Teil 1 - Der zeitliche Kontext
1. Die neue Nanosekunden-Kultur
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Es ist eine Ironie, daß wir uns in einer der Zeitersparnis so verpflichteten Kultur immer mehr gerade dessen beraubt fühlen, was uns kostbar ist. Die moderne Welt stromlinienförmiger Verkehrsmittel, sofortiger Kommunikation und Zeitspartechnologien sollte uns von den Diktaten der Uhr befreien und für mehr Muße sorgen. Statt dessen scheint die Zeit nie zu reichen. Die Zeit, die wir haben, ist in kleinste Abschnitte zerstückelt, jeder im voraus mit Verpflichtungen und Plänen angefüllt. Unser Morgen ist immer schon reserviert, im voraus gebucht. Wir haben selten einen Moment frei. Nicht zielgerichtete oder verplante Zeit, einst eine Hauptstütze, eine Annehmlichkeit des Lebens, ist heute ein Luxus.
Trotz unserer angeblichen Effizienz haben wir im Vergleich mit fast jeder anderen Periode der Geschichte anscheinend weniger Zeit für uns selbst und viel weniger Zeit füreinander. Selbst die Idee, eine Erfahrung auszukosten, ist zum Anachronismus geworden in einer Welt, wo »Sein« weniger wichtig ist als »Werden« und wo Zweckdienlichkeit ein Ersatz für Teilnahme ist.
Wir haben für unsere effiziente Gesellschaft eindeutig einen hohen Preis zahlen müssen. Wir haben unser Leben beschleunigt, nur um weniger geduldig zu werden. Wir sind organisierter geworden, aber weniger spontan, weniger freudig.
Wir sind besser gerüstet, auf die Zukunft zu reagieren, aber weniger fähig, die Gegenwart zu genießen und über die Vergangenheit nachzudenken. Wir haben gelernt, wie man Dinge schneller gewinnt und herstellt, aber letzten Endes beuten wir am Arbeitsplatz unsere Zeit und die der anderen aus und entwerten sie, um die Produktivität zu steigern. Die effiziente Gesellschaft hat die Befriedigung unserer oberflächlichen Bedürfnisse verbessert, aber sie hat uns gezwungen, distanzierter, selbstversunkener und in Beziehungen mit anderen manipulativer zu werden.
Der Wunsch besonders der westlichen Welt, in rasendem Tempo zu produzieren und zu konsumieren, hat zur Erschöpfung unserer natürlichen Schätze und zur Verschmutzung unserer Biosphäre geführt. Der Reproduktions- und Recyclingrhythmus der Natur selbst ist durch das Doppeldiktat von wirtschaftlicher Effizienz und Geschwindigkeit so völlig überfordert, daß die irdischen Ökosysteme nicht länger imstande sind, Rohstoffe so schnell zu regenerieren, wie sie erschöpft werden, oder Abfall so schnell wiederzuverwerten, wie wir ihn produzieren.
Die Statistik erzählt die düstere Geschichte, die auf der einen Seite wild entschlossen Zeit spart und auf der anderen die Zukunft zerstört. Die meisten von uns haben die Warnungen der Unheilspropheten abgetan, weil wir von Natur optimistisch sind oder unsere Zügellosigkeit nicht aufgeben wollen.
Doch das Wuchern der Atomrüstung, die Massenvernichtung von Pflanzen- und Tierarten, vergiftetes Wasser, verpestete Luft und erodiertes Land dienen als ständige, gefährliche Erinnerung daran, daß im Namen des Fortschritts von heute der Zukunft Tribut abgefordert wird.
Während das Tempo des modernen Lebens immer schneller geworden ist, haben wir immer mehr das Gespür für die biologischen Rhythmen der Erde verloren und können keine enge Verbindung mit der natürlichen Umwelt erleben.
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Die menschliche Zeitwelt ist nicht länger verbunden mit Ebbe und Flut, der aufgehenden und untergehenden Sonne, dem Wechsel der Jahreszeiten. Statt dessen hat die Menschheit eine künstliche Zeitumgebung geschaffen, interpunktiert durch mechanische Apparate und elektronische Impulse: eine Zeitebene, die quantitativ, schnell, effizient und vorhersehbar ist.
Die Moderne ist gekennzeichnet durch einen prometheischen Geist, eine rastlose Energie, die sich auf Geschwindigkeitsrekorde und Abkürzungen stürzt; sie denkt nicht an die Vergangenheit, kümmert sich nicht um die Zukunft, existiert nur für den Augenblick und auf die schnelle. Die irdischen Rhythmen, die einen mehr pastoralen Lebensstil kennzeichneten, sind beiseite gefegt, um Raum zu machen für das Überholgleis einer urbarnsierten Existenz. Verloren in einem Meer ständigen technischen Wandels, finden sich moderne Männer und Frauen immer stärker der ökologischen Choreographie der Erde entfremdet.
Wir haben uns heute mit zeitsparendem technischem Schnickschnack umgeben, nur um von Plänen überwältigt zu werden, die nicht ausgeführt werden können, Verabredungen, die nicht einzuhalten, Stundenplänen, die nicht zu erfüllen, Fristen, die nicht zu bewältigen sind. Gerade da die Gesellschaft sich außerstande sieht, die Zeitanforderungen der Moderne einzuholen, wird seltsamerweise eine neue, schnellere Technik in die populäre Kultur eingeführt — eine Technik, die unser Zeitgefühl über alles hinaus zu beschleunigen droht, was wir in der kurzen Zeit der Moderne erlebt haben.
