fortkommen. Seitdem ich Jesus kenne, hat sich das verändert. Ich verstehe die Bibel und erlebe Jesus im Gebet. 

167


Ich weiß jetzt, was gemeint ist, was der Sinn des Lebens ist.« Ich war in vielen Kirchen und sagte immer wieder mein Sprüchlein auf. Es kam gar nicht auf die Worte an, sondern darauf, dass man möglichst emotional und gerührt von sich selbst wirkte.

Ich merkte, wie ich mich veränderte. Ich wurde selbstbewusster in meiner neuen Rolle.

Ich dachte in anderen Kategorien, für mich gab es nur noch Christen und Nicht-Christen, keine Ostler oder Westler.

Nie redete ich darüber, woher ich kam. Ich hatte gar keine Herkunft mehr. Ich besaß keine Fotos von meinen Eltern oder meinen Geschwistern oder von dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war. Es gab keinen Boden, mit dem ich mich verbunden fühlte.

Ich fuhr nur selten nach Hause, ein-, zweimal im Jahr. Der Unterschied zwischen Stadt und Dorf wurde größer. Jedes Mal stand wieder ein Haus leer, verlassen. Früher besuchten sich die Menschen gegenseitig. Jetzt saßen sie vor dem Fernseher.

Nie fuhr ich in die Stadt, in der ich zur Schule gegangen war. Als ob schon ein Besuch mich kontaminieren und meine Versuche, den Osten abzustreifen, rückgängig machen könnte.

Meine Eltern nahmen meine Veränderung hin, wie sie alle Veränderungen hinnahmen: mit einer resignierten Teilnahmslosigkeit. Ich betete vor dem Essen und ließ Jesus in die Gespräche einfließen. Als meine Mutter fragte, wie die Kirche hieße, in die ich gehe, log ich und machte die Anskar- Kirche zu einer evangelischen Kirche, die ein wenig freier war als andere. Ich erzählte ihr nichts vom Heiligen Geist, nichts von der Zungenrede und den ekstatischen Gottesdiensten. Ich wollte sie schützen.

168


Ich erinnerte sie daran, dass sie früher in die Junge Gemeinde gegangen war - auch wenn ich wusste, dass das damals, Ende der sechziger Jahre in der ländlichen DDR, etwas anderes war. Sie war keine Widerständlerin, keine Dissidentin, sie ging zum Pfarrhaus, weil es dort Bücher gab, die sie zu Hause nicht hatte.

Zu Freunden und Bekannten sagte meine Mutter: Sabine ist religiös geworden. Vielleicht triumphierte sie auch ein wenig über meinen Vater, der einst nicht gewollt hatte, dass seine Kinder getauft werden.

Zurück in Hamburg arbeitete ich noch verbissener als vorher an meinem Ruf als perfekte wiedergeborene Christin. Wir müssen »Frucht« bringen, hatte der Pastor gesagt. Wenn wir keine »Frucht« bringen, kann Gott uns verstoßen. Bei »Frucht« ging es nicht um Weizen oder Äpfel. Es ging um Ungläubige, die gerettet werden mussten. 

Jeden Montag schleppte ich einen Koffer voller Bücher und einen Tapeziertisch über den Campus. Ich stellte ihn vor die Mensa, legte eine Decke mit der Aufschrift »Gott ist groß« darauf und sortierte die Bücher.

Gott stiftet Ehen. - Jesus unser Schicksal. - Aufbruch zur Stille. - Hoffnung für alle.

Ich stand hinter dem Büti, dem Büchertisch, und wartete, dass etwas passierte. Ich war stolz auf meine neue Rolle als Büti-Verantwortliche. An der Uni gab es nicht nur Jusos, Grüne, Sozialisten und die Junge Union, sondern auch zwei missionarische Studentengruppen, die miteinander sowie um die Seelen der Studenten rangen. Beide Gruppen hatten eine kleine, aber eifrige Anhängerschaft: die eine ungefähr zwanzig Mitglieder, die andere fünf. Ich schloss mich der kleineren Gruppe an, den Underdogs. Je größer die Herausforderung, desto besser. Gleich beim ersten Treffen bekam ich einen Posten. Ich sollte den Büchertisch koordinieren, Bücher kaufen und verkaufen, die Kasse verwalten.

169


Es war mein erster Posten, seitdem ich Polit-Agitatorin des Gruppenrates in der siebten Klasse gewesen war. Damals musste ich eine Woche lang die Zeitung lesen, Neuen Tag, Junge Welt, und am Donnerstagmorgen das Gelesene für die Klasse auswerten. 

