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2. Der Zusammenbruch der ideologischen Weltbilder

als Ausdruck der Krise der Moderne 

 

 

 

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Im letzten Kapitel wurde der Frage nachgegangen, ob die Krise des Liberalismus eine vielleicht sogar zwangsläufige Folge­erscheinung des Zusammen­bruchs des Sozialismus darstellt. Eine solche Vermutung setzt voraus, daß beide Ideologien auf einem vergleichbaren philosophischen Grund stehen und ähnliche Ziele verfolgen. Nur im Kontext einer solchen Gemeinsamkeit wäre die These plausibel, daß der Liberalismus in den Strudel des Zusammenbruchs des Sozialismus geraten kann. 

Beide ideologischen Formationen gehören dem Projekt der Moderne an, beide Ideologien sind Produkte der europäischen Aufklärung. Das ist die erste und wichtigste Gemeinsamkeit. Die Frage nach der Krise des Liberalismus im Kontext des Zusammenbruchs des Sozialismus kann demnach nur beantwortet werden, wenn man der weiterführenden Frage nachgeht, wie es am Ende des 20. Jahrhunderts um das Projekt der Moderne im ganzen bestellt ist.

Wir sind Zeugen weltgeschichtlicher Umbrüche und Ereignisse, welche die These einer Krise der Moderne plausibel erscheinen lassen. Das wird uns jeden Tag von neuem vor Augen geführt: Der Zusammenbruch des existierenden Sozialismus, der Krieg mitten in Europa, der aufkeimende Nationalismus, die Krise der europäischen Vereinigung sind Symptome dieser Krise. Innerhalb von wenigen Jahren ist eine ganzeWeltordnung zusammengebrochen. Die Ordnung von Jalta, von der die gesamte Nachkriegsepoche bestimmt war, ist nunmehr Geschichte. Wir haben es mit einer Wende von epochaler Bedeutung zu tun, einer Wende, wie sie in der Geschichte nur alle Jahrhunderte oder nach noch größeren Zeiträumen vorkommt. Die Welt stellt sich heute ganz anders dar als noch vor wenigen Jahren.

Damit erhebt sich in dieser Zeit des epochalen Umbruchs die neue und fundamentale Frage: Stimmen unsere Kategorien noch? Reichen unsere Begriffe, unsere Vorstellungen, unsere Methoden, unsere Strategien aus, um mit dieser Lage fertig zu werden? Stimmen unsere Weltbilder noch?


Diese Fragen habe ich eben nur angerissen, sie sollen im folgenden vertieft werden.

Ich gebrauche dieses etwas altertümliche Wort »Weltbild«, weil die Weltbild­kategorie nichts anderes meint als die Totalität aller Begriffe und Vorstellungen, mit deren Hilfe wir uns ein Bild von der Welt machen. Wenn aber die Kategorien und die Begriffe nicht mehr stimmen, dann fehlt uns nicht nur ein Bild, sondern — was sich manchmal viel schlimmer und verhängnisvoller auswirken kann —, dann fehlt uns auch die Sprache, um die Wirklichkeit bestimmen zu können. Wenn wir dennoch weiterhin die Sprache von gestern gebrauchen, dann reden wir an den Dingen vorbei. Damit schwindet auch die Orientierungskraft einer politischen Klasse und noch mehr ihre Führungsfähigkeit. Es kann nicht geführt werden, wenn man nicht orientiert. Man kann nicht orientieren, wenn man nicht einen zulänglichen, adäquaten Begriff von der Lage hat. Diesen Begriff von der Lage kann man nicht haben, wenn man nicht über die Kategorien verfügt, die der Erfassung dieser Lage gemäß und entsprechend sind.

Was ist geschehen? 

Eine imperiale Führungsmacht der Welt ist in kürzester Zeit wie ein Kartenhaus zusammengebrochen, mehr noch, die Sowjetunion ist als solche nicht mehr existent. Das bedeutet eine dramatische Wende in der Weltgeschichte. Es mag mit dem Mangel unserer Sprache und unseren fehlenden Kategorien zusammen­hängen, daß wir den historischen, ja, welthistorischen Charakter dieses Prozesses eigentlich kaum wahrnehmen. Wenn wir uns an die alten Kategorien halten, mit denen wir Lagen analysieren, dann kommen wir regelmäßig zu dem Schluß, daß das ökonomische System des existierenden Sozialismus eben nicht effizient genug und darum zum Scheitern verurteilt war. Es hätte sich herausgestellt, daß eine Zentralverwaltungswirtschaft, eine bürokratisch gesteuerte und verwaltete Wirtschaft, ineffizient und daher das Land, das von einer solchen maroden, ineffizienten wirtschaftlichen Ordnung getragen wurde, auch nicht fähig war, im Konkurrenzkampf politisch und geschichtlich zu bestehen. 

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Wir im Westen folgern daraus, daß sich das System der sozialen Marktwirtschaft als unvergleichlich überlegener herausgestellt habe und daß es nur darauf ankomme, unser System so schnell wie möglich in die Länder der ehemaligen Sowjetunion einzuführen: eine marktwirtschaftliche Ordnung zu errichten, eine rechtsstaatliche Rahmenordnung zu schaffen, mehrere Parteien einzuführen, die Gesellschaft zu einer Bürgergesellschaft zu entwickeln. Damit hat sich für uns dann alles erschöpft, was an Lehren und Erkenntnissen aus diesem beispiellosen Prozeß des Verfalls des Kommunismus zu ziehen wäre. Gelernt hätten wir dann — so meine These — aus dem Zusammenbruch des Kommunismus letztlich nichts.

Wir müssen daher die Frage vertiefen, was eigentlich mit dem System, das wir den existierenden Sozialismus nennen, geschehen ist? Bedeutet der Zusammen­bruch dieses existierenden Sozialismus auch das Ende der geschichtlichen Zukunftsfähigkeit des Sozialismus überhaupt? Oder hat sich nur eine bestimmte Variante, eine bestimmte Version des Sozialismus widerlegt? Bekommt nicht nach dem Fortfall dieser Art des existierenden bürokratischen Sozialismus der wahre Sozialismus seine Chance?

Wer glaubt, daß mit dem Zusammenbruch des existierenden Sozialismus der Sozialismus überhaupt und schlechthin am Ende sei und man sich hinfort mit sozialistischen Traditionen und Ideen nicht mehr auseinandersetzen müßte, der irrt.

Die entscheidende, für viele vielleicht schmerzliche Erkenntnis ist doch die, daß eine Idee durch keine noch so enttäuschende Realität widerlegt werden kann. Es ist jederzeit möglich, sich angesichts einer enttäuschenden Realität zum Himmel der Ideen zu erheben und es so zu halten wie Wilhelm Teil bei Schiller: Wenn alle Hoffnung angesichts der Misere dieses Lebens zusammenbricht, erheben wir unsere Augen und Arme zu den ewigen Sternen, um dort neuen Mut und neue Hoffnung zu schöpfen. Es wäre daher illusorisch zu glauben, daß diese faktischen Ereignisse das Ende der Debatte um den Sozialismus bedeuten könnten oder daß der Glaube an den Sozialismus durch das, als was er sich jetzt erwiesen hat, widerlegt wäre.

