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15. Über Angst und Angstlust

 

 

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In der neueren Literatur wird immer häufiger die Angstlust als Motiv für scheinbar irrationale Handlungen von Menschen angenommen. Geprägt wurde dieser Begriff von W. Balint, der die Angstlust als angenehmes Gefühl schildert, das dem Menschen ursprünglich zugeeignet ist und das er in seiner langen Entwicklungs­geschichte früher unverfremdet genießen konnte. Als Beispiel dienen Balint die Kämpfe der Gladiatoren in römischer Zeit. 

Spätestens bei diesem Beispiel ist Aufmerksamkeit geboten, denn kein Gladiator schritt freiwillig zum Kampf mit den Löwen in die Arena. Von einer Lustsucht dieser bedauerns­werten Menschen kann keine Rede sein. Es war der Zwang oder der verzweifelte Versuch, das durch die Strafen der Römer bedrohte Leben zu retten.

Schon die Wahl dieses Beispiels macht aufmerksam auf ein falsches Verständnis der Angst bei Balint. Auch andere Autoren, die sich mit der Angst auseinander­setzen, lassen uns im unklaren, ob es sich bei der Angst um einen Instinkt, um etwas Erlerntes, um eine Kombination von beiden oder um Emotionen handelt.

Allgemein wird die Aggressivität des Menschen als Verursacher der Angst angesehen, und für die Grund­aggressivität des Menschen muß der Verhaltens­forscher Lorenz mit seiner Grauganstheorie herhalten. Die Aggressivität des Menschen zieht sich durch eine Vielzahl von Arbeiten und Theorien und gilt allgemein als Erbe des Menschen aus seiner Urvergangenheit. Der Früh- und Urmensch, der dem Tier noch wesentlich näher stand als der Homo sapiens, muß wie alle Tiere mit einer Grundaggressivität ausgestattet gewesen sein.

Wie der Wolf über Jahrhunderte als das böse Tier schlechthin in der Literatur, aber auch in der Biologie gehandelt wurde, so werden der Neandertaler, der Pekingmensch oder der Australo-Pithekanthropus als bösartig und kannibalistisch gehandelt. Mit diesem Erbe an Urinstinkten von Aggressivität, Bösartigkeit und einer ungeklärten Verwirrung von Angst und Lust tritt der Mensch in die geschichtliche Zeit und besiegt diese frühen Triebe durch seine Kultur.

Ausgangspunkt dieser Sicht der Dinge dürfte eine Art Trivialdarwinismus sein. Dem Menschen werden zwei gänzlich unter­schied­liche Bereiche zugeordnet: der Bereich des geistigen, guten, edlen und der Bereich des körperlichen, triebhaften, unedlen, bösartigen, aggressiven. Diese Vorstellung vom Menschen durchzieht die christlichen Religionen, viele frühe Philosophien und selbst die französische Aufklärung. Der Höhepunkt wird bei Descartes erreicht, der durch sein "Cogito, ergo sum" den Menschen zu einem reinen Kopfwesen weiterentwickelt, während er seine Körperlichkeit dem Geist total unterordnet. Der Mensch ist bei ihm ein monozentrisch organisiertes Wesen, das in allen seinen Regungen und seinen Äußerungen dem überlegenen Gehirn als dem Steuerungszentrum aller Regungen unterliegt.

Die Abstammungslehre Darwins räumt mit dieser Vorstellung nicht auf, sondern schafft lediglich einen natur­wissen­schaftlichen Unterbau für die physische Existenz der Körperlichkeit des Menschen und seiner Abstammung aus der Natur. Das Gehirn, der Denkapparat, das Zentrum des Menschen, vielfach auch als Sitz der Seele gesehen, wird in seiner Abstammung weiterhin in einer quasi religiösen Überhöhung in der Unendlichkeit oder bei Gott gesucht.

In der Nachfolge von Descartes und Darwin geben die neuen Wissenschaften der Psychologie und die Ergebnisse der archäo­logischen Forschung diese Zweiteilung des Menschen nicht auf. Vor allem Freud mit seiner scheinbar revolutionären Psychoanalyse steht ganz in der Tradition des monozentrisch, zweigeteilt organisierten Menschen. Der unedle Teil mit seinen Trieben, seiner Angst und seiner Lust entstammt der ungebändigten Natur, der edle Teil, der Geist und die Überwindung der Triebe wie der Angst und der Lust, entstammt einem Unbekannten, ist unendlich und wird in der Philosophie des 20. Jahr­hunderts zum unendlichen Sein, zum Ding an sich, hochstilisiert. Aus dieser Zweiteilung des Menschen werden fast natur­gesetzliche Entwicklungs­geschichten abgeleitet und Kausalzusammenhänge hergestellt.

