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3  Postmarxismus in Deutschland? 

Hegels Triumph über Marx    

 

 

 

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Wie auch immer ich den Zusammenhang der Marxschen Lehre mit dem existierenden Sozialismus bestimmen mag, es wird und kann niemals mehr zu einer Wiederholung eines Experimentes wie in der ehemaligen Sowjetunion kommen.

Nie wieder wird eine Gruppe von marxistischen Berufsrevolutionären in einem Staat die totale Macht übernehmen und diese Macht zur Verwirklichung des Zieles benutzen, die Geschichte abzuschaffen, eine tausendjährige Kultur zu vernichten, das Christentum auszurotten, die Zivilisation zu liquidieren und auf ihren Trümmern eine neue Gesellschaft mit einem neuen Menschen zu errichten, der den Staub aller bisherigen Geschichte von seinen Füßen schüttelt. 

Die totale Freiheit in der Egalität aller Lebensbedingungen und aller sozialen Verhältnisse war die Vision, die Glaubenskräfte zu entbinden vermochte, wie es nach unserer Erfahrung nur eine Religion vermag. Um die Tiefendimension des Zusammenbruchs dieser Vision nach dem Ende der Sowjetunion richtig zu beurteilen, genügt es nicht, sich mit der Feststellung zu beruhigen, eine Utopie sei gescheitert. Vielmehr hat sich die Gesellschaft selbst in ihre Bestand­teile aufgelöst. 

Im Chaos der Anarchie lösen sich alle integrativen Kräfte auf; Hunger, Elend, Verzweiflung schaffen eine sozial höchst explosive Lage, die nur mühsam durch die Entfesselung eines religiösen und nationalistischen Fundamentalismus gebändigt werden kann, und niemand weiß, wie lange. In Wahrheit erfüllten sich im realen Sozialismus Kafkas Erkenntnis, daß die Lüge zum Prinzip der Weltordnung gemacht wurde, und Dostojewskijs Prophetie, daß der Zerstörung christlicher Sittlichkeit die Herrschaft des Verbrechens folgen werde. 

Die Frage, wie weit Karl Marx und der Marxismus Anteil haben an dieser Perversion des auch aus ganz anderen Quellen gespeisten Sozialismus, ist von akademischer Natur und wird die theoretische Diskussion sicher noch lange beschäftigen. Bloch verfolgte die richtige Spur, als er vermutete, daß in der Realität der Sowjetunion der Marxismus bis zur Kenntlichkeit seiner selbst entfremdet worden sei.


Wer den weltgeschichtlichen Umbruch bedenkt, dessen Zeugen wir in den letzten Jahren waren und der mit der Wiedergeburt Rußlands aus der Kraft seines nationalen, konservativen geschichtlichen und religiösen Erbes seinen vorläufigen Abschluß gefunden hat, der mußte eine erregende Debatte unter den Intellektuellen in Deutschland erwarten. Diese Debatte hätte in Deutschland sogar intensiver als in anderen europäischen Ländern geführt werden müssen, da der Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion auch den Zusammenbruch der ehemaligen DDR und damit die Wiedervereinigung Deutschlands zur Folge hatte. Niemand kann übersehen, daß nicht nur ein sozioökonomisches Modell an seiner Ineffektivität scheiterte, sondern daß ein politisch-ideologisches Weltbild zusammenbrach, das mit den tiefsten Sehnsüchten der Moderne, ja, mit ihrer inneren Logik seit der Französischen Revolution verbunden war.

Das erstaunliche Faktum, von dem wenigstens in Deutschland berichtet werden muß, ist nun das völlige Ausbleiben einer dem epochalen Charakter der Ereignisse angemessenen Diskussion. Keiner der repräsentativen, wortmächtigen und öffentlich wirksamen Intellektuellen gibt zu erkennen, daß er von Zweifeln heimgesucht wird, ob seine Kategorien noch stimmen; niemand ist da, von dem man den Eindruck gewinnen könnte, daß er sein Weltbild überprüft und Veranlassung verspürt hätte, dasselbe neu zu ordnen oder überhaupt darauf zu verzichten. 

Dieser in der Tat folgenreiche Tatbestand bedarf einer Erklärung.  

Naheliegend ist der Gedanke, daß keine empirische Realität imstande ist, den Glauben an die Reinheit und Überzeugungskraft einer Idee zu trüben. Jedem Dementi der Wirklichkeit kann man den Rückzug in das Reich der Ideale, der Werte, der Theorie entgegenstellen. Niemand kann dem Argumenteines Gläubigen begegnen, daß die handelnden Personen und die Widrigkeit der Umstände am Zusammenbruch schuld seien und sich die Hoffnungen daher dieses Mal noch nicht erfüllt hätten. Im Gegenteil. 

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Da der Kapitalismus nicht besser und sein Scheitern auch nur eine Frage der Zeit sei, könne gar nicht ausgeschlossen werden, daß wir in Deutschland, vor allem angesichts der tiefen Enttäuschung und Frustration über die »Segnungen der Marktwirtschaft« in den neuen Bundesländern, schon bald mit einer neuen Sozialismusdebatte zu rechnen hätten. 

Leute wie Günter Grass und Stefan Heym verspüren keine Hemmung, wenn sie die Verhältnisse in den neuen Bundesländern in der Sprache des Marxismus als einen Akt kapitalistischen Kolonialismus beschreiben, und Heym war es, der seine Zuversicht auf die Zukunft des Sozialismus damit begründete, daß in der alltäglichen Erfahrung der zum Kapitalismus befreiten Menschen in den neuen Ländern der Kapitalismus selbst die Wahrheit der marxistischen Lehre erweisen werde. 

Nichts bestimmt die intellektuelle Diskussion mehr als die Beschwörung der sozialen Errungenschaften des marxistisch-leninistischen Systems und die Trauer darüber, daß der Kapitalismus sie nun zunichte machen könnte. Für manche erhält der Marxismus gar erst jetzt seine wahre Chance, nachdem sein abschreckendes Konterfei beseitigt und der Kapitalismus gezwungen sei, sich nicht durch seinen Feind, sondern aus sich selbst heraus zu legitimieren. Es ist also sehr problematisch, von einem Postmarxismus in Deutschland zu sprechen. Die alten und die neuen Sozialisten scheinen sich, soweit sie nicht in Nostalgie versinken, ihrer Sache fast unvermindert sicher zu sein. Das ist um so erstaunlicher, als einer ihrer intelligentesten Vertreter eingestehen mußte, daß ein operatives Sozialismusmodell nicht mehr zur Verfügung stehe.