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Ein Glaube — und hinter dem Sozialismus steckt ein wirklicher Glaube — kann gar nicht durch die Realität widerlegt werden. Und so wird der Traum vom Sozialismus im Herzen der jungen Generation trotz, vielleicht sogar wegen der sich anbahnenden Krise des Liberalismus weitergeträumt werden.

Allerdings wird dieses gegenseitige Ausspielen von Realität und Idee, von Programm und Wirklichkeit nicht dem gerecht, was sich gegenwärtig ereignet. Denn der Sozialismus, der hier zusammenbricht, beruft sich ja nicht auf eine Idee, sondern auf das Denken von Karl Marx, der sein Selbstbewußtsein und den Anspruch auf seinen einzigartigen Rang in der Geschichte des Sozialismus damit begründet hat, daß erst durch ihn der Sozialismus aufgehört habe, eine Idee zu sein.

Der Sozialismus, den Karl Marx leidenschaftlicher bekämpfte als den eigentlichen ideologischen und ökonomischen Feind, war der Sozialismus, der als Idee auftrat und den er als »utopischen Sozialismus« brandmarkte. Durch Marx selbst hat der Sozialismus aufgehört, eine Utopie, eine Idee zu sein, und hat den Charakter einer Wissenschaft angenommen. Wir dürfen in der Auseinandersetzung um den zusammenbrechenden Sozialismus keinen Augenblick vergessen, daß es nach dem Anspruch seines Vaters und Gründers um Wissenschaft geht. Für Marx ging es im Kern um die Wissenschaft von der Geschichte. 

Der Marxismus behauptet zum Teil bis auf den heutigen Tag, daß er die wahre Wissenschaft von der Geschichte sei, daß er, wie Marx selbst es formuliert hat, das »Rätsel der Geschichte« gelöst habe. Dies ist ein ungeheures Wort, welches man angesichts der Realitäten des zwanzigsten Jahrhunderts vor Augen behalten muß. Weil die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der Menschheit, nach der die einzelnen gesellschaftlichen Formationen einander ablösen, erkannt worden sei, handele es sich beim marxistischen Sozialismus nach dessen Selbstverständnis nicht um eine Weltanschauung oder ein Ideal, sondern um die Erkenntnis des innersten Bewegungs- und Verlaufsgesetzes der Geschichte im ganzen. Nach dem Anspruch des marxistischen Sozialismus erweist allein die geschichtliche Realität die Wahrheit oder Unwahrheit der marxistischen Theorie.

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Wenn man nicht orthodox danach fragt, was in der bisherigen Praxis der Herstellung des Sozialismus mit dem übereinstimmt, was Marx gewollt hat, wird man die derzeitigen Ereignisse nie verstehen können. Und wenn man diese Diskussion nicht im Horizont der marxistischen Orthodoxie führt, kommt man zu ganz sterilen, fruchtlosen Ergebnissen, die geeignet sind, die traditionell bekannten Fronten nur erneut zu festigen. Die einen sagen dann, nun müsse doch der Letzte, ja, der Dümmste begreifen, daß an dem Marxismus nichts dran sei und daß es mit ihm nun ein Ende habe. Die anderen dagegen meinen, daß das, was sich in der Sowjetunion entwickelt hat, mit dem authentischen, von Marx ursprünglich gewollten Marxismus überhaupt nichts zu tun habe.

Daher also die erste Frage: Wie hat denn Karl Marx selbst den Gang der Geschichte und vor allem die zukünftige Geschichte der Moderne gesehen? Was hat er für das Konstituierende dieses Prozesses der Moderne gehalten? Wie hat er die Krise, die er im sogenannten frühen Kapitalismus vor Augen hatte, geschildert? Wie hat er sich den Verlauf der Geschichte für den Fall vorgestellt, daß der Sozialismus siegen wird, und wie hat er die Konsequenzen eingeschätzt, falls er scheitern sollte?

Karl Marx war nicht in dem Sinne, wie wir es heute sehen, ein gläubiger Sozialist. Marx war vielmehr der Meinung, daß angesichts der Lage des Kapitalismus im 19. Jahrhundert die Alternative zu dem von ihm prophezeiten Sieg des Sozialismus die Barbarei sein würde. Er hat mit dieser Charakterisierung dessen, was im Falle des Scheiterns des Sozialismus eintreten würde, noch einmal bezeugt, wie sehr er selbst den bürgerlichen humanistischen Traditionen verpflichtet war. Im »Kommunistischen Manifest« hat Marx die Französische Revolution als den entscheidenden Wendepunkt in der bisherigen Geschichte bezeichnet, an dem nicht nur ein im Horizont bisheriger Geschichte wichtiges Ereignis stattfand. Durch die Französische Revolution und ihre Folgen hat sich vielmehr für Marx der Charakter der Geschichte als Ganzes verändert. 

Was aus der bürgerlichen Revolution in Frankreich und der durch sie entstandenen bürgerliche Gesellschaft hervorgegangen und durch sie entstanden ist, sei eine Geschichte, die den Charakter der »permanenten Revolution« angenommen habe. 

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Es scheint mir eine der erleuchtendsten Einsichten zu sein, durch die Marx über Hegel hinausgeht, sich gegen ihn wendet, ihn radikalisiert, wenn Marx die Meinung vertritt: Nun finden in der Geschichte nicht mehr einzelne Revolutionen statt, sondern die Geschichte selbst ist der Vollzug einer permanenten Revolution. Das Subjekt dieser Geschichte der permanenten Revolution ist für Marx die »Gesellschaft«, die in ihrer Grundnatur emanzipatorischen Charakter hat. Sie ist emanzipatorisch, indem sie sich radikal von aller bisherigen Geschichte trennt. Es sind nicht mehr der Geist, nicht mehr Gott, nicht mehr irgendwelche am Himmel schwebenden Werte, an denen man sich orientiert, sondern es ist die durch die Französische Revolution auch politisch und sozial entbundene moderne Gesellschaft. 

Revolution heißt nach Marx: Die Gesellschaft kann nicht bestehen, ohne ständig sowohl ihre internen wie externen Lebensbedingungen und Lebens­verhält­nisse zu verändern. In diesen Strom des revolutionären Prozesses wird, ausgehend von der sich ständig erweiternden Produktion der Produktivkräfte, alles hineingerissen, so daß Marx sagen kann, alles »Ständische und Stehende verdampft«. Für die Beurteilung der Geschichtstheorie von Marx ist also nicht entscheidend, daß er als erster den Klassenkampf als ein bewegendes Element der Geschichte entdeckt hat. Vielmehr geht er davon aus, daß dieser Klassenkampf durch die von der Französischen Revolution geschaffenen Bedingungen eine neue Gestalt annimmt, die dazu führen wird, daß sich die Gesellschaft auf die Bildung von zwei einander antagonistisch gegenüberstehenden Klassen zuspitzen wird. Nicht mehrere Klassen, sondern zwei Klassen werden sich gegenüberstehen: die überwältigende Klasse des verelendeten, aber den materiellen Reichtum produzierenden Proletariats auf der einen und die in ihren Trägern immer weniger werdende Klasse der Produktions­mittelbesitzer, der Kapitalisten, auf der anderen Seite. Das war die Situation, die Marx heranreifen sah. 