Meistens ging es um Nicaragua. In Nicaragua tobte ein großer Kampf, gute Kommunisten gegen böse Revanchisten - und wir waren auch dabei. Wir waren eigentlich immer im Krieg - einem Krieg, der sich ganz friedlich anfühlte. Mindestens einmal im Monat organisierten wir einen Kuchenbasar, um Geld für Nicaragua zu sammeln.

Vielleicht fiel es mir deshalb so leicht, den Kampf in der Kirche fortzusetzen, mit anderen Mitteln. Diesmal agitierte ich für Jesus. Evangelisation war ein 24-Stunden-Job.

Mag sein, dass ich in diese Rolle manipuliert wurde, aber dort auf dem Campus zu stehen, mein Gesicht zu zeigen, half mir kurioserweise, Kontrolle über mein Leben zu gewinnen. Ich war keine Ostlerin mehr, die sich klaglos und teilnahmslos in ihr Schicksal fügte. Ich hatte nicht wie die Generation meiner Eltern aufgegeben, ich kämpfte.

Ich stand hinter dem Tuch mit der Aufschrift »Gott ist groß«, und es fühlte sich wie eine Entscheidung an, die ich freiwillig getroffen hatte. Ich versteckte mich nicht, ich stand für meine Überzeugungen ein, auch wenn sie von der Mehrheit der Gesellschaft abgelehnt wurden. Der Widerspruch meiner Kommilitonen regte keine Zweifel an, sondern machte meinen Glauben noch stärker, er lehrte mich, noch weniger nach links oder rechts zu schauen. Ich fühlte mich als Auserwählte.

170


Jeden Montag hoffte ich von Neuem, Gott würde zeigen, was er draufhatte. Es hielt nur selten jemand an, deshalb hatte ich viel Zeit, mich in meine Fantasien hineinzusteigern.

Er konnte hier, wie in Pensacola in den USA oder wie im kanadischen Toronto, seinen Geist ausgießen, der Himmel würde sich verdunkeln, schwarze Wolken würden aufziehen und dann, wumm, ein Blitz. Ich stellte mir vor, wie meine Kommilitonen sich auf den Boden werfen würden, sich schütteln, wiehern und ihre Sünden bekennen würden.

Es war zwölf Uhr mittags, die Studenten hatten Hunger und steuerten die Mensa an. Sie fielen nicht auf die Knie, schüttelten sich nicht und bekannten auch nicht ihre Sünden. Sie stolperten nicht mal ein bisschen. Sie streiften meinen Tisch mit den Augenwinkeln, mit hämischem Blick.

Aus dem Wirtschaftswissenschaften-Gebäude kamen die Langweiler mit ihren Aktenkoffern, Segelschuhen, gegelten Haaren und rosigen Nutella-Gesichtern, die sich so toll fühlten, wenn sie in ihren neuen Golf stiegen, den Papa zum Studienbeginn spendiert hatte.

Die waren so satt, die waren längst tot, bevor sie starben.

Selbst wenn Kurt Cobain leibhaftig vor ihnen stünde, würden sie achtlos an ihm vorbeigehen.

Jetzt seid ihr noch stark, aber später werdet ihr winseln. Später werdet ihr bereuen, dass ihr durch mich durchgeschaut habt. Ich war eure Chance.

Sollen diese verdammten Sünder doch in der Hölle landen.

Dann wieder überkam mich Mitleid und ich dachte, ich müsste ein wenig offensiver sein. Außerdem verging die Zeit schneller, wenn man Leute ansprach. Ich hatte kein Problem mehr, auf Fremde zuzugehen. In der neuen Welt wurde nichts dem Zufall überlassen. Bevor ich an den Büchertisch gestellt wurde, absolvierte ich eine Schulung, bei der ich den Fünf-Punkte-Plan der Evangelisation lernte: Interesse zeigen, Beziehung aufbauen, über Jesus sprechen, Entscheidung fordern, Rückfragen.

171


So fremd wie mir die Betriebswirtschafts-Studenten damals schienen, waren sie mir gar nicht. Bei den Mitteln, mit denen die radikalen Christen versuchten, etwas zu verkaufen, hatten sie sich von den klassischen Marketing-Techniken inspirieren lassen. Der Fünf-Punkte-Plan klang wie die Anleitung für ein Verkaufsgespräch. Und so ähnlich war es ja auch.

Das Gespräch kippte, sobald die Rede auf Jesus kam. Sobald ich das Wort »Jesus« fallen ließ, änderte sich der Blick. Jesus war damals ungefähr so beliebt wie Erich Honecker oder Stalin. Das hatten die Erfinder des Fünf-Punkte-Plans zur Evangelisation leider vergessen. Der Ungläubige wollte nur weg, war aber auch nicht stark oder unhöflich genug, um mich stehenzulassen. Das war der Moment, den ich am meisten mochte, an dem ich ein Gefühl von Macht spürte. Ich versuchte, den Moment hinauszuzögern, das Wort Jesus zu vermeiden, und benutzte Umschreibungen, »Sinn des Lebens«, »Glück«, »Happiness«.

