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1.  Die Vertreibung aus dem Paradies oder der Anfang der Arbeitsgesellschaft

Rieseberg-1992

 

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Die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, vor allem die Industrie­gesellschaften leiden trotz ihres immensen Über­flusses in mehreren Bereichen unter großen Mängeln: Sie haben einen riesigen Energiebedarf und zu wenig Energie; sie haben ihre Umwelt zerstört und leiden an einem Mangel an natürlicher Umwelt; sie verfügen über riesige Warenmengen, Vorräte und Geldmengen und weisen dennoch Arbeits­losen­zahlen auf, die sich zwischen 5 und 15-20 % der möglichen Beschäftigung bewegen. 

Obwohl also Gesamt­gesell­schaften und Staaten riesige Geldvorräte haben, können sie einen großen Teil ihrer Arbeiter nicht mehr bezahlen, oder die Tätigkeitsbereiche gehen ihnen aus. Die Zukunfts­prognosen versprech­en keine Besserung, sondern sehen eher noch düsterer aus.

Im Laufe des 21. Jahrhunderts wird sich die Menschheit verdoppeln und die Zahl der Arbeitsplätze eher verringern als erhöhen. Hinzu kommt, daß durch Automatisierung und Computerisierung eine Rationalisierung im Dienstleistungs­gewerbe einsetzt, die die Zahl der Arbeitslosen auf bis zu 30 % oder mehr erhöhen wird. Darüber hinaus werden diejenigen, die Arbeit haben, immer weniger Beschäftigung an ihrem Arbeitsplatz vorfinden, sie werden zu Überwachern, zu Kontrolleuren, die weder körperlich noch geistig irgendwelche Funktionen haben.

Im 21. Jahrhundert spätestens tritt somit neben das Energieproblem und das Umwelt­problem das Problem der Arbeit. Arbeit, eine Erfindung des Menschen für Menschen, geht durch die immer mehr wachsende Produkt­ivität der Arbeitenden verloren. Ähnlich wie das Umweltproblem wird erst dann wirklich die Krisen­haftigkeit erkannt werden, wenn es für viele schon zu spät ist, wenn in vielen Bereichen die Arbeits­möglich­keiten für immer zerstört sein werden.

Die Erfindung der Arbeit ist zeitlich recht genau in der Entwicklungs­geschichte des Menschen zu definieren. Es ist der Übergang des Jägers und Sammlers zum Ackerbauer. Bei allen lebenden Naturvölkern finden wir im engeren Sinne keine Arbeit, sondern Tätigkeit. Die Tätigkeit dieser Menschen ist im Unterschied zur Arbeit weder zwanghaft noch fremdgesteuert, sie wird nur dann gemacht, wenn es der Lebensunterhalt unmittelbar erfordert.

Die Naturvölker arbeiten wenig. Würde man ihre Gesamt­arbeitszeit auf die Woche verteilen, so hätten sie im Schnitt minimal einen Tag, maximal zwei Tage zu arbeiten, um den Lebensunterhalt für sieben Tage zu sichern. Die Naturvölker legen in der Regel keine Vorräte an und kümmern sich wenig nachsorgend um den Erhalt ihrer Umgebung. Sie greifen nur so in die Umgebung ein, daß diese auf Dauer für ihren Unterhalt sorgt. Arbeit ist etwas, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Tiere arbeiten nicht, sondern sind faul. Auch alle kinetischen Erscheinungs­formen der Natur wie Wind, Wasser, Licht oder Strahlung verrichten erst durch die Definition des Menschen oder durch seine technische Nutzung Arbeit.

Arbeit, so kann man also definieren, ist die wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung unserer Zivilisation, unserer derzeitigen Kultur. Über die Entstehung der Arbeit gibt es eine Reihe von Mythen, deren bekanntester im Alten Testament recht präzise beschrieben wird. Im 1. Mose, 2. Kapitel, Vers 8 heißt es: »... und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen darein, den er gemacht hatte«, und im Vers 16: 

»... und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach, du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen, denn welchen Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.«

Die weitere Entwicklung der Geschichte ist den meisten bekannt, der Mensch Adam erhält die Gefährtin Eva, und diese bekommt von der Schlange den Hinweis, sich um die Worte Gottes nicht zu scheren, den Apfel vom Baum zu pflücken, davon zu essen und Adam ebenfalls dazu zu überreden, um dadurch das Wissen von Gut und Böse zu erlangen. Adam macht mit, Gott erfährt dies, vertreibt die beiden aus dem Paradies und sagt:

»Verflucht sei der Acker, um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich drauf nähren dein Leben lang, Dornen und Disteln soll er dir tragen und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.«

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Adam ist zum Ackerbauer geworden und hat seinen Garten Eden, sein Paradies verloren. Fortan muß er selbst für das Wachstum seiner Pflanzen sorgen, das Unkraut entfernen, wie ein Muli den Acker bestellen, ernten, Vorräte anlegen, diese verteidigen usw.

Die Bilder sind eigentlich klar und eindeutig, das Paradies ist der Mensch selbst, indem er den Ackerbau entwickelt, indem er die Natur zu überlisten versucht, indem er alles, was er kann, auch macht. Und damit hat er die Arbeit erfunden. Fortan braucht er für seinen Lebensunterhalt immer mehr, als in seinem Dasein als Jäger und Sammler. Gleichzeitig weckt aber die Arbeit in ihm die Begierde, mehr zu arbeiten, Vorräte anzusammeln oder Tauschobjekte zu erarbeiten. Damit erfüllt er die Grundbedingungen, die Marx als Definition des Begriffes Arbeit mit Recht verwendet.

Menschliche Tätigkeit ist nur dann Arbeit, wenn sie ein nützliches Produkt hervorbringt, d.h. wenn das Produkt einen Tauschwert hat. Menschliche Arbeit hat aber seinen natürlichen Bezug dort, wo der Mensch in seiner Produktion so verfährt wie die Natur, d.h. indem er die Stoffe ändert. Soweit also die Natur Produkte hervorbringt, also in Jäger- und Sammlergesellschaften, sind diese keine Arbeitsprodukte, sondern Naturprodukte. Deshalb ist die Arbeit in diesen Gesellschaften auch nicht vorhanden.

Zweifelsohne war der Schritt des bereits Jahrmillionen alten Menschen in die Arbeitsgesellschaft als Ackerbauer eine gewaltige Veränderung. Sie wird heute von allen Historikern mit der industriellen Revolution verglichen und die neolithische Revolution genannt. Die Arbeit als Ackerbauer veränderte das Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Natur grundsätzlich und nachhaltig. Sie muß auch auf ihn sehr prägend gewirkt haben, denn der Mensch hat diesen Schock des Übergangs nie richtig verarbeiten können, sondern ihn mit allen möglichen Mitteln zu verdrängen versucht.

Eines der Hauptverdrängungsinstrumente dürfte die Erfindung der Religion, der Glaube an das Jenseitige gewesen sein. Der Schock der Arbeit, der bis heute als Fluch bezeichnet wird, war für den Menschen so schwerwiegend, daß er bis heute nicht akzeptiert hat, daß er ihn selbst herbeigeführt hat.

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Er sucht permanent nach einem Schuldigen, und er erfand Gott. Fortan lebte Gott mit ihm und in ihm. Gott war es, der ihn aus dem Paradies vertrieben hat, und Gott begleitete ihn über Tausende von Jahren. Als er Gott verlor und sich von seiner Religiosität löste, erfand er neue Schuldige für den Fluch seiner Arbeit.

Nur eines hat der Mensch bis heute nicht getan, er hat nie versucht sich real mit der Notwendigkeit der Arbeit ausein­ander­zusetzen, und er hat auch den Mythos des Paradieses, den Garten Eden, verdrängt, er hat ihn zur Legende erklärt und bestreitet auch heute noch mit allen Mitteln, daß er je existiert hat.

