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14   In der Hölle 

 

 

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Es war ein Dienstag im Juni 1996. Ein grauer Himmel hing über der Ostsee, am Morgen hatte es etwas geregnet. Die Luft war sauber und frisch. Ich stellte mich in die Schlange zur Fähre nach Helsinki, während Klaus sich umständlich von seinem Freund verabschiedete, der uns von Hamburg zum Ostseehafen Travemünde gebracht hatte. Klaus trug Jeans, Sweatshirt, Windjacke, ein unauffälliger 23-Jähriger. Alles an ihm wirkte eckig, sein Gesicht, seine Bewegungen, sein Blick. Er schien aus Schüchternheit zu bestehen.

Ich mochte Klaus. Neben ihm fühlte ich mich weniger ungeschickt und plump.

Von außen betrachtet hätten wir ein Paar sein können, auf dem Weg in den Sommerurlaub. Aber wir waren kein Paar, ich kannte ihn nur flüchtig aus der Gemeinde. Wir hatten eine Mission. Das Boot legte ab, die Häuser wurden kleiner, dann verschwanden sie ganz.

Ich ließ die Welt, wie ich sie kannte, hinter mir zurück.

Sieben Jahre waren seit der Wende vergangen. Die Geduld mit den Ostdeutschen wurde weniger. Die Ostdeutschen sollten »endlich ankommen«, hieß es.

Ankommen ja, aber wo?

Ich lebte nun in einer Demokratie, aber was bedeutete das?

Wenn man die volle Lebenserwartung erreicht, kann man im Leben vielleicht fünfzehn Mal darüber abstimmen, welche Parteien in den Bundestag kommen, vielleicht noch genauso oft darüber, wie der Landtag aussieht. Die Chance, dass man Abgeordneter, Minister oder Bundeskanzler wird, sind äußerst gering. Die größte Mehrheit der Menschen wird nie darüber entscheiden, ob Steuern erhöht oder gesenkt werden, wie viel Geld ein Sozialhilfeempfänger verdient, wann deutsche Soldaten in den Krieg ziehen oder zu Hause bleiben. Die größte Mehrheit der Deutschen delegiert diese Fragen an andere und hofft, dass es gut ausgeht. Echte Macht, die Gelegenheit, über das Schicksal anderer Menschen zu entscheiden, haben die Allerwenigsten.

Ich sah diese Machtverteilung von unten nach oben von Anfang an skeptisch. Der Traum von mehr Bürgerbeteiligung, der in der Wendezeit mit den Montagsdemonstrationen und den großen Kundgebungen auf dem Alexanderplatz formuliert wurde, war nicht vergessen - und konnte doch 1996 nicht ferner von der Realität sein. Deutschland schien festgefahren, Helmut Kohl regierte schon so lange wie Erich Honecker, und die größte Bedrohung der Menschheit schien verseuchtes Rindfleisch aus England zu sein.

Es gab wenige Möglichkeiten für den Einzelnen, sich einzubringen. Die Westdeutschen hatten sich daran gewöhnt, alle vier oder fünf Jahre ihr Kreuz zu machen und sich nur gelegentlich zu erheben, auf Ostermärschen, Anti-Atom-Demonstrationen. Lange bevor die Kritik an mangelnder Bürgerbeteiligung Mainstream wurde, fühlte ich mich fremd in der Gesellschaftsform.

Ich fuhr in die Sowjetunion, zum einstigen Bruderstaat, der jetzt Russland hieß. Es war mein Weg, eine gewisse Kontrolle über mein Leben zurückzuerlangen. Ich war nicht mehr passiv.

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Warum Russland? Die Welt stand mir sieben Jahre nach der Wende offen, und ich entschied mich für das Land, in das ich schon früher hätte reisen können, das Teil des Gefängnisses gewesen war? Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte ich vielleicht dort studiert. Wahrscheinlich hätte unsere Schul-Abschlussfahrt nach Moskau geführt.

Ich war wie ein Häftling, der freiwillig in seine Zelle zurückkehrte. Was war das, was mich unbewusst dorthintrieb? Größenwahn? Stockholm-Syndrom? Hass?

Die Entscheidung kam zufällig. Jemand hatte gesagt, du sprichst russisch, warum wirst du nicht Missionarin in Russland? Die Idee gefiel mir: Während auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt kein Platz für mich zu sein schien, wurde ich in Russland noch gebraucht.

Ich erinnere mich nicht mal mehr, wie der Name desjenigen war, der das zu mir gesagt hatte. Aber mein Ehrgeiz war geweckt, ich hatte ein neues Ziel. Auf dem Uni-Campus stand ich jede Woche am Büchertisch, doch fast niemand interessierte sich für die Botschaft, die ich hatte. Der Büchertisch genügte mir nicht mehr, ich wollte mehr, ich wollte was erreichen.

Missionarin bedeutete, Seelen zu retten, Abkehr zu predigen, neues Leben zu geben. Vielleicht redete ich mir das auch nur ein, aber das erste Mal seit der Wende hatte ich das Gefühl, die Ohnmacht zu überwinden, als ich mich entschied, Missionarin zu werden.

Es gab niemanden, der mich davon abhielt. Billy und Ruth, meine bibeltreuen Freundinnen, waren begeistert. Ruth hatte bereits als Missionarin gearbeitet, Billy würde später in den Sudan gehen, um Muslime zu bekehren. Es war für sie normal, Zeit ihres Lebens der Bekehrung anderer zu widmen.

Ich meldete mich für meinen Einsatz, es war so, als würde ich eine Urlaubsreise buchen, eintausend Mark für zwei Monate.

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Man kann die Einsätze bei der amerikanischen Missionsgesellschaft immer noch buchen, sie heißen heute auf Neudeutsch »Global challenge« (weltweite Herausforderung). Das Wort Mission wird auf der Website vermieden. Mission hat kein gutes Image mehr. Es klingt nach Kolonialherren, nach Kontrolle und Unterwerfung.