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Wahrscheinlich wird der Computer im nächsten halben Jahrhundert einen revolutionären Wandel in der Zeitorientierung mit ermöglichen, so, wie die Uhren dies vor mehreren hundert Jahren taten, als sie den Prozeß einleiteten, in dem nichtautomatische Zeitanzeiger als wichtigste Werkzeuge der Gesellschaft zur Zeiteinteilung abgelöst wurden. Die neue Computertechnik ist schon im Begriff, unsere Begriffe von Zeit zu verändern, und dabei verändert sie unser Denken über uns selbst und die Welt um uns. Wir treten in eine neue Zeitzone ein, die radikal anders ist als alles, was wir in der Vergangenheit erlebt haben.
So anders ist die neue Computer-Zeittechnik, daß sie den Kontext für das Aufkommen einer neuen Sprache des Geistes und eines veränderten Bewußtseinszustandes schafft, so, wie die automatische Uhr es im dreizehnten Jahrhundert tat, als sie dem Zeitalter des Mechanismus und dem Gespenst des Uhrwerk-Universums Tor und Tür öffnete. Wenn es schwerfällt, den Computer als etwas zu sehen, das eine neue Zeitorientierung einführt und von gleicher historischer Bedeutung ist wie die Uhr, so vielleicht deshalb, weil Futuristen, Wirtschaftsführer und Technologen das neue Werkzeug bisher in rein materiellen Begriffen definiert haben.
Es ist nicht ungewöhnlich, zu hören, daß der Computer mit dem Aufkommen der Dampfmaschine verglichen wird. Die Dampfmaschine ersetzte die Muskelkraft durch eine unbelebte Form der Energie und führte zur industriellen Produktion. In ähnlicher Weise wird argumentiert, der Computer vervollständige den menschlichen Geist mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz und führe zu dem, was Futuristen das postindustrielle oder das Zeitalter der Information nennen. In ihrer Eile, die ökonomischen Vorzüge der neuen Computertechnik zu preisen, haben es die Futuristen versäumt, einen tiefgreifenderen, wichtigeren Zweck zu erkennen, den die Funktionsprinzipien des neuesten menschlichen Kunstprodukts implizieren.
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Die Bedeutung des Computers geht weit hinaus über das riesige Ausmaß materieller Vorteile, die er zu bewirken verspricht. Unter all den materiellen Projektionen lauert eine neue zeitliche Projektion, und hier, in diesem zeitlichen Bereich, wird die Zivilisation die langfristige Wirkung des Computers am deutlichsten zu spüren bekommen. In nur zwei Jahrzehnten ist der Computer in jeden Aspekt unserer Kultur eingedrungen und hat unseren Lebensstil gewandelt. Man schätzt, daß bis 1990 fast 50% aller amerikanischen Arbeiter einen elektronischen Terminal benutzen werden. Außerdem werden etwa achtunddreißig Millionen Terminals an Arbeitsplätzen in Büros, Fabriken und Schulen im Einsatz sein.
Fast vierunddreißig Millionen Haushalte werden, so wird erwartet, im nächsten Jahrzehnt Heimcomputer haben, und weitere sieben Millionen transportable Terminals werden in Gebrauch sein.1 Computer werden rasch zur Massenware; sie halten Einzug in jeder Ecke und Ritze des modernen Lebens. Sie verändern die Art, wie wir arbeiten, spielen, uns verständigen und gesellig sind. Sie verändern unsere Umwelt und unsere Beziehung zu ihr. Und das Wichtigste: Sie verändern unsere Beziehung zur Zeit.
Der Computer führt eine neue Zeitperspektive ein, und mit ihr eine neue Sicht der Zukunft. Wir sind so daran gewöhnt, die Zeit an der Uhr abzulesen, daß unser Geist bei der Aussicht rebelliert, eine ganz andere Form der Zeitbestimmung anzunehmen. In diesem Anfangsstadium ist es schwierig, sich die volle Bedeutung einer Verschiebung der Zeitmessung von Uhr zu Computer klarzumachen oder auch nur vorzustellen, doch eine Untersuchung der unterscheidenden Merkmale dieses neuen Zeitmessers ergibt einen Schlüssel zu den Veränderungen des Zeitbewußtseins, die auf uns zukommen. Zunächst einmal mißt die Uhr Zeit in bezug auf menschliche Wahrnehmbarkeit.
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Es ist möglich, eine Stunde, eine Minute, eine Sekunde, sogar eine Zehntelsekunde zu erleben. Der Computer hingegen arbeitet in einem Zeitrahmen, in dem die Nanosekunde die hauptsächliche Zeiteinheit ist. Die Nanosekunde ist eine Milliardstelsekunde, und obwohl eine Nanosekunde theoretisch denkbar ist und obwohl Zeit für diese Dauer manipuliert werden kann, ist es nicht möglich, sie zu erleben. Dies markiert einen radikalen Wendepunkt in der Art, wie Menschen sich auf Zeit beziehen. Nie zuvor ist Zeit in einer Geschwindigkeit jenseits der bewußten Wahrnehmung organisiert worden.