Nun wird man einwenden, daß es verständlich sei, wenn die traditionelle und neue Linke Schwierigkeiten haben, sich von ihren Träumen einer besseren Welt oder einer solidarischeren Gesellschaft — mehr ist jetzt mit Sozialismus nicht mehr gemeint — zu verabschieden. Anders müsse doch die Diskussion im bürgerlichen intellektuellen Lager verlaufen. Diese Vermutung trifft auch zu. Wir haben es hier mit zwei typischen Reaktionen zu tun, die in zwei Begriffen ihren Ausdruck und Niederschlag finden:

1. dem Begriff des Totalitarismus,
2. dem Begriff der Utopie.

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Die liberale Intelligenz hatte immer schon ihr Verhältnis zum Marxismus und zum existierenden Sozialismus durch diese beiden Begriffe definiert. Mit diesen Begriffen hatte die liberale Intelligenz ihre Ablehnung begründet, und sie meint daher — nachdem die Geschichte ihre Theorie bestätigt hat —, erleichtert und beruhigt zur Tagesordnung übergehen zu können. Sie glaubt, daß der Liberalismus nunmehr definitiv gesiegt habe. Was das Totalitarismusargument angeht, so ist dieser Gedanke völlig evident. Totalitarismus ist nicht nur moralisch der Name für ein verbrecherisches System, sondern er verurteilt eine Gesellschaft auch zur Unfähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, und führt damit zu ihrer Erstarrung und Sklerotisierung, was früher oder später zu ihrem inneren Zusammenbruch führen muß. Die Fragen, die liberale Totalitarismusargumente nicht beantworten, weisen über den Marxismus hinaus, sie sind aber von prinzipieller Bedeutung. Diese Fragen sollen hier wenigstens angedeutet werden:

1. Die Herrschaft des Totalitarismus ist ein Produkt — wenigstens im Westen — der Krise des liberalen Systems. Die Ziele des marxistischen Sozialismus sind und waren darauf gerichtet, gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, die dem Liberalismus erst zu seiner wahren Verwirklichung verhelfen sollten. Ansatz der Marxschen Kritik war die Forderung, die Idee des Liberalismus mit seiner frühkapitalistischen Wirklichkeit zu vergleichen und aus dem aufgedeckten Widerspruch die Notwendigkeit abzuleiten, seine bürgerliche Erscheinung zu beseitigen. Der Marxismus verstand sich als der radikale und konsequent zu Ende gedachte Liberalismus und wird nur mit diesem alsTheorie untergehen.

2. Es gibt nicht nur den marxistischen Totalitarismus, es gibt auch den nationalsozialistischen und faschistischen. Es könnte sich als die größte Illusion bürgerlich liberaler Intellektueller herausstellen, zu glauben, nun sei in dem vom Sozialismus befreiten Teil Europas nur noch der Liberalismus als allein denkbare Alternative übriggeblieben. 

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Wenn der Moskauer Bürgermeister Popow die Situation in Rußland mit der der Weimarer Republik in Deutschland verglich, dann sicher nicht in der Absicht, auf den bevorstehenden Sieg des Liberalismus aufmerksam zu machen. Die »Faszination« faschistischer Lösungen wächst immer unter dem Eindruck der Unfähigkeit liberal verfaßter Demokratien, überlebensdringliche Probleme zu lösen, oder sie ist eine Folge der Erschöpfung der Fähigkeit, kulturelle und moralische Dekadenz zu ertragen. 

3. Es ist in diesem Zusammenhang an die Prognosen kulturkritischer Konservativer zu erinnern, die bereits im 19. Jahrhundert — man denke etwa an Tocqueville, Nietzsche und Burckhardt — auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht haben, daß sich auch ein »sanfter, egalitärer, konsumistischer Totalitarismus« durchsetzen könne, der auf die primitiven Methoden der totalitären Machthaber im 20. Jahrhundert nicht mehr angewiesen ist, um eine totale Gleichschaltung der Gesellschaft zu erreichen.

 

Gemeint ist eine Entwicklung, wie Hegel sie bereits im Auge hatte, als er in der »Rechtsphilosophie« von der Gefahr sprach, daß die Gesellschaft sich absolut setzen und die Herrschaft des »Atheismus der sittlichen Welt« verwirklicht werde. Es gibt also auch einen illusionären Postmarxismus, der den Teufel nicht bemerkt, auch wenn der ihn bereits am Kragen gepackt hat.

Vielleicht hat kein Argument mehr dazu beigetragen, die geschichtlich fällige Diskussion um die Frage zu verhindern, was nun an die Stelle des Marxismus als der herrschenden Philosophie der Epoche treten könne, die er doch zweifellos bis gegen Ende der 80er Jahre war, wenn man einmal von der Umorientierung der französischen Intellektuellen absieht, die sich unter dem Eindruck des Archipel Gulag Solschenizyns in Frankreich vollzogen hatte.

Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff der Utopie. Was meine ich eigentlich, wenn ich den Zusammenbruch des existierenden Sozialismus mit dem Scheitern einer Utopie erkläre? 

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Ich stelle damit nicht nur die Unvermeidlichkeit fest, mit der jede Utopie aus der Notwendigkeit ihres Begriffes scheitern muß, sondern ich suggeriere damit zugleich, daß nach dem Scheitern der Utopie die Normalität wiederhergestellt ist. So begründet Joachim Fest die Überlegenheit unserer liberalen Verhältnisse mit dem Argument, der Liberalismus sei keine Utopie und brauche daher auch keine. Das mag man bezweifeln. Wichtig ist aber etwas anderes.

Die strategische Bedeutung dieses Arguments besteht doch darin, daß der Marxismus-Leninismus aus der Logik der Moderne herausgebrochen und als eine geschichtliche Monstrosität erscheint, die nur aus dem Bruch mit der auf Liberalität angelegten Moderne verstanden werden kann. Verlauf und Ausgang der Debatte um das Phänomen des angeblichen oder wirklichen Postmarxismus wird davon abhängen, wie wir den marxistisch-leninistischen Sozialismus der Moderne im ganzen ein- oder zuordnen. Es darf daran erinnert werden, daß noch vor wenigen Jahren in Deutschland die Meinung nicht nur unter linken Intellektuellen anzutreffen war, daß der Sozialismus als die im Vergleich zur bürgerlichen höhere und überlegenere gesellschaftliche Organisationsform galt. Man billigte ihm — bei allen Fehlern und Unzulänglichkeiten — zu, den qualitativen Sprung aus der Entfremdung aller bisherigen Geschichte geschafft zu haben. Wenn er auch noch nicht das Bedürfnisniveau hochkapitalistischer Gesellschaften erreicht habe, so könne er doch für sich beanspruchen, den Faschismus prinzipiell überwunden zu haben und daher die fortschrittlichste gesellschaftliche Formation der Geschichte zu sein.