Die Missionsgesellschaft schickte mich nach Kardien, einer Region nordöstlich von St. Petersburg. Wenn ich mich bewährte, würde ich mein Studium aufgeben und mein Leben dem Dienst für Gott weihen. Das war der Plan.

Der Kapitalismus fordert, dass man all seine Kraft in die Karriere steckt. Und die Deutschen sind bekannt dafür, dass sie im Beruf besonders gewissenhaft und strebsam arbeiten. Indem ich mich für die Mission entschied, rebellierte ich auch gegen die geltenden Leitbilder der Gesellschaft. 

Dachte ich.

Meine Haare waren kurz, ich trug einen langen Rock, eine hochgeschlossene Bluse, flaches Schuhwerk. Ich sah aus wie eine Missionarin. Ich musste nicht mehr hübsch sein.

Obwohl ich nichts Verbotenes vorhatte, wusste ich instinktiv, dass ich vor Außenstehenden die wahre Motivation meiner Reise besser verbarg. Meine Pläne, das Studium aufzugeben, erwähnte ich nicht. Seitdem ich religiös geworden war, hatte ich eine gewisse Geschicklichkeit darin entwickelt, meine wahren Motive und Verbindungen zu verstecken. Meiner Mutter erzählte ich, dass ich mich in einer kirchlichen Organisation um Waisenkinder kümmern würde. Sie zeigte sich verständnisvoll, zitierte eine Bibelstelle, in der es um Nächstenliebe ging.

Meine Mutter fragte auch nicht genauer nach, wieso ich plötzlich meine soziale Ader entdeckt hatte. Später erfuhr ich, dass sie sich beim Dorfpfarrer nach der Missionsgesellschaft erkundigt hatte, ob sie gefährlich sei. Aber der Dorfpfarrer hatte den Namen noch die gehört und meine Mutter beruhigt, das sei sicher eine ganz harmlose Organisation.

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Mein Glaube schuf eine Distanz. Es war schrecklich zu wissen, dass die eigenen Eltern später in der Hölle landen würden und man nichts dagegen tun konnte. Wir lebten in zwei verschiedenen Welten.

Was hätten meine Eltern tun können? Sie kämpften wie viele Ostdeutsche damals an mehreren Fronten.

Meine Schwester war auf das Gymnasium gewechselt, aber sie kam mit dem Druck nicht zurecht und wollte die Schule abbrechen.

Auch mein Bruder entwickelte sich in eine seltsame Richtung. Er hörte inzwischen Musik von Neonazi-Bands wie Landser, Stahlgewitter oder den Zillerthaler Türkenjägern.

Die verbotenen CDs kursierten Mitte der neunziger Jahre auf den Schulhöfen. Freunde gaben sie an Freunde weiter. Die halbe Klasse fuhr zusammen auf den Polenmarkt hinter der Grenze und kaufte T-Shirts von Thor Steinar oder anderen rechten Marken. Die Polen und die Vietnamesen, die auf dem Markt ihre Stände hatten, hatten ihr Angebot schnell dem Bedarf angepasst. Die Absurdität fiel den Wenigsten auf.

Die Dörfer wurden immer leerer, viele Häuser waren unbewohnt. Für die Feste, auf denen die Menschen früher zusammenkamen, gab es kein Geld mehr. Der Konsum und die Kneipe wurden geschlossen, und wenn man ein frisches Brot kaufen wollte, musste man zwanzig Minuten in die Kreisstadt fahren. Der Bus fuhr zweimal am Tag.

Die um die 30-jährigen Männer gingen weg, in den Westen oder nach Skandinavien, wo Handwerker besser bezahlt wurden, und hinterließen eine Schar alleinerziehender Mütter und vaterloser Kinder. Das war die Logik der neuen Welt:

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Auf den Baustellen in Ostdeutschland fand man Portugiesen und Polen, während die Ostdeutschen wiederum auf norwegischen Baustellen arbeiteten. Die Väter, die blieben, hingen in Umschulungsräumen herum und »lernten Computer«. Die Söhne suchten andere Rollenbilder. Die neuen Freunde meines Bruders waren ähnliche Typen wie Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die zur gleichen Zeit in Jena herumliefen und Plakate für die NPD-Jugend klebten. Böhnhardt und Mundlos waren 1995/1996 noch keine Terroristen, hatten aber schon erste Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Sie treten 1996 gemeinsam mit dem NPD-Chef Holger Apfel auf Demonstrationen auf, gründen gleichzeitig mit Freunden die Kameradschaft Jena.

Die Neonazis auf dem Land waren weniger gefestigt, aber sie verkörperten eine Art von Männlichkeit, die attraktiv war, wild, stark, dynamisch. In einem Dorf, das starb, schienen sie das einzig Lebendige.

Die Jungs aus dem Dorf spielten mit Waffen auf den Truppenübungsplätzen, die die Russen zurückgelassen hatten. Am Wochenende setzten sie sich gemeinsam ins Auto und fuhren über die Dörfer. Sie wollten Türken jagen, gaben sich mangels Türken aber auch mit den Nachbarn als Opfer zufrieden.

Mein Bruder war ein Mitläufer, er hat nie jemandem etwas getan, aber ihm gefiel es, wild und gefährlich zu wirken.

Die rechtsextreme Karriere meines Bruders endete nach wenigen Wochen, als meine Mutter in seinem Schrank ein T-Shirt mit der Aufschrift »White Aryan« sowie mehrere indizierte CDs fand. Sie war bestürzt, sie gehörte zu der Generation, die mit dem Schrecken des Holocausts aufgewachsen war. Die DDR hatte sie wegen ihres Antifaschismus für den besseren deutschen Staat gehalten. Jetzt brachte ihr Sohn solchen Schmutz nach Hause. Als er aus der Schule kam, stellte sie ihn zur Rede und hielt ihm eine Standpauke, meine Oma erzählte ihm von den Zügen nach Auschwitz, die sie als Kind beobachtet hatte.