Der in der Bibel und auch in vielen anderen Mythen beschriebene Garten Eden ist an sich sehr leicht zu erklären: Es ist eine perma-kulturell angelegte landwirtschaftliche Fläche, in der ca. 400 verschiedene Pflanzen miteinander und durcheinander leben, sich gegenseitig ergänzen und ein biologisches Gleichgewicht bilden. Der Begriff Schädling oder Unkraut ist für einen Perma­garten nicht mehr verwendbar, d.h. es gibt nicht Gut und Böse, sondern es gibt nur Natur, die nutzbar ist für Mensch und Tier. Es gibt eigentlich bei der perma-kulturellen Gartenanlage nur ein Problem: Der Mensch braucht Geduld, um auf das zu warten, was gerade wächst. Er kann nicht bestimmen, was er haben will, sondern er wird von der Natur bestimmt. Insoweit würde ein Mensch von heute sich eingeschränkt fühlen, weil er nicht jederzeit etwas kaufen kann. sondern warten muß, bis es gewachsen ist.

Permakultur ist heute praktisch und wissenschaftlich bewiesen, kann in Japan und Australien und bald auch in Deutschland besichtigt werden, ist nichts Geheimnisvolles, nichts Okkultes, braucht keine Beschwörungsformeln, keinen Kunstdünger und keine Schädlings­bekämpfungsmittel, sondern ist die Antwort auf unsere heutigen landwirtschaftlichen Probleme. Es ist der eigentliche Garten Eden, und es ist der Zustand, in dem die Natur sich mit einigen Veränderungen der Pflanzen bis zum Eintritt des Menschen in das Ackerbauzeitalter befunden hat.

Für die Entwicklung der Arbeitsgesellschaft sind die Vertreibung aus dem Paradies, die eine Selbstvertreibung ist, und die Erfindung einer Religion ganz wesentliche Ausgangspunkte, denn mit der Vertreibung und der Entwicklung der christlich-abend­ländischen Religion entwickelte der Mensch ein weiteres Instrumentarium, dem er sich unterwarf. Er entwickelte die Ursünde oder die Schuld des Menschen, die Schuld, die sich aus dem Abfall von Gott ergab, was eigentlich ein Abfall von sich selbst war.

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Der Mensch versucht, mittels der Pflege seiner Religion, durch die Arbeit seine Schuld abzutragen. Die Arbeit ist die tägliche Sühne für seine Urschuld, und die Produkte der Arbeit sind die Weihegaben an den Allmächtigen. Aus dieser abzutragenden Schuld ergibt sich auch das Zuviel an Produkten, welche der Mensch permanent durch seine Arbeit erwirtschaftet, denn für seinen Lebensunterhalt würde selbst in der ineffektiven Arbeitsgesellschaft ein Bruchteil der täglichen Arbeitsleistung oder Arbeitszeit reichen.

Nach der Erfindung Gottes mußte für diesen ein materieller Hintergrund, ein Wohnort gefunden werden. Es blieb folgerichtig nur die Entdeckung des Diesseits und Jenseits und die Aufspaltung in Gut und Böse, wobei Böse für das Diesseits gilt und Gut für das Jenseits. Um das Gute zu erreichen, wird das Diesseits genutzt. Durch ständige Arbeit, Vermehrung des Reichtums, versucht der Mensch einen Ersatz für das verlorene Paradies zu schaffen.

Das Paradies war noch die Einheit, war noch die Natur, war noch die Sicherheit. Nun lebt der Mensch in ständiger Unsicherheit. Er muß die Produkte seiner Arbeit verteidigen, er muß kämpfen, er wird zum ersten Mal zum Ungesicherten. Er versucht durch Arbeit, durch Machen, Sicherheit zu erreichen, und damit tritt die Macht in sein Leben: Je mehr Arbeit er aufwendet, um so mehr Macht hat er, er wird zum Macher.

Macht und Arbeit sind damit in der Entwicklungsgeschichte der Kultur miteinander verknüpft. Mit der Erringung der Macht versucht der Mensch, sich zu dem Bild aufzuschwingen, das er sich geschaffen hat, nämlich seinen Gott. Gott ist der, der allmächtig ist, ist der, der alles ohne Arbeit machen kann, ist das verlorene Paradies.

Bisher habe ich mich nur mit dem Mythos beschäftigt, wichtig ist zur Verifizierung aber der Vergleich mit den archäologischen und paläontologischen Erkenntnissen. Viele israelische und andere Geschichtsforscher und Archäologen haben inzwischen mit dem Alten Testament dasselbe gemacht, was Schliemann mit der Ilias des Homer gemacht hat: Sie haben es als Geschichtsbuch genommen und versucht, die Orte zu suchen, an denen die Geschichte abgelaufen sein könnte. Der Mythos dürfte irgendwann um das Jahr 5000 v. Ch. aufge­schrieb­en worden sein, ist aber vorher schon mehrere tausend Jahre überliefert worden. Wahrscheinlich ist damit das Alte Testament die älteste uns bisher bekannte sichere Quelle über jene historische Zeit.

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Der Ackerbau wurde in der Gegend um den Euphrat und Tigris oder im Jordantal entwickelt. Es ist also kein Zufall, daß aus derselben Gegend die ersten schriftlichen Überlieferungen dieses bedeutenden Vorgangs für die menschliche Geschichte kommen. Wir können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, daß auch die Schilderungen der Vertreibung aus dem Paradies durchaus keine märchenhaften Ausschmückungen, sondern reale Reflexionen über frühe kulturelle Probleme sind. Was heute klärend hinzukommt, ist das Wissen über das Leben vieler Naturvölker, die tatsächlich noch Lebensformen haben, die denen des Paradieses gleichen, und die neuesten Erkenntnisse über die Entwicklung von Landbaukulturen, die ohne großes Zutun des Menschen langfristig hohe Erträge sichern.

Die Diskussion um diese Frage ist für uns heute deshalb besonders wichtig, weil die abendländische Kultur eine Reihe von Grundannahmen mit sich schleppt, die als unwiderlegbar gelten. Zu diesen Grundannahmen gehört auch die notwendige Existenz eines Überwiegens der Arbeit im menschlichen Leben. Diese Annahme geht soweit, daß die calvinistischen Länder Arbeit und ihre Produkte als Kenngrößen für menschlichen Wert angesehen haben. Die sozialistischen Länder stehen dieser Einschätzung ähnlich gegenüber, denn sie formulieren ein Recht auf Arbeit, ohne die Konsequenzen zu sehen, die dies für die natürliche Umgebung des Menschen haben wird.

Rechnet man die Produktivität, die Warenmenge und die Schadstoffmenge, die unweigerlich mit Arbeit ver­bunden sind, hoch, so würde dies bei einer Erdbevölkerung von 10 Milliarden Menschen zum sofortigen Zusammen­bruch der ökologischen Systeme führen. Von daher ist die Bewältigung der Probleme des 21. Jahr­hunderts unweigerlich verknüpft mit der Rückführung der menschlichen Arbeit auf menschliche Tätigkeit, also auf einen kleinen Anteil zur Erringung des Unterhalts des Menschen und auf einen großen Anteil, der den Menschen wieder in die geistigen Dimensionen eines Wesens führt, welches Muße als Lebensinhalt ertragen kann. Der Erkenntnisprozeß, der zu einer solchen Entwicklung hinführen kann, ist untrennbar verbunden mit der Erkenntnis der Entwicklung des Menschen zum programmierten Arbeitstier des 20. Jahrhunderts.

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Der erste Schritt auf diesem Wege besteht in der Erkenntnis, welchen Einschnitt der Übergang zum Ackerbauer brachte, warum er vollzogen wurde und welches die weiteren Folgen dieser Entwicklung waren. Der Schritt des Menschen in die Arbeits­gesell­schaft ist kein von der Natur aufgezwungener, sondern ein vom Menschen selbst gewählter. Es ist aber kein Schritt in die Freiheit, sondern einer in die Unfreiheit, denn als erstes wird der Mensch abhängig. Er muß, um Ackerbau zu entwickeln, seßhaft werden, er lädt sich damit neue Arbeit, neue Zwänge und neue materielle Erfordernisse auf.

