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6  Mittelalter und Renaissance

Riesenerg-1992

 

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Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches reduzierte sich die Bevölkerungszahl sowohl in den Städten als auch auf dem Land innerhalb kurzer Zeit drastisch. So sank die Einwohnerzahl der früheren Millionenstadt Rom im Mittelalter zeitweise auf 30.000 Menschen!

Die Infrastruktur verkam, aber auch die Umwelt­zerstörung und die Eingriffe in die Natur gingen drastisch zurück. Die Belastung der Seen, Wälder und Flüsse ließ nach, und aus den Resten an Natur konnte sich ein halbwegs neues ökologisches System entwickeln. Zwar wurde der Waldverlust nicht ausgeglichen — das erfordert eine wesentlich längere Zeitspanne —, und der Boden konnte sich nicht zurückentwickeln, aber auf den verbliebenen Resten konnte die geringere Zahl der Einwohner ein einigermaßen vernünftiges Auskommen entwickeln.

Entgegen den herkömmlichen Meinungen waren die Städte und Dörfer im mittelalterlichen Italien wesentlich qualitätsvoller als zur Zeit der Renaissance. Das Weniger an Kultur, Fortschritt und Entwicklung wurde durch ein Mehr an Lebensqualität bei weitem ausgeglichen. Das Mittelalter in Italien war nicht düster, sondern eher licht.

Erst die Renaissance mit ihrem Fortschrittsmotor der Wiedergeburt römischer und griechischer Antike verwandelte das Land erneut in einen chaotischen Zustand. Das Mittelalter in Italien war dagegen der Versuch einer Synthese zwischen der Stadtkultur und einem einigermaßen ökologischen Landleben. Der Typus der Landstadt mit Grün und Selbstversorgung herrschte vor. Die Nähe war wieder Leitbild, und die Arbeit der Menschen reduzierte sich. Sie mußten bei weitem weniger Aufwand für ihre Herrscher treiben, dafür mußten sie sich beständig gegen die durchziehenden Reste der römischen Kultur wehren.

Zwar konnte sich auch im Mittelalter keine ökologische Gesellschaft entwickeln, aber immerhin entwickelte sich der Typus einer zurückgezogen lebenden Festungsgesellschaft. Das Land war nicht mehr Lebens­grund­lage, sondern eine verkleinerte Stadt. Erst die Renaissance kurbelte die Zerstörung erneut an. Die handwerklich frühindustrielle Produktion wurde verstärkt, Straßen und Bewässerungssysteme wurden reaktiviert, die Landwirtschaft wurde wieder intensiviert, aber diesmal war es nicht ein Zentrum welches aus seinem Inneren heraus die gesamte Umgebung zerstörte, sondern es waren viele miteinander konkurrierende Zentren. Entsprechend sollte das Ergebnis am Ende noch gravierender werden.

Diese neue Form der Stadtkultur stellte auf lange Sicht durch die Intensivierung der Nutzung und die Machtkämpfe der Zentren untereinander eine wesentlich höhere Herausforderung an die Umwelt dar. Die Zentren kämpften um die Märkte, die Rohstoffe, die Arbeitskräfte, die Handelsrechte und den Besitz an Land, Wasser und Wald. Die Kämpfe führten unmittelbar zur Zerstörung der Umwelt, zur Verschwendung von Wasser und zu aberwitzigen Projekten wie dem Versuch der Stadt Florenz, den Arno umzuleiten, um die Stadt Pisa zu schädigen.

Wegen der vielen Kriege mußten die Städte und Siedlungen permanent neu aufgebaut werden. Dies wiederum führte zu einer Intensivierung der Arbeit, weil die Abschöpfungsrate immer größer wurde. Die Intensivierung der Arbeit ist letztlich nur durch eine stärkere Ausbeutung der Natur möglich. Neben den permanenten Wiederaufbau trat die immer höhere Rüstung als Arbeitsfaktor. Die kriegerischen Auseinander­setzungen auf engstem Raum lösten die alte Kriegstechnik der Römer, Landkriege aus befestigten Positionen heraus zu führen, ab und führten zur Festungsbauweise.