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Es war keine leichte Zeit für meine Eltern: Die älteste Tochter, 22, in einer christlichen Sekte, die mittlere Tochter, 16, litt in der Schule, und der Sohn, 14, hatte die falschen Freunde.

Heute würde man vielleicht zu einer Beratungsstelle geben, Nachhilfelehrer engagieren, aber das war damals entweder nicht üblich oder es fehlte der Mut, sich einzugestehen, dass etwas schieflief.

Vieles von dem, was passierte, habe ich erst später erfahren. Ich kannte nur Puzzleteile, die erst viel später Sinn ergaben.

Ich war weit weg, auf dem Weg nach Russland.

Zwei Tage nach der Abfahrt in Travemünde kamen wir in Tallinn, Estland, an. Dort fand das Missionslager statt, in dem die Teilnehmer auf ihren Einsatz vorbereitet wurden.

Ich wurde in einem Schulkomplex mit mehreren Gebäuden untergebracht, ich rollte meine Isomatte auf dem Boden eines Klassenraumes zwischen zwei Schlafsäcken aus. In jedem Raum schliefen zwanzig Frauen, am Ende der Gänge lagen die Waschräume. Es erinnerte mich an die Pionierlager von früher.

Man lernte das Einmaleins der Missionarsschule: keine Alleingänge, keine Einmischung in politische Angelegenheiten, respektvolle Kleidung. Man durfte nur zu zweit ausschwärmen, so wurde gesichert, dass man moralisch anständig blieb, Männer und Frauen getrennt.

Wir waren fünfhundert, vielleicht achthundert junge Leute zwischen 18 und 35. Die Teilnehmer der Einsätze wurden auf ihre Aufgabe vorbereitet, eingepeitscht mit Geschichten von unterdrückten Christen in Usbekistan, China und Russland.

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Amerikanische Gurus wurden per Videobotschaft aus den USA zugeschaltet. Das alles vermittelte das Gefühl, Teil einer weltweiten Bewegung zu sein.

Wer nach Tallinn kam, gehörte zu Gottes Elitetruppe und war bereit, sich Verhaltensregeln unterzuordnen. Man lernte, dass man am Zielort nur Personen gleichen Geschlechts ansprechen sollte, möglichst Gleichaltrige oder Jüngere.

Die wenigsten, die sich zum Crashkurs für Missionare in Tallinn angemeldet hatten, sprachen russisch oder eine andere osteuropäische Sprache. Die Führer hatten auch daran gedacht. Mit wenigen Strichen lernte man, das Evangelium in Zeichensprache zu übermitteln. Vier Bilder, vier Schritte. Das letzte Bild zeigte einen Galgen, an dem ein Strichmännchen hing. Das passierte, wenn man sein Leben nicht Jesus übergab. Man starb, um ewige Höllenqualen zu erleiden. Ich malte die Skizzen eifrig ab.

Außer mir hatte sich nur noch ein einziges Mädchen, eine Amerikanerin mit finnischer Mutter, für Russland angemeldet. Sie sah aus wie aus dem Filmset von Doktor Schiwago. Sie trug einen Strickpulli, lange, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene blonde Haare und einen langen, bis auf den Boden reichenden Rock. Sie sah so aus, wie ich mir die perfekte biblische Frau vorstellte.

Sie hieß, kein Witz, Larissa.

Geleitet wurde unser Team von drei finnischen Männern, die vom Alter her unsere Großväter hätten sein können und die nur finnisch sprachen. Ich weiß nicht mehr genau, woher sie kamen, ich weiß nur, dass ich ein bisschen Angst vor ihnen hatte. Sie sahen alle drei gleich aus, dicker Bauch, Halbglatze, ein verschlossener Blick, aus dem man nie genau lesen konnte, was sie dachten. Sie hätten auch Zuhälter sein oder atomwaffenfähiges Material in den Iran schmuggeln können, aber wahrscheinlich waren sie harmlose Familienväter. Bestimmt.

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Meine Mutter hatte mich immer vor fremden Männern gewarnt. Aber nun war es zu spät.

Ich nannte sie Finne 1, Finne 2 und Finne 3, weil ich mir ihre Namen nicht merken konnte. Die finnische Sprache, die am ehesten mit dem Ungarischen verwandt ist, klang fremd. Sie schien nur aus Ös und Is und Üs zu bestehen.

Joo hieß Ja und Ei hieß Nein. Joo, ei.

Wenn die drei Männer redeten, klangen sie nicht wie Gangster, sondern eher wie Kleinkinder, die noch nicht gelernt hatten, Konsonanten auszusprechen.

Ich hatte keine Intention, Finnisch zu lernen und die Männer sprachen weder russisch noch englisch, also würden wir die meiste Zeit in den nächsten Wochen schweigend verbringen. Wo sie herkamen, was sie nach Russland geführt hatte, das erfuhr ich nicht.

Wenn die Finnen uns etwas mitzuteilen hatten, warfen sie Larissa ein paar Brocken Vokale hin, und sie übersetzte. Finnische Männer, das weiß man aus Kaurismäki-Filmen, sind eher schweigsam.

Ich saß im Auto und schaute aus dem Fenster. Eine Melancholie machte sich breit, während wir stundenlang durch Wälder fuhren. Die Euphorie, die noch im Missionslager geherrscht hatte, war auf einen Schlag weg.

Ich hatte mich wiederholt in eine Situationen gebracht, in der ich jegliche Unabhängigkeit verlor. Ich konnte mich nicht frei artikulieren, ich konnte mich nicht frei bewegen. Ich dachte an die Soldaten, die früher durch das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gefahren sind. In den Wäldern der Umgebung waren die Russen stationiert, sie hatten ihre Kasernen, ihre Geschäfte, ihre Krankenhäuser.