Es stellt sich daher die Frage nach den Kriterien und Maßstäben, die ein Urteil über den fortschrittlichen oder reaktionären Charakter einer Gesellschaft überhaupt ermöglichen. Wer entscheidet über diese Kriterien? Geht man von den der progressiven Bewegung seit der Französischen Revolution immanenten Kriterien aus, dann wird man nicht leugnen können, daß sich im gesellschaftlichen Entwurf des Marxismus die tiefsten Sehnsüchte, ja, die Logik selbst erfüllen sollte, auf die sich die Moderne mit der Philosophie der atheistischen Aufklärung und des utopischen Sozialismus festgelegt hatte. 

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Es ging um das geschichtliche Projekt von Naturbeherrschung und um die Verwirklichung eines geschichtlichen teleologischen Sinns: Ziel war eineWelt aufgehobener und beherrschter Kontingenz. Absicht war die Abschaffung des Schicksals und die Beendigung von Politik — mit Bloch gesprochen: die Herstellung der Welt als Heimat. Es ging um die Überwindung der Entfremdung von Subjekt und Objekt, um die Identität von Freiheit und Gleichheit sowie um die Erfüllung und Vollendung von Demokratie.

Der Marxismus ist sicherlich nicht die einzige ideologische Formation, die sich an Vorstellungen dieser Art orientierte, aber er kann für sich beanspruchen, die radikalste und konsequenteste Variante dieses Glaubens der Moderne zu sein. Die Erschöpfung utopischer Energien, durch die die gegenwärtige Lage gekennzeichnet ist, verbindet sich daher nicht zufällig mit Thesen vom Ende der Geschichte, vom Ende der Politik und damit vom Ende der Moderne überhaupt.

Wie dem auch sei: Solange die Moderne dem ihr eingestifteten »Telos«* folgt, so lange wird sie ohne Utopien nicht leben können. Wirtschaft produziert die Mittel zum physischen Überleben, aber Wirtschaft selbst ist kein Ziel. Aus dem unveränderbaren Bedürfnis nach Utopie aber ist kein Trost zu schöpfen. Die Moderne hat sich in eine Lage hineinmanövriert, in der es morgen gar keine Antworten mehr geben wird, es sei denn solche, die die Intellektuellen noch gestern mit Abscheu und Ekel als konservativ von sich gewiesen hätten. Wenn die modernen Staaten im Begriff sind, von Organisationen internationalen Verbrechens unterlaufen, und die Systeme sozialer Sicherheit, durch Immigrationsströme unvorstellbaren Ausmaßes erdrückt zu werden, dann sind die Progressiven, auch wenn sie sich linke »Libertäre« nennen (Glotz), mit ihrem Latein am Ende.

Wie kann man ohne utopisches Pharmakon realitätsgerecht und aus einer unenttäuschbaren Hoffnung in dieser Welt leben? An dieser Stelle unserer Überlegungen wird man daher der Frage nach der Lage des Christentums und der Kirchen in Deutschland nicht ausweichen können. Was bedeutet für sie der Postmarxismus? 

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Der Zusammenbruch aller praktizierten Modelle des Sozialismus im 20. Jahrhundert scheint für die theologische Reflexion der Lage der Christenheit bisher keine Konsequenzen zu zeitigen. Im Gegenteil: Man hat manchmal den Eindruck, daß ein Sozialismus, der seine marxistisch-klassenkämpferische Begründung durch eine christlich-soziale ersetzt, unverändert als das einzig mögliche und erstrebenswerte Ideal gesellschaftlichen Fortschritts erscheint. Das ist nicht weiter erstaunlich, wenn man bedenkt, daß die Verwandlung des Christentums in eine Art Sozialreligion die unvermeidliche Folge der Säkularisierung aller Inhalte christlicher Theologie durch die Theologen selbst war. 

Diese Theologie geht ebenso wie der Marxismus davon aus, daß geschichtsprovidenziell die totale Säkularisierung der modernen Gesellschaft unaufhaltsam sei und in einem Zustand enden werde, in dem es keine Religion mehr gibt. Sie säkularisierte daher alles, was an Substanz der christlichen Dogmatik fast zwei Jahrtausende lang unstrittig war. Für die mehr konservativen Theologen waren Kirche und Theologie nicht viel mehr als eine Art korrigierende Gegenkraft zum modernen Rationalisierungsprozeß, ohne diesen aufhalten oder im Kern verändern zu können. So konnte für die neokonservativen Intellektuellen die These, Religion sei Kontingenzbewältigung — also eine Methode, mit den Schicksalsschlägen des Lebens fertig zu werden —, zu einem Kern ihrer Theorie werden. Was die Vertreter der Kontingenzbewältigungsthese mit den Säkularisierern gemeinsam haben, ist die Neigung, die Frage nach der theologischen Wahrheit nicht mehr zu stellen und die Religion nur noch funktional zu verstehen — bezogen entweder auf die Beschleunigung der Geschichte, die die Religion zum Verschwinden zu bringen droht, oder auf deren Hemmung, um den Menschen vor dem totalen Zugriff der Gesellschaft zu bewahren.3)

Es vollzieht sich ein Traditionsbruch: Es gelingt nicht mehr, auch nur das elementarste Wissen um Wahrheit und Geschichte des Christentums an die nächste Generation zu vermitteln. Über christliche Herkunft und Substanz unserer Kultur breitet sich der Schleier einer fast völligen Ignoranz aus.

3) Näheres zur Kritik des Neokonservatismus in: Günter Rohrmoser: Religion und Politik der Moderne, Graz-Wien-Köln 1989.