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Der Mensch wird wie in der Physik oder der Chemie in ein Ursache-Wirkungs-Prinzip hineingepackt. Letztlich dominiert damit bis zum 20. Jahr­hundert für das Bild des Menschen eine Art Maschinenmodell.

Schwierig war dabei noch bis zur Entdeckung der Kybernetik und des Computers die Erklärung der Funktions­weise des mono­zentrischen Gehirns. Mit der Entdeckung der Kybernetik konnte scheinbar auch diese Lücke in der Erklärung des Menschen und der Gesellschaft geschlossen werden. Die Arbeitsweise des Computers, die im Prinzip nach der Methode "ja-nein" arbeitet, hierarchisch organisiert ist und kausal abläuft, wird schlicht auf das Gehirn des Menschen übertragen, und anschließend wird erklärt, man habe die Funktionsweise des Computers vom Gehirn des Menschen abgeleitet. Dieser Kunstgriff schuf letztlich die Grundlage für das naturwissenschaftlich orientierte Bild des Menschen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.

Mit diesem Rüstzeug versuchten nun immer mehr Psychologen, Soziologen, Mathematiker, Physiker, Biochemiker und Paläontologen den Aktionen und Reaktionen des Menschen auf die Spur zu kommen, ihn langsam in ein psychologisches Diagramm einzupassen und Erklärungs­muster für seine Handlungen zu geben. Ausgerüstet mit diesen Erklärungsmustern wurden immer mehr Menschen­wissenschaftler auf die Menschen losgelassen, die mit ihrem minimalen Wissen über die inneren Organisations­prinzipien des Menschen in seine Physis und in seine Psyche eingriffen. Dieser Kunstgriffe bedienten sich natürlich auch die Nutznießer solcher Wissenschaften — die Werbemanager, die Marketingstrategen, die Produktentwickler und die Politiker. Nach diesem Grundmodell wurden auch alle Organisations­strukturen und Verwaltungen, Selbstverwaltungsorgane, Staatssysteme, Firmen, Universitäten usw. organisiert.

Grundmuster hierbei war und blieb ein monozentrisch organisiertes System zwischen Physis und Geist, wobei dem Gehirn, also dem Geist, immer die Führungs­rolle zukam. Die grundsätzliche Organisationsstruktur war hierarchisch, von oben nach unten. Je weiter unten ein Teil der Organi­sations­struktur angesiedelt war, um so weniger trug er zum Ganzen bei und um so weniger Einfluß hatte er auf das Ganze. Mit dieser Organi­sations­struktur wurde gleichzeitig das Prinzip des dauernden geistigen Fortschritts übernommen. Kurz, der Mensch entwickelt sich immer mehr zu einem total vernünftigen Kopfwesen, dem der Körper sich immer weiter unterordnen kann.

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Mit einem Grundproblem tat sich diese Zivilisation dabei allerdings schwer: 

Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung kommt sie immer mehr der alles bestimmenden Rationalität, der Vernunft und der Ordnung näher. Nach dieser Theorie müßte nun der Mensch unweigerlich immer besser werden, und damit müßten die Gewalt­tätigkeiten zwischen den Menschen abnehmen. In der Realität zeigte sich aber merkwürdigerweise ein ganz anderes Bild. Überblickt man den heute einigermaßen belegbaren Zeitraum der geschichtlichen Epoche von 3000 Jahren, so haben die Aggressionen und die Gewalt in diesem Zeitraum immer mehr zugenommen. Das Hauptproblem, vor dem daher das 20. Jahrhundert und seine Wissenschaft stand, bestand darin, die Irrationalitäten der Gewalt aus den Rationalitäten der menschlichen Systeme zu erklären.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erste Erklärungsansätze, die einen Ausweg aus dieser Sackgasse der Rationalität eröffneten. Hierzu gehörten vor allem E. Morin und R. Leakey und R. Lewin. Vor allem Morin schafft mit seinem Denkansatz, wonach der Mensch ein Demens und ein Sapiens ist, eine neue Dimension der menschlichen Erkenntnis. Aus dieser Erkenntnis heraus stellt er fest, daß im Unterschied zur Natur, in der die Ordnung in der Regel das Vorherrschende und Bestimmende ist, beim Menschen die Unordnung, das Chaos, das Grundmuster ist.