Fortan werden die Menschen unterschieden in ihre Funktionen, und die Arbeitsteilung entwickelt sich. War noch der Jäger und Sammler ein geselliges Wesen, das nur in dem Bewußtsein der gemeinsamen Tätigkeit eine schwierige komplexe Aufgabe lösen konnte, nämlich das Jagen großer Tiere, so wird die Familie des Ackerbauers sehr schnell zu einem hierarchisierten, struk­turierten Arbeitssystem entwickelt. Für die Organisation und die Durchführung der Arbeit sind also andere Mechanismen notwendig und vor allem mehr Menschen. Der Mensch muß sich, um seine Arbeit zu tun, vermehren. Das Bevölkerungs­wachstum setzt ein. Bevölkerungswachstum ist zunächst eine Voraussetzung und nicht die Folge der Entwicklung des Ackerbaus. Zunächst müssen die Vorräte geschaffen, erst dann können sie verbraucht werden.

Auch hier liegen viele Irrtümer in unserer bisherigen Geschichtsbetrachtung. Der Ackerbau wurde als produkt­ive Arbeit gesehen, und es schien so, als ob es durch seinen Überfluß zu einem Bevölkerungs­wachstum gekommen wäre. Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Der Mensch brauchte zur Erzielung der Überschüsse mehr Menschen und vermehrte sich deshalb schneller. Darauf weist der Mythos hin.

Das erste, was Adam nach der Vertreibung aus dem Paradies tut, ist zeugen und nicht arbeiten. Und es geht gleich weiter: Eva gebärt noch einen Sohn, den Abel, und Abel wird Schäfer und Kain Ackermann. Der Nomade Abel und der Ackerbauer Kain legen Gott ihre Opfer vor. Gott sieht die von Abel gnädig an, die von Kain jedoch nicht. Kain ärgert sich darüber, es kommt zum Streit, und er erschlägt seinen Bruder. Der Ackerbauer sieht sich gezwungen, seinen Acker gegen den Jäger und Sammler, der durchaus in der Anfangsphase und bis heute noch existent ist, zu verteidigen. Er errichtet Zäune, unbetretbare Zonen, er kämpft als Mensch gegen Menschen, die Arbeit bringt den Krieg hervor.

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Der Umherziehende, der Vagabund, der Nomade, der Indianer, der Zigeuner ist der Feind des arbeitenden Menschen. Er haßt ihn, weil jener lebt, ohne zu arbeiten, und dennoch sein Auskommen hat. 

Die »nichtarbeitenden Wilden« hindern den ununterbrochenen Expansionsdrang des arbeitenden Menschen, für den das Natürliche eine Herausforderung ist — die Herausforderung, es zu kultivieren. Macht als Ableitungsform des Arbeitens erhält nun eine neue Bedeutung, nämlich das Töten der eigenen Art. Nach der Abrichtung der Familie zu Arbeitern und der Verbannung der Frau in das Haus entwickelt der Ackerbauer den Krieg als Verteidigung seines Terrains. Der Gott in uns fragt uns nach Abel, unserem Bruder, er verflucht uns und gibt uns gleichzeitig Entlastung.

Obwohl jeder normale Mensch erwarten würde, daß Kain für seine Untat schwer bestraft würde, erhält er in gewisser Weise Arbeitslager mit Bewährung. Er wird von seinem Wohnort verbannt und muß unter verschärften Bedingungen arbeiten, wird aber gleichzeitig stigmatisiert. Er erhält das Kainsmal, womit jedem deutlich gemacht wird, daß Kain ein Auserwählter ist. Er ist es tatsächlich, denn er trägt das Fortschrittsbanner des Ackerbaus vor sich her, dessen Botschaft kurz zusammengefaßt lautet: Seid fruchtbar und mehret Euch und füllet die Erde und macht sie Euch Untertan und herrscht über Fische im Meer und über Vögel unter dem Himmel und über alles Tier, das auf Erden kreucht. Und also vollendete Gott am sechsten Tag seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten von allen seinen Werken, die er machte.

Diese Aufforderung war das perfekteste geopolitische Programm, das es je gegeben hat. In der Folgezeit breitet sich diese Ideologie über immer weitere Teile der Erde aus. Das christlich-abendländische Acker­bau­system erzielte überall die gleiche Wirkung: explosionsartiges Bevölkerungswachstum, Überschuß­produktion, Umweltzerstörung, politischen Zusammenbruch, Abzug der Hinterbliebenen, die sich als Auserwählte fühlen, aus einer verwüsteten oder versteppten Landschaft.

Diese Ideologie findet ihre Fortsetzung und ihre Steigerung in der Verquickung mit dem antiken Gedanken­gut. Sie bildet einen Zweig im Islam, sie steigert sich in der angeblich aufgeklärten Zeit der Renaissance. Diese wiederum wird abgelöst von den verschiedenen Zweigen der Reformation. Der Calvinismus ist für einige Zeit das perfekteste Abbild. Aber auch hier waren Steigerungen möglich. Die protestantische Ethik von Max Weber oder die kommunistisch-sozialistische Ideologie von Karl Marx oder die z.Z. herrschende industriell-kapitalistische von Henry Ford und Karl Popper.

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Obwohl eigentlich jeder bei einigem Überlegen erkennen müßte, wann diese Entwicklung einsetzte, worauf sie beruht, wie man sie abstellen könnte, beschäftigen wir heute in aller Welt Millionen von Menschen — Wissenschaftler, Arbeiter, Angestellte, Künstler —, die nur die Aufgabe haben, diese Frage zu erforschen. Sie nennen sich Bevölkerungs­wissenschaftler, Ernährungs­wissenschaftler, Maschinenbauer, Musiker, die für die Hungernden spielen, UN-Beamte usw. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie ängstlich vermeiden, in die Nähe dieser einfachen Erkenntnis zu kommen. Wenn sie erst einmal herausfinden, daß wir uns zu stark vermehren, weil wir dies wollen, daß wir zu viel arbeiten, weil wir glauben, dadurch unsere Schuld abzutragen, und daß wir die Erde vernichten, wenn wir versuchen, sie uns untertan zu manchen, dann versuchen sie mit allen Mitteln zu beweisen, daß Vermehrung vernünftig ist, daß die 6-Tage-Woche und die Arbeit gut sind und daß der Mensch sich die Natur schon immer angeeignet hat und gar nicht anders leben kann.

Das ganze Programm rollt ab mit dem Gebot des Einen, des Allmächtigen, mit dem Gebot Gottes. Drehen wir aber den entscheidenden Satz im Vers 1. Mose 27: »Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde«, einmal um, so heißt er: »Und der Mensch schuf Gott sich zum Bild«, und dann wird die Sache auch klar: Der Mensch in seiner unendlichen Dimension des Unbewußten trifft auf die Endlichkeit des Bewußten, der Realität dieser Erde. Gleichzeitig hat er einen Blick hinaus in die Unendlichkeit des Weltalls. In der Abbildung des Geschauten und Erlebten auf sein Unbewußtes will er sich eine allmächtige Potenz schaffen. Er schafft sich in seiner Traum- und Wahnwelt seinen Gott, und dieses Über-Ich, dieses Wesen in seinem Unbewußten, übernimmt nun die Verantwortung.

