Vorwort
Von Günter Rohrmoser 1994
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Die Lage spitzt sich zu. Deutschland befindet sich an einem geschichtlichen Wendepunkt. Umkehr oder Niedergang, diese von vielen als fatal empfundene Alternative ist das Gesetz, nach dem alle politischen, moralischen und kulturellen Kräfte um eine Neuorientierung unseres Landes ringen.
Die Krisenphänomene, durch die alle Bereiche unseres öffentlichen und privaten Lebens bestimmt sind, verdichten sich zu dem Verdacht, daß wir es mit katastrophenträchtigen Entwicklungen zu tun haben könnten:
Die Krise der Demokratie wirft den Schatten Weimars auf unser Land.
Die Krise der Vereinigung provoziert die Gefahr einer neuen, wenn auch anders gearteten Spaltung.
Die Krise des Europagedankens kann den Traum eines vereinigten, gemeinsam um seine Selbsterhaltung sich mühenden Europa begraben.
Der durch den Zusammenbruch des Sozialismus vielleicht nur vorübergehend beendete Ost-West-Konflikt wird durch eine noch viel größere Herausforderung, durch den Nord-Süd-Konflikt, abgelöst.
Die Renaissance des islamischen Fundamentalismus wirft Europa auf den Kampf um seine innere geistige und kulturelle Identität zurück.
Das sozialdemokratische Zeitalter, von dem Ralf Dahrendorf gesprochen hat, neigt sich nun doch wohl seinem Ende zu.
Die Krise des Sozialstaates beraubt Deutschland der integrativen Kraft, der es seinen inneren Zusammenhalt verdankt.
Der Verlust nationaler Identität erzeugt einen neuen Nationalismus, der nach dem bewußt gewollten und herbeigeführten Ende eines aufgeklärten und selbstkritischen Konservativismus zurWiederkehr faschistischen Denkens führen kann. Dieser Nationalismus verändert schon jetzt unser Parteiensystem.
Die Spätfolgen der neomarxistischen Kulturrevolution der 60er Jahre münden in die hegemoniale Herrschaft eines ebenso libertären wie quasitotalitären Liberalismus, der unserer Demokratie die Kraft zu einer geistig-politischen Innovation nimmt. Der Zusammenbruch des totalitären Sozialismus bedeutet keineswegs den Triumph des Liberalismus, sondern stürzt ihn in eine Krise, die die Erinnerung an Weimar wachruft. Züge kultureller und moralischer Dekadenz werden unübersehbar.
Die Religion ist wieder ein Faktor der Weltpolitik, während sich in Deutschland der Prozeß der Entchristlichung mit dramatischer Beschleunigung fortsetzt.
Die Politik hat die Fähigkeit zur Steuerung all dieser sich krisenhaft zuspitzenden Probleme offensichtlich verloren. Vielmehr sind die Politiker selbst ratlos und wissen nicht, wohin sie führen sollen. Die Erosion aller im sozialistisch-kapitalistischen Zeitalter mächtigen Ideologien beraubt die Politiker ihrer Fähigkeit zur Führung und Orientierung.
Die geistige Wende, einst Bestandteil der üblichen Überbaurhetorik, ist nunmehr ein Überlebensimperativ. Ohne einen aus seiner Selbstkritik und seinen besten Traditionen sich erneuernden Konservativismus wird es keine Antwort auf den sittlichen und kulturellen Verfall geben können.
Voranschreitende Liberalisierung scheint selbst die Krankheit zu sein, für deren Therapie sie sich hält. Der Liberalismus unserer Art ist mit seinen Möglichkeiten am Ende. Er wird überwältigt von seinem eigenen Erfolg, wie es Marx schon für den Kapitalismus prognostiziert hatte.
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Gerade weil es um die Bewahrung der klassisch-liberalen, für eine moderne Gesellschaft unverzichtbaren Prinzipien geht, darf ihm das Feld nicht länger allein überlassen bleiben. Es gibt keinen Fall in einer Krise der liberalen Demokratie, in der er sich wie Münchhausen hätte am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können.
Steht der Sozialismus nach seinem Scheitern als Alternative wenigstens vorerst nicht mehr zur Verfügung, ist das Entstehen einer Neuen Rechten fast unaufhaltsam. Will man aber weder die linke noch die rechte Lösung, dann muß man einen selbstkritischen Konservativismus wollen, der fähig und bereit ist, aus seinen Fehlern zu lernen. In Situationen einer geschichtlichen Krise von dem Ausmaß der gegenwärtigen ist der eines konservativen Korrektivs und Gegenhalts ermangelnde Liberalismus verloren.