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Die Bestände christlicher Lehre und Überzeugungen degenerieren zu Objekten beliebiger Interpretation und Manipulation. Nietzsches buddhistisch-anarchistisch bestimmtes Bild vom Stifter des Christentums ist für ein dualistisch-gnostisch sich immer stärker formierendes christliches Weltbild am Ende der Moderne ebenso charakteristisch wie die Dekadenz christlichen Selbstbewußtseins, die Nietzsche mit der Herrschaft christlicher Moral verbunden sah. Das Christentum stirbt als substantielleWahrheit, so hat man den Eindruck, aber es überlebt als Moral. Die schlimmste Wunde, die sich das Christentum selbst zufügte, ist die Moralisierung des Sündenbegriffs. Die Folge ist, daß sich die religiöse Intention heute am Christentum vorbei auf vor- und außerchristliche Formen der Religiosität richtet. 

Ist der Mensch von Natur aus gut, dann ist das ganze Christentum abgetan, heißt es in Hegels »Religionsphilosophie«. Es ist in der Tat nicht einzusehen, wovon das Christentum erlösen sollte, wenn es nichts mehr im Menschen gibt, was der Erlösung bedarf. Dann kann das Christentum nur noch auf seinen Nutzen hin befragt werden, inwiefern es der Befreiung von dem zu dienen vermag, wovon befreit zu werden der Mensch ein jeweiliges Bedürfnis empfindet. Die Diskussion um die tiefenpsychologischen Methoden des Theologen Eugen Drewermann ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den Grad der Enthistorisierung, den das Christentum auch im Bewußtsein der Gläubigen erreicht hat.

»Postmarxismus« scheint also kein zutreffender Begriff zu sein, um die intellektuelle Situation und das allgemein herrschende Bewußtsein nicht nur in Deutschland zu beschreiben. Warum gibt es in Deutschland keinen Postmarxismus? Weil die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge nicht mehr gegenwärtig sind, die den Marxismus vorbereiteten und ihn voraussetzten. Andere philosophische Traditionslinien sind bei uns neben der Exegese des Marxismus in der Versenkung verschwunden oder erfolgreich ausgegrenzt worden. Postmarxismus in Deutschland ist so lange kaum möglich, wie das Verhältnis von Hegel zu Marx, das einst als Initialzündung für die weltgeschichtliche Bewegung des Marxismus wirkte, nicht aufgearbeitet und der liberalkonservative Hegel nicht gegen den sozialistischen Marx rehabilitiert ist.

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Hier zu einer Klärung beizutragen ist die Absicht der nachfolgenden Ausführungen.

Pluralisierung der Gesellschaft, Anerkennung der Menschenrechte, Verwirklichung des Rechtsstaates, Anerkennung einer politischen Opposition und eine Verstärkung marktwirtschaftlicher Elemente, das sind die Forderungen aller Kräfte in Osteuropa. Diese Forderungen haben sehr wenig bis gar nichts mit der Theorie von Karl Marx zu tun. Die Reformer knüpfen hier vielmehr an die bürgerliche Tradition an, vor allem an die Philosophie Hegels, gegen den Karl Marx seine Theorie formuliert hatte. Diese Form des revolutionären Umbaus des Sozialismus in ein liberales System muß uns daher veranlassen, die Diskussion um das Verhältnis von Marx und Hegel erneut zu führen, glaubte doch Marx im Gegensatz zu Hegel, daß es über die Französische Revolution hinaus noch einer weiteren, nämlich einer sozialistischen Revolution bedürfe, um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu erringen

Hegel und Marx haben — das sei zuerst angemerkt — die Französische Revolution begrüßt und gefeiert, beide haben in ihr einen bedeutenden Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, ja, ihrer Verwirklichung gesehen. Sie waren sich aber auch darin einig, daß diese Revolution noch nicht die schlußendliche Lösung des Problems der Verwirklichung der Freiheit sei. Marx und Hegel teilten die Überzeugung, daß die aus den praktischen Folgen der Revolution entstehenden Zustände sich letztlich als unhaltbar erweisen würden. Was Marx den real existierenden Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft und der sie legitimierenden Idee nannte, bestimmte Hegel als die Aporie*, die Verlegenheit, in der die Geschichte nicht bleiben, aus der sie aber auch in der Beschränktheit ihres bürgerlichen Selbstbewußtseins keinen Ausweg finden könne.

Wir wollen uns hier nicht im Gefühl der Genugtuung darüber äußern, daß Hegel aus einem großen weltgeschichtlichen Ringen gegen Marx als Sieger hervorgegangen ist. 

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Aber der Zusammenbruch des realen Sozialismus hat doch — wie auch immer man im einzelnen die Bedeutung, die das Marxsche Denken für den existierenden Sozialismus gespielt hat, bestimmen mag — insoweit mit Marx zu tun, als es diesen Marxismus, diesen marxistischen Sozialismus, ohne Marx nicht gegeben hätte. Und wenn ich den Namen Marx nenne, dann kommt man überhaupt nicht daran vorbei, die Frage zu stellen, wie und wodurch Marx zu dieser weltgeschichtlichen Rolle gekommen ist. Welchen geistigen Impulsen, welcher Herkunft verdankt Marx seine ungeheure Bedeutung, die er zweifelsohne im 20. Jahrhundert gehabt hat? Wenn man diese Frage stellt und Marx verstehen will, dann kommt man selbstverständlich an Hegel nicht vorbei. Der Marxismus hat in allen seinen Ausprägungen im 20. Jahrhundert dazu beigetragen, das Denken von Hegel gegenwärtig zu halten und wiederzubeleben. 

Karl Marx hatte bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts bedauernd festgestellt, Hegel werde behandelt wie ein »toter Hund«. Marx meinte, das hätte dieser »große, prächtige alte Kerl« doch nicht verdient. Und allein dieser Satz macht es wert, daß wir uns an Hegel erinnern. Zweifellos ist das 20. Jahrhundert in seinen bedeutsamen philosophischen Tendenzen und Bewegungen ohne die Mitvergegenwärtigung Hegels in allen Formen des Marxismus überhaupt nicht denkbar. Vielleicht wäre Hegel eine mehr oder weniger akademische Angelegenheit, also ein »toter Hund«, geblieben, wenn wir uns nicht daran gewöhnt hätten, Marx als den Schüler, als den Nachfolger Hegels zu bezeichnen. Der Marxismus glaubte immer, Hegel habe in dem, was er eigentlich gemeint hat, in Marx erst seine Vollendung und seine Erfüllung gefunden. 