Deshalb schwören auch aufgeklärte Politiker heute noch so gerne »bei Gott«, denn damit sind sie die Verantwortung los. Bei denen, die nicht mehr an Gott glauben, muß jedoch ein anderer Verantwortungsträger her. Das kann der Vater oder die Mutter sein, der Staat, die Gesellschaft, die Ehefrau, der Dienstvorgesetzte, wer auch immer. Der abend­ländische Mensch ist der erste Menschentypus in der Entwicklungs­geschichte der Menschheit, der trotz seiner geistigen Potenz keine Verantwortung mehr trägt, sondern sich selbst zu einem manipulierbaren Arbeitstier gemacht hat. Er dürfte damit in gewisser Hinsicht noch weit hinter viele höher entwickelte Tiere zurückgefallen sein.

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Der erste abendländische Philosoph, der dies mit großen Mühen erkannt hat, war Kant, der dem Menschen die Eigen­ver­antwort­lichkeit zurückgeben wollte. Er wollte ihn aufklären über seinen jahrtausendealten Irrtum, er forderte ihn auf, seinen eigenen Verstand wieder zu gebrauchen, seine selbstverschuldete Unmündigkeit wieder zu verlassen — aber vergebens. Der Scheinrationalist Descartes fiel ihm in den Arm. 

Doch zurück zur ackerbaulichen Vermehrungsideologie. Der Ackerbauer muß, um seine Arbeit zu gestalten, zunächst eine Menge an Dingen entwickeln. Er muß also weitere Arbeit neben der Arbeit des Ackerbaus investieren. Er muß Geräte entwickeln, er muß ein Haus bauen, er muß Kleidung anfertigen, er muß Zäune bauen und er muß seine Überschüsse verteidigen, da er sich permanent angegriffen glaubt. Somit ist er rund um die Uhr beschäftigt und arbeitet dabei nach dem Prinzip Hoffnung: Er hofft, daß dieses alles irgendwann einmal aufhört, daß er alles so organisiert, daß es wie von selbst läuft.

An diesem Punkt stellt sich die Frage, welche Antriebssysteme es sind, die ihn dazu treiben, so zu handeln. Meiner Ansicht nach sind es keine äußeren Zwänge oder Naturereignisse gewesen. Es gab auch noch zu wenig Machthaber, die ihm irgend etwas hätten befehlen können — somit bleibt nur der Mensch selbst, der sich zu dem gemacht hat, was er heute ist.

Der erste Antrieb ist der Mangelwahn, d.h. der Mensch stellt sich ununterbrochen vor, die täglichen Dinge, die er braucht, könnten zu wenig sein, könnten nicht mehr da sein, es könnten Katastrophen kommen usw. Dieser Mangelwahn führt dazu, daß Überschuß erzeugt wird in Form von Vorräten. Diese Überschuß­erzeugung ruft Mängel in der Natur hervor, nämlich Zerstörung, Überschwemmung, Heuschreckenplagen, Insektenplagen, Bodenerosion. In diesem Moment tritt der Mangel wirklich ein, und der Mensch findet scheinbar eine Bestätigung für seinen Mangelwahn. Also muß er seine Anstrengungen verdoppeln: Er muß mehr Boden unter den Pflug nehmen, und er erzeugt immer nur dasselbe, immer mehr Zerstörung, Verschmutzung und immer mehr Mangel. Gleichzeitig muß er immer mehr Arbeitskräfte haben, um seinen Mangelwahn zu befriedigen.

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Das zweite Antriebsmotiv dürften männliche Omnipotenz­vorstellungen sein. Der christliche Gott ist eindeutig männlich definiert und stellt in seiner Allmachtgestalt ein potenziertes Superwesen des Menschen dar. Dieser Mann auf der Erde findet es nun, nachdem er sich dieses Superwesen geschaffen hat unerträglich, daß die Dinge um ihn her sich nicht nach ihm richten. Er kann es nicht ertragen, daß die Natur so wächst, wie sie will, er will, daß sie sich nach seinem Willen richtet. Er beginnt, einige Pflanzen für nützlich zu halten und andere für unnütz. Er bestimmt, was Kraut und Unkraut ist, und er vernichtet das Unkraut. Natürlich ist er nicht allmächtig und nicht allwissend, und er weiß nicht, daß Unkraut genauso nützlich ist wie Kraut und daß Kraut letztlich nur zusammen mit Unkraut leben kann. Er erträgt es nicht, daß die Natur alles langsam und bedächtig macht, er will es schnell und zügig haben. Er will etwas erledigt haben, weiß er doch, daß er sterben muß.

Verfolgen wir die Entwicklungsgeschichte der abendländisch-christlichen Kultur zurück, so können wir an keinem Punkt der Entwicklung eine vernünftige Erklärung finden, sondern nur die, die Edgar Morin gegeben hat: Der Mensch ist demens und sapiens zugleich, und er selbst bestimmt sein Handeln, aber er kann in der Regel wegen der Hyperkomplexität der Systeme die Auswirkungen seines Handelns nicht erkennen. Je mehr er also versucht, komplex einzugreifen, um so mehr wird er komplexe Zerstörung durch seine Arbeit hervorbringen.

Zurück zu unserem biblischen Ackerbauer: Nach den archäologischen Befunden war einer der Ausgangs­punkte des Ackerbaus der Nahe Osten, also das Zweistromland, Israel und Ägypten. Er drang ein in die Bergwälder und nahm die damals fruchtbaren Böden sehr schnell unter den Pflug. Nach und nach entstanden Dörfer und Städte. Das geschah zwischen den Jahren 7000 und 4000 vor Christi, für unsere Zeitrechnung also ein sehr langer Zeitraum. Am Ende dieser Epoche begann aber bereits die erste große Umweltzerstörung und führte dazu, daß weite Teile des Nahen Ostens in den Bergregionen total verkarstet waren.

Diese Umweltzerstörung ist bereits ein Ergebnis des ersten Intensivlandbaus der Menschheits­geschichte. Es ist gleichzeitig die Geschichte eines komplexen Verschwindens einer Kulturlandschaft. Wie wir bereits festgestellt haben, kann der Ackerbauer auf Dauer ohne ein nachfolgendes Verteilungs- und Handelssystem nicht existieren, weil er seine Überproduktion nicht loswird. Er muß also notwendigerweise die Städte hervor­bringen. Die Städte sind einerseits Handelszentren, und andererseits sind sie Entwicklungszentren für weitere Arbeitsformen, für Handwerk und Kultur.

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Diese Arbeitsformen sind im eigentlichen Sinne der Produktion schon keine Arbeit mehr, sondern im Grunde Antiarbeit. Sie sind dazu da, die Überproduktion, die den Tauschhandel unterhalten soll, wieder zu vernichten. Gleichzeitig bilden sie einen Anreiz für das Bevölkerungs­wachstum, weil auch sie ein bestimmtes Prinzip Hoffnung darstellen. Denn — wie wir festgestellt haben — der Ackerbauer ist mit seinem Leben nicht zufrieden. Er ist beseelt von dem Drang, sein Leben zu verändern und zu verbessern. Er kann dies entweder tun, indem er seine Ackerbaumethode verbessert oder indem er in die Stadt zieht. Die Stadt ist für ihn das Symbol des besseren Lebens, das sichtbare Prinzip Hoffnung. Gleichzeitig ist sie für ihn aber auch das Unheimliche, das Beängstigende, das Ziel seiner nicht mehr ausgelebten Wanderungen. Die Stadt ist für den Ackerbauer der erste touristische Ort der Menschheits­geschichte.

Die archäologischen Befunde aus den Städten der babylonischen Zeit weisen folgende Handwerksberufe, also Arbeitsbereiche nach: Zimmerleute, Schmiede, Töpfer, Steinmetze, Korbmacher, Schuhmacher, Weber, Bäcker und Bierbrauer. Die erste Metaebene des Ackerbauers war der Händler, die zweite ist der Handwerker und die dritte ist der Priester. Die Arbeitenden dieser Metaebenen dürften zweifelsohne schon nicht mehr sehr viel zu ihrem eigenen Lebensunterhalt beigetragen haben. Das bedeutet, daß die Produktivität der Arbeit und damit auch die Ausbeutung der Natur und ihre Zerstörung gesteigert werden mußte. Dies konnte auf mehrere Arten geschehen: 1. Die Pflugarbeit wurde rationalisiert, das Zugtier oder der Zugmensch wurde genutzt; 2. es wurde mehr Land unter den Pflug genommen, die in der damaligen Zeit am häufigsten praktizierte Steigerung; 3. Bewässerungs­systeme wurden entwickelt und damit die Produktivität der Pflanzen genutzt.