Leakey und Lewin kamen durch systematische paläontologische und archäologische Forschung zu der Feststellung, daß z.B. der Kannibalismus bei Jägern und Sammlern wesentlich weniger verbreitet war als bei den viel jüngeren ackerbaulichen Gesellschaften. Darüber hinaus weist vieles darauf hin, daß die Jäger- und Sammlervölker erst durch die Verbindung mit Ackerbauvölkern zu kannibalistischen Handlungen gegriffen haben. Damit können Leakey und Lewin fast schlüssig nachweisen, daß Gewalt und Aggression kein Grundmuster menschlichen Handelns sind, sondern unmittelbar mit der Entwicklung des Ackerbaus zu tun hat. 

Gewalt ist gewissermaßen ein strukturelles Nebenprodukt der Zivilisation und entwickelte sich erst in den letzten 10.000 Jahren der Menschheitsgeschichte. Die Gewalt, die in der Natur vorkommt, ist die Gewalt, die notwendig ist zur Erhaltung. Sie ist aber keine Lustgewalt. Darüber hinaus ist bei einer vorurteils­freien Betrachtungsweise der Entwicklungsgeschichte des Menschen der scheinbare Fortschritt der Zivilisation begleitet von einem Fortschritt der Gewalt des Menschen gegen den Menschen. 

So waren die Grausamkeiten der Tataren nichts im Vergleich zu den KZs des Hitlerfaschismus. Die Foltermethoden des Mittelalters sind nichts im Vergleich zu denen der Geheimdienste im 20. Jahrhundert.*

* (d-2015)   Das ist wohl übertrieben... Höchstens von der Masse her gesehen.     R.Leakey bei detopia   

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Im Rahmen der Gewaltdiskussion wird immer wieder eine Beziehung von Angst und Gewalt hergestellt. Dabei ist sorgfältig zwischen beiden zu unterscheiden. Morin z.B. stellt in seiner Anthropologie fest, daß der Mensch unter den Primaten das Tier mit der geringsten Angst ist, und zwar mit der geringsten Angst vor seiner unmittelbaren Umgebung, der Natur, den Tieren und den Pflanzen. Gleichzeitig ist er aber als historisches Wesen das Tier, das mit der höchsten Lust die Gewalt ausübt. Der Mensch besitzt also im eigentlichen nicht mehr die Angst des Tieres, sondern eine ganz andere Angst.

Die eigentliche Angst des Menschen ist verknüpft mit der Entwicklung des Bewußtseins, und sie ist im Kern die Todesangst. Todesangst kann aber nur dann vorhanden sein, wenn das Bewußtsein vom Tod und vom Leben entwickelt ist. Daher ist in der Entwicklungsgeschichte nach den Punkten zu suchen, an denen der Mensch in fortschreitendem Maße Bewußtsein entwickelt. Dieses Bewußtsein entstand dann, wenn der Tod des Menschen als objektiv vorhersehbares Phänomen erkannt wurde, ohne daß der Zeitpunkt des Todes vorhersehbar war oder ist. In der Entwicklungs­geschichte des Kindes können wir dieses Bewußtsein unabhängig von den Erziehungsformen im Alter zwischen sechs und acht Jahren ansiedeln.

Die Spannung zwischen Tod und Todeszeitpunkt, d.h. die Angst und die Bedrohung, wurde und wird vom Menschen durch die Zivilisation, durch die Realität, verhüllt und gleichsam gläsern versiegelt. Morin stellt nun fest, daß die Angst durch die kulturelle Entwicklung nicht beseitigt, sondern nur verdrängt wird. Dieser Prozeß wird begleitet und überlagert von Verboten, Repressionen, Furcht, Strafe, Liebesentzug und Triebverzicht. Vor allem die Psychoanalyse Freuds führt diesen umfassenden Angstbegriff nicht auf die anthropologische Ursache, sondern auf sozio-kulturelle Verdrängungs­ursachen zurück und bringt deshalb in der Regel auch keine Lösung des Problems.

Wie bereits dargestellt, ist der Mensch ein extrem komplexes Wesen als Demens und Sapiens zugleich. Er ist sicher und zweifelt, er baut seine geistige Ordnung auf Chaos und permanenten Zusammenbruch auf.