Was er aus dieser Situation folgerte, ist die These, daß der Kapitalismus innerhalb seines Rahmens erst alle in ihm angelegten Möglichkeiten entwickeln müsse, ehe die im Kapitalismus selbst erzeugten Produktivkräfte die Schranken des Kapitalismus sprengen werden. 

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Unser Platz reicht nicht aus, um den geradezu begeisternden und anfeuernden Hymnus vorzutragen, den Karl Marx im »Kommunistischen Manifest« auf die Bourgeoisieklasse angestimmt hat. Was für viele Marxisten bis zum heutigenTag als erstaunlich empfunden wird, ist eben diese große Faszination, die die Leistung der Bourgeoisieklasse auf Marx ausgeübt hat. Denn sie hat die erste Revolution zustande gebracht, durch die in einer Gesellschaft tendenziell ein überwältigender materieller Reichtum entsteht, sie hat Produktivkräfte entwickelt wie keine Gesellschaft vor ihr. Erst dann, wenn sie die in ihr angelegten Möglichkeiten der Erzeugung eines materiellen Reichtums ausgeschöpft hat, so Karl Marx, dann werde sie ihren eigenen Totengräber selbst erzeugen. Für Marx ist die Erzeugung des revolutionären Subjektes keine Frage der Theorie, nicht eine Frage moralischer Postulate und Programme, sondern das Resultat einer geschichtlich vor unseren Augen ablaufenden Bewegung, in der die Kapitalistenklasse das Proletariat selbst erzeugen wird. 

Das Proletariat werde dann gezwungen sein, die revolutionäre Aufhebung des Kapitalismus zu vollbringen, und in der Form einer Diktatur des Proletariats zur Enteignung der wenigen parasitären Produktionsmittelbesitzer schreiten. Es wird sich dann den unter den Bedingungen des Kapitalismus erzeugten Reichtum aneignen und anschließend alle in der menschlichen Natur angelegten Möglichkeiten verwirklichen. Was Marx im Blick hatte, war nicht weniger als die Erfüllung dessen, was die tiefsten und dominierendsten Tendenzen der gesamten modernen Welt waren: nämlich die Hervorbringung eines Zustandes, in der der materielle Mangel beseitigt ist, in dem Menschen nicht mehr gezwungen sein werden, sich um etwas anderes zu kümmern als die Verteilung des vorhandenen materiellen Reichtums. Es geht Marx letztlich, wenn ich das einmal zugespitzt formulieren darf, gar nicht um die Lösung der sogenannten sozialen Frage, sondern um die Verwirklichung eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem sich die soziale Frage gar nicht mehr stellt, weil alle Menschen das bekommen werden, wonach sie ein Bedürfnis haben.

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Marx meinte, daß mit diesem Prozeß sich noch eine andere Tendenz erfolgreich verwirklichen werde, nämlich die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Marxens These ist bekannt: Der Staat stirbt ab. Das bedeutet also, daß nach Marx nicht nur die soziale, sondern auch die politische Frage, das Problem der Herrschaft, einst fortfallen sollte. Die Menschheit wird dann befreit aufatmen und sich von allen ideologischen Fesseln, die an vergangene Gesellschaftsformationen gebunden waren, emanzipieren. Der Proletarier hat dann keine Familie mehr, weil die Ideologie der bürgerlichen Familie in seiner ihm im Kapitalismus auferlegten realen Existenz entlarvt und zerstört wird. 

Marx hat sich immer — das muß hier deutlich gesagt werden — in einem Gegensatz zum heute weit verbreiteten utopischen Sozialismus gesehen. Er glaubte nicht an moralische Postulate, er setzte nicht auf ewig gültige Prinzipien, nicht auf Normen und Werte, nicht auf eine sogenannte Idee des Sozialismus, sondern er setzte auf den Prozeß, auf den Vollzug der Geschichte und auf die reale revolutionäre Praxis. Für Marx war die Praxis der Ort, an dem über Wahrheit und Unwahrheit einer Theorie entschieden wird. Eine theoretische Verteidigung der Theorie gegenüber der Praxis hätte ihm nicht imponiert, sondern die Praxis, die Geschichte selbst waren für ihn Orte, wo über Wahrheit und Unwahrheit, also auch über die Erfüllbarkeit oder Nichterfüllbarkeit der von der ganzen Moderne geteilten emanzipatorischen Logik entschieden wird. Die Grundwissenschaft des Marxismus ist die Wissenschaft der Geschichte. In den Frühschriften von Marx finden wir den erstaunlichen Satz, daß durch die marxistische Geschichtswissenschaft das »Rätsel der Geschichte« gelöst sei.

Es geht hier also keineswegs nur darum, zu begreifen, warum die Wahl eines falschen Wirtschaftssystems, eines planwirtschaftlichen statt eines markt­wirt­schaftlichen, nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt hat. Es steht ebensowenig in Frage, daß die bürokratische Herrschaft die Freiheit einschränkt, die man sich ursprünglich von eben diesem Sozialismus erhoffte.

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Schon Max Weber* hatte erkannt, daß die Verwirklichung des Sozialismus unter den durch den Kapitalismus geschaffenen Bedingungen in der Zukunft, unangesehen der Intentionen und Absichten der Sozialisten, in der Wirklichkeit nur zur Herrschaft der Bürokratie führen kann. Das war dieThese von Max Weber, und man muß zugeben, daß sie durch den gegenwärtigen Zusammenbruch des existierenden Sozialismus bestätigt wurde.

Wir halten fest: 

Kein durch Karl Marx inspirierter Sozialismus kann sich auf die »Idee des Sozialismus« berufen, sondern nur auf das wissenschaftlich erkannte Ablaufgesetz der Geschichte, an dessen Ende durch die sozialistische Revolution die volle Befreiung des Menschen stehen sollte. Genau betrachtet, ist dies aber nicht allein die Intention des Marxismus, sondern das große Endziel, das die gesamte Moderne insgesamt bewegt hat und das Karl Marx wissenschaftlich in Aussicht zu stellen den Mut hatte: Der Mensch werde von jeder Form materiellen Mangels und der Herrschaft sowie aus den Abhängigkeiten und Zwängen, die durch den Mangel an materiellen Mitteln bedingt sind, befreit werden. 

Die Gesellschaft werde so reich sein, daß das Problem der Verteilung gar nicht mehr auftreten kann. Wie die Kinder beim Kindergeburtstag am Sonntag­nachmittag angesichts eines mit Kuchen überladenen Tisches nur noch zuzulangen brauchen und sich nehmen können, wonach sie ein Bedürfnis haben, so würden auch die Menschen durch den Sozialismus von jeder Form menschlicher Herrschaft, von den Lasten der Geschichte, der Endlichkeit, der Begrenztheit materieller Mittel befreit werden und gemäß ihren natürlichen Bedürfnissen zugreifen und sich den ganzen Reichtum, der in ihrer Natur liegt, uneingeschränkt aneignen. Das ist der Endzustand gewesen, den der marxistisch inspirierte Sozialismus, aber auch der Liberalismus zu verwirklichen angetreten war.