Alle diese Formen der Produktivitätssteigerung sind archäologisch im Gebiet Euphrat und Tigris nachweisbar. Die Langzeit­ergebnisse der Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft sind ebenfalls nachweisbar: Zerstörung der Bergwälder, Abschwemmung des Bodens in die Ebene und Überschwemmungen.

Die Schilderung der Sintflut in der Bibel ist bisher von vielen Deutern als Naturkatastrophe gesehen worden. In der Bibel wird sie aber eindeutig als Werk Gottes dargestellt, denn dieser sagt Noah, er solle sich eine Arche bauen und Vorsorge für das Überleben nach der Katastrophe treffen.

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Der Schreiber erkannte also durchaus, daß der Mensch selbst Verursacher der Katastrophe war. Dies ist um so bemerkenswerter, als heutige Verursacher von Katastrophen diese Erkenntnisfähigkeit in aller Regel nicht mehr haben. Im Grunde wäre es von der Abfolge her sinnvoller, wenn die Sintflut von den damaligen Menschen und nach ihrem Erkenntnisstand als natürlich angesehen worden wäre. Die Reaktion der Überlebenden der Sintflut ist dann aber wieder ganz neuzeitlich. Niemand denkt daran, etwas grundsätzlich zu ändern, vielmehr sollen lediglich Verbesserungen im bestehenden System herbeigeführt werden.

Es kommt zu einem neuen Erkenntnisprozeß. Die Kinder Noahs haben aus der Katastrophe gelernt, und sie arbeiten nun noch mehr, weil sie begriffen haben, daß die Systeme sicherer gemacht werden müssen. Die Bewässerungs­dämme werden verstärkt worden sein, Auffangbecken werden errichtet worden sein usw. Hinfort waren damit alle Vorkehrungen getroffen, daß eine Sintflut in dieser Form nicht mehr vorkommen konnte.

Im übrigen will sich die Menschheit noch Rückzugspositionen sichern, also trotz ihrer komplizierten Systeme alles möglichst katastrophen­sicher machen. Der Bau der Stadt Babylon ist der Mythos vom Turm, der bis in den Himmel ragt. Es ist der Mythos von einem hochdifferenzierten Stadtsystem, das als Schutzbastion gegen das platte Land eine Rückzugsposition für Katastrophen­fälle bildet und gleichzeitig das Fanal für die Zukunft, das Zeichen des Fortschritts und das Abbild einer hoch­differenz­ierten Arbeitsgesellschaft darstellt. Es ist die Idee der Stadt, die sich gegen das Chaos der Natur, gegen den Urwald, gegen Regen, Schnee, Kälte, kurz alles Natürliche, was den Menschen umgibt, durchsetzt.

Der Mensch schafft eine Umgebung nach seinem Willen und nach seinem Bild. Er macht den ersten Versuch, seine natürliche Umgebung durch seine Arbeit endgültig hinter sich zu lassen.

Die Stadt Babylon ist die erste künstliche Umgebung, die wir aus der Menschheits­geschichte kennen. Sie wird auch nicht aus Natursteinen, sondern aus Ziegeln gebaut, und sie baut auf dem Turmprinzip, einem hierarchischen System, auf. Die Bedeutung dieser Systeme werden wir später erkennen. Der Turm dürfte zweifelsohne das Symbol für den Menschen selbst sein mit seinem Kopf und seinen Beinen als statischem System, der wie ein Atlas inmitten der chaotischen Natur steht. Der Mensch will sich zum erstenmal über seine Umgebung emporheben.

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Das reale Abbild dieser Schilderungen ist die Stadt Ur, die etwa im 3. Jahrtausend v. Ch. gebaut wurde und dem Vorbild der biblischen Schilderungen entsprochen haben mag. Nach den heutigen Kenntnissen wurde Ur mehrmals durch gewaltige Schlamm­lawinen des Euphrats überschwemmt und zum großen Teil zerstört. Es wurde zwar immer wieder neu aufgebaut, aber die Bedrohung durch die Überschwemmungen nahm im Laufe der Jahrhunderte so zu, daß Ur irgendwann verlassen wurde. Wahrscheinlich aber auch deshalb, weil das komplexe System einer solch großen Stadt gewaltige soziale Auseinandersetzungen mit sich brachte. Den Menschen fehlten mit Sicherheit noch einige Instrumentarien, um einen solchen Wahnsinn mit System zu organisieren.

In der Schilderung der Bibel von der Zerstörung Babylons schwingt unverkennbar die Entrüstung über das Leben und über die Vorstellungen in einer solch großen Stadt mit. Das Hauptproblem dieser Städte dürfte nicht so sehr in der Lösung der Wasser- und Abwasserfrage und der Versorgung gelegen haben, sondern der Verständigung der Menschen, also in ihrem Zusammenleben. Das Leben in der Stadt, das durch die Ausbeutung der Natur, die das Wachstum der Produkte hervorbrachte, angenehmer und leichter geworden war, war ohne eine gezielte Bewältigung der Freizeit der Menschen nicht mehr organisierbar. Das Gewalt­potential der Menschen untereinander war so groß geworden, daß die Menschen ihr neu gewonnenes Großsystem von selbst verließen.

Der Gottmensch hatte sich wieder einmal selbst vertrieben. Er begann auszuwandern und sich in andere Sprachbereiche zu begeben, womit die Sprachverwirrung einsetzte.

Die Stadt Babylon dürfte mit ihrem großstädtischen Proletariat die erste große Auswanderungs­welle in der Menschheits­geschichte hervorgebracht haben. Die ersten Auswanderer und Gastarbeiter hielten es nicht lange im gelobten Land Kanaan aus. Sie reisten weiter nach Ägypten und wurden dort eine ethnische Minderheit, die ihr hoch entwickeltes technisch-handwerkliches Können den Herrschern des Landes zur Verfügung stellten und so ein gewisses Ansehen errangen.

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Ägypten ist als Beispiel für frühe Umweltzerstörung durch Intensivlandwirtschaft und Intensivarbeit interessant, denn obwohl auch in diesem Land die Abholzung der Randgebirge des Niltals­­ genauso schnell voranging wie in den Flußtälern von Euphrat und Tigris, konnte sich die Landwirtschaft dort doch bis heute behaupten. Die Ursachen dürften darin liegen, daß Euphrat und Tigris ihre Flußläufe permanent änderten, die Schlammfracht aus der Bodenerosion größer war als in Ägypten und die Bewässerungs­intensität schon sehr früh viel höher war. Darüber hinaus dürfte die Überbeanspruchung des Gebietes durch die Zahl der Ernten von Anfang an wesentlich höher gewesen sein.

Zusammengefaßt läßt sich feststellen, daß Ägypten bis heute eines der interessantesten frühen Kulturgebiete für die Zusammen­hänge zwischen Arbeit, Landwirtschaft, Gastarbeiter­problematik, Technologietransfer, Konjunkturprogrammen usw. ist. Aufgrund der soziologischen Situation des Landes, des relativen Wohlstands der damaligen Bevölkerung und der Bekanntheit war es von daher ein Anziehungspunkt für viele in den angrenzenden Gebieten von Euphrat und Tigris, der arabischen Halbinsel und Teilen Afrikas, die bereits ihre Länder zerstört hatten.