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Gleichzeitig - und das ist die eigentlich bedeutende Erkenntnis des 20. Jahrhunderts - ist der Mensch nicht monozentrisch, sondern polyzentrisch organisiert. Jedes Glied seines Körpers und jede Schicht seines Geistes kann potentiell Zentrum für die Steuerung sein. Eine solche Vorstellung unter­scheidet sich so extrem von unserem bisherigen wissenschaftlichen Denkansatz, dem monozentrisch-hierarchischen System, daß es vermut­lich einige Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern wird, bis die Auswirkungen dieser Erkenntnis in reale Funktionen umgesetzt werden können. Bedeutet diese Erkenntnis doch, daß unsere sämtlichen Funktions­zusamm­en­hänge, Organisations­strukturen, technischen und politischen Systeme genau nicht nach menschlichen Maßen gebaut und organisiert sind. Der berühmte Satz "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" kehrt sich hier um. Wäre der Mensch das Maß aller Dinge, so würden die Dinge völlig anders aussehen.

Im Laufe der bisherigen Geschichte unserer Zivilisation schuf sich der Mensch ein Bild vom Menschen und organisierte seine Dinge danach, und weil er lange genug daran glaubte, daß er die Dinge nach Menschenmaß organisiert hätte, schuf er sich das Bild des neuen Menschen. Fortan arbeitete er mit untauglichen Methoden an der Umsetzung dieses Bildes: Er schuf Schulen nach diesem Bilde, er schuf politische Organisationen danach, und er schuf und schafft sich immer mehr Dinge des täglichen Lebens, die in dieses monozentrisch-hierarchische Prinzip hineinpassen. Überträgt man ein solches System z.B. auf unsere heutigen Computer, so dürfte das Grundprinzip nicht der reibungslose Durchlauf einer Rechenoperation sein, sondern der permanente Zusammenbruch. Und nicht das Ja-Nein-Prinzip wäre das Grundprinzip der Arbeit, sondern das Prinzip Vielleicht oder Ja-Aber oder Ja-und-Nein.

Damit gäbe es aber keine kausal organisierte Ablaufstruktur mehr. Die Ablaufstruktur wäre zufällig, und die Ergebnisse wären es ebenfalls. Dies bedeutet wiederum, daß die Lösungen nicht zwingend, sondern wählbar sind. Erst derartige Organisations­strukturen ermöglichen dem Menschen als Wesen zwischen Demens und Sapiens ein Leben zwischen Natur und Technik, zwischen Natur und einer natürlichen Zivilisation.

Überträgt man diese Erkenntnis nun wieder auf den Menschen, so erkennen wir sofort, daß der Austausch des Menschen zwischen Innen und Außen ein ständiges Hin und Her zwischen Bewußtem und Unbewußtem ist. Auf den Vorgang der Angst­empfindung bezogen bedeutet das, daß die Auflösung der Angst nur in einem ständigen Hin und Her von nicht steuerbaren Zufällen liegen kann, mithin in einer Aufeinanderfolge von Widersprüchen.

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In der Frühzeit der menschlichen Entwicklung trat der Vielzahl von Ängsten im Unbewußten des Menschen, die sich aus der Todesangst speisen, eine relativ geringe Zahl an Ängsten im Bewußten, im Realen, im täglichen Leben gegenüber. Damit ergab sich aber eine hohe Auflösungsquote von Ängsten hin zum Glück, zur Erfüllung, da die Kopplungsprodukte von äußeren und inneren Ängsten sehr gering waren. Die Angst konnte sich immer nur auf die Todesangst abbilden und konnte darum eine Auflösung zum Frieden, zur Freude, zum Glück finden.

Die Entwicklung der Zivilisation führte aber durch die Anhäufung von Außenreizen, die materiell auf den Menschen einwirken konnten, zu einem immer größeren Austausch zwischen inneren anthropologischen und äußeren materiellen Ängsten. Das Paradoxe an dieser Entwicklung ist, daß sich die äußeren materiellen Ängste immer nur auf die Todesangst des Unbewußten abbilden können. Die Bestrafung des Kindes durch den Vater oder die Mutter ist deshalb schon eine Todesdrohung. Die Angst vor dem Staat, dem Diktator, dem Führer wird abgebildet auf die Todesangst. Die Erklärung dieser Phänomene als Angstlust ist ein Versuch der Erklärung aus einer vordergründig rationalistisch-mechanischen Sicht des Menschen.

In Wirklichkeit handelt es sich hierbei um Angstangst. Aus Angst vor der Angst sucht der Mensch in der fortschreitenden Zivilisation, sich von seiner Urangst durch die Flucht in die materiellen, realen Ängste zu befreien. Die Angstangst wird als Bild für den Versuch der Verdrängung der Todesangst benötigt.