Die Religion hatte sich viel von der amerikanischen Selbsthilfe-Bewegung und dem Positive Thinking abgeguckt.

Es hielten auch Irre an. Schlimm waren die, die dachten, sie könnten sich mit mir auf eine theologische Diskussion einlassen. Die taten besonders schlau und erzählten von Nachweisen, dass die Evangelien keine zuverlässigen Berichte über die wirklichen historischen Ereignisse darstellten, angeblich seien sie erst lange nach dem Tod Jesu geschrieben worden. Ein Typ hatte Widersprüche bei der Geburt Jesu im Lukas- und im Matthäusevangelium gefunden. Das müsse doch jemanden beunruhigen, der die Bibel wörtlich nimmt, sagte er.

172


Mich beunruhigen eher Krümelkacker wie du, die in ihrem mickrigen Leben nichts Besseres zu tun haben, als kleinliche Fehler in einem Heiligen Buch zu suchen. Das sagte ich natürlich nicht. Ich sagte, du, wir können über alles reden.

An einem Tag, als es regnete und wir im Gebäude direkt vor der Mensa standen, raste einer auf mich zu und fing an mich zu beschimpfen. Das sei ein Totalausfall, was wir hier machten, Religion sei Opium fürs Volk. Er zog an der Decke und riss die Bücher runter. Ich war fasziniert. So deutlich hatte sich der Teufel noch nie manifestiert. Ich griff nach der »Hoffnung für alle«-Bibel und hielt sie ihm entgegen.

Ich sagte, wie heißt du, ich werde für dich beten.

Zu meiner Überraschung nahm der Irre die Bibel und sagte: Wladimir. Er sagte, er sei nach Lenin benannt worden. Wladimir Iljitsch Lenin. Ich musterte ihn für einen Moment.

In der DDR gaben die Eltern ihren Kindern in den siebziger Jahren amerikanische Namen, Ronny, Denny oder Maik, aber niemand wäre darauf gekommen, sein Kind nach Lenin zu nennen. Der Mann musste aus dem Westen sein.

Wir kamen ins Gespräch, er erzählte, dass er schon als Kind immer auf Demonstrationen mitgelaufen war. Seine Eltern waren Kommunisten. Sie hatten ihn im Sommer sogar in die DDR ins Ferienlager geschickt.

Mich rührte das so sehr, dass ich meine Regel brach, nicht über meine Herkunft zu reden. Ich sagte, dass ich die DDR gut kenne. Er fragte mich aus, er wollte alles ganz genau wissen, auf welche Schule ich gegangen war, welches Halstuch ich als Pionier getragen hatte, wo ich im Ferienlager war.

Er kannte dieselben Kampflieder, die ich auch kannte, die »Moorsoldaten«, »Bella Ciao«, das Partisanenlied. Ich vergaß den Fünf-Punkte-Plan der Evangelisation. Mir fiel auf, dass er sehr schöne braune Augen hatte.

173

#


13  Das Tribunal  

 

 

175

Wladimir stand vor mir und bot mir an, über unsere Differenzen zu reden. Er hatte die Statur eines Rugby-Spielers und den Blick eines neugierigen Kindes. Er lächelte. Es gab keinen Hinweis darauf, dass er Hintergedanken hegte, als er mich zum Kaffee einlud. Und doch zögerte ich.

Er war ein Ungläubiger, einer, dem ich zwar Bibeln verkaufen, aber nicht zu nahe kommen sollte. Als bibeltreue Christin durfte man mit ungläubigen Frauen befreundet sein, man sollte sie sogar gezielt ansprechen, um den Auftrag des Herrn zu erfüllen, aber Männer waren tabu.

Männer waren zu gefährlich.

Es gibt einen Vers aus dem Korinther-Brief, in dem es etwas kryptisch heißt, dass man nicht am selben »Joch« wie ein Ungläubiger ziehen solle. Mit dem »Joch« war angeblich die Ehe gemeint.

Dass man einen Mann einfach so treffen könnte, ohne ihn gleich heiraten zu wollen, lag jenseits der Vorstellung vieler bibeltreuer Christen. Es ging immer gleich ums Heiraten.

Meine ehemalige Mitbewohnerin Katharina warnte davor, sich mit ungläubigen Männern anzufreunden. Es würde mich zerreißen, sagte sie. Ich ahnte damals noch nicht, dass Katharina keine gute Beziehungsratgeberin war. Sie hatte einen Mann geheiratet, den sie kaum kannte und von dem sie sich nach einem Jahr wieder trennen würde.