Die Festung der Renaissance ist das Leitbild der konkurrierenden Stadtkonzerne Italiens um diese Zeit. Wie heute die Modernität des Maschinenbestandes und des Produktionssystems über die Konkurrenz­fähigkeit eines großen Betriebes entscheidet, so entschied damals die Modernität und die Organisations­struktur einer Festung über die Existenz oder den Untergang für lange Zeit der italienischen Städte.

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Festungen mußten aber gebaut werden, und sie konnten nicht beliebig durch eine Erhöhung der Arbeitszeit aus den Menschen herausgepreßt werden. Notwendig hierfür waren eine gezielte Vermehrung der Bevölkerung und eine Ansiedlungspolitik, um Arbeitsanreize zu schaffen, die Steuerbelastung zu erhöhen und die Naturausbeutung zu intensivieren.

Es ist immer derselbe Vorgang. Die letzten in dieser Kette der Arbeitsintensivierung, die Bauern und Arbeiter, können ihre Ausbeutung zum Schluß nur an die Natur weitergeben. Darüber hinaus werden sie gezielt mit Versprechungen in die Stadt gelockt, um das Heer der städtischen Handwerker und der Hilfskräfte zu ergänzen. Versprochen werden ihnen in der Stadt dafür mehr Freiheit, weniger Abgaben und ein größerer Anteil am kulturellen Leben.

Die Renaissance setzte auch in diesen Abwerbungsprinzipien im Unterschied zum römischen Reich und zur griechischen Antike neue Maßstäbe. Durch die Konkurrenz der Städte untereinander mußte jede sich etwas mehr einfallen lassen, andererseits konnten sie die Einwohner durch ihr Gesamtsystem besser am Ort halten und stärker durch den religiösen Druck des Christen­tums in ihr Gesamtsystem hineinzwingen.

Daneben entwickelte gerade die Renaissance in Italien ein neues System zur Intensivierung der Arbeit. Sie stellte in der ersten Stufe der Mechanisierung die Wissenschaft auf breiterem Raum in den Dienst der Handarbeit und erreichte so eine Vervielfachung der physikalischen Effekte. Die Blüte der Wissenschaft in der Renaissance galt nicht in erster Linie der Erleichterung der Arbeit, sondern ihrer Intensivierung und der größeren Abschöpfung der Effekte. Nur der kleinste Teil dieser Arbeit floß in den städtisch-kulturellen Bereich oder dem einzelnen Bürger zu.

Es ist deshalb zynisch, wenn immer wieder die Grausamkeit der Medicifürsten in Florenz bei der Ausbeutung ihrer Untertanen damit bagatellisiert wird, daß sie sich doch große kulturelle Verdienste erworben hätten. Dahinter stand ein bewußtes politisches Kalkül, diente die Kultur doch der Stabilisierung des Ausbeutungssystems. Auch hier kann man sich Marx nur vorbehaltlos anschließen. Infrage stellen muß man jedoch seine Ansicht, daß dies für einen Gesamtfortschritt im Zivilisationsprozeß notwendig war. Auch die Feudalstruktur der Renaissance führte nicht zu einer Erleichterung des Loses der Proletarier in der nächsten Generation, sondern nur zu einer Intensivierung der Ausbeutung der Natur. Die Ausbeutung der Arbeiter blieb die gleiche.

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Theoretisch hätte also die Renaissance erneut zum Totalzusammenbruch sowohl der Städte als auch des gesamten ökologischen Systems in Europa führen müssen. Und es kam auch zum Teilzusammenbruch durch Pest, Cholera und Syphilis. Aber die Renaissance entwickelte auf der Grundlage ihres naturwissen­schaftlichen Gesamtsystems den Ausweg aus der selbst­verschuldeten ökologischen Katastrophe.