Meine These lautet: Mit dem Fortfall oder der geschichtlichen Widerlegung des Sozialismus ist unser ganzes modernes politisches Weltbild im Kern zusammengebrochen. Der Sozialismus hat sich als die progressivste Ideologie der Moderne verstanden, und das nicht nur in seiner marxistisch-leninist­ischen, sondern auch in seiner reformistischen Ausprägung.

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Fast zwangsläufig waren alle anderen politischen Positionen gezwungen, sich reaktiv und im Prinzip defensiv auf diese Vorgabe des Sozialismus hin zu definieren. Was als konservativ oder progressiv galt, das hat der Sozialismus bestimmt. Konservative waren dann unter Anerkennung des Anspruchs des Sozialismus, die progressive Position zu besetzen, alle die, die nicht Sozialisten waren. Ein Mann wie Karl Popper galt dann kraft der dominierenden Position des Sozialismus als konservativ, obwohl er mit dem Konservativismus überhaupt nichts zu tun hatte. Heute ist die Lage spiegelverkehrt. Heute ist der als reaktionär entlarvte Sozialismus rechenschaftspflichtig. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus steht das Denken von Karl Marx selbst zur Disposition. Hatte der real existierende Kommunismus mit Marx etwas gemein? Ist mit dem realen Kommunismus auch Karl Marx und damit der ganze Marxismus widerlegt und am Ende?

Auf einem dieser Frage gewidmetem Kongreß war ich vor einigen Jahren bei den »Humanismusgesprächen« in Salzburg fast allein der Überzeugung, daß der Zusammenbruch des Sozialismus durchaus erhebliche Konsequenzen für die Einschätzung der Marxschen Lehre habe. Alle anderen Teilnehmer waren mehr oder weniger überzeugt, daß die Widerlegung des Sozialismus durch die Geschichte den Kern der Philosophie von Karl Marx überhaupt nicht berühre. Die überwiegend geäußerte Meinung war die, daß dieser reale Sozialismus mit Marx überhaupt nichts zu tun gehabt hätte. Der schärfste und größte Kritiker dieser sozialistischen Wirklichkeit wäre Marx selbst gewesen, wenn er mit Blick auf diesen real existierenden Sozialismus hätte Stellung nehmen können.

Was ist dazu zu sagen? Hier werden die Dinge schwierig, früher hätte man fast gesagt, sie werden dialektisch. Man kann hier nicht einfach mit ja oder nein antworten. Richtig an dieser These ist, daß die Verwirklichung des Sozialismus in der Sowjetunion seit 1917 in der Tat mit den Vorstellungen, die Karl Marx von einer sozialistischen Gesellschaft hatte, überhaupt nichts zu tun gehabt hat. 

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Das Trachten von Karl Marx war darauf gerichtet, den Sozialismus in der Form eines Aktes der revolutionären Selbstbefreiung des Proletariats zu denken. Marxens Sozialismus setzte nicht nur einen entwickelten und bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommenen Kapitalismus voraus, sondern er setzte vor allen Dingen voraus, daß die überwältigende Mehrheit der Menschen unter elenden Bedingungen lebte. Und die Revolution sei dann ein Akt der revolutionären Selbstbefreiung dieses vom Kapitalismus selbst erzeugten revolutionären Subjektes, des Proletariats. In äußerster Zuspitzung muß man heute feststellen, daß der existierende Sozialismus nicht die Revolution der Befreiung des Proletariats, sondern eine der Erzeugung des Proletariats gewesen ist.

Karl Marx war zweitens der Meinung, daß im Vollzug der Diktatur des Proletariates der Staat selbst abgeschafft würde. Den Staat brauchte man nur noch in einem letzten Akt, um, wie Lenin sagte, die kapitalistischen Wanzen, das Ungeziefer, zu vertilgen. Wenn das vertilgt sein würde, dann brauche man keinen Staat mehr, und der Staat werde verschwinden. Der Staat kann verschwinden, das ist die dritte Überzeugung von Marx, wenn ein überwältigend großer materieller Reichtum herrscht. Marx unterstellte immer, daß der Kapitalismus diesen Reichtum erzeuge, nicht der Sozialismus. Der Sozialismus bedeute dann nur die Aneignung des vom Kapitalismus erzeugten Reichtums. Dann brauche man keine politische Herrschaft mehr, und die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit werde sich überhaupt nicht mehr stellen.

Wenn ich scholastisch die Wirklichkeit des existierenden Sozialismus mit der Lehre von Marx vergleiche, dann muß ich sagen: Dieser Sozialismus hatte mit Marx nichts zu tun. Er stellte geradezu das Gegenteil dessen dar, was Marx gewollt hat, und die schärfste Kritik an der sozialistischen Praxis kann ich dann mit Marx selbst üben. Das ist die eine Seite. Wenn man mit Intellektuellen diskutiert, wird man immer wieder mit dieser Position konfrontiert. Aber man muß natürlich hinzufügen, daß diese These unhaltbar ist. 

Und zwar aus zwei Gründen:

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Der erste und entscheidende Grund ist der, daß Karl Marx selbst ein Modell von einer sozialistischen Gesellschaft — von einer funktionierenden sozialist­ischen Gesellschaft — gar nicht entwickelt hat. Marx war so weise, daß er das nicht getan hat, was wir heute am liebsten tun, nämlich uns möglichst genau auszumalen, wie eine Gesellschaft aussehen müßte, die wir uns wünschen und die wir anstreben. Auf die Frage, wie der Sozialismus organisiert werden soll, hat er keine Antwort gegeben. Es finden sich nur globale Formeln wie etwa die, daß an die Stelle der Herrschaft dann der rational geregelte Austausch der Gesellschaft mit der Natur treten werde. Aber das ist ja keine Antwort auf die Frage, wie man operativ den Sozialismus herstellen kann und wie dieser dann organisiert werden soll

Es gibt konkret keinen Maßstab, an dem man entscheiden könnte, welcher Sozialismus berechtigt ist, sich auf Marx zu berufen, und welcher nicht. Der Sozialismus, was immer er im einzelnen bedeuten mag, impliziert bei Marx auf jeden Fall die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln. In bezug auf diesen Punkt muß man sagen, daß der existierende Sozialismus gerade in der ehemaligen Sowjetunion und der ehemaligen DDR diese entscheidende Bedingung erfüllt hat und damit der Marxschen Forderung gerecht wurde. Bei Karl Marx heißt es, daß der private Besitz an Produktions­mitteln abgelöst werden soll durch die »Vergesellschaftung der Produktionsmittel«. In dieser Formel zeigt sich die Magie der Worte

Der Sozialismus hat im 20. Jahrhundert so lange überlebt — und wird vielleicht auch morgen wieder aufleben —, weil die Menschen an diese Verheißungsformel geglaubt haben: Vergesellschaftung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln. Was heißt hier Vergesellschaftung? Wer ist die Gesellschaft konkret? Ist die Gesellschaft überhaupt vorstellbar als ein Subjekt, das sich die dem Privateigentum weggenommenen Produktionsmittel aneignen könnte? Der magische Begriff »Gesellschaft« hat in der sozialistischen Mythologie die gleiche Rolle gespielt wie der magische Begriff »Volk« in der rechten und nationalsozialistischen Theorie. Auch diese Leute muß man fragen, wer denn konkret das »Volk« ist. Wer ist die Gesellschaft? 