Diese genealogische Zuordnung von Marx und Hegel als eine Art Diskurspaar, die den Schlüssel zum Verständnis der geistigen und auch politischen Geschichte des 20. Jahrhundert darstellt, hat auf der einen Seite bewirkt, daß Hegel mit Marx gegenwärtig blieb. Auf der anderen Seite aber hat diese Zuordnung dazu geführt, daß Hegel immer nur von den Fragestellungen Marx' her gesehen wurde. Hegel galt als eine Art Prämarxist, während Marx als die Erfüllung dessen galt, was Hegel intendiert hatte und was zu erreichen er auf dem Wege war.

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Diese Sichtweise hatte für die Gegenwart und unser Verhältnis zu Hegel eine ganz fatale Konsequenz. Denn die Folge war, daß mit dem Zusammenbruch des sich auf Marx berufenden Sozialismus auch Hegel als gescheitert und erledigt galt: mit dem Gedanken einer möglichen Vollendbarkeit der Geschichte, mit der Vorstellung von der Herrschaft der Vernunft in der Geschichte und mit dem Begriff der Totalität; Hegel sei als Geschichtsphilosoph ein Vorläufer desTotalitarismus gewesen. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus sei Marx und mit ihm eben auch Hegel gescheitert. Ist Hegel wirklich mit dem zusammengebrochenen Sozialismus und dem darin gescheiterten Marx gescheitert, oder verhält es sich nicht vielmehr so, daß gerade in diesem Ereignis Hegel über Marx triumphiert?

Wie steht es um das Verhältnis von Hegel und Marx, wenn wir es von Marx und der marxistischen Interpretation aus betrachten? Dieses Verhältnis hat sich in einigen etwas vereinfachenden primitiven Formen niedergeschlagen. Durchgesetzt hat sich der Satz, daß Marx Hegel erst auf die Füße gestellt hätte. Das ist eine sehr merkwürdige Vorstellung, daß Hegel auf dem Kopfgestanden habe und es eines Marx bedurft hätte, ihn auf die Füße zu stellen, und daß Marx den wahren Begriff der Versöhnung und der Freiheit, den Hegel nur in der Abstraktion des Begriffes gehabt hätte, praktisch hervorzubringen gedachte. Gemeint ist MarxensTheorie der revolutionären Praxis.

Das ist die entscheidende Umkehrung, die Marx an und mit Hegel vollzogen hat: Marx knüpft an Hegel an und billigt ihm zu, daß Hegel im Element des Gedankens, im Element des Begriffs die Wahrheit gefunden habe, daß aber diese nur philosophisch gedachte Wahrheit eine zerrissene und unversöhnte Wirklichkeit noch außer sich gehabt hätte. Marx hätte nun in der Anknüpfung an Hegel, in der Wendung gegen Hegel, in der Destruktion des Hegeischen Gedankens einer philosophischen Versöhnung, dessen Intentionen in eineTheorie der revolutionären Praxis transformiert, um dann geschichtlich das zu verwirklichen, was Hegel nur im Element der Philosophie erkannte. 

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Wir wollen dieser Wendung von Marx aus nachgehen und uns noch einmal vergegenwärtigen, wie Marx sich den zukünftigen Ablauf der Geschichte vorgestellt hat. 

Marx war ganz eindeutig der Meinung, daß durch die Revolution nicht nur alle bisherige Geschichte zu der Bedeutung einer Vorgeschichte herabsinken, sondern daß aus der Revolution heraus erst die wahre und die eigentliche Geschichte des Menschen beginnen werde, daß durch den dann zu errichtenden Sozialismus ein Niveau der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und Reife erreicht werde, hinter die dann die bürgerliche Gesellschaft als ein Bestandteil der Vorgeschichte herabsinke. Erst in dieser aus der Revolution hervorgehenden Endbestimmung der Gesellschaft würden alle Versprechungen an Freiheit, die es in der Geschichte der Religionen und auch in der Geschichte der Philosophie gegeben habe, Wirklichkeit werden. Die Beendigung der bisherigen Vorgeschichte, die Verwirklichung einer Gesellschaft auf einem bisher in der Geschichte nie erreichtem Niveau und die Gestalt wirklicher menschlicher Befreiung würde erst dann Ereignis und geschichtliche Wirklichkeit werden.

Wenn wir diese gegen Hegel entwickelte Perspektive, die Marx vom zukünftigen Ablauf der Geschichte vorschwebte, mit dem vergleichen, was heute im Zusammenbruch des Sozialismus sichtbar wird, dann wird man um die Feststellung nicht herumkommen, daß der von Marx angezeigte geschichtliche und gesellschaftliche Fortschritt nicht erreicht wurde und daß die sozioökonomischen Bedingungen nicht die Verwirklichung des angestrebten Maßes von Freiheit zugelassen haben. Das ist das Niveau, auf dem wir heute dieses weltgeschichtliche Ereignis interpretieren. Diese Perspektive wird der philosophischen Bedeutung dieses Ereignisses, also auch den Elementen an Philosophie, die durch die Marxsche Herkunft von Hegel her bedingt im Marxismus enthalten sind, nicht gerecht. Wir müssen uns vielmehr die Frage stellen, ob Marx Hegel überhaupt richtig interpretiert, ob er aus Hegel die richtigen Konsequenzen gezogen hat.

Wie stellt sich dieser Vorgang des Scheiterns der Marxschen Intention, die Geschichte aufheben zu wollen, angesichts der Realität und Wirklichkeit dar, die wir vor Augen haben?

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Ich darf hier von Hegel her noch einmal daran erinnern, daß es sehr schwierig ist, den Ansatz und die Antworten von Marx unmittelbar mit Hegel zu konfrontieren und an der Hegelschen Philosophie zu messen. Denn Marx hatte gesagt, daß es nun, nachdem Hegel die Philosophie vollendet hätte, über den von Hegel erreichten Stand der Vollendung der Philosophie hinaus überhaupt keine weitere Philosophie geben könne. Aus dieser Erkenntnis zieht er den Schluß, daß man das Element der Philosophie verlassen müsse. Marx trat mit dem Willen an, die Philosophie als Philosophie aufzuheben, indem er die nicht zur geschichtlichen Verwirklichung gekommene Intention Hegels aufnahm. Der große Satz von Marx ist, daß es nicht nur darum gehe, im Übergang zur revolutionären Praxis die Philosophie einfach zu negieren, sondern die Philosophie in der Form ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Verwirklichung als Philosophie aufzuheben. Daher steht mit dem Marxismus die geschichtliche Bedeutung, vielleicht sogar der ganze Sinn der Hegeischen Philosophie zur Debatte, wenn wir diesen Zusammenbruch des Sozialismus interpretieren.