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Sie waren offiziell die »Freunde«, aber man durfte keinen privaten Kontakt haben. Ihre Kasernen glichen verbotenen Städten. Jeden Tag rumpelten Kolonnen über den Asphalt, hinten unter den Planen, kauerten junge Männer in Uniform. Junge, traurige Gesichter. Die Soldaten waren eingesperrt, wenn sie zu fliehen versuchten, wurden sie erschossen. Ich musste an diese Gesichter denken, als ich mit den Finnen durch Russland fuhr.

Schon die Zaren verbannten ihre Gefangenen nach Karelien. Es gibt etwas weiter nördlich ein Kloster mit Namen Solowniki, das schon im 14. Jahrhundert als politisches Gefängnis benutzt wurde. Die Kommunisten machten nach der Revolution 1917 einen Gulag daraus. Inzwischen ist es wieder ein Kloster.

Wäre ich eine Malerin, hätte ich Studien des unterschiedlichen Grüns betreiben können. Ansonsten gab es wenig, woran sich das Auge festhalten konnte. Keine Berge, kein Meer, nur Wälder und glatte, stille Seen. Halb Karelien ist von Wasser bedeckt. Menschen sah ich ebenso wenig wie Braunbären, die hier leben sollten, dafür standen verloren einzelne kleine Holzkirchen herum.

 

Es gibt viele Gründe, gegen die orthodoxe Kirche zu sein, ihre fragwürdige politische Rolle beispielsweise, die Kirche hat sich in Russland jahrhundertelang als Stütze des Zaren gesehen und die Ausbeutung der Bauern toleriert. Aber immerhin war es eine christliche Kirche, wäre es nicht sinnvoller, Ungläubige zu erreichen? 

Ich frage Larissa halb scherzhaft, halb ernst, ob ich wir den falschen Einsatzort gewählt hatten. Die orthodoxe Kirche sei eine Irrlehre, sagte sie mit sanfter Stimme. Die orthodoxen Gläubigen würden ebenso wie die Ungläubigen in der Hölle enden. Sie schien sich da sehr sicher. Ökumene lehnte sie ab, wie die meisten Freikirchen.

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Die Finnen lenkten das Auto über Schotterpisten, ich sah stundenlang kein anderes Auto, manchmal entdeckte ich Holzhütten und Frauen mit Kopftüchern, die an den Ufern der Seen ihre Wäsche wuschen und Trinkwasser holten. Die Menschen schienen unberührt von historischen Ereignissen zu leben. Die Zeit stand still.

Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie dachten, in Moskau regiere noch der Zar.

Dass unsere Mission von drei Finnen geleitet wurde, war nicht so ganz abwegig, wie es mir zunächst vorgekommen war. Der Landstrich nördlich von St. Petersburg gehörte früher zu Finnland, die Bauern in den Dörfern sprachen karelisch, einen finnischen Dialekt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Finnen, die an der Seite der Deutschen gekämpft hatten, einen Teil von Kardien an die Sowjetunion abgeben müssen. Vierhunderttausend Finnen waren vor dem Kommunismus geflohen. Karelien war geteilt worden, so wie Deutschland. Ich fuhr in meine Vergangenheit, in die finnische DDR.

Unser Ziel war die karelische Hauptstadt, Petrosawodsk am Onegasee. Als Erstes fiel mir in der Stadt eine haushohe Statue an einem leeren Platz auf, der Rasen war schon eine Weile nicht mehr gemäht worden. In Deutschland waren Mitte der neunziger Jahre die meisten Lenin-Büsten zerstört worden, die Spuren der Vergangenheit mussten getilgt werden, aber hier saß er noch, das Symbol unserer ehemaligen Waffen- und Wertegemeinschaft, Genosse Wladimir Iljitsch Lenin. Ein schwarzer Riese, sein steinerner Finger maß mehr als ein menschliches Bein. Trotz seiner Größe wirkte Lenin in seiner vergangenen Omnipotenz lächerlich, schlaff.

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Anfang der zwanziger Jahre, als er mit seinen Bolschewiki die Macht übernommen hatte, wurden Gotteshäuser geschlossen und Tausende Priester und Gläubige erschossen. Als bibeltreue Christin hätte ich ihn hassen müssen. Aber er tat mir leid.

Na, Genosse, wie fühlt man sich als Verlierer der Geschichte?

Nach einer weiteren Dreiviertelstunde Fahrt hielt der Bus vor einem Hochhaus am Stadtrand. Finne 1, Finne 2, Finne 3 rannten die Treppe hoch, Larissa und ich liefen mit unseren Taschen hinterher. Die Wohnung war leer, komplett unbewohnt. Zwei Zimmer mit jeweils drei Betten, Küche, Bad.

Ich sah, wie Larissa, schon ganz russisch-schicksalsergeben, ihre Tasche öffnete und auszupacken begann. Doch es gab keinen Schrank, keinen Tisch, nur ein Regal.

Ich hätte die Bibel, die ich mitgebracht hatte, aus dem Fenster schmeißen können. Ich war geschockt und wütend auf mich selbst. Was hatte ich denn erwartet? Luxus? Ein Zimmer im Hilton?

Aber ich hatte keine Wahl, ich war über zweitausend Kilometer von zu Hause entfernt. Es gab kein Telefon und ich hatte keinen einzigen Rubel in der Tasche. Ich machte das, was mir am leichtesten fiel, ich ordnete mich, wenn auch widerwillig, den fremden finnischen Männern unter und ließ mir nichts anmerken.

Ich konnte mich wie ein Chamäleon in widrigste Situationen einfügen. Vielleicht wird man so, wenn man Brüche in seinem Leben durchgemacht hat, in denen die Existenz davon abhängt, wie gut man Normalität simulieren kann. Ich konnte das ziemlich gut. Meine Angst vor den Finnen und meine Wut darüber, eingesperrt zu sein, verdrängte ich. Ich war inzwischen auch ganz gut im Verdrängen.