Das Unglück, ja, Verhängnis der Bundesrepublik ist die von der Vergangenheitsbewältigung herrührende Gewohnheit, das, was nicht links, liberal oder beides zugleich ist, als rechts, rechtsextremistisch, als faschistisch, ja, als nazistisch zu bezeichnen. Die politische Kultur hat offenbar keine Sprache, in der man artikulieren könnte, was nicht jeder sowieso schon weiß und was er daher für einzig richtig und darum allein demokratisch legitim hält. Die sogenannte Politikverdrossenheit ist nur eine Widerspiegelung des tieferliegenden Verlustes einer den Politikern und Bürgern gemeinsamen Sprache. Dabei ist in der Ökologiekrise offen für jeden erkennbar, was nunmehr etwas anderes verlangt als die Gepflogenheiten und Üblichkeiten einer sich für progressiv haltenden Politik.
Die These vom Ende der Geschichte wird nicht mehr durch das Ende des Sozialismus und die erneute Krise des Liberalismus provoziert, sondern vor allem durch die apokalyptische Ängste auslösende Umweltkrise, die ein ungesteuertes Fortschreiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation bewirkt. Es ist der Katastrophencharakter geschichtlicher Gegenwart, der die Fragen der Religion von neuem stellen läßt. Angesichts dieser Herausforderung sind wir alle Konservative oder werden es wohl morgen sein. Es ist die Geschichte selber, die den Konservativismus auf ihre Tagesordnung gesetzt hat.
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Zu dem Ringen, in dem es um eine zukunftsfähige Gestalt des Konservativismus geht, will dieses Buch einen Beitrag leisten. Der alte, der auch der neue Konservativismus zu werden droht, muß sein Verhältnis zu den Prinzipien des klassischen Liberalismus und zur christlichen Herkunft überprüfen und revidieren. Politisch und aktuell zielt das Buch daher auf eine sich geistig und kulturell neu konstituierende rechte Mitte, ohne die — wovon sich jeder täglich überzeugen kann — unsere Demokratie ernsthaft gefährdet ist.
Einen liberalen Konservativismus hat es nach dem Kriege nur faktisch, aber nicht theoretisch begründet gegeben. Helmut Schmidt war auch konservativ und Franz Josef Strauß war auch liberal. Dieser durch Personen repräsentierten Synthese verdankt die alte Bundesrepublik ihre Stabilität und ihren Erfolg. Mit der Preisgabe der rechten Mitte hat die Union den Weg in ihren Niedergang angetreten.
Dieses Buch wirbt für die Maxime, daß wir umkehren müssen, wenn wir vorankommen wollen.
So paradox wie die Formel ist unsere Situation. Weimar kann und wird sich nicht wiederholen. Aber zu dem denkbar größten Übel gibt es immer ein weniger großes, das aber schlimm genug sein kann. Ende des Liberalismus hat im Kontext unserer Überlegungen eine eingeschränkte, aber präzise Bedeutung, die nicht der Autor, sondern die geschichtliche Lage definiert. Nach Jaspers »Geistiger Situation der Zeit« und Freyers »Theorie des gegenwärtigen Zeitalters« geht es um den Versuch, die politische und geistige Signatur am Ende unseres Jahrtausends zu analysieren.
Der größte Teil des Manuskriptes geht auf einen Dialog zurück, den der Verfasser in den letzten beiden Jahren mit den unterschiedlichsten Gruppen der Gesellschaft geführt hat. Diese haben die Veröffentlichung gewünscht. Daher ist der Charakter der mündlichen und spontanen Rede nicht getilgt worden. Ich hoffe, daß dies dem Verständnis förderlich ist.
Ohne die kluge und aufopferungsvolle redaktionelle Bearbeitung, die mein Assistent, Michael Grimminger, vorgenommen hat, wäre dieses Buch so nicht entstanden. Ihm gebührt daher mein besonders herzlicher Dank. Ebenso danke ich meiner Sekretärin, Frau Haar, und meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Andreas Hergaß.
Die tragenden Themen sind der Untergang des Sozialismus, seine Gründe und Ursachen, seine Folgen für den Marxismus im ganzen, die Grenzen des Liberalismus, die Krise der Politik, des Rechts- und Sozialstaates, der Erziehung, die Folgen der Kulturrevolution, die nationale Frage, die philosophischen Aspekte der Ökologie, der Wertezerfall, die Agonie des Christentums und die Fragen, die das mögliche Ende der Geschichte aufwerfen.
Gewidmet ist dieses Buch, wie alle meine Publikationen, meiner Frau, die intensiv an seiner Entstehung Anteil genommen und alle Mühen geduldig mitgetragen hat.
10-11
Hohenheim, Pfingsten 1994