Dieser Ausweg war der Export der abendländischen Ideologie nach Amerika, nach Asien und nach Afrika. Im Unterschied zu den Naturwissenschaftlern der Antike nutzten die Herrscher der Renaissance das Wissen über die Erde, das Sternensystem und das Weltall zum profanen Aufbruch in die Neue Welt, um dort nach Gold, Bodenschätzen und Land zu suchen und so der Zerstörung ihres ökologischen Systems im eigenen Land zuvorzukommen.

Gleichzeitig mit diesem Aufbruch zu neuen Rohstoffquellen schuf die Renaissance das Prinzip Hoffnung für die Arbeitssklaven des städtischen Handwerksproletariats. Diese Hoffnung hieß Freiheit in der Neuen Welt. Das Prinzip Hoffnung ließ die Städter so lange weiterarbeiten, bis sie das Geld erwirtschaftet hatten, um sich den Seelenverkäufern anzuvertrauen, die sie über den Ozean schafften, oder an der Belastung durch ihre Arbeit zu krepieren. Der Bauer, der wie ein Verrückter arbeitete, um die Freiheit der Stadt zu genießen, arbeitete nun als Handwerker und Frühproletarier in der Stadt, um die Freiheit, die er doch dort auch nicht gefunden hatte, in der Neuen Welt zu suchen.

Auch diese Intensivierung der Arbeit mußte die Natur in Form von immer rigoroseren Ausbeutungs­systemen an Wald, Wasser, Bodenschätzen und nunmehr auch Luft und Gesundheit bezahlen. Die Städte erlebten in der Renaissance zum ersten Mal in der Neuzeit die große Erschütterung, die sie später im 19. und jetzt im 20. Jahrhundert vom Grunde her in Frage stellte. Es ist nicht allein der physische Zustand der hochtechnisierten und organisierten Renaissancestadt, bei den Einwohnern setzt auch eine geistige Erosion ein. Es machen sich immer mehr anarchistische Tendenzen im sogenannten Gemeinwohl, welches gar keines war, breit. Um diese Tendenzen einzugrenzen, müssen polizeistaatliche Zwangsmaßnahmen in Gang gesetzt werden.

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Zum damaligen Zeitpunkt findet die Überwachung der Bürger durch die Kirche statt. Die Kirche schneidet sich aber, um ihrer Funktion als Überwachungs­instrument des Staates nachkommen zu können, selbst einen wesentlichen Teil aus dem produktiven Bereich der Bewohner, d.h. aus der Arbeit, heraus. Die Kirche erhöht direkt oder indirekt die Abgaben oder die Zusatzabgaben und steckt den Überschuß, den sie damit zwangsläufig erwirtschaftet, in immer größere Prestigeobjekte.

Die Renaissancestadt stattet sich mit Baudenkmälern und Palästen aus wie heute die Dienstleistungsstadt mit Bürohochhäusern und Kongreßzentren. Dies alles fördert zwangsläufig die Intensivierung der Arbeit und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Der Dom von Florenz kann als eines der größten Relikte dieser Renaissancegesellschaft angesehen werden. Er hatte niemals eine wirkliche Funktion. Seine eigentliche Funktion, nämlich Ort für die Verehrung eines umfassenden Gottes zu sein, könnte genauso im Wald, am Meer oder sonst irgendwo in der Natur erfüllt werden. Der Dom ist Symbol, er ist Fetisch, er war aber zweifelsohne mit seiner Kuppel die geniale Konstruktionsidee des Bramante, der sich mit diesem Bauwerk ein riesenhaftes Denkmal gesetzt hat. Im Unterschied aber zur Venus von Willendorf und zu vielen römischen und griechischen Kultbauten hat er ein wesentliches Mehr an Arbeit und damit an Naturzerstörung gekostet. Trotzdem ist er im Vergleich zur Venus von Willendorf ästhetisch nicht mehr vollendet, er kann im Betrachter kaum mehr Emotionen auslösen.