In diesem Zusammenhang ist die Darstellung des Grausamen und ihre Betrachtung durch die Menschen zu sehen. Je mehr der Mensch durch seine Zivilisation Macht und Herrschaft ausübt, um so mehr nimmt die Grausamkeit zu. Diese Erkenntnis ist deshalb wichtig, weil die meisten Menschen das Grausame als eine gleichbleibende und unveränderliche Kategorie sehen. Damit wird postuliert, daß die grausamen Darstellungen z.B. des Hieronymus Bosch vergleichbar seien mit den Grausamkeiten eines Zombie-Filmes oder den Grausamkeiten von Rambo I und II.

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Soweit heute Menschen nicht nachvollziehen können, was Grau­samkeiten sind, wird hier erkannt werden können, daß entsprechend der Entwicklung der äußeren Gewaltpotentiale durch Krieg, Staatsfolter und technische Zivilisation, also z.B. Verkehrsunfälle, ein Fortschritt in der Grausamkeit der Darstellung in den Medien, in der Malerei, in der Dichtung, im Film und im Fernsehen feststellbar ist. Spätestens an dieser Stelle muß auch die Gretchenfrage nach der Rückwirkung auf den Menschen gestellt werden. Bei der Bewertung dieser Frage ist vorher noch die Postulierung der Angstlust zu klären. Morin sagt, die Angst wird selbst produktiv, sie begünstigt Krisen, sie wird von Krisen begünstigt, sie trägt bei zur Entstehung der Magie, der Religion, sie verstärkt aber auch die Zuflucht zur Dogmatik. Sie sucht Auswege in intoleranten, radikalen, faschistischen Lösungen.

Eine der wesentlichen Erkenntnisse über Angstlust ist das Phänomen, daß sie in der Regel nur bei Männern auftritt. 

Die Angstlust als Erscheinungs­form bei Videokonsum, bei den jungen Rasern, beim Kriegsspiel und bei allen ingenieurmäßigen Exzessen — wie dem Bau von Kernkraftwerken oder dem Bau von supertechnischen Systemen — ist ein spezifisch männliches Problem.

Höchstes Ideal der menschlichen Erziehung in der Zivilisation ist der furchtlose, emotionslose, kühl reagierende, überlegene, herrschende, konsequente Mann. Geht man nun davon aus, daß der Mensch qua Entwicklung seines Bewußtseins mit der Todesangst behaftet ist, so führt Todesangst, konsequent gedacht, zum Tode. Todesangst, intelligent aufgelöst, führt zum Nachgeben und damit zum Leben. Das eine ist der männlichen Erziehung in der Zivilisation zuzuordnen, das andere der weiblichen. 

Frauen machen etwa viermal so viel Selbstmord­versuche wie Männer, d.h. sie beschäftigen sich sehr intensiv mit dem Tod, aber Männer sind bei ihren Selbstmord­versuchen dreimal so häufig erfolgreich wie Frauen. Die Unterschiede sind wahrscheinlich noch größer, weil viele Selbstmorde von Männern so inszeniert werden, daß sie wie Unfälle aussehen, etwa Autounfälle.

Der Trieb zur Angst des Mannes — und um den handelt es sich in der Regel — ist also keine Lust zur Angst, sondern es ist im Gegenteil die Angst vor der Angst. Um der Angst zu entgehen, versucht er sich angsttüchtig zu machen. Er versucht sich in Angst einzuüben, er versucht angstlos zu sein. Dies entspringt aber einer unendlichen Angst vor der Angst. Und damit entzieht sich dem Mann ein riesiger Erfahrungs­bereich des menschlichen Bewußten und Unbewußten. Der Mensch, und hier besonders der Mann, steigert sich in eine Welle von Angstzuständen zwischen dem Unbewußten und dem Bewußten.

Die Ängste aus seinem Äußeren und seinem Inneren laufen wie Stromstöße hin und her. Da der Mensch — wie Morin feststellt — kein Sensorium hat, um zwischen inneren und äußeren Stimuli zu unterscheiden, verwechselt er im Laufe dieses Hin und Her immer häufiger das Außen und das Innen und fühlt sich deshalb immer häufiger äußerlich bedroht bzw. transportiert seinen Bedrohungswahn nach außen und sucht sich Feinde, die in der Realität nicht vorhanden sind. Diese Feinde muß er nun in seiner Furchtlosigkeit vernichten.

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 Hans Joachim Rieseberg  Arbeit bis zum Untergang  Die Geschichte der Naturzerstörung durch Arbeit (1992)