Der Autor Tracy Kidder beschreibt, wie sich ein Computer-Ingenieur auf Nanosekunden bezieht:
Ich fühle mich sehr wohl dabei, über Nanosekunden zu sprechen. Ich sitze an einem von diesen Analysatoren, und Nanosekunden sind lang. Ich meine, man kann sie vorbeigehen sehen. Jesus, sag ich, dies Signal braucht zwölf Nanosekunden, um von da nach da zu kommen. Das ist was richtig Großes für mich, wenn ich einen Computer baue. Aber wenn ich es bedenke, wieviel länger es dauert, mit den Fingern zu schnippen, dann weiß ich nicht mehr, was eine Nanosekunde wirklich bedeutet (das Schnippen eines Fingers entspricht dem Vorbeigehen von 500 Millionen Nanosekunden).2
Wenn wir nun mit den Computern der fünften und sechsten Generation zu tun bekommen, wird dieser neue Zeitbegriff eine Vielzahl neuer Probleme schaffen. Computer des einundzwanzigsten Jahrhunderts werden wahrscheinlich in der Lage sein, in Nanosekundenzeit über eine breite Palette von Tätigkeiten zu entscheiden. Wenn viel von der Entscheidungsarbeit der Gesellschaft unter der Schwelle menschlichen Bewußtseins stattfindet, so wird soziale Zeit, wie die Uhr sie mißt, bedeutungslos.
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Die im Computer bearbeiteten Ereignisse existieren in einem Zeitbereich, den wir niemals werden erfahren können. Die neue »Rechenzeit« (Anm. d. Ü.: engl, »computime«) stellt die endgültige Abstraktion der Zeit und ihre völlige Trennung von menschlicher Erfahrung und den Rhythmen der Natur dar. Viele Menschen erleben den Unterschied zwischen der Welt der Rechenzeit und der Uhrzeit zum erstenmal, wenn sie Videospiele spielen. Der Soziologe Sherry Turkle hat Videospieler befragt und gefunden, daß das Gefühl der Zeitintensivierung und Gedrängtheit von den Benutzern oft als fesselnde Eigenschaft der Computerspiele genannt wurde. »Das Spiel ist unnachgiebig in seiner Forderung, daß jede andere Zeit stillsteht und daß der Spieler volle Verantwortung für jede Handlung übernimmt...«.3
Computerspiele ziehen den Benutzer in den ausschließlichen Zeitrahmen hinein, den das Programm aufstellt. Die Geschwindigkeit wird vom Spiel bestimmt. Wie Turkle ausführt, gehört »der Rhythmus des Spiels zur Maschine; das Programm entscheidet«.4 Anders als Flipperspiele oder gar eher statische Spiele wie Monopoly, bei denen der Spieler die verschiedenen Zeitelemente beeinflussen oder manchmal sogar beherrschen kann, muß sich der Benutzer bei Computerspielen total dem Tempo des Programms unterwerfen. Wie ein Zwölfjähriger in einem Interview mit Turkle bemerkte, muß man dem »Herzschlag« des Computers zuspielen, um beim Spiel erfolgreich zu sein.5 Das Endziel bei den meisten Computerspielen besteht dann, mehr Zeit zu bekommen. Jeder hoffnungsvolle Videospieler träumt vom vollkommenen Spiel, dem Spiel, das ewig dauert.6 Zeit ist bei Computerspielen ein Hintergrund, ein Rohstoff und ein Preis, alles in einer und derselben Verpackung.
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Die wirklich guten Videospieler können die Uhrzeit und ihre eigene, subjektive Zeit ausblenden und sich völlig in die Zeitwelt des Spiels versenken. Bei Videospielsüchtigen ist es eine normale Erfahrung, daß sie Stunden vor dem Apparat verbringen, ohne das geringste Gefühl für das Vergehen der Uhrzeit. Laut Craig Brod, einem der zahlreicher werdenden Psychologen, die sich auf computerbezogene Krankheiten spezialisiert haben, klagen »Leute, die mit Computeranwendern leben, ohne Unterschied, daß Auseinandersetzungen über Zeit eine Hauptquelle für Reibereien sind«.7
Langzeit-Computeranwender leiden oft unter dem ständigen Hin und Her zwischen zwei Zeitwelten. Je mehr sie in die neue Zeitwelt des Computers verstrickt werden, desto weniger können sie sich den zeitlichen Normen und Standards der traditionellen Kultur der Uhr anpassen. Sie werden zu Opfern einer neuen Form von Zeitschizophrenie, weil sie zwischen zwei deutlich unterschiedenen Zeitorientierungen steckenbleiben.
Psychologen und Soziologen haben begonnen, die Wirkungen des neuen Computer-Zeitbegriffs auf die Einzelperson wie auf die Gesellschaft als Ganzes zu untersuchen. Ihre Befunde sind zwar bislang noch Vorergebnisse, doch sie zeigen an, daß der Kampf um sich wandelnde Zeitorientierungen durchaus zu einem zentralen sozialen Thema des nächsten Jahrhunderts werden kann. In seinem neuen Buch mit dem passenden Titel Silicon Sbock zieht der Informatiker Geoff Simons eine interessante Analogie, die die enorme Geschwindigkeit der Computerzeit faßbar macht:
Stellen Sie sich vor... zwei Computer sprechen eine Zeitlang miteinander. Dann werden sie von einem Menschen gefragt, worüber sie sprechen, und in der Zeit, die er braucht, um diese Frage zu stellen, haben die beiden Computer mehr Wörter ausgetauscht als alle Menschen insgesamt, seit der Homo sapiens vor zwei oder drei Millionen Jahren zuerst auf der Erde erschien.8
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Laut Craig Brod und anderen Psychologen haben sich viele Menschen so an den neuen, beschleunigten Zeitrahmen des Computers gewöhnt, daß sie ungeduldig mit den langsameren Geschwindigkeiten geworden sind, mit denen sie sich in der alltäglichen Uhrenkultur auseinandersetzen müssen. In klinischen Fallstudien haben Psychologen beobachtet, daß Computer-Zwangsneurotiker wesentlich intoleranter gegenüber Verhaltensweisen sind, die irgendwie uneindeutig, abweichend oder sprunghaft sind.