Wenn wir die hier angesprochenen Thesen, das heißt die geschichtliche Wirklichkeit, vom Standpunkt Hegels aus analysieren, müssen wir auf die Inter­pretation der »Phänomenologie des Geistes« verzichten. Wir haben es vielmehr im wesentlichen mit der Hegeischen »Geschichtsphilosophie«, mit der Hegeischen »Rechtsphilosophie« und mit der Hegeischen »Religionsphilosophie« zu tun. Dabei müssen wir immer bedenken, daß die Hegelsche Philosophie als Ganzes Geschichtsphilosophie ist und daß es bei Hegel nicht nur eine der Geschichtsphilosophie gewidmete Abhandlung gibt.

Zunächst gibt es einen wichtigen Punkt, in dem Hegel und Marx übereinstimmen. Daran müssen wir erinnern, wenn wir die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander heute stellen. Marx und Hegel sind beide Denker der Revolution. Es geht beiden in der philosophischen Absicht und in der Praxis um Revolution. Auch die Hegelsche Philosophie hat zu ihrem zentralen, alles bewegenden Gegenstand die Revolution. Sie hat Hegel von seinen frühesten Anfängen bis kurz vor seinem Tode ständig in Unruhe, in Atem gehalten.

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Keine Philosophie vor Hegel war mit einer solchen Intensität mit dem Phänomen der Revolution befaßt. Es gibt in seinen späten Briefen eine Stelle, in der er seinem Freund Niethammer kurz vor seinem Tode schreibt: »Nachdem ein ganzes Leben lang wir gefürchtet und gehofft haben, und ein altes Herz meinte, es könnte zur Ruhe kommen, sei nun wieder ein Bruch geschehen und die Unruhe, und die Befürchtungen und Sorgen setzten von neuem ein.« Bis in die Biographie wirkte die Revolution auf Hegel.

Hegel und Marx haben — das sei zuerst angemerkt — die Französische Revolution begrüßt und gefeiert, beide haben in ihr einen bedeutenden Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, ja, ihre Verwirklichung gesehen. Sie waren sich aber auch darin einig, daß diese Revolution noch nicht die schlußendliche Lösung des Problems der Verwirklichung der Freiheit sei. Marx und Hegel teilten die Überzeugung, daß die aus den praktischen Folgen der Französischen Revolution entstehenden Zustände sich letztlich als unhaltbar erweisen würden. Was Marx den real existierenden Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft und der sie legitimierenden Idee nannte, bestimmte Hegel als die Aporie, die Verlegenheit, in der die Geschichte nicht bleiben, aus der sie aber in der Beschränktheit ihres bürgerlichen Selbstbewußtseins auch keinen Ausweg finden könne. Worin liegt nun aber die Differenz zwischen Hegel und Marx?

Hegel bezweifelte im Gegensatz zu Marx, daß es über das Resultat der Französischen Revolution hinaus eine weiterführende und vollendende Revolution geben könne, die nicht dazu führen werde, die in der Französischen Revolution erreichten Errungenschaften der Freiheit für den einzelnen zu gefährden oder gar abzuschaffen. Hegel hat dem Selbstverständnis der Revolution und damit der Aufklärung widersprochen, die abstrakt formale Freiheit ohne eine Aneignung der Substanz der Geschichte, ohne den christlichen Ursprung der Freiheit bewahren zu können. Er hat als letzter in der Moderne die Vernunft der Zwei-Reiche-Lehre* und ihre Bedeutung für das Verhältnis von Politik und Religion begriffen, und er hat versucht, Politik und Religion in eine vermittlungs­fähige Gestalt ihrer versöhnungsfähigen Entzweiung aufzuheben. 

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Marx dagegen hat »Aufhebung« im Gegensatz zu Hegel als abstrakte Negation verstanden. Er hat die formalen Freiheiten der bürgerlichen Gesellschaft negiert, statt sie im dreifachen Hegeischen Sinne aufzuheben, nämlich im Sinne des Negierens, des Bewahrens und des Emporhebens. Was Hegel im Unterschied zu Marx fürchtete, war eine Entwicklung, in der die Gesellschaft auf einen Zustand hindrängt, in der sie sozusagen die Gestalt des Absoluten werden könnte. Sie würde dann, so sah es Hegel bereits in der »Rechtsphilosophie«, den Menschen ganz an sich reißen, und der Mensch werde dann nur das sein dürfen, was die Gesellschaft ihm an Rechten und Möglichkeiten zubillige. Diese Hegelsche Befürchtung bewahrheitet sich unabhängig von den revolutionären Anstrengungen, den Sozialismus zu verwirklichen, heute überall. 

Auch in der westlichen Welt denken wir nur noch in gesellschaftlichen Kategorien, und in diesem Sinne sind wir genauso marxistisch wie orthodoxe Marxisten. Auch für uns ist der ökonomische Faktor derjenige, der in letzter Instanz alles bedingt. Auch wir denken den gegenwärtigen geschichtlichen Prozeß als die Transformation eines sozio-ökonomischen Systems in ein anderes. Wenn manche jetzt von einem Sieg des westlichen Systems über das östliche sprechen, dann sollten sie dabei nicht vergessen, daß sich in der Zielsetzung das östliche mit dem westlichen und das westliche mit dem östlichen einig sind: Beiden geht es um die Herstellung einer universalen Weltgesellschaft unter den homogenisierten Bedingungen von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, also um eine sich durch Emanzipation vereinigende und vollendende Menschheit. 

In der Zielbestimmung eines Endsieges der Menschheit in Freiheit und Gleichheit bestand zwischen den beiden Systemen nie eine Differenz. Der Streit ging immer nur um die Methode, wie dieses gemeinsam geteilte Ziel erreicht werden könnte. Man kann heute mit gutem Grund sagen, daß die westliche Methode über die östliche triumphiert hat. Gleichwohl ist noch viel mehr geschehen. Es ist im Sinne Hegels die Vernunft der Geschichte selbst, die sich, nach unendlichen Leiden und Opfern, heute im Rahmen des zusammenbrechenden Sozialismus zurückmeldet — und nicht nur dort.