Die Kunst erhält in der Arbeitsgesellschaft der Renaissance zum ersten Mal eine wirkliche Arbeitsfunktion, sie nimmt nämlich teil am Arbeitsprozeß und nicht am geistig-philosophischen Prozeß. Sie wird in der Renaissance zur nützlichen Kunst, zur Ingenieurwissenschaft. Der eigentliche Begründer der nützlichen Künste, der neuzeitlichen Natur- und Ingenieurwissenschaft, ist Leonardo da Vinci. Er hat zweifellos als Künstler von Anfang an nicht die Anerkennung finden können, die ihm eigentlich gebührt hätte. Als Ingenieur, als Festungsbauer und als Zivilingenieur findet er diese Anerkennung.

Der geniale, aber für die damalige Zeit ungebildete da Vinci, der in der Malerei, in der Kunst, die höchste Vollendung des menschlichen Lebens sah, mußte ausweichen in die Konstruktion von idealen Festungen. Er entwickelte die Umleitung des Arno mit, er konstruierte automatische Kanonen, Unterseeboote, riesige Brückenmonster und vieles andere, seine höchste Vollendung erreichte er jedoch als Maler.

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Mit ihm schafft die Kunst, getarnt als Ingenieurwissenschaft, den Durchbruch in die reale, in die Arbeits­gesell­schaft. Fortan werden die Künstler als Ingenieure jene Riesenspielzeuge für die Menschheit konstruieren, die sie in die Lage versetzen, durch ihrer Hände Arbeit diese Erde radikal umzubauen. Dabei tragen sie aber bei ihrem Tun immer das Bekenntnis vor sich her, sie seien die Wohltäter der Menschheit und wollten nur das Los des einfachen Arbeiters erleichtern. Sie wollten den Bauern von der täglichen Plackerei befreien, den Proletarier von der Eintönigkeit der Fließbandarbeit und die Sekretärin von der öden Büroarbeit. Zum Schluß werden sie ihren Kollegen Ingenieuren auch noch klarmachen, daß sie sie durch ihre Computer von der Routine der Denkarbeit befreien wollen.

Mit Leonardo da Vinci wird zum ersten Mal in großem Umfang die praktische Verwendbarkeit des menschlichen Denkens für die menschliche Arbeit naturwissenschaftlich hergeleitet. Sowohl bei den Römern als auch bei den Griechen und allen anderen Hochkulturvölkern waren die Naturwissenschaften mehr oder weniger theoretische Denkmodelle, die zwar einige naturwissenschaftliche Spielereien zuließen, im Ganzen aber im philosophischen Bereich verblieben. Naturwissenschaft war im Grunde der bildenden Kunst und der Musik vergleichbar. Sie war für die menschliche Arbeit unnütz, sie war Entspannung und Freizeit. Sie bot ein Refugium des Denkens als Rückzug aus der immer umfassender werdenden Arbeit.

Eine so verstandene Wissenschaft war also noch nicht in den Zivilisationsprozeß der Arbeit integriert und deshalb auch vergleichbar mit dem Leben und der Tätigkeit von Gauklern, von Schauspielern und Nomaden. Bis zur Renaissance blieb die Wissenschaft mehr oder weniger eine Funktion des Jagens und Sammelns und nicht einer ackerbaulichen Struktur. Ihre Blüte in der Renaissance ist also nicht eine Reaktivierung antiker und vorchristlicher Denkmodelle, sondern eine Indienstnahme der Wissenschaft für die ackerbauliche Arbeitsgesellschaft.

In dieser Zeit entsteht somit eine immer festere Verbindung zwischen Arbeit und Wissenschaft. Und die Wissenschaft findet endlich die Anerkennung in der Arbeitsgesellschaft, nach der sie so lange gesucht und um die sie geradezu gebuhlt hat. Die Wissenschaft wird vom Ausstatter zum Hauptdarsteller auf der Lebensbühne. Zug um Zug erobert sie die entscheidenden Positionen in den Arbeitsgesellschaften. Sie tut dies mit der Illusion, frei, unabhängig und schöpferisch kreativ zu sein, und merkt nicht, daß diese Freiheit des Denkens nur im Denken selbst begründet und verhaftet war.