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Kommunisten wie etwa Lenin hatten 1917 in der Sowjetunion den Mut, diese Frage klipp und klar zu beantworten: Das Subjekt, das sich die Verfügung über die Produktionsmittel aneignen sollte, sei der Staat. Und wer ist der Staat? Wodurch ist der Staat legitimiert? Durch die marxistisch-leninistische Philosophie. Und wer legt diese Philosophie aus? Die Partei. Wer hat das Sagen in der Partei? Das Politbüro. Das ist dabei herausgekommen. Bereits Trotzkij hat vorausgesehen, daß nach dem leninistischen Modell ein Ausschuß der Partei, das Politbüro oder in Zweifelsfällen gar nur ein ein einziger Mann, der die Verfügung über den Einsatz der Produktionsmittel in der Hand hält, die totale Gewalt über die Menschen ausübt. Genau das ist in der Sowjetunion geschehen. Und darum, meine ich, genügt es nicht zu sagen, Karl Marx habe gar nichts mit dem real existierenden Sozialismus zu tun. Was soll denn noch Sozialismus heißen, wenn Sozialismus nicht Vergesellschaftung des Privateigentums an Produktionsmitteln bedeutet? Das ist die Kernfrage. Es gibt durchaus ehrliche ehemalige Sozialisten wie den Soziologen Offe, der geständig geworden ist und klipp und klar sagte, daß es ein operatives Modell des Sozialismus nicht mehr gäbe. Aber was ist dann noch Sozialismus? Eine Utopie?

Die Verwirklichung einer Utopie ist ein Unbegriff in sich, denn »Utopia«* bedeutet, daß es einen solchen Ort in Wirklichkeit nirgendwo gibt und niemals geben wird. Daß eine derart raum- und zeitlos vollzogene Konstruktion einer idealen Gesellschaft bei dem Versuch ihrer Verwirklichung scheitern würde, das gehört zum Begriff der Utopie selbst. Aber was war denn in diesem Entwurf des Sozialismus das utopische Element? Was macht das Spezifikum dieser Utopie aus, von der man sagt, das sie im real existierenden Sozialismus gescheitert sei? Es gibt vielerlei Arten von Utopien: etwa geographische, erotische und ästhetische Utopien. Welche Art von Utopie liegt dem Sozialismus zugrunde? Zugrunde liegt, ich habe es schon einmal kurz angedeutet, die Vorstellung von der Schaffung eines anderen, eines »Neuen Menschen«. 

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Das ist, auf den Kern zurückgeführt, der im Wesen des Sozialismus liegende Anspruch: etwas fundamental Neues hervorzubringen, ein Wunder Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses Wunder, das dort verwirklicht werden sollte, war nichts anderes als eben dieser »Neue Mensch«, ein sozialistischer Mensch. Man muß hinzufügen, daß gerade dieser Anspruch nach wie vor eine sonderbare Anziehungskraft auf viele Intellektuelle ausübt. Man erhofft sich einen Zustand, in dem das individuelle Interesse und das gesellschaftliche Gesamtinteresse identisch sein werden und die für alle bürgerlich-liberalen Gesellschaftsformen typische Entzweiung überwunden ist. In der bürgerlichen, der zu überwindenden Gesellschaft seien das individuelle Interesse und das öffentliche Allgemein­wohl noch zwei verschiedene Dinge. 

Der reale Sozialismus erst bemühe sich um die Hervorbringung eines Zustandes, in dem das Individuum nichts anderes will als das, was die Partei­führung als das Gesam­tinteresse der Gesellschaft bezeichnet. Der sozialistische Mensch ist dann der total vergesellschaftete, der total sozialisierte Mensch. Übrig bleibt ein Mensch, der sich als eine von der Gesellschaft unabhängige und gegenüber der Gesellschaft eigenständige Person selbst abschafft. Der einzelne Mensch nimmt in äußerster Konsequenz für sich kein Gewissen mehr in Anspruch, sondern er will von sich aus, was die Führung einer sozialistischen Gesellschaft als das Allgemeininteresse festgelegt hat. Er tut dies ideal typisch nicht widerstrebend, nein, er zieht freudig in die neuen Produktionsschlachten und ist bereit, selbst unter Lohnverzicht und anderen Einbußen bis zur Erschöpfung seiner Kräfte zu arbeiten. Im äußersten Falle ist er gar bereit — man denke nur an die inquisitorischen Gerichtsprozesse der 30er Jahre — sich als Unschuldiger eines Verbrechens zu bezichtigen, wenn das die Partei im Namen des Allgemein­interesses von ihm verlangt. Ein Mensch, der das heroische, totale, dauernde Selbstopfer zugunsten des von der Partei definierten Allgemein­interesses der Gesellschaft lebt, dieser Mensch wäre dann der »Neue Mensch«.

Wir sollten nicht übersehen, daß wir nach wie vor für dieses Ideal wie überhaupt für Utopien ungeheuer empfänglich sind. Joachim Fest interpretierte jüngst in seinem Buch »Der zerstörte Traum« das Ende des Sozialismus als das Ende der Utopie überhaupt.

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Das Buch ist vorzüglich, aber ich kann mich doch dem Ansatz nicht anschließen. Seit dem Beginn der Neuzeit wurden eine Fülle von utopischen Entwürfen formuliert. Mercier* etwa hatte einen utopischen Zukunftsentwurf am Ende des 18. Jahrhunderts literarisch entworfen, der ungefähr dem entspricht, was dann real im Sozialismus herausgekommen ist. Nur das vollendete Glück und die Vollkommenheit der menschlichen Natur wollte nicht dabei herauskommen. Karl Marx glaubte nun, auf einer geschichtswissenschaftlichen, realistischen Grundlage diesen Sozialismus auch praktisch herstellen zu können. In der Geschichte, vor allen Dingen durch den reifen Kapitalismus, seien die Bedingungen herangereift, die es erlaubten, einen solchen, einst als literarische Utopie konzipierten Entwurf nun auch geschichtlich zu verwirklichen. 

In diesem Sinne war Marx eben kein Utopist

Karl Marx war ein viel zu großer Realist, als daß er einer Utopie hätte huldigen können. Karl Marx hatte vielmehr den Sozialismus als die notwendige Zukunfts­gestalt der modernen Gesellschaft im 19. Jahrhundert begründet und interpretiert. Er war der Überzeugung, damit die innere Logik und die Tendenzen zu vollstrecken, die der modernen Welt als Ganzem seit der Französischen Revolution innewohnten. Die Geschichte selbst sollte nun in und mit der Französischen Revolution einer utopischen Logik folgen. Der Inbegriff dieser utopischen Logik der Moderne findet sich freilich im Fortschritts­gedanken.

Wir müssen uns über zwei Dinge völlig im klaren sein: 

Die Moderne ist ihrer innersten Natur und ihrem innersten Wesen nach nichts anderes als der Wille, ein Programm des Fortschritts zu verwirklichen. Und daß dieser Fortschritt kein unendlicher sein sollte, sondern in einem Zustand der Vollkommenheit enden werde, das macht die Idee der Fortschritts­gesellschaft, der modernen Gesellschaft insgesamt, aus. Das ist eineThese, die natürlich unangenehm ist. Denn die logische Konsequenz dieserThese ist die, daß dann mit dem Ende, dem Zusammenbruch des Sozialismus die Moderne im ganzen in eine ihre Grundannahmen tief erschütternde und ihre Fundamente aus den Angeln hebende Krise geraten ist. 