In ihrer Interaktion mit Ehepartnern, Familie und Bekannten sind sie oft kurz angebunden und ziehen einfache ja-nein-Antworten vor. Sie sind ungeduldig gegenüber Gesprächen mit offenem Ende und fühlen sich unwohl mit Menschen, die nachdenklich oder meditativ sind. Computer-Zwangsneurotiker verlangen Kürze und sehen soziale Kontakte als Mittel zum Zweck; sie interagieren mit anderen nur, um nützliche Informationen zu sammeln und auszutauschen. Vor allem legen sie hohen Wert auf effiziente Kommunikation. Deshalb, sagt Brod, »ziehen sie es vor, mit Menschen zu kommunizieren, die >systemgebildet< sind, um Information rasch zu vermitteln. Menschen, die langsam sprechen oder sich allgemein ausdrücken, werden gemieden oder ignoriert«..
In Arbeitssituationen finden Computer-Zwangsneurotiker es ausnehmend schwierig, zwischen der Welt der Computerzeit und der langsameren Welt der Uhrzeit hin- und herzuschalten. In Zulieferbetrieben beginnen Experten der Qualitätskontrolle festzustellen, daß die computerbeschleunigte Interaktion zwischen Personal und Kunden ihre Wirkungen zeigt.
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Die ersteren klagen, die mündlichen Antworten der Kunden seien zu stockend und ungenau, es dauere oft Minuten, bis man von Kunden die notwendige Information bekomme, die in Sekunden vom Computer verarbeitet werden könne. Die Kunden werden gehetzt, sollen kurz und genau sein, damit die zur Transaktion nötige Information rasch vom Computer verarbeitet werden kann.
Computer-Zwangsneurotiker ertragen nicht leicht Unterbrechungen, wenn sie mit dem Computer im »Interface« sind. Jedes Eindringen droht ihre Konzentration und ihr umgeformtes Zeitbewußtsein zu unterbrechen. In ihrer neuen Zeitwelt sind sie in Programme verstrickt, die in Nanosekunden gemessen werden, während die Außenwelt versucht, sie an die Oberfläche der »Realität« und ihre traditionellen Zeitpläne von Minuten und Stunden zurückzuziehen. Diese Zeitpioniere werden unruhig— ihr Wunsch ist es, in das neue Zeitreich vorzudringen und Versuchen, sie in den konventionellen Zeitrahmen zurückzuzwingen, zu widerstehen.
Im Büroalltag fühlen sich Computer-Zwangsneurotiker oft unwohl bei ausgedehnter Interaktion mit Menschen und meinen oft, Versammlungen, Konferenzen und Verabredungen unterbrächen »ihre Mission, Code zu generieren und intensiv mit einem Programm zu arbeiten«.10 Ein Programmierer in einer großen Software-Firma sagt, seiner Meinung nach seien Personalversammlungen und Geselligkeit mit anderen Angestellten lästig, und ist oft ärgerlich über Unterbrechungen seiner Arbeit. Er erklärt seine Empfindungen mit Hilfe eines vielsagenden Vergleichs. »Es ist, wie wenn man mit jemandem schläft«, sagt er über das Programmieren. »Wenn man mit jemandem schläft, möchte man nicht unterbrochen werden.«"
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Computerzeit ist noch in einer anderen Hinsicht von der Uhrzeit verschieden. Die Anthropologie der Zeit ist reich und mannigfaltig, doch in jeder uns bekannten Kultur war das Zentrum der zeitlichen Ordnung in menschlichen Beziehungen die Interaktion von Angesicht zu Angesicht. Natürlich ist es wahr, daß die menschliche Familie im Lauf der letzten viertausend Jahre immer raffiniertere Hilfsmittel entwickelt hat, um Kommunikation aus der Entfernung zu ermöglichen. Schrift, Buchdruck und Fernmeldetechnik haben die Notwendigkeit der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht gemindert. Jede dieser Revolutionen in der Kommunikation hat unser Zeitgefühl radikal verändert. Doch in jeder Kultur bis heute war die zeitliche Ordnung vor allem um die Interaktion von Angesicht zu Angesicht zentriert, wobei andere Kommunikationsformen als Ausweitungen dieser Interaktion existierten. Jetzt droht die Computertechnik diese Prioritäten zu ändern, indem sie Kommunikation und Zeitorganisation in einem Gerät zusammenlegt.
Der Computer ist eine Kommunikationsform wie Schrift, Druck und Telefon, doch er ist auch ein Zeitwerkzeug, wie die Wanduhr. Als Kommunikationsform ermöglicht er es, daß Menschen in eine Vielfalt täglicher Aktivität treten, ohne jemals in engen Kontakt zu kommen. Mit Konferenzschaltungen, elektronischem Briefkasten und Terminals im Büro, für zu Hause und unterwegs besteht weniger Bedarf an persönlicher Interaktion, um die Zeitenfolge, Dauer, Rhythmik und Geschwindigkeit des modernen Lebens zu ordnen. Als Zeitmesser bildet der Computer auch neue, beschleunigte Anforderungen an menschliches Verhalten. Weil er größere Kontrolle über den Fluß der Kommunikation zwischen Menschen beansprucht und die zeitlichen Dimensionen dieses Kommunikationsflusses gewaltig beschleunigt, kann der Computer persönliche Interaktionen ersetzen.
