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Teil 1 :  Die Lage 

 

Zusammenbruch des Sozialismus — Krise des Liberalismus?

 

1. Ende des Sozialismus.

    Krise des Liberalismus? 

 

 

13-30

Man kann natürlich daran zweifeln, ob es ein Privileg ist, Zeuge so tiefgreifender, dramatischer und zweifellos auch epochaler welthistorischer Prozesse zu sein, wie wir es gegenwärtig sind. Man kann aber ohne Übertreibung sagen, daß man dieses Privileg nur selten in der Geschichte hat.

Immer wieder wird die Frage gestellt, ob die gegenwärtigen Umbrüche eine Dimension erreichen, wie wir sie nur alle Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte erleben. Einige vertreten sogar die Auffassung, daß wir in Kategorien von Jahrtausenden rechnen müssen, um der ganzen Tiefe dieses gegenwärtigen Wandels ansichtig zu werden.

Möglicherweise vergessen wir aufgrund der zu großen Nähe zu diesen Ereignissen, daß nicht nur die ökonomischen und politischen Realitäten des Lebens sich grundlegend verändern, sondern daß mit solch tiefgreifenden geschichtlichen Prozessen auch immer das verbunden ist, was man den Zusammenbruch von Weltbildern nennen kann. Es ist ein untrügliches Zeichen von revolutionärer Qualität, daß im Zusammenhang solcher Prozesse auch Weltbilder vergehen.

Die Ereignisse seit dem Jahre 1989 haben in der Tat weltbildumstürzende Folgen. Wir widmen dieser Gegebenheit noch immer nicht die nötige Aufmerk­samkeit, die der Sachverhalt verdient. Wenn Weltbilder zusammenstürzen, stimmen ganze Begriffswelten nicht mehr. Stimmen aber die Begriffe nicht, dann versagt die Sprache zur Deutung unserer historischen Lage, und hat man nicht die nötigen Kategorien zur Verfügung, um eine neue Wirklichkeit und neue Realitäten erfassen zu können, dann kann man natürlich auch nicht geistig und politisch orientieren. Und wenn man nicht orientieren kann, dann kann man das nicht leisten, was in solchen Zeiten am meisten gefordert wird: Man kann nicht führen.

Die Philosophen sind vielleicht die einzigen, die über solche geschichtlichen Prozesse glücklich sein können, weil dies üblicherweise die Hoch-Zeiten der Philosophie sind. Die Philosophie war immer am größten in Zeiten welthistorischer Krisen. Und Philosophie verstand sich schon zu Platons Zeiten als eine Art Krisenmanagement. Die Philosophen könnten, ja, müßten sogar Orientierungskrisen-Experten sein.

Im Angesicht der zahlreichen, sich akkumulierenden Ereignisse, die wir gegenwärtig erleben, ist fast unserem Gedächtnis entschwunden, was der Auslöser all dieser Prozesse war: der Zusammenbruch des existierenden oder, wie Helmut Schmidt sagte, des vegetierenden Sozialismus. Es ist keineswegs selbst­verständlich, daß wir nach diesem Ereignis zur Tagesordnung übergehen, als sei dieses von Historikern und Politologen schon immer für die nahe Zukunft erwartet worden.

Genau das Gegenteil ist der Fall. 

Noch vor wenigen Jahren waren sich die ganze politische Klasse und — was schlimmer ist — auch die intellektuellen Vordenker der Nation darin einig, daß von einem bevorstehenden Zusammenbruch des Sozialismus überhaupt keine Rede sein könnte. Allenfalls sei eine sich über Generationen erstreckende Evolution mehr zu erhoffen als zu erwarten. Man hoffte, daß sich eines Tages das sozialistische System von selbst mutieren werde, daß dann eine echte Koexistenz zwischen den östlichen und westlichen »Systemen« eintreten werde. Diese Sichtweise gehörte fast zu den unbezweifelten Dogmen westlicher sozialwissenschaftlicher Interpretation dieses Phänomens. Und unsere Politiker folgten im wesentlichen dieser Interpretation der Sozialwissenschaftler. Auch sie sagten noch vor wenigen Jahren, die deutsche Einheit sei eine Sache der Geschichte; vor hundert Jahren könne im Ernst nicht damit gerechnet werden.

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Es ist schon eine merkwürdige Sache, wenn immer wieder von der »Geschichte« geredet wird, einer Geschichte, die dies oder jenes herbeiführen und bewirken werde. Karl Marx, den ich hier gerne zitiere, hat mit Recht gegen eine solche Redeweise eingewandt, die Geschichte sei »keine aparte Person«, an die man irgendwelche Aufgaben oder die Lösung von Problemen delegieren könne, wenn man selbst keine Lösungen hat oder auch an einer Lösung nicht interessiert ist, sondern die Geschichte sei nichts anderes als das Resultat dessen, was Millionen Individuen aus ihrem Denken heraus wollen und tun.

Was ist mit dem real existierenden Sozialismus eigentlich zusammengebrochen? 