Dies dürfte aber auf lange Sicht auch in Ägypten zu einem Überangebot von Arbeitskräften geführt haben. Auch dieses Überangebot wurde nicht in Form von Verkürzung der Arbeitszeit in eine sinnvolle Struktur integriert, sondern auf zweierlei Weise reguliert: 1. Die Gastarbeiter wurden wechselseitig gehalten oder vertrieben. Hierfür spricht das permanente Hin- und Herziehen des Volkes Israel. 2. Durch konjunktur­steuernde Maßnahmen wurden riesige Bauprojekte in Angriff genommen, die als Beschäftigungs­programme in Überangebots­zeiten den Arbeitsmarkt steuerten, nämlich die Pyramiden, die großen Tempel und der Unterhalt der großen landwirtschaftlichen Systeme.

Wie kein anderes Volk in der ersten großen Epoche der Erdzerstörung der Menschheit haben die Ägypter an die Machbarkeit der Eingriffe in die Natur geglaubt. Sie entwickelten bereits wirkungsvolle wissenschaftliche Maßnahmen zur Steuerung der Wachstums­perioden der Landwirtschaft, konnten aufgrund ihrer astronomischen Fähigkeiten Wetter­vorhersagen machen und wahrscheinlich sogar langfristige Prognosen über fruchtbare und unfruchtbare Wachstums­rhythmen in der Natur erstellen.

Die in der Bibel beschriebenen Plagen der Dürre, Überflußperioden und Maßnahmen dagegen durch Vorratshaltung deuten viele dieser Kenntnisse an, zeigen aber auch gleichzeitig auf, welche Grenzen damals wie heute einer Überproduktion im landwirtschaftlichen Bereich gesetzt waren.

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Allein die durch die Vorrats­haltung notwendige Schädlingsbekämpfung zeigt, daß es wesentlich wichtiger ist, eine differenzierte Kleinwirtschaft zu haben als eine organisierte Großwirtschaft mit unübersehbaren Problemen. Darüber hinaus deuten die diversen Heuschrecken­plagen an, welche katastrophalen Folgen schon damals monokulturelle landwirtschaftliche Großbetriebe bzw. der Anbau nur weniger Pflanzen­arten haben konnten.

Durch die Intensivierung der Landwirtschaft in Ägypten kam es zu einem Ungleichgewicht der Verteilung zwischen Arbeit, Wachstums­perioden und Erträgen. Dieses Ungleichgewicht der Arbeit führte zu einem Ungleichgewicht in der Natur und in den sozialen Systemen. Die Speicherung des Getreides in den sogenannten sieben fetten Jahren, die in der Bibel beschrieben werden, führte zu einer Anhäufung von Reichtum, denn in den sieben mageren Jahren konnte ein Großteil des Getreides, auch wenn es Schwund und Raub gab, verkauft werden. Dies wiederum führte zu Kapitalansammlungen und zu Machtballungen. Der Überschuß an Macht und Arbeit führte zu solch unsinnigen Projekten wie den Pyramiden und vielen anderen Prachtbauten in Ägypten, die dem Land in seinem Überlebens­kampf nichts gebracht haben.

Die natürliche Grundlage eines Landes — ein gesunder Boden, ein mit der Umgebung lebender Wald, eine weitflächige Aufnahme des Regenwassers und eine dezentralisierte Besiedelung — wurde durch ein solches System zerstört. Die Konzentration von Zehntausenden von Arbeitern bei den Pyramiden mußte zwangsläufig zu immer größeren sozialen Auseinander­setzungen führen. Sie führte zu immer mehr künstlichen Systemen, die langfristig auf die Natur einwirkten und den nachfolgenden Generationen ein ausgelaugtes und ausgedörrtes Land hinterließen.

Das Schicksal Ägyptens und der Bau des Assuan-Staudamms zeigen, daß selbst Jahrtausende nicht ausreichen, um ein ruiniertes Land zu rekultivieren, und daß Notsituationen zu noch katastrophaleren Lösungen führen, weil sie nicht von innen heraus entwickelt, sondern importiert werden.

Der Assuan-Staudamm ist das wahnwitzigste Beispiel für eine verfehlte Reparatur an einem ruinierten Land. Er hat das halbwegs noch funktionierende System der Schlammablagerungen in den Gebieten unterhalb des Dammes weitgehend zerstört, der Schlamm des Nils wird heute nur noch im Stausee selbst abgelagert und muß langfristig zu dessen Auffüllung führen.

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Darüber hinaus sind die Turbinen den Gewässern des Nils nicht gewachsen, die gewonnene Elektrizität findet nicht genügend Abnehmer und die Menschen finden keine vernünftigen Arbeitsplätze, weil sie nicht landesgerecht organisiert werden können, sondern sich auf einen Weltmarkt hin orientieren sollen, der über den heutigen Stand der Technik in Ägypten längst hinweggegangen ist. Der Assuan-Staudamm dürfte Ägypten bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts den Rest geben. Das Land wird dann fast überhaupt keine Arbeitsplätze mehr zur Verfügung haben, und eine Rückkehr zu den landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen ist nicht möglich, weil der Boden vollkommen erodiert und versalzen sein wird. Es bleibt der Bevölkerung dann nur noch der Ausweg, auszuwandern und die Rekultivierung des Landes einer langfristigen Entwicklung von Tausenden von Jahren zu überlassen. Auch dieses ist ein Beispiel der Vernichtung eines Landes durch die Intensivierung der Arbeit.

Zurück zur Schilderung der Bibel über den Zusammenhang zwischen Arbeit und Umwelt. Der Israelit Josef, der von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft worden war, erreichte im Dienste des Pharaos den Rang eines Premierministers und wurde dessen oberster Ratgeber. Josef entwickelte nicht nur die ägyptische Landwirtschaft technologisch weiter, sondern schuf wahrscheinlich auch höher entwickelte Organisations­prinzipien. Der Aufstieg der israelitischen Intelligenz als Führungsschicht in Ägypten dürfte zu immer größeren Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten geführt haben und damit zum Versuch der Israeliten, das Land zu verlassen und sich irgendwo in Kleinasien anzusiedeln.

Der geniale Führer dieser Auswanderungsbewegung war Moses. Zeitlich ist das Ereignis inzwischen einiger­maßen einzugrenzen; es dürfte im 13. Jahrhundert v. Ch. stattgefunden haben. Das Ziel der Israeliten war Palästina, das Land zu beiden Seiten des Jordans, und das Ergebnis der Eroberung dieses Landes war die Errichtung eines perfekt organisierten Arbeiter- und Bauern­staates. Aber nicht im Sinne der heutigen Sozialisten, sondern eher im Sinne der protestantischen Ethik eines Adam Smith. Die Biographie von Moses ist noch zu schreiben. Die Gesamtheit seiner Persönlichkeit ist aber ohne weiteres aus des Schilderungen des Alten Testaments ablesbar.

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Er muß recht umfangreiche Kenntnisse in allen Bereichen der damaligen Natur-, Geistes- und Ingenieur­wissen­schaft gehabt haben. Gleichzeitig war er der Führer einer genial organisierten Guerillagruppe, er war ein Oberguru, er war ein Planer und Organisator, er war darüber hinaus aber auch ein Reformator, denn er organisierte die von ihm aufgestellten Gesetze und Verwaltungs­strukturen ständig neu und paßte sie den veränderten Gegebenheiten an. Er dürfte den ersten vollkommen durchorganisierten Arbeits- und Landwirtschaftsstaat der Menschheit gegründet haben, und er schuf in vielen Bereichen des Lebens die Gesetzes-, Planungs- und Verwaltungsstrukturen, nach denen heute abendländische Staaten geleitet und verwaltet werden.

Man betrachte einmal, mit welchen genialen Tricks er den Pharao, einen mit absoluter Macht ausgestatteten Monarchen hinters Licht führte und wie er schließlich gegen dessen Willen die Israeliten mit List aus dem Land führte und während der langen Wanderung zusammenhielt. Ab einem gewissen Zeitpunkt muß er gemerkt haben, daß er mit seinem Trick, sich auf Gott zu berufen, die Organisation des langen Marsches nicht würde durchhalten können, und er tat etwas Geniales: Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit wurde an die Stelle Gottes ein Organisationsprinzip, ein Gesetz, gestellt: die Zehn Gebote.