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In der Gesellschaft der Zukunft werden die Menschen immer mehr »durch« den Computer miteinander kommunizieren und über ihn die verschiedenen Zeitdimensionen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ordnen.
Das Gefühl der Isolation, das das Aufkommen des Computers mit sich gebracht hat, macht sich schon bemerkbar. Die Menschen brauchen den Computer sowohl als Kommunikationsform wie als Zeitrahmen, in dem sie mit ihren Mitmenschen in Beziehung treten, und dabei finden sie es immer schwieriger, sich wieder von Person zu Person zu verständigen. Psychologen warnen, daß die Menschen die traditionellen zeitlichen Fähigkeiten verlieren, die ihnen enge Beziehungen zueinander ermöglicht haben.
Die Fähigkeit, die richtigen Zeitfolgen des Verhaltens zu erspüren, zu wissen, wie lange Dinge dauern sollten, imstande zu sein, die eigenen Rhythmen denen der Gruppe anzupassen und das individuelle Verhalten mit dem Gruppenverhalten zu synchronisieren, ist erschwert und belastet. Die Psychologen berichten, daß Computer-zwangsneurotische Patienten sich mit Menschen nicht wohl in ihrer Haut fühlen. Es ist, als hätten sie die Fähigkeit eingebüßt, ihr Verhalten anderen Menschen anzupassen. Sie sind nach den zeitlichen Dimensionen der Computerwelt geformt worden; sie treten mit und durch ihr neues Werkzeug in Beziehung zu ihren Mitmenschen. Der Computer-»Freak« ist jüngst zu einem bekannten Archetyp der populären Kultur geworden. Er wird als ein Individuum porträtiert, das zu schnell spricht, andere unterbricht, in kurzen, abgehackten Sätzen redet, Trugschlüsse zieht und den Kontakt mit seiner physischen Umwelt verloren hat. Hinter dieser Parodie vom zwanghaften Computeradepten liegt das Problem des neuen Zeitbewußtseins.
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Der Computerfreak hat den Zeitrahmen der Computerwelt so gründlich in seine Psyche und Persönlichkeit integriert, daß er unfähig ist, mit dem sequentiellen Verhalten, den Normen der Zeitdauer, Rhythmen, Zeitplänen und Koordinationsmustern der noch dominierenden Uhrenkultur effektiv zu interagieren.
Craig Brod gibt einen Bericht vom Verhalten eines Spitzen-Computerexperten an einer Universität der amerikanischen Westküste, den er Dr. McCarthy nennt und der gewöhnlich abrupte Gespräche mit Kollegen führt:
Ein Forscher hatte einen Satz beendet und drehte sich zu McCarthy um, um seine Antwort zu hören. Aber McCarthy war verschwunden. Zwei Tage später stand der Forscher in der Nähe der gleichen Stelle. McCarthy kam ohne Gruß auf ihn zu und nahm das Gespräch mitten im Gedankengang wieder auf.12
Brod sagt, daß McCarthys Gefühl für sequentielles und duratives Verhalten immer gängiger unter Computerleuten wird, die »mit anderen ausschließlich in Begriffen des Informationsaustausches kommunizieren« und sich dabei wenig um traditionelle Höflichkeitsnormen scheren.13 Die Art Verhalten, die McCarthy seinem Kollegen gegenüber zeigte, ist nicht viel anders als die Art, wie viele Computerexperten mit ihrer Maschine kommunizieren. Die folgende Darstellung des »wait State« und des »time-sharing« (Wartezustand und Zeitteilen) gibt einen Einblick in die Art, wie McCarthy und andere mit Zeitfolge und Zeitdauer umgehen. Im Computerjargon bezieht sich »wait State« auf die Zeit, in der der Zentralprozessor keine nützliche Arbeit leistet. Weder erhält noch vermittelt er Daten, er »faulenzt« einfach und wartet auf eine neue Aufgabe.
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Computerexperten ist die bloße Idee des Faulenzens zuwider, und deshalb sorgen sie dafür, daß der Prozessor »gleichzeitig an mehreren Programmen arbeitet und jedem nach Bedarf für den Bruchteil einer Sekunde ungeteilte Aufmerksamkeit widmet«.,4 Diese Technik heißt »time-sharing«: Wenn einem Programm zeitweilig die Daten ausgehen oder wenn es die Antwort eines menschlichen Anwenders an einer Tastatur benötigt, wartet der Prozessor nicht auf die möglicherweise langsame Antwort. Schließlich bedeuten die zehn Sekunden, die ein menschlicher Anwender vielleicht zum Antworten braucht, selbst für einen Minicomputer Millionen von Additionen. Statt dessen geht er weiter zum nächsten Programm und kommt periodisch zum ersten zurück, um zu sehen, ob dort nun wieder etwas zu tun ist.15
McCarthy wandte bei seinem Kollegen das Prinzip des wait State und des time-sharing an; dabei suspendierte er sein »interface« achtundvierzig Stunden lang, um seinem Gegenüber Zeit zu geben, die neue Information zu verarbeiten. Dann kehrte er genau zu der Stelle zurück, an der er den Kontakt abgebrochen hatte, um die inzwischen gesammelte, neue Information einzuholen und zu verarbeiten. Auf seine Art war die Zeit auf die wirtschaftlichste mögliche Weise genützt, ohne daß beim Prozeß des Austausche Zeit verloren worden war.