Die gängige These lautet, daß ein zentrales Verwaltungswirtschaftssystem, eine staatlich gesteuerte, kontrollierte, bürokratisch verwaltete Wirtschaft nicht funktionieren konnte und darum früher oder später zusammenbrechen mußte. Wir waren mit Recht überzeugt, daß eine weitgehend freie Wirtschaft im Hinblick auf die Effizienz einer zentral gesteuerten, geplanten und verwalteten Wirtschaft überlegen ist. Diese These wurde durch die Realität tatsächlich bestätigt, denn ohne die ökonomische Ineffizienz des existierenden Sozialismus hätten wir sicherlich noch länger auf dieses Ereignis warten müssen.

Auch die DDR wäre an ihrer ökonomischen Ineffizienz total gescheitert und hätte katastrophal geendet, wenn »die Geschichte« der DDR noch zwei oder drei Jahre gelassen hätte. Vielleicht wäre das sogar besser gewesen, weil wir viele der Folgeprobleme dann psychologisch besser verstanden und behandelt hätten, als wir es jetzt noch tun, wenn Apologeten des Sozialismus und des alten Systems glauben machen, daß nicht der Sozialismus, sondern der Einbruch des Kapitalismus in die sozialistisch organisierte Idylle die Ursache für die ungeheuren Probleme sei, mit denen wir es jetzt zu tun haben.

Die zweite These bezüglich des Zusammenbruchs des Sozialismus lautet: Es ist eine Utopie gescheitert. Die Herstellung einer klassenlosen Gesellschaft, einer Gesellschaft der Gleichen und der Freien, die darüber hinaus noch die sozialistische Grundtugend, die Solidarität, in der Form der Brüderlichkeit voll verwirklichen wird, haben wir — zweifellos mit Recht — für eine Utopie gehalten.

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Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, sich daran zu erinnern, daß die sozialistische Gesellschaft nichts anderes wollte, als die großen Ideale der bürgerlichen Französischen Revolution, nämlich die Postulate der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, zu verwirklichen. Wenn man sagt, der Sozialismus sei an seinem utopischen Charakter zugrunde gegangen, dann sagt man damit nichts anderes, als daß er zugrunde gehen mußte. Denn es gehört zum Begriff, zum Wesen der Utopie, daß die Verwirklichung einer zeit- und raumlosen, dem phantasierenden Gedanken entspringenden Konstruktion, also der Versuch einer Umsetzung in die Wirklichkeit, a priori zum Scheitern bestimmt ist. Es gehört zum Begriff der Utopie, daß sie nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann.

Die folgende dritte These berührt uns mehr, und sie führt daher zwangsläufig zu kontroverser Beurteilung. Aber diese These ist für das Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschland, auch für die vorstellbaren Lösungsansätze unserer gegenwärtigen Probleme, von einer entscheidenden theoretischen Bedeutung. Es geht in dieser These um die Frage, ob mit dem Untergang des existierenden Sozialismus der Sozialismus als solcher endgültig untergegangen, ob durch den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus der Sozialismus in allen seinen denkbaren Varianten dementiert und widerlegt worden ist oder ob erst jetzt der Versuch eines diesmal authentischen, demokratischen Sozialismus das Gebot der Stunde ist. Ich warne davor, zu glauben, daß die unsägliche Misere, die der Sozialismus hinterlassen hat, bereits als eine Widerlegung der sozialistischen Idee verstanden werden kann.

Der Sozialismus hat wegen seines Rekurses auf den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit immer beansprucht, eine der großen, formierenden Menschheits­ideen gewesen zu sein. Es ist daher wichtig zu wissen, daß eine Idee durch bloße Fakten — und mögen sie noch so krude und dem Anspruch der Idee entgegengesetzt gewesen sein — als solche noch nicht widerlegt ist. Selbst das Christentum, das keine Idee ist, aber von vielen als solche verstanden wird, oder andere große Bewegungen weltanschaulicher oder religiöser Art sind nie durch die Fakten allein widerlegt worden, für die sie doch auch zeitweilig verantwortlich gewesen sind.

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Unser ehemaliger Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, hat uns in einer bedeutsamen Rede an der Universität Zürich — ausgerechnet zum Zeitpunkt des Mauerfalls — daran erinnert, daß der Kapitalismus die Idee des Sozialismus in Zukunft dringender denn je brauchen werde. Der Kapitalismus habe Defizite, und es müsse in der Gesellschaft eine Kraft geben, die den Kapitalismus ständig auf seine Defizite aufmerksam macht und ihn reform- und lernfähig hält. Das ist eine sehr erstaunliche These, denn er suggeriert, es seien überhaupt keine anderen geistigen Traditionen und Kräfte vorstellbar, die in der Lage sein könnten, ein gesellschaftliches System auf seine Defizite hinzuweisen und es reform- und lernfähig zu halten.

Keiner der großen Nationalökonomen und deutschen Soziologen des 19. Jahrhunderts, die ihre Kritik am Sozialismus bereits formuliert hatten, ehe der Sozialismus überhaupt auf der geschichtlichen Tagesordnung stand, hätte daran gedacht, daß der Kapitalismus zu seiner Korrektur und zur Erhaltung seiner Lernfähigkeit ausgerechnet auf den Sozialismus angewiesen sein könnte. Wir haben eben vergessen, was in der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahr­hunderts schon alles gedacht worden ist, und wir ließen das alles im Schatten einer etwas vulgären, durch den Marxismus geförderten materialistischen Betrachtung mit der ganzen deutschen Geistesgeschichte untergehen.