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Marx war ein Denker der Revolution um der Praxis der Revolution willen. Der Antrieb, aus dem Marx heraus gedacht hat, war der Wille zur Revolution. Hegel ist ebenso ein Denker der Revolution. Die Hegeische Philosophie aber ist eine Theorie der Revolution, die begreifen will, was die Revolution war und was in dieser Französischen Revolution im Ablauf der Geschichte im Verhältnis zurVergangenheit wie auch zur möglichen Zukunft geschah. Vielleicht war die Revolution selbst nur ein Symptom und eine Manifestation eines anderen Prinzips, das sie selbst gar nicht erfaßt hat? Das war das Interesse, das Hegel an der Revolution hatte. Das Thema der Französischen Revolution ist durch die Vorgänge der letzten Jahre wieder aktuell geworden. 

Am Ende der Epoche der Oktoberrevolution zeigt sich, daß die Forderungen und Postulate der Französischen Revolution mit fast zweihundertjähriger Verspätung etwa in Rußland zu den Postulaten geworden sind, die das auf der Straße sich gegen das etablierte System erhebende Volk gegen die Oktoberrevolution erhebt. Das Volk selbst beendete unter Berufung auf die Ideale der Französischen Revolution die Epoche der Oktoberrevolution. Welch ein ungeheurer Vorgang! Zweihundert Jahre hat es gedauert, bis die Französische Revolution Rußland erreicht hat, und dies als Resultat und Konsequenz der gescheiterten Oktoberrevolution.

Worum geht es bei Hegel, insofern er sich der Revolution zuwendet? 

Bereits in der »Geschichtsphilosophie« blickt er auf die bürgerliche Revolution zurück und sagt, es sei beim Ausbruch der Französischen Revolution wie beim Aufgang eines neuen Tages gewesen, ein Enthusiasmus des Geistes hätte die Welt erfaßt, und es sei gewesen, als sei es zur Versöhnung mit der Erde gekommen.

Die meisten Interpreten haben diese Stelle nicht genau gelesen, denn sie haben den Konjunktiv übersehen. Hegel sagt nicht, es ist mit und in der Französischen Revolution zu einer Versöhnung von Himmel und Erde gekommen, sondern es schiene so, als sei es dazu gekommen. 

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Es ist bekannt, daß im Tübinger Stift Hegel, Hölderlin und Schelling* um einen Freiheitsbaum herumtanzten und den Ausbruch der Französischen Revolution feierten. Auch der alte Professor Hegel in Berlin hat es sich nie nehmen lassen, am Gedenktag der Französischen Revolution einen feierlichen schwarzen Rock anzuziehen, um diesem großen Ereignis zu gedenken. Hegel hat wie kein anderer begriffen, daß mit dem Ereignis der Französischen Revolution ein tiefer Bruch mit allem Bisherigen geschehen war; daß mit der Französischen Revolution ein völlig neues Prinzip in die Geschichte eintrat, an dem gemessen alle vorherige Geschichte, so schien es, zur Vergangenheit geworden war. 

Hegel begriff zweitens, daß mit dieser Französischen Revolution und dem Eintritt des neuen Prinzips in die Geschichte nicht nur etwas in der Geschichte passiert war, sondern daß die Geschichte selbst einen ganz neuen qualitativen Charakter empfangen hatte. Marx hat dies im »Kommunistischen Manifest« einmal auf den Begriff gebracht, wenn er sagt, daß nun die Geschichte selbst den Charakter einer permanenten Revolution angenommen habe. Mit der Französischen Revolution bricht die Geschichte in ihrer Einheit sozusagen in zwei Hälften auseinander. Seit der Französischen Revolution gilt die Erfahrung, daß die Zukunft vermittlungslos der immer mehr in die Vergangenheit zurücksinkenden Geschichte gegenübersteht. 

Dieser Bruch — also der Einbruch in die Kontinuität der Geschichte durch das revolutionäre Prinzip — bestimmt unsere politischenTageskämpfe bis zum heutigen Tag. Denn erst seit diesem Bruch gibt es überhaupt die Möglichkeit, politische Positionen nach den Kategorien von links und rechts, von Progressiv und Konservativ zuzuordnen: Alle, die sich auf die Seite der neuen Geschichte schlagen, die aus der Französischen Revolution hervorging, und die von dem Willen beseelt sind, dieses Prinzip zur geschichtlichen Verwirklichung und Vollendung zu bringen, gelten bis zum heutigen Tag als die »Progressiven«. 

Und alle die, die angesichts des revolutionären Einbruchs des Neuen sich auf die Seite der geschichtlichen Substanz schlagen, die durch die neue Geschichte depotenziert und zur Vergangenheit wurde, oder die retten wollen, was in dem Strome dieser revolutionären Veränderung unterzugehen droht, die nennt man bis heute »Konservative«. Nun zeigt sich, daß diese Zuordnungen, die bisher sämtliche ideologischen Grundlagen der Politik bestimmt haben, mit dem Zusammen­bruch des Sozialismus nicht mehr gültig sind.

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Die erste fundamentale Differenz zwischen Hegel und Marx liegt darin, daß sich Marx mit einer Radikalität, die von keinem anderen erreicht wurde, auf die Seite des aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Fortschrittsprinzips geschlagen hat. Er hatte den Willen, dieses Fortschrittsprinzip durch Revolution zu seiner Vollendung zu bringen. Insofern steht der ganze Marxismus, der ganze reale Sozialismus auf der Seite dieses aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Fortschrittsprinzips, in dem der Wille eingeschlossen war, alle bisherige Geschichte als etwas lediglich Vergangenes zu beenden und — wenn es nicht anders möglich war — auch zu vernichten.

Hegel hat sich auf keine der beiden Seiten geschlagen. Er war im politischen Sinne weder ein Progressiver noch ein Konservativer. Hegel hat sich vielmehr bemüht, die partielle Wahrheit, die sowohl in der progressiven als auch in der konservativen Interpretation liegt, zu erkennen und zu bewahren.