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Die Übersetzung in das Nützlich-Stoffliche unterwirft die Wissenschaft dem Zwang der Sache, und hier entstehen die Sachzwänge, die alle beschreiben, wenn sie von den Denkenden den Pragmatismus des Handelns verlangen. Die illusionäre Dimension des Denkens kann nicht mit der Stofflichkeit des Ackerbauers verknüpft werden, sie muß zwanghaft zur zerstörenden Funktion werden. Diese unauflösbare Konsequenz der Verbindung zwischen Wissenschaft und Arbeit wird seit der Renaissance zum Thema, und zwar zum nicht bewältigbaren Thema der Wissenschaft.

 

Mit ihrer neuen Funktion im gesellschaftlichen Machtgefüge gibt die Wissenschaft dem Zerstörungs­potential von Arbeit und Stadt eine neue Dimension. Am Horizont erscheint die Utopie, daß ein Leben ohne Natur möglich sei. Die Renaissancestadt schafft sich eine Lebensweise, die die Natur ausklammert und von der reinen gebauten, konstruierten und organisierten Kunstwelt lebt. Die Nahrungszulieferung vom Land wird nicht mehr als natürliche Versorgung angesehen. Die Landschaft in der Malerei ist künstlich, die Gebäude sind eine eigene Schöpfung, ein geschlossenes System.

"Das neue System, das sich stufenweise festigte, verdrängte alle wirtschaftlichen und moralischen Grundlagen der mittelalterlichen Stadt. Die Stadt verstand sich nicht mehr als ein gemeinschaftliches Unternehmen zum Wohl ihrer Bürger, sie war vielmehr zu einem reinen Zentrum der Macht geworden. Und die Urbanistik berücksichtigte nicht mehr die ursprünglichen Bedürfnisse des Menschen und die Ansprüche des gegebenen Terrains sowie des bestehenden Raumes, sondern sie suchte vielmehr nach einer optimalen Formalordnung, um die Städte in Glanz, Prunk und einem bühnenhaften Monumentalismus erstrahlen zu lassen."  Mario Faxio, Historische Stadtzentren Italiens, S. 134  

 

Die Renaissance und der Barock waren also nicht mehr einfach eine Wiederaufnahme der Kultur der Griechen und Römer, sie waren keine Kopien, sondern eine exponentielle Steigerung des antinatürlichen Lebensgefühls der Griechen und Römer. Es handelt sich um eine Vorwegnahme der technischen Utopien des 20. Jahrhunderts, um den Traum von einem Überleben der Menschheit in großen Raumstationen.

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Während die mittelalterliche Stadt Italiens eine Landstadt mit viel Selbstversorgung, mit Licht und Luft war, mit einem urbanistischen System, wie wir es heute als Besucher noch in dem kleinen österreichischen Ort Drosendorf entdecken, so waren die Renaissance- und die Barockstadt der Anfang vom Ende ökologischen Stadtlebens.

Die Renaissancestadt ist kulissenhaft, ist theaterhaft, dabei traumhaft schön! Sie ist eine Wahnvorstellung vom Leben. Venedig, Florenz, Neapel sehen und sterben ist das Lebensgefühl, das Goethe und Thomas Mann weitertransportiert haben bis ins 20. Jahrhundert.

Aufgebaut ist dieses Lebensgefühl auf einer Arbeitsgesellschaft, die einen riesenhaften Überschuß erwirtschaftet, verbunden mit einem erbarmungslosen Konkurrenzkampf und einer mechanisierten und intensivierten Ausbeutung der Natur. Der freie, christliche Arbeitssklave gibt den Druck, den er von seinen Beherrschern erfährt, an die Natur weiter. Die Natur- und Ingenieur­wissenschaft hilft ihm dabei und erklärt sich zu seinem Wohltäter.