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Dann ist das Ende des Sozialismus nicht nur Ausdruck einer allgemeinen Krise des Sozialismus, sondern die Manifestation der Krise, in die die Moderne im ganzen geraten ist. Wenn diese These zuträfe, dann hätten wir natürlich aus dieser Erfahrung mit dem gescheiterten Sozialismus noch ungeheuer viel zu lernen. Denn auf welchen Endzustand war eigentlich die Moderne von Anfang an gerichtet? Man strebte einen Zustand an, in dem der Mensch die totale Verfügung über sich selbst und über alle sozialen und individuellen Konditionen seines Lebens erringen sollte. Zugespitzt formuliert: Dieses moderne Unterfangen war gerichtet auf die Abschaffung von Kontingenz oder — um ein alltäglicheres Wort zu gebrauchen — auf die Abschaffung des Schicksals.

Proudhon*, ein Frühsozialist, den Karl Marx ganz ungerecht behandelt und auch falsch interpretiert hat, hatte in diesem Kontext von der »Defatalisierung des Schicksals« gesprochen. Der Mensch sollte keinem Schicksal mehr unterworfen sein, sondern er sollte die naturalen und sozialen Bedingungen seines Lebens in die eigene Hand nehmen und unter die eigene Verfügung bringen, um sich auf dem Boden dieses erreichten Ziels dann — als ein Befreiter von allen schicksalhaften Abhängigkeiten — in den Stand zu setzen, aus sich und mit sich selbst machen zu können, was er will. Das war das Ziel der Moderne, nicht nur das der Frühsozialisten.

Und was wollen wir? Vielleicht muß man noch deutlicher fragen: Wollen wir im Westen heute etwas anderes als die Frühsozialisten? Verstehen wir unter Freiheit nicht dasselbe wie die Frühsozialisten? Setzen wir Freiheit und Glück nicht ebenfalls mit tendenziell totaler Bedürfnisbefriedigung gleich? Wir glauben doch unverändert, daß die Politik den Fortschritt herbeiführen kann. Der Sozialismus setzt den fast unbegrenzten Glauben an die Machbarkeit und Herstellbarkeit aller Dinge und Verhältnisse voraus, und manche hoffen noch immer, daß es uns diesmal mit Hilfe etwa der Genetik möglich sein werde, den Menschen nach unseren Vorstellungen, nach unserem Bild »herstellen« zu können. In Deutschland ist dieser Glaube, daß die Politik alles machen und herstellen kann, doch völlig ungebrochen. Daß indessen unsere ganze politische Klasse zunehmend ins Zwielicht gerät, hat viele Gründe. 

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Aber es hängt auch damit zusammen, daß man wie selbstverständlich davon ausgeht, daß alles machbar sei, wenn nur der entsprechende politische Wille vorhanden sei. Das Scheitern der Politik kann aus dieser Perspektive dann nur auf zweierlei Weise interpretiert werden: Entweder fehlt der gute Wille, dann hätten wir es mit boshaften Politikern zu tun. Oder es fehlt das Vermögen, dann haben wir es mit inkompetenten Politikern, mit Versagern zu tun.

Man muß sich endlich klarmachen, daß dieser Glaube an die Herstellbarkeit und Machbarkeit (in diesem Falle des sozialistischen Paradieses) eine einzige Wahnvorstellung ist. Und da eben dieser Wunschzustand der Wirklichkeit nicht entsprach, konnte die Übereinstimmung von Wahn und Wirklichkeit nur durch die Permanenz des Terrors hergestellt werden. Wenn er nicht freiwillig mitmachte, dann mußte der sozialistische Mensch eben erzeugt und dressiert werden. Die Vorstellung vom sozialistischen Menschen ist ein reiner Wahn. 

Unvorstellbare Verbrechen, die wir auch heute noch kaum zur Kenntnis zu nehmen geneigt sind, wurden um dieses Zieles willen begangen. Um nur ein Beispiel zu nehmen: Stalin war der Meinung, daß die Modernisierung der Gesellschaft das Verschwinden des Kulakentums erfordere. Es dürfe kein Privat­eigentum geben, nicht einmal in der Landwirtschaft. Stalin verstand sich als alles andere denn als Verbrecher. Er war von seinen sozialistischen Endzielen überzeugt. Er glaubte sich im Besitz der wahren Gesinnung und der wahren Moral. Er hat mit gutem Gewissen und aus moralischem Bewußtsein gehandelt und 10-14 Millionen Kulaken zugrunde gerichtet oder sie Hungers sterben lassen. Er liquidierte Millionen Menschen, um das Ziel einer sozialisierten Landwirtschaft zu erreichen. 

Man wird der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts nicht gerecht, wenn man nicht zunächst zur Kenntnis nimmt, daß dieses sozialistische Experiment nach der Überzeugung von Experten 40-60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat.

Hier zeigt sich, wie ungeheuer wichtig die Sorge um das richtige Denken ist. 

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Was nutzt die ganze ökonomische und technische Kompetenz und das Vermögen, das Kapital zu verwalten, zu organisieren, richtig einzusetzen, wenn eine falsche politische Philosophie in einer Gesellschaft um sich greift? Rein gar nichts. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, daß Philosophie eine Sache von Experten an den Universitäten sei. Nein, an den Blutstätten des 20. Jahrhunderts ist der Streit der Philosophie ausgetragen worden. Auch Hitler folgte einer Philosophie, in seinem Falle einer rassistischen Wahnvorstellung, als er Millionen Menschen liquidieren ließ. 

Wir machen uns die Sache zu leicht, wenn wir nicht sehen, daß Stalin und Hitler nicht aus bösen, unmoralischen, sondern aus den besten moralischen, wenn auch ideologisierten Motiven gehandelt haben. Sie waren beide auf ihre Art überzeugt, dem Heil und der Rettung der Menschheit zu dienen. Selbst Hitler war der Meinung, daß mit der Ausrottung der jüdischen Rasse Entscheidendes zum Heil und zur Rettung der Menschheit geschähe. Und der Marxismus-Leninismus war, wo er Terror verbreitete und sich an der bürgerlichen Klasse verging, der Überzeugung, daß Gewalt um der Rettung der Menschheit willen anzuwenden sei. Wir wissen heute, daß in der Geschichte alles möglich ist. So gesehen, kann sich auch alles wiederholen, wenn auch vielleicht in anderer Form und unter anderen Voraussetzungen. 

Damit sind wir bei dem entscheidenden Problem.