Mir predigte sie damals, dass die christliche Frau verpflichtet sei, sich den Wünschen des Mannes unterzuordnen, auch wenn diese Wünsche dem Bibelverständnis widersprachen. Statt sonntags in die Kirche zu gehen, müsste ich zu Hause mit ihm frühstücken. Ich solle auch an die späteren Kinder denken, fügte Katharina hinzu. Er könnte verhindern, dass sie getauft und christlich erzogen würden.

Ich war 21, wenn jemand mit mir über Kinder reden wollte, wäre ich am liebsten weggerannt. Mir widerstrebte dieses konservative Männer- und Frauenbild, es passte nicht zu dem, wie ich aufgewachsen war, und trotzdem widersprach ich nicht. Ich fügte mich ein, weil es mir konsequent erschien.

Ich hatte mich für diesen Gott und seine Regeln entschieden, nun musste ich auch mit ihm leben.

Ich redete mir ein, dass diese Vorschriften besser zum Wesen des Menschen passten als die grenzenlose Freiheit, die seit der Wende herrschte.

Im September 1994 hatte ich in meinem Tagebuch mit mir gerungen, welches die beste Ordnung ist: eine liberale Gesellschaft, die Selbstbestimmung ermöglicht, oder eine Gesellschaft, die Werte und Richtungen vorgibt? Ein Jahr später glaubte ich, die so genannte liberale Gesellschaft des Westens durchschaut zu haben. Die Freiheit, um die es ging, war vor allem die Freiheit des Geldes. Der Mensch war ein Getriebener, musste sich dauernd selbstoptimieren, Eigeninitiative zeigen, um zu überleben. Der Westen verstärkte die schlechtesten Eigenschaften des Menschen: Gier, Egoismus, Rücksichtslosigkeit.

Mit wahrer Selbstbestimmung hatte das alles nichts zu tun.

Weil mir das westliche System zu unfrei erschien, ordnete ich mich einem noch unfreieren System unter. Es war nicht immer logisch, was damals passierte.

176


Ich stand am Büchertisch, schaute zu dem Mann herüber, der aus meiner Vergangenheit kam. Wladimir sagte, er würde auf mich warten, bis ich die Bücher zusammengepackt habe. Er hatte wirklich tolle Augen.

Was war schon dabei, zusammen in die Mensa zu gehen?

Ein Kaffee zu zweit war noch keine Beziehung. Ich würde keinerlei Verpflichtung eingehen. Mich interessierte, wie ein Gleichaltriger, der im Westen groß geworden war, sechs, sieben Jahre nach der Wende vom Kommunismus träumen konnte, gemeinsam mit Kuba und Nordkorea.

Andererseits hatte ich Angst, dass Wladimir meine Zustimmung falsch verstehen könnte. Als Zustimmung zu seinen Argumenten und als Interesse an ihm als Mann. Ich war hin- und hergerissen. Ich musste mich entscheiden, und es schien, als hing von dieser Entscheidung ab, wie mein weiteres Leben verlaufen würde.

Die harmlose Frage nach einem Kaffee wurde zu etwas viel Größerem: Wie ernst würde ich die Regeln dieser neuen Welt nehmen? Würde ich meine Prinzipien einhalten oder schon bei der ersten Versuchung einknicken? Klar, die biblischen Regeln waren hart. Aber sie gaben auch Halt.

Widersprüchliche Gefühle kämpften in mir, Angst gegen Neugier, Zwang gegen Freiheit. Es gab nur Ja oder Nein, schwarz oder weiß, nichts dazwischen.

Ich sah Wladimir an und sagte, ich könne leider nicht mit ihm Kaffee trinken gehen. Er bedauerte, nickte mir zu und nahm seine Tasche. Er wirkte weniger enttäuscht, als ich gedacht hatte. Erleichtert faltete ich den Tisch zusammen. Ich hatte der Versuchung widerstanden.

Die wichtigste Aufgabe einer bibeltreuen Christin war es, einen Mann zum Heiraten zu finden. Für eine Ehe entschied man sich nicht aus romantischen Gründen, eine Ehe war der

177


natürliche Weg ins Erwachsenenleben. Wer mit 25 noch nicht verheiratet war, galt als Problemfall. Niemand sagte das offen, aber Unverheiratete wurden in der Gemeinde weniger respektiert, sie mussten oft die unpopulären Jobs übernehmen, Kaffee kochen, Toiletten putzen.

Ich war erst 21, spürte aber bereits den Druck.

Doch wie findet man den Richtigen?