Meine These ist, daß eine Idee — wenn wir den Sozialismus als Idee verstehen wollen — erst überwunden ist, wenn der Glaube an diese Idee in den Herzen der Menschen erlischt. Womöglich ist die Idee des Sozialismus in den Herzen der Menschen Osteuropas unwiederbringlicher erloschen als in vielen Herzen der Menschen der alten Bundesrepublik Deutschland. Solange es für bleibende, vom Marxismus zumTeil richtig identifizierte Probleme keine andere Antwort gibt, wird der Sozialismus immer wieder eine erneute, verführerische Faszination entfalten können. Wenn es keine besseren Ideen, wenn es nicht eine bessere Philosophie gibt als die, auf deren Boden der Marxismus errichtet war, wird ein Wiedererstarken sozialistischer Bewegungen nur eine Frage der Zeit sein.

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Bisher hatte es die westliche Welt einfach, ihre Existenz zu rechtfertigen und ihren Sinn deutlich zu machen. Es genügte der ständige Hinweis auf die Wider­legung jeder Alternative durch den existierenden Sozialismus. Wir haben geistig, ideologisch und damit auch politisch in einem Ausmaß auf Kosten der Existenz des Sozialismus gelebt, daß wir noch gar nicht realisiert haben, welche Folgen es haben muß, wenn wir zum Ausweis unserer eigenen Existenz­berechtigung nicht mehr auf die ganze unsägliche Misere eines existierenden Sozialismus hinweisen können. 

Die westliche Gesellschaft steht damit vor einer unerhörten philosophischen Herausforderung. Der Liberalismus muß sich nun aus und durch sich selbst begründen und rechtfertigen. Es steht kein Buhmann mehr zur Verfügung. Der Verweis auf den maroden Sozialismus ist bisher auch eine Art Denkersatz gewesen. Ich habe häufig in den letzten Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, daß man nicht nachdachte, weil der Sozialismus den Sinn und die Richtigkeit des eigenen Modells vor Augen zu führen schien. Dies gibt es nun nicht mehr.

Daher müssen wir die Frage noch tiefer ansetzen. Was ist denn nun an diesem Sozialismus das Moment gewesen, das ihn von allen anderen mehr evolutionär, mehr reformerisch vorgestellten Formen der Verwirklichung des Sozialismus unterschied?

Der Sozialismus ist mit dem Willen angetreten, etwas zu schaffen, was es in der geschichtlichen Vergangenheit nie gegeben hat: einen »Neuen Menschen«, den sozialistischen Menschen. Hierin liegt seine utopische Qualität. Der Sozialismus wollte in der Tat einen Menschen mit ganz neuen Bedürfnissen, mit einer ganz neuen Ethik und einer neuen Lebensform hervorbringen. Dieser Mensch sollte den Materialismus, Egoismus und Individualismus, der für die westliche, sogenannte liberalkapitalistische Gesellschaft typisch ist, ein für allemal überwinden. Der sozialistische Mensch sollte die Differenz zwischen individuellem Interesse einerseits und Allgemeininteresse andererseits hinter sich lassen.

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Der neue Mensch werde seine Erfüllung in der Besorgung des Allgemeininteresses sehen, so wie der Staat unter der Inspiration der Philosophie des Marxismus-Leninismus und vertreten durch das Politbüro es interpretierte. Die Faszination, die von diesem sozialistischen Modell ausging, war die Verheißung, daß die ganze Geschichte mit ihren unendlichen Leiden überwunden werde und daß im Sozialismus nun eine Macht in dieser Geschichte wirksam würde, die die wahre Humanität allein repräsentiere und auf deren Boden sich eines Tages die ganze Menschheit vereinigen werde.

Diese Konzeption des neuen, sozialistischen Menschen ist ohne das Christentum nicht zu verstehen. Die Rede vom neuen Menschen ist ein Spezifikum und ein zentraler Inhalt des Neuen Testaments. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß der Marxismus über Utopie und Wirtschaftssystem hinaus nichts anderes war als eine Form der Religion der Moderne. Seine ungeheuere Kraft, in bestimmten Zeiten auch kollektive Glaubenskräfte zu mobilisieren, hängt zentral damit zusammen, daß er eine Ersatzreligion war.

Der existierende Sozialismus hat auch immer die Funktionen einer Religion erfüllt. Die Verheißung dieser Religion war der »Neue Mensch«. Wenn diese Religion, an der viele andere Ideologien in der immer wieder als säkular dargestellten Moderne partizipiert haben, wirklich überwunden werden soll, wird seine geistige, reale Überwindung natürlich nur durch die Etablierung einer anderen religiösen oder quasireligiösen Kraft möglich sein. Ansonsten bliebe nach dem Verlust jedweden Glaubens nur der intellektuelle Zynismus und in letzter Konsequenz der Nihilismus übrig.

Auch die gewaltigsten ökonomischen Aufbauleistungen in den neuen Bundesländern werden an diesem tiefgründigen Nihilismus, den die zusammengebrochene Religion des Sozialismus bisher hinterlassen hat und den der Liberalismus bisher nicht auszufüllen im Stande war, ja, dessen authentische Gestalt er womöglich selbst ist, nichts ändern. Darum dürfen wir uns nicht wundern, daß wir überall eine neuaufbrechende nostalgische Sehnsucht nach dem untergegangenen Sozialismus erleben.