Die Reste dieser Gesellschaft werden von uns heute mit einer romantischen Verklärung betrachtet und bewundert. Wahr­scheinlich werden unsere Nachkommen in 400 Jahren mit der gleichen Verklärung vor den Resten von BASF, Daimler Benz, IBM und dem Flughafen München stehen. Sie werden diese Reste als Kultbauten bewundern, sie werden versuchen, unsere Barbarei der Natur und der Umwelt gegenüber vergessen zu machen und unser kulturelles Mäzenatentum in den Mittelpunkt stellen, und sie werden Jahrzehnte darüber diskutieren, warum trotz dieser hochstehenden Kultur die ganze Zivilisation des 20. Jahrhunderts zusammenbrach.

 

Im Gegensatz zum römischen Reich brach aber die Renaissance- und Barockgesellschaft trotz ihres zerstörerischen Umgangs mit der Umgebung nicht so radikal zusammen wie jenes. Die Auswanderer aus dem System retteten sich hinüber auf die idyllischen Reste der natürlichen Welt in Nordamerika, Südamerika und Asien. Sie bauten dort eine schöne neue Welt auf und lachten über die Enge des alten Europa. Mit sich schleppten sie jedoch die Ideologie der Zerstörung durch Arbeit.

Keine Gesellschaft hat intensiver die Arbeit in den Mittelpunkt ihres politischen Systems gestellt als das sogenannte freie Amerika

Die Grundsätze Henry Fords sprechen Bände:

"Es ist natürlich zu arbeiten und anzuerkennen, daß Glück und Wohlstand sich nur durch ehrliche Arbeit erringen lassen. Die menschliche Misere entspringt zum großen Teil dem Versuch, aus dieser natürlichen Bahn auszubrechen. Ich habe nichts zu bieten, was über die rückhaltlose Anerkennung dieses Naturprinzips hinausgeht. Ich gehe von der Voraussetzung aus, daß wir arbeiten müssen. Unsere bisherigen Fortschritte sind nur das Resultat einer gewissen logischen Erkenntnis, daß es vorteilhafter ist, da wir nun einmal arbeiten müssen, intelligent und vorausschauend zu arbeiten; daß es uns um so besser geht, je besser wir arbeiten. Das sagt uns, meiner Meinung nach, der elementare, gesunde Menschenverstand."
Ford, Henry, Erfolg im Leben, S. 6, Leipzig o. J.

"Ein System, die Arbeit zu umgehen, läßt sich nicht erfinden. Dafür hat die Natur gesorgt. Müßige Hände und Füße waren uns nicht zugedacht. Die Arbeit ist in unserem Dasein Grundbedingung für Gesundheit, Selbstachtung und Glück. Statt ein Fluch ist sie der größte Segen. Strenge soziale Gerechtigkeit entspringt nur aus ehrlicher Arbeit. Wer viel schafft, soll viel nach Hause tragen. Wohltätigkeit hat in der Lohnfrage keinen Raum." (Ford, S. 21)

"Wie heißt der Leitgedanke der Industrie - wie lautet er? Der wahre Leitgedanke heißt nicht Geldverdienen. Der industrielle Leitgedanke fordert Schaffung einer nützlichen Idee und deren Vervielfältigung ins Abertausendfache, bis sie allen zugute kommt. Produzieren und wieder produzieren; ein System ersinnen, auf Grund dessen das Produzieren zu einer hohen Kunst wird; die Produktion auf eine Basis stellen, die ein ungehemmtes Wachstum und den Bau immer zahlreicherer Werkstätten, die Hervorbringung immer zahlreicherer nützlicher Dinge ermöglicht - das ist der wahre industrielle Leitgedanke." (Ford, S. 31)

"Die Menschheit arbeitet sich jedoch allmählich aus dem Nichtigkeitsstadium heraus; die Industrie fängt an, sich auf den wirklichen Bedarf der Menschheit einzustellen, und darum können wir mit sicheren Fortschritten in der Richtung auf ein Dasein rechnen, das wir heute zwar schon zu erkennen vermögen, das zu erreichen uns jedoch der augenblickliche Zustand der Selbstzufriedenheit noch hindert." (Ford, S. 53)

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