Viele Männer waren mit Anfang zwanzig schon vergeben. Auf einen Single-Mann kamen in den bibeltreuen Gemeinden mindestens drei unverheiratete Frauen. Selbst die Unattraktivsten wurden umschwärmt, solange sie ein festes Gehalt und einen sicheren Job vorweisen konnten.

In der Freikirche gab es keine Geschlechtertrennung, aber es wurde drauf geachtet, dass unverheiratete Männer und Frauen wenig Zeit allein verbrachten. Es gab ein kompliziertes Kennenlern-Verfahren, das ich nicht wirklich durchblickte. Von Frauen wurde erwartet, dass sie passiv waren und warteten, bis sie angesprochen wurden.

Draußen, in der realen Welt, sollten Frauen wie Männer sein, Initiative zeigen, kein Risiko scheuen, aber drinnen, bei den bibeltreuen Christen, war eine komplett andere Persönlichkeit gefragt.

Selbst kleine Gesten schienen mit Bedeutung aufgeladen. Wenn man mit einem Mann ein einziges Mal allein spazieren oder ins Kino ging, bestand die Gefahr, dass man danach als Paar angesehen wurde.

Das Wort Beziehung wurde vermieden, es gab nur »Freundschaften«. »Freundschaft« klang rein, unschuldig und schloss körperliche Nähe aus.

Damals wurde ein gewisser Derek Prince viel gelesen: Prince, ein berühmter anglo-amerikanischer Prediger, füllte mit seinen Auftritten ganze Hallen. Zwischen 1983 und 2003

178


hatte er vierzig Bücher geschrieben. Sie trugen Titel wie Was Sie über Dämonen wissen sollten, Gottes Plan für Ihre Finanzen und Gott stiftet Ehen. Gott war seiner Ansicht nach der beste Heiratsvermittler. Präziser als Internet-Dating, das es damals noch nicht gab.

Prince hatte es angeblich selbst so erlebt: Er lief durch eine Straße, sah eine wildfremde Frau und plötzlich wusste er, dass es die Richtige war. Schwupps, Heirat, Happy End.

Viele christliche Frauen wollten einen Mann, der ihnen Sicherheit bot. Ihr Leben war vorgegeben. Sie durften zwar eine Ausbildung machen oder auch studieren, aber nach der Hochzeit wurde erwartet, dass sie sich hauptsächlich um Kinder und Küche kümmerten. Die Eigenschaften, mit denen Frauen in der Bibel umschrieben wurden: fromm, bescheiden, gastfreundlich, mütterlich, freigiebig. Hure oder Mutter, das waren die Rollen.

Mein Idealbild war anders: Ich träumte von einer romantischen Liebe, von großen Gefühlen, aber ich wollte auch eine Beziehung, in der beide Partner gleichberechtigt waren und alle Aufgaben teilten. Als ich klein war, arbeitete meine Mutter am Wochenende bei der Post, und mein Vater putzte das Bad und kochte. Ich hatte es nie als einen Nachteil empfunden, ein Mädchen zu sein.

Wie ich mein Ideal mit den Vorstellungen der bibeltreuen, untergeordneten Frau versöhnen sollte, wusste ich nicht.

In meinem Tagebuch tauchten damals unzählige Männernamen auf, die mir heute, über fünfzehn Jahre später, nichts mehr sagen. Ich bat Gott um Zeichen, doch er gab mir nie ein Zeichen. Ich sprach nie oder selten einen Mann an. Vielleicht war ich zu schüchtern, vielleicht wollte ich auch den Konflikt zwischen der bibeltreuen Christin, die sich unterwerfen sollte, und der Ostdeutschen, die sich behaupten wollte, vermeiden. Es hätte mein Glaubensgerüst schon viel früher zum Einsturz gebracht.

179


Einmal in der Woche ging ich zum »Sister Act«. So hieß der Gebetskreis, den meine neue Freundin Ruth gegründet hatte. Sie lebte außerhalb der glänzenden Fassaden des Stadtzentrums, weit weg von der Alster, wo der typische Hamburger am Samstag seinen Porsche spazieren fuhr. Man musste zwanzig Minuten mit der U-Bahn und dann nochmal zwanzig Minuten mit dem Bus fahren, bis man in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt ankam. Ringsherum stand ein Riegel grauer Plattenbauten neben dem anderen, acht, neun Stockwerke, vor dem Aldi tranken Frauen mit kaputten Gesichtern morgens ihr Bier. Es war ein bisschen wie im Osten. Ich fühlte mich sofort heimisch.

Als ich Ruth das erste Mal getroffen hatte, ging es um satanische Musik. Sie hatte mir empfohlen, mich von The Sisters of Mercy zu trennen.