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Wenn wir an bestimmte Vorgänge in den übrigen Teilen Osteuropas denken, könnte es durchaus sein, daß, wenn der westliche Kapitalismus seine Versprechungen und Verheißungen nicht in einem überschaubaren Zeitraum erfüllt, im Ernst die Frage neu gestellt werden könnte: Sollten wir es nicht doch noch einmal mit Sozialismus versuchen, diesmal mit neuen Methoden und mit andern Organisationsformen? Sollten wir die Leiche nicht noch einmal aus dem Keller holen und sie neu auferstehen lassen?

Der Sozialismus entwickelt nicht aus sich selbst diese Faszinationskraft, sondern dies ist die Folge der Alternativlosigkeit zu einem als morbid empfundenen liberalen System, das nichts anderes kennt als die sinnlose und noch dazu ungerecht verlaufende materielle Reproduktion. Für Visionen und Perspektiven fühlt der liberale Kapitalismus sich nicht zuständig, sondern dafür, daß die Kasse stimmt. Aus all diesen Gründen ist es so wichtig, daß wir diesen Zusammen­bruch des Sozialismus nicht vergessen, sondern noch einmal die Frage stellen: Woran ist er denn eigentlich gescheitert?Was ist denn der entscheidende Grund gewesen?

Wir im Westen haben an seinen Zusammenbruch nicht geglaubt. Noch vor gut zwanzig Jahren, als Richard Nixon 1972 in Moskau war, haben die Vereinigten Staaten der Sowjetunion die Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit als der zweiten großen Hegemonialmacht der Welt bescheinigt. Durch diese Erklärung hatte die Sowjetunion ihr wichtigstes Ziel erreicht, das sie über Jahrzehnte mit einer bewundernswerten Ausdauer und Konsequenz verfolgt hatte. Und es ist nicht einmal zwanzig Jahre her, daß der damalige amerikanische Außenminister Kissinger prognostizierte, es werde vermutlich nur noch fünfzehn Jahre dauern, bis der Marxismus auch Westeuropa erobern würde.

Und vergessen wir nicht die gewaltige Faszination, die der Marxismus auf die Intellektuellen Frankreichs und Deutschlands ausübte. Leonid Breschnew soll einmal gesagt haben, Anfang der neunziger Jahre werde Deutschland der Sowjetunion in den Schoß fallen wie ein reifer und fauler Apfel. Diese Sicht war gar nicht so aus der Luft gegriffen, wenn wir uns einmal vorstellen, daß damals an großen deutschen Universitäten der Marxismus eine Art Doktrin war.

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Ich vergesse es nicht, daß ich als Ideologe des Kapitalismus bekämpft wurde, weil ich für die Menschenrechte eintrat. Die Idee der Menschenrechte, so sagten mir die Marxisten, sei eine kleinbürgerliche Ideologie, die von den Kapitalisten am Leben gehalten werde, weil sie in ihrem Interesse liege.

Es ist manchmal gut, sich zu erinnern und sich noch einmal das Bild einer Bundesrepublik Deutschland vor Augen zu führen, in der am greifbaren Horizont der Zukunft das Modell des wahren, den Menschen befreienden Sozialismus aufgetaucht war. Allein schon aus diesem Grunde sollten die Westdeutschen mit mehr Selbstkritik und Nachsicht auf die Menschen in den neuen Bundesländern sehen, die immerhin Gelegenheit hatten, den verkündeten Sozialismus am eigenen Leibe zu erleben. Das Ausmaß an geschichtlichem Vergessen, an Selbstgerechtigkeit und Heuchelei, mit dem heute so getan wird, als hätte es damals einen seiner eigenen Werte und Tugenden und Prinzipien bewußten Westen gegeben, der standgehalten hätte gegenüber den Versuchungen, die vom Sozialismus ausgingen, ist eine reine Legende. 

Und darum die Frage: Woran ist der Sozialismus denn nun gescheitert? 

Er ist letztlich nur an und durch sich selbst zugrunde gegangen. Es war eine Implosion. Er ist in sich zusammengefallen, so wie ein Kartenhaus oder ein Haus, das immer morscher wird und dessen Fundamente sich auflösen, nach innen zusammenfällt. Und inwiefern ist er an sich selbst gescheitert? Wenn wir noch einmal die Analysen nachlesen, die Michail Gorbatschow, nachdem er 1985 an die Spitze des Politbüros trat, zur Begründung der Reform vorgetragen hat, dann finden wir die Antwort darauf. Denn die erste und wichtigste Feststellung Gorbatschows war immer die, daß der existierende Kommunismus geronnen sei zu einem immobilen, einem bewegungsunfähigen und damit zu einem sich selbst blockierenden und lähmenden System. Der Kommunismus hatte die Fähigkeit zur Innovation verloren. Die Analysen, die die Wissenschaftler der Sowjetunion über die Fehler und Mängel des Systems anstellten, und ihre Therapie­vorschlage nutzten gar nichts, denn das System war gegen die Veränderung organisiert. 