Lassen wir es dahingestellt sein, ob Stalin schlicht von Machtgier besessen war oder ob er selbst glaubte, mit diesen Gewalttaten den Endsieg des Sozialismus zu fördern. Das Unglaubliche bei Menschen wie ihm ist vielmehr, daß sie guten Gewissens das Recht für sich in Anspruch nehmen, Millionen Menschen zum Tode zu verurteilen. Hier liegt das Phänomen, um das es mir geht. Denn all dies geschah nicht in irgendwelchen archaischen Zeiten, sondern am Ende, das heißt nach 200 Jahren westeuropäischer, überhaupt europäischer Aufklärung, auf dem Höhepunkt der Moderne. Dies ist das erklärungs­bedürftige Phänomen. Niemand kann für sich beanspruchen, auf dieses Phänomen eine richtige Antwort geben zu können. Aber wir können der Herrschaft des sozialistischen Gedankens bis zum Zusammenbruch des existierenden Sozialismus nicht gerecht werden und sie nicht

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verstehen, ohne zu bedenken, daß der Sozialismus die Rolle einer Religion gespielt hat. Der Sozialismus war, ich betone das, eine Art Ersatzreligion. De facto, und das kann man phänomenologisch genau belegen, hat der Sozialismus all die Funktionen erfüllt, die traditionellerweise die herkunftsgebundenen Religionen übernehmen. Darum ist es kein Zufall, wenn Karl Marx feststellte, die erste Form der Kritik, von der sowohl die Kritik der Politik wie die Kritik der Ökonomie abhänge, sei die Kritik der Religion. Diese Aussage ist von fundamentaler Bedeutung. Im Blick auf die Frage nach dem Prinzip, nach der »Arche«* ist es von schlüsselhafter Bedeutung, daß Marx die Religion als eine verblendende Wahnvorstellung des Menschen zu destruieren versuchte. Diese hindere den Menschen daran, die Wirklichkeit zu erkennen, wie sie ist, seine wahren Interessen zu erkennen und mit erfolgversprechenden Mitteln auch zu verfolgen.

Unabhängig vom Selbstverständnis, das die Sozialisten aller Couleur hatten, trifft es zweitens zweifellos zu, daß die Sozialisten die christliche Eschatologie — also die Verheißungen, die im Christentum für eine jenseitige Welt versprochen werden — in dieser Welt selbst realisieren wollten. Es ging darum, in eigener Regie den Heilszustand am Ende der Geschichte politisch zu etablieren. Darin liegt auch der Unterschied des Sozialismus zum Nationalsozialismus, daß der Kommunismus bei aller Grauenhaftigkeit und allem Schrecken seiner Verwirklichung in der Tat eine Art christlicher Häresie war. Das wird man vom Nationalsozialismus und Faschismus so nicht sagen können. 

Wenn man etwa die Frage stellt, worauf der große Erfolg von Willy Brandt gründete, kommen wir zu einem ähnlichen Ergebnis. Denn worauf gründete sein Erfolg? Willy Brandt errang seine Wahlerfolge nicht, weil er sozialistische Endziele verkündete. Er hat das Wort Sozialismus kaum in den Mund genommen. Nein, er hat eine religiöse Semantik benutzt, nämlich die Sprache des pietistischen Christentums, um den Menschen den demokratischen Sozialismus schmackhaft zu machen. Selbst die Pfarrer beider Kirchen kämen, wenn sie gefragt würden, welche Politik dem Christentum am meisten entspräche, sehr bald zu Antworten, die den Forderungen des demokratischen Sozialismus relativ nahestünden.

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Die zentrale Kategorie war bei Willy Brandt compassion. Willy Brandt hat keinen besser funktionierenden Kapitalismus oder gar egalitäre Verteilung versprochen, sondern er hat compassion versprochen, also die Beseitigung der Kälte in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Er versprach mehr menschliche Wärme, und er bekundete den Willen, den anderen in seiner Andersartigkeit anzunehmen und anzuerkennen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Versprechungen einem — wenn auch säkularisierten — christlichen Erbe entsprungen sind. Demselben Glauben entspringt die mit Pathos vorgetragene Absicht, im Sozialismus soziale Gerechtigkeit verwirklichen zu wollen. 

Am Anfang unseres Jahrhunderts haben — um ein weiteres Beispiel zu nennen — die großen Intellektuellen in Rußland darüber diskutiert, unter welcher Bedingung es sich denn lohnen würde, das Experiment des Sozialismus zu wagen. Einige von ihnen kamen zu dem Schluß, daß, wenn mit dem Sozialismus nicht zugleich der Tod besiegt werde, der Versuch einer sozialistischen Vollendung der Geschichte völlig eitel sei. Denn ob wir als Sozialisten oder Nicht-Sozialisten stürben, und sterben müßten wir alle, würde dieser gigantische Einsatz nicht lohnen. Folgerichtig haben sie dann die Abschaffung des Todes gefordert. Abschaffung des Todes — das ist aber doch der Kern des Christentums, denn der alles zentrierende Mittelpunkt, um den sich das Christentum dreht, ist der Sieg über den Tod. Die Überwindung des Todes und die Überwindung der Angst vor dem Tod sind der Kern des Christentums.

Den russischen Intellektuellen, die den Sozialismus in dieser eschatologischen Dimension konzipiert haben, war das noch völlig bewußt. Selbst Trotzkij meinte in seinem Buch »Literatur und Gesellschaft«, daß im Sozialismus zwar nicht der Tod abgeschafft, aber doch das Leben immer weiter verlängert werde. Im Sozialismus werde sich eine solche menschliche Kreativität entfalten, daß lauter kleine Goethes und Beethovens unter uns weilen würden. Das Leben würde so weit verlängert, daß die Menschen nur dann stürben, wenn sie sterben wollten. 

An diese religiöse Dimension des Sozialismus müssen wir uns erinnern, wenn wir heute über den Niedergang des Sozialismus reflektieren. Man kommt dann natürlich zu ganz anderen Konsequenzen als diejenigen, die wir bisher angesichts dieses Ereignisses diskutieren.

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Wie sieht nun die Wirklichkeit nach dem Zusammenbruch des Sozialismus aus?

In der Geschichte seit 1789 hat sich nicht etwa die Aufhebung aller vorangegangenen Geschichte und Tradition und ihre Umwandlung in einen Endzeit­charakter tragenden Vollendungszustand vollzogen, sondern wir werden konfrontiert mit Prozessen der inneren Erosion und der inneren Auflösung, die tendenziell auf die Auflösung der Gesellschaft als Gesellschaft zielen. Wenn der Fortfall des Vertrauens in die Ideale des Sozialismus ein Vakuum hinterlassen haben sollte, und das ist ja offensichtlich der Fall, dann könnte es durchaus sein, daß gerade aus diesem Vakuum ein neues Bedürfnis nach neuen visionären, zukunfts-eröffnenden Ideen hervorgeht. Wenn es keine anderen geben sollte, dann hat auch morgen der Sozialismus, diesmal als sozialistische Idee, eine gewisse Chance, wieder als attraktiv empfunden zu werden. 

Die letztlich entscheidende Frage wird deshalb sein, ob es eine bessere Idee als die sozialistische gibt. Wenn es jedoch außer der sozialistischen keine andere Idee gibt, dann werden wir erneute Versuche erleben, den Sozialismus zu verwirklichen. Die Art, wie wir die Transformation des Systems zentraler Verwaltungswirtschaft in eine marktwirtschaftliche Ordnung vollziehen, wird überdies den verflossenen sozialistischen Ideen eine neue Evidenz verschaffen! Denn diese Art der Erfahrung mit der Marktwirtschaft ist durchaus geeignet, die Kritik, die der Sozialismus am Kapitalismus geübt hat, sozusagen nach seinem Tode wiederzubeleben. 