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Es war heiß in der Wohnung, trotz Sommertemperaturen lief die Heizung, und man konnte sie, wie in russischen Wohnungen üblich, nicht selbst abstellen. Dafür gab es kein warmes Wasser. Die Stadt hatte kein Geld dafür, die maroden Wohnungen zu sanieren. Überall schimmelten die Wohnungen der Genossenschaften vor sich hin. Willkommen im neuen Russland.

 

Die neoliberalen Reformen des Präsidenten Boris Jelzin hatten im Wesentlichen darin bestanden, einige wenige Menschen sehr reich und viele sehr arm zu machen. »Schocktherapie« nannte er das. Renten und Löhne in öffentlichen Betrieben wurden nur unregelmäßig ausgezahlt, ein Teil des Volkes hungerte.

Trotzdem traf die Wut nicht Jelzin, der während meiner Ankunft in Russland gerade 1996 wiedergewählt worden war, sondern seinen Vorgänger, den in Deutschland so verehrten Michail Gorbatschow. Er habe Russland an den Westen verkauft, lautete der Vorwurf, den ich immer wieder hören würde.

Die nächsten Tage liefen immer gleich ab. Die drei Finnen sah ich kaum, sie verschwanden morgens in aller Frühe und kamen erst spätabends zurück. Sie pflegten Kontakte, erklärte mir Larissa. Was das für Kontakte waren, wusste ich nicht genau. Angeblich unterstützten sie finnischsprachige Hausgemeinden, die sich konspirativ in privaten Wohnungen trafen. Sie hätten einen Drogenschmuggelring aufbauen können und ich hätte nichts gemerkt.

Während die Finnen unterwegs waren, hatten Larissa und ich den Auftrag, Kontakte zu knüpfen. Unsere Aufgabe war es, mit jungen Frauen in unserem Alter ins Gespräch zu kommen. Das war schon ein erstes Problem, denn junge Frauen hielten sich kaum auf den Straßen auf. Die Stadt wirkte im Vergleich zu westlichen Städten unfassbar leer. Autos und Busse konnte sich niemand leisten, die meisten Menschen gingen zu Fuß oder benutzten Sammeltaxis.

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Kurioserweise gibt es Ähnlichkeiten zwischen Eisenhüttenstadt und Petrosawodsk. Die russische Stadt wurde 1703 für die Arbeiter einer neuen Eisenhütte im abgeschiedenen Kardien gebaut - von Zar Peter I., der auch St. Petersburg errichtete. Petrosawodsk war auch eine Planstadt, wie Eisenhüttenstadt 250 Jahre später.

Auf Bänken am Straßenrand saßen die Babuschkas, alte Frauen mit Kopftüchern, die wie hundert aussahen und wahrscheinlich nicht mal sechzig waren, sie flüsterten, wenn Larissa und ich vorbeiliefen. Die Babuschkas musterten diese zwei westlichen jungen Frauen misstrauisch. Niemand außer einer Handvoll Zeugen Jehovas, die auch durch die Stadt irrten, trug in Petrosawodsk lange Röcke und weite T-Shirts. Es war sozusagen das Erkennungszeichen der Sektenmitglieder.

Ich lernte mit der Zeit, verheiratete von ledigen Frauen zu unterscheiden. Die Ledigen waren dünn, mit langen Beinen, sie trugen am liebsten grelle Farben, viel Glitter und hohe Schuhe. Keine Ahnung. Die meisten Mädchen gingen nie ohne Lippenstift und Lidschatten aus dem Haus, sie waren, wie die Mädchen bei Heidi Klum später, »always on«.

Dann, sobald die Frauen verheiratet waren, mit 21 oder 22, veränderte sich ihre Körperform. Sie trugen immer noch grelle Farben und Glitter, sie wirkten aber jetzt, als hätten sich kleine Elefanten in Kindersachen gedrängt.

Wann genau diese Metamorphose passierte, weiß ich auch nicht, und wie war das für die Männer, die Supermodels geheiratet hatten und dann mit einem Elefanten im Bett endeten?

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Die Frauen, egal ob Single oder verheiratet, brauchten ganz klar Jesus, um sie von ihrer Fixierung auf äußere Schönheit zu erlösen, von ihrer Ersatzdroge. Leider schienen sie sich ihrer Erlösungsbedürftigkeit nicht bewusst zu sein. Sie marschierten über das Kopfsteinpflaster und standen perfekt geschminkt stundenlang beim Bäcker nach Brot an. Wenn schon russischer Untergang, dann bitte auf High Heels.

Es gab keine Supermärkte, sondern nur Geschäfte, in denen ein kompliziertes Zahlungssystem herrschte. Man ging zu einem Tresen, merkte sich den Preis des Artikels, stellte sich an der Kasse an. Dort wartete man, bis man dran war, dann nannte man den Preis, bezahlte und bekam eine Quittung. Anschließend stellte man sich wieder an, um die Waren abzuholen.

Bis ich das System durchschaut hatte, verging eine Woche.

Ich konnte mich nur mit großer Mühe auf Russisch verständigen, weil ich in den acht Jahren Sprachunterricht zwar gelernt habe, marxistisch-leninistische Phrasen zu wiederholen, nicht aber, wie man ein Brot kauft.

Ich hatte vor allem Schwierigkeiten, mir Zahlen zu merken. Ich verwechselte fünfzehn, pjatnadzad, mit fünfzig, pjat-desjat, und bekam an der Kasse vor Aufregung kein Wort heraus. Ich zeigte auf ein Brot, das ich ausgewählt hatte, aber die Kassiererin schüttelte den Kopf. Ich musste zum Tresen zurück. Wenn man lange Schlangen vor den Brot-Geschäften sah, dann war Lieferung eingetroffen, dann musste man hinrennen und sich die Taschen vollstopfen. Manchmal gab es tagelang kein Brot in der Stadt.