Da die Menschen ihre täglichen Geschäfte zunehmend mit dem Computer erledigen, geht die Menge der persönlichen Interaktionen radikal zurück, und die Geschwindigkeit sozialen Handelns wird sehr beschleunigt. Das Ergebnis, so sagt Geoff Simons in Silicon Shock, ist »die schrittweise Zerstörung des zwischenmenschlichen Kontakts, das Verschwinden des traditionellen sozialen Umgangs, die Projektion eines neuen Modells für menschliches Leben, in dem der einzelne statt mit Menschen mit Computerterminals arbeitet und spielt«.16
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Eine Studie des amerikanischen Instituts für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin von 1981 berichtet: »Büroangestellte, die mit dem Computer arbeiten, leiden mehr an Streß als jede andere Berufsgruppe, einschließlich der Fluglotsen.«17 An Uhr und Stundenplan gewöhnte Arbeitnehmer stellen sich nicht leicht auf die neue Zeitwelt von Computern und Programmen um. Der Widerstand der Arbeitnehmer war weit verbreitet, doch er hat nicht die explosive Stärke erreicht wie zu Beginn des industriellen Zeitalters, als an Landwirtschaft gewöhnte Arbeiter auf die zeitliche Starrheit der Fabrik-Uhrzeit umgeschult wurden.
Hin und wieder taucht in den Schlagzeilen eine Story von Computer-motivierter Gewalt auf - ein Arbeiter sabotiert ein raffiniertes Computerprogramm oder zerstört Computeranlagen, die Millionen wert sind. Zumeist aber ist der Widerstand gegen Computer bislang eher psychisch als physisch gewesen, eher passiv als aktiv. Dennoch machen die Arbeitgeber sich Sorgen. Ein Großteil der heutigen Arbeitnehmer fühlt sich nicht wohl mit der neuen Technik und zögert— abgesehen von den Computer-Zwangsneurotikern -, sie mit der grenzenlosen Begeisterung aufzugreifen, die ihre Urheber erwartet hatten.
In dem Bemühen, das Problem anzugehen, haben Arbeitgeber und Softwarehersteller begonnen, der Beschwichtigung der öffentlichen Sorge eine Menge Zeit und Geld zu widmen. Eine Lawine von Büchern hat den Markt überrollt und versucht, Arbeitnehmer und Verbraucher zu überzeugen, daß die neue Technik »benutzerfreundlich« sei. Großfirmen stellen immer mehr hausinterne Programme auf, die den Übergang in die neue Computerwelt gezielt erleichtern sollen. Wenn alles andere nicht fruchtet, werden die Arbeitnehmer gewarnt, wenn sie sich weigerten, sich auf die neue Technik einzustellen, würden sie wahrscheinlich ihren Arbeitsplatz verlieren.
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»Computerkenntnisse«, sagt man ihnen, seien wesentlich für die Sicherheit des Arbeitsplatzes und der Beförderung in der Informationsgesellschaft. Selbst bei all den sorgfältig geplanten Umschulungskursen, den hilfreichen, inspirierenden Anleitungsbüchern, den Hochglanz-Werbekampagnen, den wohldurchdachten Marketingstrategien, den unterschwelligen und weniger unterschwelligen Drohungen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes bleiben viele Arbeitnehmer ängstlich, verschlossen und skeptisch gegenüber den Segnungen des Computers. Sie finden es schwierig, den Computer in ihr Leben zu integrieren - oder genauer: ihr Leben in den Computer zu integrieren.
Wie in der Frühzeit der industriellen Revolution wenden Arbeitgeber und Amtsträger ihre Aufmerksamkeit wieder der Kindererziehung zu, weil sie begreifen, daß sie ihre Hoffnung auf eine effektive Arbeitnehmerschaft auf die nächste Generation setzen müssen. Computerunterricht wird mit missionarischem Eifer in das Schulsystem eingeführt. In Amerika waren 1980 nur eine Handvoll Grund- und Sekundärschulen mit Computern und Computerunterricht ausgestattet. Bis 1990 ist zu erwarten, daß praktisch jede Schule im Land mit der neuen Technik ausgerüstet ist. Das gesamte Bildungssystem wird umgemodelt, um diese neueste Technik zu integrieren. Die langfristige Wirkung auf die Lern- und Denkweise der Kinder, so sagen Bildungsfachleute, wird wahrhaft revolutionär sein. Die ersten Kinder des Computerzeitalters werden bald willige, eifrige Arbeitskräfte für die Informationsgesellschaft abgeben - eine Arbeitnehmerschaft, die mit dem Computer aufgewachsen sein wird und seine Sprache als ihre erste Sprache versteht.
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Für diese Arbeitnehmer des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird der Computer kein lästiges Anhängsel sein. Vielmehr wird er ein notwendiger und wichtiger Bestandteil ihres Lebens sein. Diese Arbeitnehmer werden sich erfolgreich in die Zeitwelt der Computer und Programme integriert haben, und dies so sehr, daß der neue Zeitrahmen nicht hinterfragt wird. Er wird für sie so natürlich scheinen wie uns heute die Uhren- und Stundenplankultur.
Hersteller von Informationstechnik wissen um das große Potential des Schulsystems, sowohl als Markt zum Verkaufen wie als Übungsgelände zum Rekrutieren der nächsten Generation von Arbeitnehmern, und so haben sie enorme Mittel in die Entwicklung von Schul-Software investiert. Jerry Mander vom Public Media Center erläutert die Wirkung dieser Entwicklung:
Wenn... [die Firmen] die Computerprogramme liefern können, mit denen jeder Jugendliche interagiert, speziell in Abwesenheit von Menschen, die diesen Prozeß mildern könnten, werden wir einem gleichgemachten Wissensfeld weit näher kommen, das enger ist als das heutige und zu den Werten der Firmen paßt."