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Es war nicht mehr innovationsfähig. Es war nicht mehr lernfähig. Einsichten, so dringend sie schienen, zeitigten keine praktischen Folgen mehr. Das ist ein Faktum, daß uns brennend interessieren müßte, weil es sein könnte, daß nicht nur das kommunistische, sondern auch unser liberales gesellschaftliches System sich in einem solchen Zustand wiederfinden könnte, daß es sich so gegen jede Veränderung organisiert und daß die Erfüllung der wichtigsten Überlebens­imperative — selbst wenn die Einsichten da sind — gar nicht zu verwirklichen sind.

Aber Michail Gorbatschow wies noch auf etwas anderes hin. Er sagte, daß die tiefste Ursache des erbärmlichen Zustands des Sozialismus nichts anderes als die Krise des moralischen Bewußtseins sei. Das ist eine ganz erstaunliche Feststellung, denn nach marxistischer Terminologie ist Moral nur ein ohnmächtiger Reflex im individuellen und kollektiven Bewußtsein einer Gesellschaft, in der im übrigen die ehernen Notwendigkeiten sozioökonomischer Strukturen herrschten.

An diesem Punkt zeigt sich übrigens, wie sehr auch im Westen das vulgärmarxistische Denken Platz gegriffen hat. Denn auch für uns ist Moral kaum mehr als eben ein Reflex gesellschaftlicher Bedingungen. Wenn wir heute nach den Ursachen moralisch bedenklicher Entwicklungen und Ausbrüche fragen, fragen wir ebenfalls zuallererst nach den gesellschaftlichen Ursachen, und in der Regel finden wir — ebenso wie die Marxisten — den Grund in den unbefriedigenden sozialen Verhältnissen. So war es nach den ausländerfeindlichen Anschlägen in Deutschland einhellige Meinung, daß die jugendlichen Gewalttäter nur die Produkte sozial unerträglicher Verhältnisse sein können. Erst später hat sich herausgestellt, daß für die meisten nichts Derartiges zutrifft, sondern daß sie meistens aus dem relativ bessergestellten deutschen Bürgertum kamen.

Um so wichtiger ist es, zu erkennen, daß auch Gorbatschow im Bruch mit der ganzen sozialistischen Lehre der Meinung war, daß der Verfall der Moral im existierenden Sozialismus die entscheidende Ursache für seinen Untergang war. Was meint er damit? 

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Er meint, daß der Geist der persönlichen Verantwortung, also die Bereitschaft, Verantwortungen mit Risiko zu übernehmen und Entscheidungen mit Risiken zu treffen, abgestorben sei. Es war niemand mehr bereit, Verantwortung zu übernehmen, in Führungspositionen Entscheidungen zu treffen.

In diesen Zusammenhang gehört auch Gorbatschows Klage über den Verfall der Arbeitsmoral, die astronomische Höhe der Kriminalität und die Ausbreitung der Volksseuche des Alkoholismus in seinem Land. Der Sozialismus ist gescheitert, weil ihm trotz dieser Einsicht in den inneren moralischen Verfallszustand als der eigentlichen Ursache auch seiner ökonomischen Ineffizienz kein systemkonformes Mittel zur Verfügung stand, um diesem moralischen Verfall zu begegnen und ihn zu überwinden.

Wir wissen heute, welcher geistigen Kräfte es bedurft hätte, um überhaupt den Verfall als einen solchen identifizieren und qualifizieren zu können. Außer dem Appell an den russischen Nationalismus und der Erinnerung an die große weltgeschichtliche Mission der damaligen Sowjetunion war keine geistige Kraft da, aus der heraus man gegen den moralischen Verfall hätte ankämpfen können. Die Sowjetbürger haben jedenfalls an die Welterlösungsidee des Sozialismus längst nicht mehr geglaubt.

Wenn wir die gegenwärtige Situation in Rußland zur Kenntnis nehmen, müssen wir feststellen, daß die Probleme, die der untergegangene Sozialismus hinterlassen hat, noch weit davon entfernt sind, gelöst zu werden. Die Frage, ob sich auch aus dem Untergang des Kommunismus in Rußland eine Demokratie nach westlichem Modell, eine liberale Marktwirtschaft entwickeln wird, ist eine Hoffnung, vielleicht nur ein Traum. Es ist — zumal nach den Parlaments­wahlen im Dezember 1993 — eher unwahrscheinlich, daß sich Rußland in diese Richtung bewegen wird. Es ist zu befürchten, daß wir dem gleichen Fehler zum Opfer fallen, dem wir damals auch bei der Einschätzung der Überlebenschancen des Kommunismus zum Opfer gefallen sind.

Warum aber haben wir die Überlebensfähigkeit des Sozialismus damals zum Teil so radikal falsch eingeschätzt? 

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Warum hatten wir ein Bild von der Realität in diesen Ländern, das mehr mit unseren Wunschvorstellungen als mit der dort herrschenden Realität zu tun hatte? Einen der wichtigsten Gründe dafür können wir heute nennen: weil die westlichen Sozialwissenschaften aus ihrem Horizont und Bewußtsein die Dimension der Geschichte weitgehend eliminiert hatten. Sie hatten damit kein Organ mehr dafür, welches die letztlich geschichtlich bewegenden und mächtigen Kräfte sind, die über Bestehen oder Untergang von Völkern und Gesellschaften entscheiden.