Wenn wir nicht nach Brot anstanden, arbeiteten wir diszipliniert unsere Aufgaben ab. Wir klingelten an vielen Häusern. Meistens wurde uns die Tür vor der Nase zugeschlagen, sobald Larissa die Bibel herausholte. Die Russen wollten keinen Heiland. Sie hatten ihren Wodka.

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Nur ein einziges Mal kam ich meiner Aufgabe, eine Seele zu retten, nahe. Auf dem Spielplatz vor der Haustür trafen wir Irina. Sie war zu alt für den Spielplatz, sie war 15, und sah aus wie 22. Larissa und ich setzten uns zu ihr und stellten uns vor. Als sie mich fragte, ob ich auch Amerikanerin sei, sagte ich, nein, nemjetzkyi, Deutsche. Ich erzählte noch ein bisschen mehr, aber Irina lachte mit jedem Wort, das ich sagte. Sie lachte so laut, dass sie sich die Hand vor den Mund halten musste.

Angeblich sprach ich mit französischem Akzent. Mein Selbstbewusstsein brach sofort ein, gekränkt.

Nachdem ich darüber nachgedacht hatte, wie lächerlich es war, sich von einer 15-Jährigen, die wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben eine Ausländerin reden gehört hatte, einschüchtern zu lassen, freundete ich mich mit Irina an - soweit es zwischen einer Missionarin und ihrem Opfer Freundschaft geben kann. Denn das Ziel ist ja immer gleich: Das Opfer soll sich von seinem alten Leben verabschieden, seine Sünden bekennen und Jesus als Retter annehmen.

Ich begann ganz sanft, Jesus liebt dich, er liebt jeden Einzelnen, als sie nur gelangweilt guckte und ihre Haarspitzen um ihre Finger wickelte, so dass nicht klar war, ob sie nachdachte, träumte oder an gar nichts dachte, also da legte ich ein wenig Dynamit in das Gespräch: Wer sich nicht für Jesus entscheidet, lebt in ewiger Verdammnis. Also gehe ich in die Hölle?, fragte Irina erschrocken.

Larissa fand nachher, ich sei zu ungeduldig. Aber immerhin hatte uns Irina zu sich nach Hause eingeladen. Ich fand das ermutigend. Ein wenig Druck schadete nicht. Jesus war doch auch eher der radikale Typ, er hatte in den Tempeln die Geldtische umgeworfen und nicht freundlich darum gebeten, mit dem Glücksspiel aufzuhören.

Ich hatte das Gefühl, nah an meinem Ziel zu sein, endlich jemanden zu bekehren.

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Ich war vor drei oder vier Wochen angekommen, aber es fühlte sich an, als sei ich schon seit dem Ende der achtziger Jahre in der Stadt. Die Abende in Petrosawodsk waren am schlimmsten. Sie zogen sich hin, jedes Mal, wenn ich das Gefühl hatte, eine halbe Stunde müsste vergangen sein, hatte sich der Zeiger kaum eine Minute vorbewegt. Ab sieben durften wir ohne Erlaubnis der drei Finnen das Haus nicht mehr verlassen.

Es gab keinerlei Ablenkung: kein Buch, kein Fernseher, kein Alkohol. Ich kopierte das gesamte Johannes-Evangelium in mein Tagebuch.

Larissa beschwerte sich nie, jeden Tag pries sie den Herrn und war voller Erwartung auf die Ereignisse, die passieren könnten, und abends, wenn die Finnen kamen, ging sie in die Küche hinüber und unterhielt sich lange in ihrer merkwürdigen Sprache. Ich stellte mir vor, dass sie sich über mich lustig machten. Die schlechteste Missionarin, die sie je hatten. 

Ich wurde langsam paranoid. Nachts hatte ich Alpträume, von russischen Soldaten, die das Haus meiner Eltern überfielen.

Es war ein bekannter Traum, den ich früher als Kind oft gehabt hatte. In dem Traum sah ich durch das Fenster der Küche, wie eine Kolonne von Panzern und Soldaten aus dem Wald auf das Haus zurückte, meine Eltern versteckten sich im Keller und ich hörte ihre Stimmen, aber ich konnte mich nicht bewegen.

 

An dem Abend, an dem wir Irina besuchten, war ich besonders aufgeregt. Sie wohnte in einem anderen Block, ein paar Straßen weiter. Schon im Hausflur roch es nach Urin, überall lag Müll herum. Wir stiegen die Treppen hinauf, Irina wartete mit Hausschuhen in der Hand.

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Es war einer jener russischen männerlosen Haushalte, von denen es viele gab. Irina lebte mit Mutter und Oma sowie einem jüngeren Bruder zusammen, die Eltern waren geschieden. Die Scheidungsrate in Russland war damals schon sehr hoch, die Hälfte aller Ehen wurde geschieden, in den Städten war die Rate noch höher.

Der Tisch im Wohnzimmer bog sich unter Delikatessen, die ich in keinem Geschäft gesehen hatte, eingelegter Fisch, Salat, Gurken, Pasteten. Ich aß und aß, bis mein Magen schmerzte. Und danach sagte die Oma, komm, Kindchen, greif zu, du hast ja noch nichts angerührt.

Die Oma wollte wissen, woher aus Amerika ich komme.

Sie hatte wahrscheinlich noch das Ende des Großen Vaterländischen Krieges miterlebt, wie die Russen den Ostfeldzug nennen, hatte vielleicht Angehörige verloren. Was es wohl in ihr auslöste, wenn sie erfuhr, dass ich Deutsche war, keine Amerikanerin, wie Larissa?

Der Großvater war Teil der Armee, die ihr Land unterwerfen wollte, war bei der großen Doppelschlacht von Wjasma und Brjansk mit dabei, und jetzt kommt die Enkelin und versucht mit anderen Methoden, das zu erreichen, was der Opa nicht geschafft hat?