Erziehungswissenschaftler erforschen jetzt die Wirkung des Computers auf die zeitbezogene Entwicklung von Kindern; ihre Befunde legen bereits nahe, daß die nächste Generation begonnen hat, nach einem ganz anderen Takt zu marschieren. Zunächst einmal neigen Computerkinder dazu, auf neue und andere Weise das Gefühl für die Uhrzeit zu verlieren. Ein Zwölfjähriger erklärt seinen Verlust normalen Zeitgefühls in einem Vergleich mit einem Traumzustand. Er sagt, im Computer drinzustecken sei wie »Einschlafen und denken, man hätte nur eine Viertelstunde geschlafen, aber wirklich hat man die ganze Nacht geschlafen. Man versucht, herauszufinden, wo die Zeit geblieben ist. Sie ist im Computer geblieben.«"
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Craig Brod sagt, die meisten Eltern und Lehrer hielten die intensive Beziehung zum Computer irrtümlich für eine psychische »Sucht«, doch tatsächlich sei es gar keine Sucht, sondern eine Zeitverwerfung. Laut Brod »hat das Kind seine Zeitmessung umgestellt« auf den Zeitrahmen des Computers.:c
Wenn Kinder vor allem mit dem Computer kommunizieren, rasen Sequenzen, Zeitlängen und Rhythmen vorbei und erfordern ein ständiges Konzentrationsniveau, das weit über das hinausgeht, was Kinder normalerweise erleben, wenn sie in konventionellen Anordnungen Fähigkeiten erlernen. Das Kind wird auf die Zeitorientierung seines künstlichen Kameraden trainiert statt auf die organischere Zeitorientierung der anderen Kinder und Lehrer. Man betrachte zum Beispiel das Programm LOGO, vielleicht das bekannteste Lernprogramm für kleine Kinder. Mit LOGO kann ein Kind einen Schwärm Vögel programmieren und ihn dann auf dem Bildschirm in Bewegung setzen. Das Kind folgt der Bewegung der Vögel, betrachtet aufmerksam die Art, wie sie mit den Flügeln schlagen, wie sie sich bewegen.
Doch wie John Davy in seiner Kritik des LOGO-Programms anmerkt, ist dies nicht die gleiche Erfahrung, die das Kind bekäme, wenn es einen Schwarm Vögel in der Natur beobachtete. Auf dem Bildschirm ist die zeitliche Orientierung der Vögel vom Programm festgelegt. Das Kind verschmilzt mit einem Satz künstlicher Sequenzen, Zeitlängen, Rhythmen und synchronisierter Aktivitäten und Muster. Wie Davy bemerkt, sind dabei »keine Gerüche, kein Geschmack, kein Wind oder Gesang von Vögeln, keine Verbindung mit Erde, Wasser, Sonnenlicht, Wärme, keine echte Umwelt...«.21 Alle Signale der Umwelt, die für die Bildung alltäglicher Zeitfähigkeiten so wesentlich sind, fehlen völlig.
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Harriet Cuffaro gibt eine weitere Illustration des anderen Zeittrainings beim Lernen mit Computer, im Gegensatz zu experimentellem Lernen in einer nichtsimulierten Umgebung. Sie verwendet das Beispiel eines parkenden Autos. Wenn ein Kind Klötzchen als Spielzeug verwendet, um ein Auto zu parken, werden seine zeitlichen Fähigkeiten sich ganz anders entwickeln, als wenn es Computersymbole benutzt. Bei den Klötzchen »muß die Augen-Hand-Koordination des Kindes es auch mit dem Qualitativen aufnehmen, mit der Struktur der Oberfläche, auf der das Auto bewegt wird, und mit der Entsprechung von Garagentor und Breite des Autos«.22
Cuffaro merkt an, daß »solche Komplexitäten auf zweidimensionalen Bildschirmen nicht existieren«.23 Einen Wagen auf dem Computerbildschirm parken ist reines Agieren in einem Vakuum, »Bewegung ohne Kontext...«. Bei der Kind-Monitor-Interaktion fehlen die »räumlichen Bewegungen, die typisch für Kinder sind, wenn sie direkt mit der Umwelt interagieren«.24 Diese räumlichen Bewegungen bei der Interaktion mit anderen Phänomenen der lebensgroßen, wirklichen Welt haben traditionell die zeitlichen Fähigkeiten von Kindern geformt. In der Vergangenheit hat symbolisches oder abstraktes Lernen in der Kindererziehung immer im Vordergrund gestanden. Der Unterschied durch das Aufkommen der neuen Computertechnik besteht darin, daß die Symbole nun belebt sind und den Anschein von Wirklichkeit erwecken. Das Computerlernen beginnt, indem es simulierte Natur, elektronische Vögel und Blumen an Stelle der tatsächlichen Dinge setzt, experimentellem Lernen vorauszugehen und es zu ersetzen.
Kinder, die einmal in die Zeitwelt des Computers eingetaucht sind, sind oft unfähig, sich wieder auf die langsamere Zeitwelt der Uhrenkultur umzustellen.
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Dies ist nirgends offensichtlicher, als wenn gelernt werden soll, wie man nachdenkt — eine der wesentlichen Zeitfähigkeiten, die in der Kultur der Uhr gelehrt werden. Nachdenken ist zu langsam und einengend, zu statisch und fad; es paßt zur alten Zeitwelt, wo das Gedächtnis wichtig war. In der Computerwelt ist das Nachdenken so kurz wie ein Tastendruck. Für lange Zeitspannen zu reflektieren wirkt unökonomisch und unnötig auf ein Kind, das sich daran gewöhnt hat, die Vergangenheit als einen Code anzusehen, der im Handumdrehen abgefragt werden kann, wenn vergangene Information zur Erfüllung eines augenblicklichen Bedürfnisses nötig ist.