Ihr Vater war ein evangelikaler Pastor, sie hatte nie gegen den Glauben ihrer Eltern rebelliert. Der Glaube an die Wahrheit der Bibel war für sie ein Naturgesetz, so normal wie die Schwerkraft. Manchmal überbrachte ihr Jesus Botschaften in ihren Träumen.

In der Zwischenzeit schleppte sie Kinder aus den Hochhaussiedlungen an, denen sie bei den Hausaufgaben half und deren Sorgen sie anhörte.

Ich war für sie auch so eine verlorene Seele, der sie ein Zuhause geben wollte. Später würden wir zusammenziehen und eine christliche Frauen-WG gründen. Sie wurde für mich wie eine große Schwester. Wir würden morgens und abends zusammen beten und alle, wirklich alle Gedanken teilen.

180


Zu dem Gebetskreis kamen fünf andere Frauen. Sie begrüßten sich mit Luftküsschen. Alle um die zwanzig, blond, eher kühl, der Typ Hanseatin, der Oberteile mit dem Hamburger Wappen trägt. Ihre Mütter waren ihre besten Freundinnen, man ging zusammen shoppen, tauschten Klamotten, machte gemeinsam Diät. Sie besprachen alles zusammen, selbst Liebeskummer.

Ich hatte versucht, mir meinen Dialekt von früher abzutrainieren. Ich übte die Hamburger Ausdrücke, ich sagte »Feudel« statt »Lappen« und »ich bin angefangen« statt »ich habe angefangen«. Ich wollte dazugehören, ich wollte, dass diese Frauen meine Freundinnen werden, auch wenn ich instinktiv spürte, dass ich nie ganz dazugehören würde.

Ich dachte an meine Mutter, mit der ich selten telefonierte. Ich erzählte wenig von mir, die Entfernung schien immer größer zu werden. Je weniger sie wusste, desto weniger würde sie nachfragen. Einmal in fünf Jahren besuchte sie mich in Hamburg. Als wir in einen Bus gestiegen waren, hatte sie einmal laut aufgeschrien: »Ein Neger!« Sie hatte noch nie einen Schwarzen gesehen. Alle Augen richteten sich auf uns. So fühlte es sich zumindest an. Ich liebte meine Mutter, aber in dem Moment hätte ich am liebsten so getan, als ob wir uns nicht kennten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass den Westdeutschen ihre Eltern jemals peinlich waren.

Wir saßen auf einem gemusterten Sofa in Ruths Wohnzimmer, auf dem Tisch stand Früchtetee. Ruth hatte eine dicke Bibel vor sich liegen. Wir kamen zusammen, um über Jesus zu reden, landeten aber oft bei anderen Fragen. Der Gebetskreis war ein bisschen wie Sex and the City. Ohne Sex.

Ein Mädchen, das sich nie schminkte, lange Röcke trug und

181


Lehrerin werden wollte, räusperte sich und stellte eine Frage. Sie wollte wissen, ob es gottgefällig sei, Mascara zu tragen?

Wir schlugen erst in der Bibel nach. Wir schlugen immer erst in der Bibel nach, um herauszufinden, wie man als Frau zu leben hat. Es gab in der Ausgabe, die ich besaß, ein Verzeichnis mit Schlagwörtern von A wie Abraham bis Z wie Zweifel.

Wir ignorierten, dass die Bibel sich in weiten Teilen widersprach und dass man für jedes Zitat ein Gegenzitat finden könnte. (Johannes 14, 27: »Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.« Matthäus 10, 34: »Ihr sollt nicht glauben, dass ich gekommmen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.«)

Die Abschnitte, die uns nicht gefielen, überlasen wir. Wie zum Beispiel die Stellen, wenn Väter ihre Töchter verkauften oder Vergewaltigungsopfer ihre Peiniger heiraten mussten. »Das muss man im Kontext der Zeit verstehen«, lautete die Standardantwort darauf. Andere Stellen, wie die Vorschrift, sich sittsam zu kleiden, wurden allerdings nicht nur im Kontext der Zeit verstanden.

Miniröcke, tiefe Ausschnitte und grelle Farben waren für uns tabu. Unter M wie Mascara gab es natürlich keinen Eintrag. Dafür fanden wir unter »Schmuck« mehr als ein Dutzend Hinweise, zu »Halskette«, »Fingerring«, »Ohrring«.

Wir diskutierten kurz, ob man Ohrringe und Mascara vergleichen konnte, und entschlossen uns schließlich, dass Mascara sogar noch dezenter als Schmuck war. Wenn Gott Ohrringe akzeptiert, kann er nichts gegen Wimperntusche haben. Solange sie schwarz ist und unauffällig. Die angehende Lehrerin wirkte erleichtert.