Is Germanyi, sagte ich schüchtern.

Die Oma musterte mich. Suchte sie nach Spuren, nach Hinweisen auf mein düsteres Erbe? Die Enkelin der Kriegsverbrecher-Generation?

Aber dann fragte sie nur: Ost oder West? West, wollte ich sagen, aber dann blieb ich doch bei der Wahrheit.

Die Oma schaute mich zu Recht aufmunternd an, als wollte sie sagen, komm, ist doch nicht schlimm.

Sie hatte gehört, dass die Taxis in Deutschland von der Marke Mercedes sind. Daraus schloss sie, dass alle Deutschen in Mercedessen herumfuhren. In Ost und West. Meine Versuche, die Lage etwas anders darzustellen, prallten an ihnen ab.

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Irina und ihre Familie hatten von den Autobahnen gehört, den sauberen Straßen, den zuverlässigen Beamten, der Ordnung, es gefiel ihnen gut. Ich versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und stellte meinen Missionars-Autopilot an: Noch geht es euch schlecht, aber wenn ihr Jesus in eurer Leben lasst, wird es euch besser gehen. Differenzierter konnte ich mich auf Russisch nicht ausdrücken.

Aber ich wurde immer wieder unterbrochen. Wie viel verdienst du, wollte die Oma als Nächstes wissen.

Ich bekam 600 Mark Bafög. 600 Mark im Monat war viel Geld für eine russische Familie, selbst wenn ich beteuerte, dass es sich um einen Kredit handelte. Mit 600 Mark im Monat gehörte man in Petrosawodsk zu den Reichen. Ich merkte, wie sich der Blick auf mich änderte, ich wünschte, ich hätte nichts gesagt. Irinas Mutter verdiente umgerechnet etwa 100 Mark als Verkäuferin, ihre Oma bekam rund 50 Mark Rente. Ich fragte, wie sie über die Runden kommen. Die Oma erzählte, dass sie Gemüse anbaute, Kartoffeln, Rote Beete, Zwiebeln. 

Irgendwann stand eine Flasche Wodka auf dem Tisch. Ich hatte mich verpflichtet, keinen Alkohol zu trinken. Eigentlich sollte ich den Russen auf das, vor dem sie in den Wodka flüchteten, eine andere Antwort geben. Aber die Missionsgesellschaft und die drei Finnen waren weit weg, wir tranken ein Glas und noch ein Glas und noch ein Glas. Es wurde ein lustiger Abend, an dem viel gelacht wurde. Von Jesus sprachen wir nicht mehr.

Am nächsten Tag kam ich mir wie eine Versagerin vor. Ich dachte an das Galgenmännchen, Skizze vier der Turbo-Evangelisation: Die Missionsgesellschaft musste sehr enttäuscht von mir sein.

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Ich erzählte Larissa von meinen Zweifeln, die mich nach ein paar Wochen in Petrosawodsk plagten. Ich sehnte mich nach Aufrichtigkeit und hatte das Gefühl, alles, was ich in Russland machte, beruhte auf einer Lüge. Ich hatte mich aus einer Laune heraus für diesen Einsatz angemeldet. Jetzt sollte ich den Russen von Jesus erzählen, ich sollte sie unterwerfen, aber ich hörte ihnen lieber zu. War ich womöglich nicht zur Missionarin geeignet?

In den nächsten Tagen wurde ich ein wenig abgelenkt, Finne 1 sagte, wir fahren weg. Er sagte nicht wohin. Jetzt würde unser Einsatz richtig beginnen. Alles andere war nur Vorbereitung gewesen. Wir setzten uns in den weißen VW-Bus, murmelten ein gemeinsames Gebet und fuhren los.

Ich hatte keine Ahnung, in welche Himmelsrichtung es gehen sollte, ob es ein Ziel gab oder ob wir nur zufällige Runden drehten. Larissa plauderte mit den Finnen.

Ich schaute aus dem Fenster und langweilte mich. Bäume, links und rechts. Zwischendrin mal ein Birkenwäldchen. Die Waldstraße schien nicht zu enden. Man konnte sich vielleicht vorstellen, dass hier die Hexe Baba Yaga aus den russischen Märchen lebt, auf einem Haus mit Hühnerfüßen. Manchmal passierten wir kleinere Seen, eine Siedlung, in der die Mücken das Lebendigste zu sein schienen.

Nach vier oder fünf Stunden kamen wir in einem Walddorf an. Niemand war auf der Straße, die mehr ein Sandweg war, der plötzlich endete. Um einen Brunnen standen Holzhütten. Larissa übersetzte, dass die Menschen hier noch nie Ausländer gesehen haben.

Ich machte mir Sorgen, wie die Einheimischen uns empfangen würden. Machten sie uns mit Wodka betrunken, würden Larissa und ich dem Häuptling als Nebenfrauen geschenkt?

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Statt eines Häuptlings kamen ein paar alte Frauen aus den Hütten, sie riefen chleb? Brot?

Sie hatten den weißen Wagen gesehen und hofften, dass die überfällige Brotlieferung endlich kommen würde. Seit dem Zusammenbruch der Kolchosen mussten sich die Menschen selbst versorgen. Sie lebten vom Fisch aus den Seen, von den Tieren im Wald. Einmal die Woche kam ein Brot-Auto. Wenn es denn kam.

In dieses abgelegene Dorf war seit zwei Wochen kein Brot-Auto mehr gekommen. Telefone gab es nicht, Handys kosteten ein Vermögen.