Zu Beginn wird in ihnen noch auf den einzigen Gott rekurriert*, an seine großen Taten erinnert und daran, daß er das Volk aus Ägypten geführt hat. Die Menschen werden noch einmal ermahnt, dem Beispiel der Heiden nicht zu folgen und keine anderen Götter zu haben. Dann aber wird gleich das Wesentliche angesprochen, nämlich die Arbeit. Eindeutig wird erklärt, daß die Bestimmung des Menschen darin bestehe, sechs Tage in der Woche zu arbeiten und am siebenten Gott zu loben, also sich auszuruhen.

Diese 60-Stunden-Woche, die Moses seinem Staat und damit der Menschheit beschert, ist der Kernpunkt aller Staatsgedanken der abendländischen Welt. Alle weiteren moralischen Gesetze der Ehrung von Vater und Mutter, des Nichttötensollens, des Nichtehebrechens, des Nichtstehlens usw. folgen nach diesem zentralen Punkt, nach dem Arbeitsgebot. Arbeit ist der Ausgangs­punkt für die israelitische, später die christliche, die sozialistische und die kapitalistische Gesellschaft.

 

* (d-2010:)  rekurrieren — seine Zuflucht nehmen — zurückkommen

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Der Reformator Moses hatte erkannt, daß allein das Berufen auf Gott als den einzigen Allmächtigen für die Menschheit kein Programm ist. Er setzte darum an die Stelle Gottes die Gebote, und in das Zentrum der Gebote stellte er die Arbeit. Ein Staat, der mit diesem Programm organisiert wird, schafft sich sofort eine Menge an Problemen, denn durch die Arbeit, die sich von der notwendigen Arbeit um ein Vielfaches unterscheidet, wird in der Regel ein Überangebot an Produkten erzeugt, dies wiederum schafft Kapital usw.

Kurz und gut, Moses brauchte Gesetze, Verwaltungen, Landeinteilungen, und dieses alles hat er geschaffen. Über mehrere Kapitel wird alles, was unsere heutige Gesetzgebung ausmacht, von Moses vorweggenommen. Da gibt es Strafgesetze, Zivilgesetze und Sozialgesetze, da werden Gerichte errichtet und Verwaltungen aufgebaut, da werden Hoheitszeichen eingeführt, z.B. die Bundeslade, da werden Beamte geweiht und vereidigt, da werden vor allem Steuern erhoben, und als das Volk dieser ganzen extensiven Regelung überdrüssig ist, inszeniert Moses eine gigantische Vorstellung: Er erklärt sich zum Märtyrer, und tritt scheinbar von seinem Amt als Staatslenker zurück. Das Volk baut sich das goldene Kalb, ergötzt sich an anarchistischen Ideen, versucht das Leben zu genießen und bricht aus dem Arbeitsstaat des Moses aus.

Mit einer grandiosen Geste zerschlägt Moses symbolisch sein Gesetzeswerk, prophezeit dem Volk Ungemach und bringt die Menschen dazu, ihn erneut und mit noch größeren Vollmachten zum Organisator seines grandiosen Wohlfahrtstaates zu machen. Als er nach diesem zweiten Anlauf das Volk Israel von seiner Idee nachhaltig und für alle Zeiten überzeugt hat, schafft er als erstes das Symbol für seinen Staat und für seine Idee, und zwar mit Hilfe von Steuern, die freiwillig erbracht werden. Die Menschen arbeiten also jetzt nur zu einem kleinen Teil für ihren eigenen Unterhalt und zu einem immer größer werdenden Teil für eine Staatsidee. Auch dies ein weitreichender Gedanke, nämlich die Überschüsse der menschlichen Arbeit für umfangreiche Ritualien zur Darstellung des Staates zu nutzen.

In der nächsten Phase der Konsolidierung seines Staates erläßt Moses sehr umfangreiche Gesetzgebungen über den Gesundheits­dienst, die Hygiene, die Feiertage usw. In dieser Zeit müssen viele Unklarheiten entstanden sein über die Auslegung des Grundgesetzes, nämlich der Zehn Gebote. Also verfaßt er als nächstes einen Kommentar hierzu, eine Interpretation.

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Die ganze Tätigkeit Moses' besteht darin, immer verfeinerte Rechtsverordnungen, Rechtsvorschriften, Durchführungsverordnungen, Verwaltungsvorschriften usw. zu entwickeln, um aus seinen umherziehenden Israeliten irgend­wann einmal ein seßhaftes Volk von Arbeitern und Ackerbauern zu machen, denen er als Ziel das gelobte Land vor Augen stellt, für das es diese ganzen Mühen auf sich zu nehmen hat.

Diese alles überlagernde Vorstellung wird ein weiterer Faktor in der Ideologie der abendländischen Gesellschaft. Heute nennen wir so etwas Fortschritt. Fortschritt ist das, was nie da ist, das, was man nie erreicht, das, an dem immer gearbeitet wird, das, wo man immer hin will.

Es ist ein genialer Trick, das Nomadentum des Jägers und Sammlers in seine geistige Dimension zu verlagern. Während aber die Israeliten bei ihrem Zug in das gelobte Land noch wahrhaftig gewandert sind, werden die späteren seßhaften Ackerbauern und Industriearbeiter das gelobte Land, das ewige Heil, den Fortschritt immer mehr als einen Mythos begreifen, an den sie irgendwann selbst nicht mehr glauben werden.

Das Genialste aber an der Lebensgeschichte von Moses ist sein Ende, sein Tod. Er, der ununterbrochen das gelobte Land predigt, der auf es hinweist und der alle organisatorischen, verwaltungsmäßigen und ideologischen Voraussetzungen geschaffen hat, darf es zwar sehen, aber er kommt nicht mehr dort hin. Damit schafft er die grandioseste Legende, die je entstanden ist.

Mit dieser Begründung kann man jeden davon überzeugen, daß er trotz widriger Umstände ununterbrochen sein ganzes Leben lang an den Fortschritt glauben und an ihm arbeiten muß. Wenn selbst Moses, der Prediger in der Wüste und geniale Führer, das gelobte Land nicht erreichen konnte, möge sich doch kein anderer Mensch erdreisten, den Fortschritt, das gelobte Land, noch während seines Lebens erreichen zu wollen. Die Parole heißt dann: Unverzagt weiterarbeiten am Bau der Gesellschaft.

Daher kann auch in einer Studie von R. Gerwin über die Weltenergie­perspektiven im Jahre 1981 die Prognose stehen: 

»Darum ist es so wichtig, daß die acht Milliarden Menschen, die im Jahre 2030 auf der Erde leben wollen und dann vor dieser Aufgabe (das Energieproblem zu lösen) stehen, nicht arm, sondern reich sind, und zwar wesentlich reicher als heute. Nur dann wird es möglich sein, aus der verbrauchenden Art der Ressourcen­verwendung auszubrechen. Und dann wird die Menschheit die Schwelle überschreiten können, hinter der sie getrost alle mit der Bereitstellung von Energie­ressourcen zusammenhängenden Probleme vergessen kann.