Es könnte sein, daß wir in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland inzwischen an der gleichen partiellen Blindheit leiden, nämlich dem phantastischen Glauben, man könne das innere Schicksal von Gesellschaften, Nationen, Kulturen und Völkern mit soziologischen Kategorien allein erfassen.

Die Lage Rußlands zeigt eine erstaunliche Übereinstimmung mit der Krise der Demokratie in Weimar. Es gibt in der Tat viele Züge, in denen die Krisenlage in Rußland mit der Krise der Weimarer Republik übereinstimmt. Die Analogie reicht bis zu dem Punkt, daß in Rußland zu dem von manchen gewollten und erhofften, von anderen befürchteten Scheitern eines liberalen Rußland sich das unheilvolle Bündnis von Altkommunisten und Neonationalisten, also eine Art National-Sozialismus, als denkbare Alternative für den Fall des Scheiterns der Reformer, ein liberales, demokratisches und dem Rechtsstaat verpflichtetes Rußland zu schaffen, anbahnt.

Die Prozesse in Rußland betreffen uns Deutsche hautnah. Wir sind aber so sehr auf das Projekt »Europa« fixiert, daß wir nicht hinreichend die schicksal­hafte Bedeutung der Entwicklungen in Rußland für uns erkennen. Wir würden mit einem ganz anderen Geist, einem anderen Interesse an dem, was sich jetzt in Rußland vollzieht, Anteil nehmen, wenn uns dies bewußt wäre. Wir haben die einmalige Chance, den in der Vergangenheit so außerordentlich fruchtbaren geistig-kulturellen Dialog zwischen Russen und Deutschen, der über viele Jahre zu einer engen Symbiose geführt hat, neu zu knüpfen. So wichtig es ist, auf absehbare ökonomische Zukunftschancen in Rußland hin zu investieren, diese Investitionen werden nichts nützen, wenn wir nicht auch geistig in das neue Rußland investieren.1) 

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Das Stichwort Weimar löst fast zwanghaft bei uns die Assoziation aus, daß auch die Situation bei uns in Deutschland immer wieder mit Weimar verglichen wird. »Weimar«, dieser Begriff steht für das erstmalige Scheitern des Liberalismus auf deutschem Boden. Die Stimmen derer, die Deutschland auf Weimarer Verhältnisse zuschlittern sehen, nimmt ständig zu. »Der Schatten, der von Weimar auf Deutschland fällt, wird ständig dichter.« (Hildegard Hamm-Brücher) Die Boulevard­presse führt seit Monaten Vergleiche durch, in welchen Punkten unsere Situation an Weimar erinnert oder sich annähert.

Ich sage hier ganz deutlich: 

Bonn ist nicht Weimar und wird auch nicht Weimar sein. Die Vorstellung, daß die Krise und der mögliche Zusammenbruch der parlamentarischen freien Demokratie in Deutschland zu den gleichen Konsequenzen führen würde wie 1933, ist völlig abwegig. Aber ich füge hinzu: Es gibt Formen des inneren Niedergangs einer Demokratie, für die wir keine geschichtliche Parallele haben. Es kann sein, daß auch bei Fortbestehen aller Formen der Demokratie der Geist aus ihr entweicht und eine Art Sumpflandschaft entsteht, in der jeder innovative Ansatz versickert und nichts mehr auf den Weg gebracht werden kann.

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Das ist nur bedingt richtig, denn wir müssen mit Hegel*2) hinzufügen: Die Geschichte wiederholt sich so lange, bis die Lektion, die die Menschen zu lernen haben, gelernt und begriffen ist. Unsere gesamte Weltsituation, nicht nur die Lage in Europa, ähnelt der Konstellation der zwanziger Jahre. Wenn wir uns einmal von unseren überkommenen Denkschablonen befreien, stellen wir fest: Das Europa der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, auch mit den ganzen inneren Bedrohungen und Krisenerscheinungen des Liberalismus, stellt sich heute voll wieder her.

1)  Vgl. Günter Rohrmoser und Anatolij Frenkin: Neues konservatives Denken als Überlebensimperativ. Ein deutsch-russischer Dialog, Frankfurt/M. u.a. 1994. 
2)  Die mit einem Asterisk (*) versehenen Namen und Begriffe aus dem Bereich der Philosophie werden in Anhang erläutert.

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Warum ist das so? Welche Lektion haben wir denn nicht gelernt? Sind die Millionen und Abermillionen Opfer dieser totalitären Zeiten des zwanzigsten Jahr­hunderts absolut sinnlos gewesen? Haben sie alle nur zur Wiederholung der Konstellation geführt, die zu überwinden wir eigenlich angetreten waren?

Jugoslawien ist nur ein herausragendes Beispiel dafür. Die Engländer und Franzosen haben dort genau die Politik gemacht, die sie immer gemacht haben, um die Deutschen vom Balkan fernzuhalten oder eine Gegenkraft gegen unterstellten deutschen Einfluß im Balkan zu errichten. Das ist der politische Hintergrund der Tragödie, die sich gegenwärtig auf dem Balkan abspielt. Das ist neunzehntes Jahrhundert. Und wenn man sich einmal der Aktionen Margaret Thatchers und Francois Mitterrands erinnert, die sie unternommen haben, als die deutsche Einheit sich ankündigte, kommt man zu demselben Schluß. Womöglich haben wir, das ist meine Sorge, die Lektion der Geschichte nicht gelernt, womöglich sind wir im Begriffe, die ganzen alten Fehler zu wiederholen. Wir steuern heute auf die zweite Krise des Liberalismus zu. Erneut ist die Krise des Liberalismus nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen.