Jesus hatte mit fünf Broten fünftausend Mann ernährt, wir hatten nicht mal fünf Brote dabei, sondern nur Traktate und Bibeln. Finne 2 oder 3 ging auf sie zu, sagte etwas auf finnisch - und die Frauen verstanden ihn. Sie zeigten ihr zahnloses Gebiss und lächelten. Die Männer zeigten auf uns. Larissa und ich standen unbeweglich neben dem Auto. Ein Finne holte aus dem Auto einen Stapel Bibeln und eine Gitarre. Eine Gitarre? Ich sah die Gitarre auf mich zukommen und ließ sie beinahe fallen.

Ich hatte ein paar Gitarren-Griffe gelernt, als ich zwölf war, und das offenbar in einem Fragebogen der Missionsgesellschaft angegeben, um bessere Chancen bei der Auswahl zu haben. Ich hätte nie damit gerechnet, dass jemand darauf zurückkommt.

In Hamburg hatte ich davon geträumt, etwas Großes zu erreichen. Seelen zu retten. Jetzt stand ich am Ende der Welt und sollte Gitarre spielen. War alles ein Missverständnis?

Ich war selbstkritisch genug, um zu wissen, dass mein Gitarrenspiel vielleicht Steine zum Erweichen bringt, aber niemanden bekehrt. Aber gut, irgendwo musste man anfangen.

209/210


Die alte Frau, die der Finne begrüßt hatte, brachte mich in eine etwas größere Hütte. Ich ging hinein, und als ich die Tür aufmachte, trat ich einen Schritt zurück. Der Raum war vollgestopft mit kleinen Mädchen und Jungs, sie trugen ihre Sonntagskleider, die Mädchen hatten riesige Schleifen im Haar. Die Kinder verhielten sich still. Der Finne flüsterte Larissa etwas in ihr Ohr, Larissa übersetzte, ich solle spielen. Der Finne verschwand. Ich stand mit der Gitarre vor den Kindern und hätte nichts dagegen gehabt, wenn man mir jetzt sofort, hier an dieser Stelle, eine Giftspritze gesetzt hätte. Kein Wort brachte ich heraus. Larissa stieß mich an. Ich nahm die Gitarre und spielte los.

Larissa und ich sangen ein paar Lieder, ich verwechselte ein paar Griffe, aber es war nicht schlimm. Dann stellte ich die Gitarre beiseite. Ich nannte meinen Namen und erklärte, dass ich aus Deutschland gekommen sei, um ihnen vom Jesuskind zu erzählen. Ich ging zur Tafel und begann, Strichmännchen zu zeichnen. Ich schaltete auf Eroberungs-Modus.

Jesus kam in die Welt, um uns zu retten.

Wie brav sie dasaßen. So ruhig. Unheimlich. Hinten thronte eine Lehrerin, vor der hatten sie offenbar Angst.

Dann kam der Moment des Galgenmännchens. Die Kinder standen am Anfang ihres Lebens, und ich sollte ihnen vom Tod erzählen und von der Hölle. Ich ließ das Galgenmännchen aus und stellte Jesus mehr als unsichtbaren Freund dar, der immer mit ihnen reden würde.

Am Ende stellte ich noch die Frage, wer Jesus sein Leben übergeben möchte. Es war der Moment, auf den ich gewartet hatte, doch er fühlte sich künstlich an, so dass ich hinterherschob: Ihr müsst euch nicht heute entscheiden. Larissa betete für die Kinder, ich verteilte Traktate, in denen die Geburt von Jesus auf Russisch und mit vielen Bildern nacherzählt wird.

Ich sah die großen ängstlichen Gesichter und wartete darauf, dass wenigstens einer etwas fragen oder Faxen machen würde, wie man das als Kind so macht. Aber bei den kleinen Russen gab es keinen Klassenclown. »Disziplin ist die wichtigste Tugend«, erklärte uns die Lehrerin später, »das geht uns in Russland gerade verloren, es wird bei uns wie bei euch im Westen, alles wird lockerer, niemand strengt sich mehr an.« Mir war unangenehm, dass sie mich als Vertreterin des verlotterten westlichen Systems wahrnahm. Habt ihr Brot mitgebracht, flüsterte ein Mädchen beim Herausgehen.

Was würden die Kinder von diesem Nachmittag mitnehmen? Würden sie sich jemals daran erinnern, dass zwei religiöse Rockträgerinnen in ihr Dorf gekommen waren? Ich schämte mich dafür, hungrige Kinder indoktriniert zu haben. Irina aus der Stadt war auch erst 15, aber mit 15 war man schon fast erwachsen. Ich erinnerte mich zu gut daran, wie ich selbst indoktriniert wurde, und kam mir so nutzlos vor, mit meiner Gitarre, meinen Bibeln und meinen Traktaten. Ich fragte später, warum wir keine Lebensmittelspenden mitgebracht hatten, doch die Finnen erwiderten, dass das den Regeln widerspräche. Es ginge darum, Seelen vor der ewigen Vergänglichkeit zu retten.

Wer sich in gesellschaftliche Fragen einmischt und Ungerechtigkeiten auf Erden lindern will, durch Umweltschutz, durch Programme gegen Armut, gilt unter evangelikalen Christen schnell als Liberaler, als falscher Gläubiger.

Wenn ich zurückdenke, überlagert diese enttäuschende Episode den ganzen Tag, ich kann mich nicht erinnern, wie er weiter verlief und wie wir in die Stadt am Onegasee zurückkamen.

Ich war wütend, ich wusste nicht genau auf wen, auf Gott, auf die drei Finnen, auf mich selbst. Was auch immer ich in Russland gesucht hatte, Erlösung, Vergangenheitsbewältigung, ich würde es nicht finden.

Danach verbrachten wir die nächsten zwei Wochen nur in Petrosawodsk. Manchmal nahmen uns die Männer auf ihre Ausflüge mit, aber wir mussten keine Kinder mehr bekehren, sondern nur Tee aus dem Samowar trinken.

Larissa und ich gaben es auf, an Türen zu klopfen. Wir entdeckten eine russische Sauna in der Nähe des Hochhauses und verbrachten die meiste Zeit in der Banja.

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