Nehmen wir einmal an, wir schafften die deutsche Einheit nicht, dann würden wir in der Tat im Verhältnis der alten zu den neuen Bundesländern ein Verhältnis wie Nord- zu Süditalien bekommen. Diese Lage würde sich ohne Zweifel im Ausbruch ganz neuer oder eben vielleicht auch alter Ideen ein Ventil verschaffen.

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Francis Fukuyama, ein früherer Abteilungsleiter im amerikanischen Außenministerium, meinte in seinem Buch über das »Ende der Geschichte«, daß mit dem Hinscheiden des Sozialismus allein der Liberalismus als die politische Endformation der Geschichte übriggeblieben sei. Nun gebe es zum Liberalismus keine Alternative mehr. Die Menschen könnten, wenn sie wohlbelehrt seien durch die Geschichte, nichts anderes mehr anstreben als eben den Liberalismus. Alle Alternativen zum Liberalismus, sowohl die nazistische, faschistische wie auch die sozialistische, seien zusammengebrochen. Übriggeblieben sei der Liberalismus als strahlender Sieger. Die Menschheit ist nach Fukuyama durch die Geschichte sozusagen zum Liberalismus verurteilt. Im 200jährigen Prozeß der Moderne habe sich der Liberalismus als das einzig funktionsfähige, zustimmungsfähige, den Rechten und Bedürfnissen der Menschen am meisten Rechnung tragende System durchgesetzt.

Wenn wir uns die Welt nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ansehen, so werden wir im Gegensatz zu Fukuyama feststellen müssen, daß von einem Sieg des Liberalismus im gesamten Ostblock, vor allen Dingen in der ehemaligen Sowjetunion, keine Rede sein kann. Wir erleben dort vielmehr eine Art konservativer Revolution: Rußland kehrt zu sich selbst zurück, zu seiner Geschichte, zu seinem nationalen Erbe, selbst zum orthodoxen Christentum. In Rußland findet etwa das Gedenken an einen christlich-orthodoxen Heiligen neuerdings seinen Niederschlag in der Einrichtung eines nationalen, staatlichen Feiertags.

Und eine junge ehemalige Kommunistin, Lehrerin in St. Petersburg, erklärte im Rahmen der Einführung des obligatorischen Schulgebets, nun sei die Freiheit und die Moderne auch in Rußland eingekehrt. Viele Russen träumen davon, daß der Zar, die Romanows, wieder die politische Führung übernehmen könnten. Wie sind diese Vorgänge zu deuten?

In Osteuropa und in der ehemaligen Sowjetunion sind die Völker auf den Schauplatz der Geschichte zurückgekehrt und kämpfen um ihre nationale Identität. Wir nennen das dann Nationalismus. Weiterhin wenden sie sich an die geschichtliche Vergangenheit und besinnen sich sogar auf ihr religiöses Erbe.

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Wollte nicht das sowjetische Regime den Nationalismus, das geschichtliche Gedächtnis und die religiöse Verehrung in 70-jährigem Terror mit Stumpf und Stiel ausrotten? Ohne Erfolg. Heute setzt sich nicht der Liberalismus, schon gar nicht der Sozialismus, sondern es setzen sich konservative Topoi geschichtlich durch. Ein nationaler Sozialismus, nicht der Liberalismus, bahnt sich dort an.

Und sehen wir uns den Westen an. Auch dort kehren die Völker in die Geschichte zurück. Denn was ist der tiefste Grund der weitverbreiteten Skepsis bis hin zur Ablehnung der Maastrichter Verträge? Die Völker wollen nicht zum Gegenstand der Verwaltung eines supranationalen, zentral-dirigistischen bürokratischen Systems werden, das sich nach der Logik der Moderne über alle in Generationen gewachsenen Lebensordnungen hinwegsetzt. Wenn die Politiker glauben sollten, sie könnten das vereinigte Europa ohne oder gar gegen die Völker zustande bringen, werden wir — so meine These — morgen oder übermorgen Verhältnisse haben, die sich von denen in Rußland überhaupt nicht unterscheiden werden.

Verfolgen wir einmal die Diskussion um »Maastricht«, wie sie in England und Frankreich angestrengt wurde. Selbst die Befürworter von »Maastricht« waren von nationalen Motiven beseelt, als sie für das europäische Projekt eintraten. Man brauche »Maastricht«, um die zukünftige Größe Frankreichs zu sichern, indem man die Deutschen so unter Kontrolle und Kuratel bringe und gleichzeitig ihres einzigen Machtfaktors, der D-Mark, beraube, daß sich an der französischen Hegemonie in Europa nichts ändere.

Das sprechen viele Franzosen laut aus. 

Und der Figaro schreibt, für die Deutschen sei »Maastricht« wie ein »Versailles ohne Krieg«. Das hat nicht ein Vertreter der »Neuen Rechten« gesagt, nein, das steht in einer der größten französischen Zeitungen! Wenn wir uns die Debatte in England ansehen, dann erfahren wir von Premierminister Major, daß es nur einen Grund gäbe, weshalb die Briten in Europa mitmachten: um das nationale Interesse Großbritanniens zu wahren. In Frankreich und England wird das nationale Interesse offen und ehrlich ausgesprochen. 

In Deutschland müßte die Debatte über Europa eigentlich nach demselben Maßstab geführt werden. Geschieht dies nicht bald, wird die Enttäuschung über das politisch organisierte Europa morgen groß sein. Doch wir nehmen die Realität nicht zur Kenntnis. Die Enttäuschungen, die morgen in Deutschland aus einer illusionären Vorstellung erwachsen könnten, werden womöglich ein neuerliches Unglück auch für Deutschland heraufbeschwören.

Anzeichen für eine Krise des Liberalismus sind also unübersehbar. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus ist nicht nur das sozialistische Weltbild zusammengebrochen. Auch das liberale Weltbild bleibt von diesem Zusammenbruch nicht verschont. Geschichtliche Ereignisse sind dann epochal zu nennen, wenn sie auch Konsequenzen für die Weltbilder haben und wenn mit ihnen ganze Weltbilder zusammenbrechen. Nichts anderes wollte ich hier deutlich machen. 

Wir müssen uns darüber klarwerden, daß wir es beim Zusammenbruch des existierenden Sozialismus und bei der Krise des Liberalismus mit einem Umbruch zu tun haben, der weltbildumstürzende Folgen und Konsequenzen zeitigt. Wenn das der Fall ist, dann hilft uns in der Tat nichts anderes, als zu philosophieren. Bisher sind wir noch im marxistischen Denken verhaftet. Sartre hatte recht mit seiner These, daß der Marxismus die herrschende Philosophie der Epoche sei. 

Ist diese Epoche nun nach dem Zusammenbruch des Sozialismus beendet, oder leben und denken wir noch immer im Banne von Karl Marx? Sind wir allein schon deshalb in das postmarxistische Zeitalter eingetreten, weil der reale Sozialismus zusammengebrochen ist, oder denken wir nach wie vor in marxistischen Kategorien? Kann von einer postmarxistischen Epoche mitnichten die Rede sein? 

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