Das Gespenst von Weimar ist immer noch nicht gebannt. Eines der Grundaxiome der Bundesrepublik Deutschland lautete einst: In Deutschland wird es nie wieder sechs bis sieben Millionen Arbeitslose geben. Und wenn es sie geben sollte, dann werden wir ein so perfekt ausgebautes Sozialsystem haben, daß auf jeden Fall die in der Weimarer Republik damit verbundene Verelendung nicht eintreten wird. Nun, wir haben zwar noch keine sechs Millionen Arbeitslose, aber Edzard Reuter, der doch auch etwas von diesen Dingen versteht, hält es durchaus für vorstellbar, daß wir in absehbarer Zeit sechs Millionen Arbeitslose bekommen könnten, und zwar unabhängig davon, ob die Konjunktur sich im Verlauf des Jahres 1994 belebt oder nicht.

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Das Problem der Arbeitslosigkeit hat strukturelle Ursachen, und eine Wirtschaftspolitik, die auf eine Veränderung der Strukturen zielte, würde eine Art gesellschaftlicher Revolution in Deutschland bedeuten. Darüber muß man sich völlig im klaren sein. Ohne diese gesellschaftliche Revolution werden wir die Strukturen nicht den neuen Herausforderungen auf dem Weltmarkt anpassen können. Dann aber ist auch nicht mehr an die Finanzierung eines Sozialstaates zu denken, an den wir uns so sehr gewöhnt haben.

Und damit wären wir beim zweiten Problem. Wenn man die Frage stellt: Was hat Deutschland denn innerlich zusammengehalten, was ist der Grund auch für die beispielhaften Leistungen der deutschen Demokratie nach 1945? Es war der Sozialstaat, der eine permanente Umverteilung in Gang gesetzt hat, so daß tendenziell jeder in diesem Lande damit rechnen konnte, daß seine sozialen Wünsche und Bedürfnisse, wenn nicht heute, so doch morgen befriedigt werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat vom Marxismus mehr realisiert als fast jedes andere Land, von den Ländern des real existierenden Sozialismus ganz zu schweigen. Dazu gehörte diese phantastische Form der Lösung der sozialen Frage. Allerdings setzt diese Lösung eine hocheffiziente, wettbewerbsfähige, die Umverteilungsmasse produzierende Wirtschaft voraus.

Heute aber ist die öffentliche Hand mit fast 2000 Milliarden DM verschuldet. Der Sozialstaat wird immer mehr durch Kredite finanziert und nicht durch tatsächlich erbrachte Leistungen. Dieser Sozialstaat — das ist das entscheidende innenpolitische Datum — ist nicht mehr finanzierbar. Wir müssen nicht nur eine Pause einlegen, nein, wir stehen vor einem grundlegenden Neu- und Umbau unseres sozialstaatlichen Systems. Allein schon die demographische Entwicklung wird den Abschied von dieser Art von Sozialstaat und damit von dem Garanten der Stabilität der Bundesrepublik und auch der Demokratie in Deutschland bedeuten.

Wenn ich von der Krise des Liberalismus spreche, dann meine ich vor all den erwähnten Problemen in erster Linie die Krise der liberalen Kultur. 

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Die Exzessivität, mit der wir uns der hegemonialen Dominanz des Liberalismus bis zu seiner Pervertierung zum libertären Liberalismus anheimgegeben und anvertraut haben, hat einen Grad der Individualisierung der Gesellschaft, einen Grad der Herrschaft des Hedonismus, ein Ausmaß an Parzellierung und Fragmentierung der Gesellschaft hervorgebracht, daß uns ständig Symptome der inneren Erosion, ja, der Auflösung der Gesellschaft begegnen. Wir reden dann gerne von »Werteverfall« und »Kulturkrise«. Gemeint ist ein labiler Bewußtseinszustand in der Bevölkerung, der natürlich auch Konsequenzen in der Politik dieses Landes zeitigen muß.

Deutschland kann zum Beispiel nach dem gegenwärtigen Stand der politischen Diskussion kein berechenbares und effizientes Mitglied internationaler Organisationen sein, insofern diese Organisationen sich für einen Einsatz militärischer Mittel zur Aufrechterhaltung von Recht, Frieden und Ordnung in der Welt entscheiden. Einen politisch einheitlichen Willen, der bereit wäre, die Bedingungen der Zugehörigkeit Deutschlands zu den internationalen Organisationen zu erfüllen, vermag ich nicht zu erkennen. Deutschland würde gerne die Rot-Kreuz-Station für die an den Folgen von Kriegen Leidenden in der ganzen Welt sein, aber Deutschland wird, nach dem gegenwärtigen Stand der öffentlichen Diskussion, nicht bereit sein, um der Kriegsverhinderung willen das zu leisten, was jeder andere normale Staat leistet. Deutschland ist nicht einmal in der Lage, seine nationalen Interessen zu definieren, geschweige denn sie zu vertreten und durchzusetzen.