Aus diesem Grund ist Bücherlesen für das begeisterte Computerkind besonders unattraktiv. Beim Lesen muß sich das Kind Zeit nehmen, um über die Geschichte nachzudenken. Es muß sich in Charakter und Handlung hineinversetzen und sich dann periodisch distanzieren, um zu bedenken, was geschehen ist, wie es die laufende Handlung beeinflußt und was daraus wahrscheinlich wird. Bücherlesen verlangt Momente aktiven Engagements, verwoben mit nachdenklichen Pausen. Computer hingegen erfordern konstantes Engagement. Die Aufmerksamkeit des Kindes darf niemals von der unmittelbaren Handlung abschweifen, die sich auf dem Bildschirm entfaltet. Ein Dreizehnjähriger drückte es so aus: »In einem Computer macht man es tatsächlich selbst, statt über etwas zu lesen, das geschieht.«25
Natürlich ist dies eine seltsame Art aktiver Beteiligung, weil die Welt, in der das Kind engagiert ist, eine totale Kunstwelt ist, in der Zeitfolgen, Zeitdauern und Rhythmen rein geistige Konstrukte sind, fern vom Geschehen der Außenwelt. Bücher sind nicht die einzige Komponente der traditionellen Schulumgebung, die der neuen Computer-Zeitwelt zum Opfer fällt.
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Kinder klagen auch, die Lehrer seien zu langsam und umständlich im Vergleich zu ihren Computer-Lernbegleitern. So sagt ein neunjähriger Junge: Atari-Programme sind dufte! Sie kommen auf den Monitor und sagen, was du tun sollst. Sie machen es einfach. Lehrer reden langsamer als Atari, manchmal machen sie mich wütend. Ich denke: »Na los, ich will zu Atari zurück. Es sagt mir die Sachen schneller als du.«26
Je tiefer das Kind in die Mikroweit der elektronischen Schaltkreise und Programme eintaucht, desto mehr entfremdet es sich von der Zeitdimension der natürlichen Ordnung; es zieht es vor, innerhalb des künstlichen Zeitrahmens zu leben, den der Silikonchip vorgibt.
Jerry Mander erfaßt die enorme Tragweite des Verlustes für künftige Generationen: »Die Natur bewegt sich fast gar nicht« im Vergleich zur Computer-Zeitwelt. Es braucht ein Höchstmaß an Ruhe, um Dinge wahrzunehmen, die in der Natur vor sich gehen, und ich fürchte, wir bringen vielleicht eine Generation von Leuten hervor, die zu schnell sind, um sich auf die langsameren, natürlichen Rhythmen einzustellen.27
Diese stark beschleunigte Zeitorientierung wird im kommenden Jahrhundert jeden Aspekt unserer Kultur tiefgreifend beeinflussen. Zehntausende von Jahren bewahrte sich die Menschheit eine organische Verbindung mit dem Puls der natürlichen Welt. Obwohl schon die frühesten Gesellschaften dem biotischen und astronomischen Zeitrahmen, der die Welt und das Universum ordnet, ein soziales Zeitgefühl aufzupfropfen suchten, ist die menschliche Familie niemals weit von den Periodizitäten der Natur oder des Kosmos abgeirrt. Bis zur Moderne anerkannte jede Zeitauffassung eine innige Beziehung zwischen den Rhythmen des gesellschaftlichen Lebens und den Rhythmen der irdischen Ökosysteme.
Unsere Vorfahren verließen sich auf die wichtigen zeitlichen Ereignisse in der Natur, beobachteten aufmerksam die wechselnden Jahreszeiten und die wechselnden Konstellationen der Sterne am Himmel. Die Menschen maßen Zeit in bezug auf natürliche Phänomene: die Zeit des Hahnenschreis, die Zeit der wandernden Sonne, die Zeit der Mondphasen, die Zeit von Ebbe und Flut, die Zeit, in der die Schlange sich häutet, die Zeit, in der der Saft in den Bäumen steigt, die Zeit, in der die Bienen den Nektar sammeln, die Zeit, in der die Vögel fortziehen, und die Zeit, wenn sie wiederkommen.
Während unser biologisches Leben weiterhin auf die unveränderten Rhythmen der natürlichen Welt eingestellt ist, ist unser gesellschaftliches Leben immer mehr an den Nanosekunden-Zeitrahmen des Computers angepaßt worden. Die immer weiter werdende Kluft zwischen natürlicher und sozialer Zeit bereitet eine dramatische Auseinandersetzung um zeitliche Entscheidungen und Prioritäten in den kommenden Jahren vor. Um die Elemente dieses aufkommenden Konflikts besser zu verstehen, ist es wesentlich, daß wir der Biologie der Zeit unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Die Natur hat ihre eigene Zeitorientierung, ein mannigfaltiges Labyrinth von Rhythmen und Tempi, das die physische und die biologische Welt zu einem synchronisierten Zeitgewebe integriert. Es ist unmöglich, das volle Ausmaß unserer zeitlichen Entfremdung in der neuen Nanosekunden-Kultur zu begreifen, ohne zuvor die uralten biologischen Rhythmen zu untersuchen, die das Zentrum unserer Existenz selbst beleben.
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