Nicht alle Fragen waren so harmlos. Ein Mädchen, das im-

182


mer besonders schick gekleidet war, geföhnte Haare, Halstuch, gebügelte Bluse, fragte, ob Blowjobs schon als Geschlechtsverkehr galten. Sie sprach mit einer mädchenhaften, hohen Stimme, das Wort Blowjob klang bei ihr völlig harmlos. Ihre Freundin flüsterte, typisch. Offenbar provozierte das Halstuch gern. Ruth wurde bleich. Sie war die Älteste hier, fühlte sich verantwortlich. Wie würde sie mit dieser heiklen Frage umgehen?

Ich saß meistens still in diesen Runden und hörte zu. Ich versuchte mir alles einzuprägen, was ich hörte, um so viel wie möglich über diese neue Welt zu lernen. Ich wollte alles richtig machen. Ich musterte Ruths Wohnzimmer. Es hatte etwas Klösterliches, wohin man auch schaute, bekam man Zuspruch. An den Wänden hingen überall Bibel- und Erbauungssprüche. Blowjob. Das Wort, das das Halstuch-Mädchen benutzt hatte, passte nicht hierher, es war, als hätte jemand ein Bild eines nackten Mannes aufgehängt.

Das Mädchen, das die Frage gestellt hatte, bat um Verständnis und erläuterte sein Dilemma. Sie hatte einen Freund, sie würde in einem Jahr heiraten. Ihr Freund wäre ungeduldig, aber sie wollte ihre Jungfräulichkeit nicht gefährden. Sie war hin- und hergerissen, welche Bibel-Regel galt: Sollte sie sich ihrem Freund unterordnen oder enthaltsam leben? Sie wollte uns um Rat bitten, bevor sie etwas Falsches machte.

Die Meinungen, was Gott von Blowjobs hielt, gingen auseinander. Die einen sagten, Oralsex sei erlaubt. Ruth war skeptisch und ich auch. Es gab eine klare Anweisung: Kein Sex vor der Ehe. Und Oralsex war Sex, wenn man nicht gerade Bill Clinton hieß, der zu jener Zeit eine Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky unterhielt, die aber erst Jahre später herauskommen sollte. Ich hatte keinerlei sexuelle Beziehungen

183


zu dieser Frau, hatte er gesagt. Das Mädchen mit dem Halstuch suchte Ausflüchte, wie Clinton.

Die Gesetze der Bibel waren über zweitausend Jahre alt, sie hatten alle möglichen Brüche überstanden, Kriege, Revolutionen, Spott. Warum konnte sich das Mädchen mit dem Halstuch nicht an die Regeln halten, warum musste sie Gott austricksen?

Ruth, die Älteste, schlug in der Bibel nach und fand eine obskure Stelle in dem Lied des Salomon, in dem von einer Braut und einem verschlossenen Garten die Rede ist. Der Garten musste verschlossen bleiben, das war etwas blumig formuliert, schien aber die Frage zu beantworten. Gott hatte also nichts gegen Oralsex. Er war offenbar flexibler als ich. Ich strich mir danach die Stelle mit einem Marker pink an. Wir redeten uns ein, dass die Bibel ein Selbsthilfe-Buch ist, das uns in allen Fragen Orientierung gibt.

Wir hätten auch eine Münze werfen können, um zu entscheiden, ob Oralsex biblisch war oder nicht, das wäre von ähnlicher Überzeugungskraft gewesen.

Die Gebete funktionierten immer nach dem gleichen Prinzip. Es war am Anfang wichtig, Gott ausgiebig zu danken, um dem Vorwurf der Eitelkeit und der Selbstbezogenheit zu entgehen. Wir beteten darum, dass Gott unsere Beschlüsse absegnet. Manchmal ging es um profane Dinge, die nächste Klausur, Ärger mit dem Chef, und manchmal um Größeres.

Ein Mädchen, Nadja, hatte ein Problem, über das wir öfter redeten, das sich auch durch intensives Beten nicht lösen wollte. Sie lebte nicht nur unverheiratet mit einem NichtChristen zusammen, sie schlief auch noch mit ihm.

Das Teelicht, das den Früchtetee wärmte, flackerte, als sie erzählte, dass sie es nicht schaffte, ihn wegzuschicken. Sie fühlte sich schlecht dabei, sagte sie. Ich lehnte mich zu-

184


rück und fixierte Nadja. Sie hatte zwei Regeln gebrochen. Ich spürte, wie eine Wut in mir hochkam, die alle vernünftigen Gedanken wegwischte, als wären sie mit Kreide auf einer Tafel geschrieben.

Ich wurde wütend auf Nadja, doch es ging um viel mehr als nur darum, dass sie die Regeln gebrochen hatte. Der Sex war nur ein Symbol für das westliche Wertesystem, das die sofortige Befriedigung aller Wünsche und Bedürfnisse versprach.