Ich will an diesem Punkt noch einmal auf den inneren Zusammenhang des moralischen Verfalls und seine Auswirkungen auf die Politik zu sprechen kommen. Wie steht es mit der Effizienz unseres politischen Systems und der dieses politische System tragenden Parteien? Hier müssen wir feststellen, daß das, was wir immer als die starke »Mitte« gefeiert haben, dahinschmilzt wie ein Eisberg unter der heißen Sonne. Die Volksparteien verlieren immer mehr an Bedeutung. An ihre Stelle drängt ein Potential von 30 Prozent Nicht- sowie 10-15 Prozent Protestwählern. Etwa die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands ist dabei, faktisch aus diesem politischen System auszusteigen. Es ist die Frage, wie lange eine Demokratie dies aushält.

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Kanada wird heute von Parteien regiert, die es vor sechs Jahren so überhaupt noch nicht gegeben hat. Die ganze alte Parteienlandschaft ist in einer Wahl weggefegt worden. Die Konservativen sind von 152 Sitze auf 2 Sitze reduziert worden. Dasselbe geschah voriges Jahr in Italien, wo Sozialisten wie Christ­demokraten in kürzester Zeit zu Splitterparteien zusammengeschrumpft sind und radikale Linke und Faschisten atemberaubende Wahlerfolge erzielten. Unsere Phantasie reicht nicht aus, uns vorzustellen, was angesichts dieses dramatischen Vertrauensschwundes der Menschen in die Glaubwürdigkeit, in die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Parteien in wenigen Jahren in Deutschland alles passieren könnte. 

Der entscheidende Grund für den Zusammenbruch der Demokratie in Weimar war nicht, daß die Deutschen von einer unwiderstehlichen Leidenschaft zu Hitler ergriffen wurden, sondern daß sie an der Handlungsohnmacht, an der Entscheidungsunfähigkeit, an der Unfähigkeit der damaligen Parteien, eine regierungsfähige Mehrheit zustande zu bringen, verzweifelt sind. Es waren verzweifelte Deutsche, die 1933 begonnen haben, auf Hitler zu setzen. Sie waren überzeugt, daß die liberale Demokratie nicht in der Lage sei, die entscheidenden Probleme der Gesellschaft zu lösen. 

Die heutigen Parteien und ihre Vertreter sprechen eine Sprache, die von vielen nicht mehr verstanden wird. Was die Menschen empfinden, was sie im Grunde genommen wollen und was ihnen zumutbar ist, wird nicht mehr in einer ihnen verständlichen Sprache formuliert, weil die Primäradressaten unserer politischen Verlautbarungen die Medien und diejenigen sind, die die Medienmacht verwalten. Diese Instanzen sind in der Lage, jeden Politiker aus dem Verkehr zu ziehen, der die von ihnen gesetzten Sprachregelungen durchbricht. Der »Fall Heitmann« belegte dies in eklatanter Weise. Es ist auf die Dauer ein für die Demokratie gefährlicher Zustand.

Fassen wir zusammen: 

Die ganze Moderne, ob Sozialismus oder Liberalismus, war seit der Französischen Revolution auf ein Gesellschaftsmodell gerichtet, in dem Freiheit und Gleichheit verwirklicht werden sollten, in dem die Menschheit durch Wissenschaft und Technik die Herrschaft über die Natur und über die sozialen Bedingungen erringen sollte. Politische Herrschaft sollte tendenziell abgebaut und materieller Mangel überwunden werden. Der Mensch sollte die individuellen, naturalen und sonstigen Bedingungen seiner Existenz unter die eigene Verfügung bekommen und sich auf diesem gesicherten Grunde dann in Freiheit entfalten können. Das war nicht nur das Ideal von Karl Marx, es war und ist das Ideal aller progressiven Kräfte gewesen. Dieses Ideal entspricht der innersten Logik der Moderne.

Wenn dieses Modell gescheitert ist und der Sozialismus kein operatives Modell mehr hat, andererseits aber der Liberalismus hinter seinen Versprechungen zurückbleibt und ins Libertäre mutiert, dann befinden wir uns in einer ganz neuen Situation. Wir haben keine Antwort mehr auf die Frage nach dem Ziel. Die Frage nach dem Ziel und dem Zweck bleibt unbeantwortet, und damit ist im wesentlichen allen Ideologien — nicht nur der sozialistischen, auch der liberalen — der Boden entzogen. Dann aber können Parteien keine Identität, keine Orientierungskraft und damit keine bleibende Bindung zwischen sich und den Bürgern mehr herstellen. Dann sind auch Parteien nichts anderes als Dienstleistungs­apparate, die nach demoskopischen Methoden die Wünsche der Bürger erforschen und größtmögliche Befriedigung versprechen.

Der Zusammenbruch des Sozialismus hinterläßt nicht nur ungeheure ökonomische, soziale und politische Probleme, sondern er zwingt uns auch das Denken auf. Wir müssen nachdenken, inwieweit mit dem Sozialismus die ideologischen Weltbilder der Moderne im ganzen gescheitert oder zumindest in die Krise geraten sind, und wir müssen nachdenken, welche Konsequenzen sich daraus ergeben.

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