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So reich zu werden, verlangt jedoch stetiges wirtschaftliches Wachstum, steigende Produktivität und höhere technische Verfeinerungen. Ob wir das schaffen, hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wann die wechselseitige Verknüpfung von Energie und Gesellschaft als eine Aufgabe begriffen wird, die zumindest Kunstfertigkeit, ja Wissenschaft verlangt, eine Wissenschaft mit breiten Wurzeln im sozialen, kulturellen und politischen Leben. Auch hierfür gilt, wie schon für die Zeit bis zum Jahre 2030, es könnte gelingen, it could be done.«

Eine solche Prognose, 1980 unter Leitung des Atomeiferers Häfele erstellt, klingt nach dem Zurücklegen eines 7000jährigen Weges der Arbeitsgesellschaft des abendländischen Staates wie ein Hohn. Als ob man nichts anderes aus dieser Geschichte gelernt hätte, als daß man durch immer mehr Arbeit und immer mehr Reichtum diese Welt in einen blühenden Garten verwandeln könnte. Die Realität sieht anders aus. Der blühende Garten stand am Anfang, und der Prediger Moses befand sich bereits in der Wüste. Aber sein Volk konnte noch irgendwo hinziehen, wo keine Wüste war. Im Jahre 2030 wird es jedoch endgültig kein gelobtes Land mit Bäumen und Sträuchern mehr geben, und es ist zu hoffen, daß die Menschen vorher einsehen, daß die ökologische Wüste, die sie geschaffen haben, ein Produkt ihrer eigenen Arbeit und nicht ein Produkt der Natur ist.

Die ideologischen Elemente der jüdischen, christlichen, islamischen, kapitalistischen, marxistischen, abend­ländischen Fort­schritts­gesellschaft beschränken sich aber nicht nur auf die Festschreibungen der Grundsätze durch Moses in Form von Gesetzen und Verwaltungs­richtlinien. Es fehlen noch die Elemente Bekämpfung des Zweifels und Bekämpfung der Angst. Der Zweifel an der Gültigkeit der Verheißung des gelobten Landes, des Portschritts und der Technik war von Anfang an ein begleitendes Element der Ideologie. Und der Zweifler war von Anfang an derjenige, der auszugrenzen oder, in extremen Situationen, auszumerzen war. Zweifler waren kleingläubig, fortschrittsfeindlich, romantisch, utopisch, unsachlich, terroristisch, anarchistisch, konterrevolutionär, Feinde des Grundgesetzes — kurz, es waren all jene, die sich grundsätzlich gegen die jeweils bestehende Ordnung wandten, deren Handeln aber im nachhinein auch verklärt, umgedeutet oder schlicht in das Gegenteil verkehrt wurde.

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Die Bibel bietet auch für dieses Modell und für die Lösung des Problems ein Musterbeispiel, und zwar mit der Geschichte von Hiob. Mit dem Buch Hiob wird in der Bibel die höchste Stufe der Frömmigkeit erreicht. Frömmigkeit heißt in diesem Sinne Überwindung des Zweifels und Glaube an die Verheißung Gottes, d.h. an die selbstauferlegte Verpflichtung zum Fortschritt.

 

Hiob war ein Großgrundbesitzer, er hatte sieben Söhne und drei Töchter, 7000 Schafe, 3000 Kamele, 500 Rinder und 500 Esel. Er war gottesfürchtig und mied das Böse. Nach heutigem Maßstab würde man sagen, Hiob hat sich seinen Reichtum mit seiner Hände Arbeit geschaffen, er war ein bescheidener, frommer Patriarch und mehrte seinen Reichtum mit dem Segen Gottes; er war ein pietistischer Kapitalist im ursprünglichsten Sinne des Wortes.

Und über diesen Hiob kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Satan, also dem Bösen, und Gott. Satan behauptet, nimm Hiob alle seine Besitzungen und seine Angehörigen, und er wird seine Frömmigkeit und seine Gottesfurcht aufgeben und zweifeln. Gott nimmt die Wette Satans an unter der Bedingung, daß dieser Hiob alles nehmen darf bis auf sein Leben, weil ein Toter von Gott nicht abfallen kann. 

In der Anfangsphase werden Hiob die ersten Verluste an seinem Vermögen zugefügt, und mehrere seiner Kinder sterben, ohne daß er an der Verheißung Gottes zu zweifeln beginnt. Dann wird er von Satan weiter und schwerer heimgesucht, er wird krank, seine Frau verhöhnt ihn und spricht ihn auf den Kern seines Problems an, als sie zu ihm sagt: »Hältst Du noch fest an Deiner Frömmigkeit?«, also an dem Glauben an die Verheißung, an den Fortschritt.

Hiob hält weiter an seinem Fortschrittswahn fest, und ein Unglück nach dem anderen bricht über ihn herein. Schließlich bricht er zusammen, verflucht den Tag seiner Geburt und beginnt an seiner Fortschritts­ideologie zu zweifeln. Er führt quälende Auseinandersetzungen mit sich selbst, bis er zum Schluß endlich das ersehnte Gespräch mit Gott findet, der ihn in seiner Haltung bestätigt, von ihm aber einen demütigen Kniefall verlangt. Dafür erhält Hiob seine Belohnung, indem Gott ihn reicher als vorher machte und ihn ein hohes Alter erreichen ließ.

Dies ist die beste Auflösung des Zweifels im Sinne des Fortschritts. Der Zweifel, der dem denkenden Menschen bei der Gestaltung der Fortschritts­gesellschaft kommen muß, führt ihn zu Erkenntnissen, die zur Umgestaltung der materiellen Grund­lagen führen müssen.

Der Zweifel und die Umkehr sind für die Fortschrittsideologie und die Fortschritts­gesellschaft zu allen Zeiten die schwierigste Klippe ihrer Weiter­entwicklung gewesen. Wer diese Klippe nicht überspringt, ist für die Fortschrittsgesellschaft verloren. Deshalb müssen Mechanismen aufgebaut werden, die diese schwierigste Entwicklungsstufe in den Denkprozessen der Menschen überwinden helfen. Die Frömmigkeit und der Glaube sind bis heute das einzig gültige Muster, diese Klippe zu überwinden.

An die Stelle der Erkenntnis werden Glaube und Wahn gesetzt, der Fortschritt, die Verheißung müssen umgesetzt werden in materiellen Wohlstand. Wer seinen Zweifel bekämpft, wird materiell belohnt wie der fromme Hiob, der seine Dummheit bekennt, obwohl er doch ein denkender Mensch ist, und der doch den Blick zu seinem Streben zurücklenkt, sich die Erde Untertan zu machen.

Das Makabre an der Hiobgeschichte ist die Schilderung in den mittleren Passagen, als Gott das Wunderbare der Schöpfung erklärt, eine aufeinander abgestimmte Natur, eine der besten Schilderungen eines genial entwickelten Systems, das aus sich selbst heraus existiert und sich weiterentwickelt, ohne sich selbst zu zerstören. Dieser unendlichen Nähe Hiobs zur wirklichen Erkenntnis, dieser geradezu satanischen Auseinandersetzung mit dem Sinn einer ökologischen Naturwelt folgt dann der profane Schritt zurück in die Dummheit und den Glauben. Hiob, der endlich etwas verstanden hat, sinkt zurück in die Haltung eines Konsumierenden, der sich im Überfluß sonnt und die Macht über seinen Reichtum und seinen Clan als Sinn des Lebens nimmt.

Diese Festschreibung der Auflösung des Zweifels ist bis heute für alle Fortschrittsideologien gültig, und es gibt auch keine andere Auflösung. Hiob, der dumme, fortschrittsgläubige Mann, der partielle Erkenntnisse besitzt, hört nicht auf seine intelligente Frau und beschimpft sie als Närrin. Er ist genau jener Typ, der Allmachts­phantasien hat und sie hinter einer biederen Frömmigkeit und Gottesfurcht verbirgt. 

Als er durch die harte Realität des Lebens aus seinen Allmachtsphantasien herausgerissen wird, hat er Selbstmordgedanken, kommt aber selbst dadurch nicht zu einem neuen Erkenntnisprozeß, sondern entwickelt sich zurück zu einem dummen, arbeitsamen Patriarchen, der mit seiner Arbeit die Erde weiterhin zerstört und die Fackel des Fortschritts vorwärts­trägt.

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 Hans Joachim Rieseberg  Arbeit bis zum Untergang  Die Geschichte der Naturzerstörung durch Arbeit