Im Osten waren wir Weltmeister im Warten gewesen. Wir warteten dauernd auf irgendwas. Auf das West-Paket, auf den Kühlschrank, auf das Auto, das vor 15 Jahren bestellt wurde. Wir hatten wenig, aber das, was wir hatten, behandelten wir sorgsam. Heute, nachdem auch der Kapitalismus in die Krise geraten ist, nennt man das Nachhaltigkeit.

Die neunziger Jahre waren anders, dekadent, hedonistisch. Jeder Hunger musste sofort gestillt werden, um das eigene Ego zu befriedigen. Es gab kein Warten mehr, keine Vorfreude, keine Rücksicht.

Ich war zu den radikalen Christen gegangen, weil ich geglaubt hatte, dass hier andere Maßstäbe als draußen galten. Doch nun hatte meine neue Glaubensschwester nach den Maximen des westlichen Systems gehandelt. Denn was war die Beziehung zu einem Nicht-Christen anderes als eine Ins-tant-Befriedigung von Wünschen? Sie hatte ihre Selbstsucht und ihren Egoismus über die Regeln der Gemeinschaft gestellt. Ich fühlte mich doppelt betrogen, weil Nadja wie ich ursprünglich auch aus dem Osten kam.

Meine Wut wurde größer, sie dehnte sich aus, es war, als ob sich zwei Hände um meinen Magen krallten. Normalerweise schwieg ich in den Runden, aber diesmal fing ich an, auf Nadja einzureden. Ich versuchte es mit meiner balsamierten Jesus-Loves-You-Stimme: »Kein Mann kann dir je so nah sein, wie Jesus dich liebt.«

185


Ich versuchte es mit der Art von Argumenten, die in Bibelkreisen als vernünftig galten, ich las ihr Bibelverse vor, die Stelle, in der Paulus sagt, dass unser Körper nicht uns gehört, und eine andere Stelle, an der er vor »Hurerei« warnt. Doch sie erwiderte, dass sie nichts dafür konnte, dass sie ihren Freund liebe. Sie sagte das so trotzig, dass es mich weiter aufregte. Sie schien nicht mal zu merken, dass es hier um etwas Größeres ging als um ihre persönliche Befriedigung.

Klar, die Regeln der Bibel waren hart, manchmal grausam, man musste hart gegen sich sein, um sie einzuhalten, man musste stark sein, doch nur so würden wir wirklich Gottes Reich auf Erden errichten können.

Ich war fest davon überzeugt, was ich sagte.

Ich redete immer weiter, meine Stimme wurde lauter. Wie sehr Menschen sich verändern konnten, wenn sie die Macht der Gruppe hinter sich spürten. Wie schnell sich eine harmlose Situation in ein Tribunal verwandeln konnte. Ich verstehe im Rückblick, wieso zweimal hintereinander auf deutschem Boden Diktaturen entstehen konnten.

Wie viel Kälte, wie viel Härte plötzlich da war. Die anderen rührten in ihrem Tee, doch sie sagten nichts, sie hielten mich nicht auf, ich fühlte die Stille wie eine Zustimmung. Wir waren jetzt keine Westler oder Ostler mehr, es gab nur noch Starke und Schwache. Mir wurde ganz heiß, ich spürte Gott auf meiner Seite, er hatte mich erwählt, um seine Wahrheit zu sprechen. Die Sätze kamen ganz leicht aus meinem Mund.

Du nimmst den Glauben nicht ernst.

Wenn du wirklich Jesus in dein Herz gelassen hättest, könntest du nicht mit einem Ungläubigen zusammen sein.

Du bist kein Vorbild mehr für die Nicht-Christen.

Du bist zu schwach.

Ich hatte keinen Baseballschläger, ich hatte nur Worte. Aber jedes Wort saß. Jedes Wort war ein Schlag.

Während ich Nadja den Sex verbieten wollte, dachte ich an Wladimir, mit dem ich mich nicht treffen durfte. Die Schwäche, die ich ihr austreiben wollte, trug ich selbst in mir. Es ging nicht um Nadja, es ging um den Westen, die Leere, die gefühlte Sinnlosigkeit des Systems, die ich versuchte, zu bekämpfen.

Am Ende weinte Nadja, sie rannte aus dem Raum. Sie konnte es nicht mehr aushalten. Ich hatte gemischte Gefühle, sie tat mir leid, aber ich fühlte meine Stärke. Immer hatten die anderen geredet, jetzt redete ich. Die anderen Frauen sagten nichts. Ich wusste, dass sie auf meiner Seite standen. Ich war eine Soldatin, ich leistete Gottes Dienst.

186-187

#

 

^^^^