Warum nun hat Hegel die Französische Revolution und die durch die Französische Revolution erschlossene Epoche des Fortschritts bejaht? Hier ist an einen zweiten Satz in der »Geschichtsphilosophie« zu erinnern, wo Hegel die Französische Revolution interpretiert: »Hier ist etwas geschehen, was es nie vorher gab: Der Mensch versucht, eine Welt aus dem Kopf zu konstruieren.« Mit dem Zusammenbruch der Utopie erleben wir heute, daß dieser Glaube, diese Vorstellung, man könne eine Welt aus den Gedanken und dem Kopf konstruieren und sie dann verwirklichen, von der Geschichte selbst widerlegt wurde. Nach Hegel hat es 2000 Jahre gedauert, bis der Grundsatz, daß die Vernunft die Welt beherrscht und bestimmt — ein Grundsatz, der bereits bei dem alten griechischen Philosophen Anaxagoras* überliefert ist —, in der Französischen Revolution eingeholt wurde.

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Hegel holt dieses neue Prinzip, die Welt aus dem Kopf, aus dem Gedanken zu konstruieren, zurück in die Geschichte der Philosophie. Er sieht, daß in und mit der Französischen Revolution etwas geschichtlich zum Zuge kommt und eine politische Aktualität annimmt, was die Sache der Philosophie selbst betrifft, nämlich das in der Philosophie vor 2000 Jahren von Anaxagoras aufgestellte Prinzip, daß der »Nous«* das herrschende Prinzip in der Welt sei.

Hegel hat aber auch die Kehrseite der Französischen Revolution in der »Phänomenologie des Geistes« gesehen. Was ist die Kehrseite dieses in der Französischen Revolution aufgegangenen Vernunft- und Freiheitsprinzips? Wenn man das Kapitel aus der »Phänomenologie des Geistes« mit dem Titel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« betrachtet, so entdeckt Hegel dort, daß aus dem Freiheitsverständnis der Französischen Revolution, das im Prinzip das Freiheitsverständnis aller Gestalten des progressiven Gedankens war, notwendig der Terror hervorgehe. Er bemerkt die Geburt des Terrors aus dem Geiste der Freiheit der Französischen Revolution. 

Der Grund für dieses Auftreten des Terrors ist der, daß nach dem Willen des französischen Revolutionärs Robespierre die Tugend herrschen soll. Und die Tugend als das Abstrakt-Allgemeine, in dem der Freiheitsgedanke der Französischen Revolution gefaßt ist, schließt die Forderung in sich ein, daß die wahre Gesinnung herrschen soll. Wenn aber die wahre Gesinnung herrschen soll, dann könne jeder gegen jeden jederzeit den Verdacht richten, nicht in der wahren Gesinnung zu sein. Wenn die wahre Gesinnung herrschen soll, sagt Hegel, dann ist der Tod soviel wert wie das »Abschlagen eines Kohlhauptes oder das Austrinken eines Glases Wasser«. Die terroristische Wirklichkeit des Sozialismus ist damit von Hegel in hellsichtiger Weise antizipiert worden. Die Praxis der Durchsetzung eines totalen Anspruchs, der auch einen Anspruch auf die Gesinnung mit einschloß, war in der Tat in der sozialistischen Wirklichkeit der permanent gesetzte Terror.

Hegels Philosophie ist aber nicht nur Revolutionsphilosophie, Hegel ist auch der erste große Theoretiker der modernen Welt überhaupt. 

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Selbst Habermas, der wichtigste Vertreter der Neuen Linken in der Bundesrepublik, gibt zu, daß die einzige umfassende philosophische Theorie der modernen Welt bis zum heutigen Tag die Hegelsche sei. Das heißt, wenn wir uns mit Hegel beschäftigen, dann geht es über den Vergleich von Hegel und Marx hinaus um die brennendste Frage der Gegenwart, nämlich um die Frage nach Sinn und Unsinn, nach Vernunft und Unvernunft der modernen Welt im ganzen.

Was macht Hegel zu diesem unerreichten Theoretiker der modernen Welt? Hegel war der erste, der einen philosophischen Begriff von der Gesellschaft, und zwar von der modernen Gesellschaft, entwickelt hat, ohne den Marxens Philosophie überhaupt nicht denkbar gewesen wäre. Was ist bei Hegel mit »Gesellschaft« gemeint? Worin liegt das Wesen der Gesellschaft, zunächst in ihrer bürgerlichen, heute in ihrer postmodernen Gestalt? Hegel erkennt, daß mit der Durchsetzung des Prinzips des Rechts auf individuelle Freiheit geschichtlich etwas Neues geschehen ist. Mit der Französischen Revolution kehrt in die Geschichte das Motiv der Befreiung zurück. Die Revolution beabsichtigte die Emanzipation der modernen Gesellschaft, einer Gesellschaft, wie es sie vorher in einer 2000jährigen Theorie, von Platon* und Aristoteles* bis ins 18. Jahrhundert, nie gegeben hatte.

Gemeint ist die Emanzipation des Gesellschaftlichen — marxistisch formuliert — aus allen naturwüchsigen Strukturen und Ordnungen. Die Gesellschaft emanzipiert sich vom Staat und tritt als ein unabhängiges Subjekt dem Staat gegenüber. Alle gesellschaftlichen Relationen und Beziehungen sind die, die in sich unpolitisch und damit nicht staatlich geordnet und kontrolliert sind. Die unpolitische, in diesem Sinne auch ungeschichtliche Gesellschaft tritt damit in die Geschichte ein. Hegel hat sofort gesehen, daß dies das Moment des qualitativ Neuen und anderen ist, durch das sich die Moderne von aller bisherigen Geschichte unterscheidet.

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Zunächst muß festgestellt werden, daß Hegel diese moderne Gesellschaft bejaht hat. Damit trennt er sich von allen Versuchen des Traditionalismus und der Restauration. Hegel hat diese moderne Gesellschaft bejaht um der Freiheit willen, die erst unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zu ihrem Subjekt den einzelnen Menschen hat. Für Hegel liegt die philosophische, die geschichtliche Bedeutung der Französischen Revolution darin, daß die reale und konkrete Freiheit für den einzelnen erst durch die moderne Gesellschaft und im übrigen nur auf dem Boden dieser modernen Gesellschaft möglich ist. Diese moderne Gesellschaft konstituiert den »Not- und Verstandesstaat« (Hegel), einen Staat, den wir heute als Rechtsstaat bezeichnen.

Die wichtigste Forderung für den Aufbau Rußlands liegt heute darin, dort einen dem Recht verpflichteten und sich selbst dem Recht unterwerfenden Staat zu errichten. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz ist das Prinzip des Rechtsstaates, das durch die Französische Revolution geschichtlich erst möglich wurde. Vor dem Recht dieses »Not- und Verstandesstaates« ist jeder Mensch gleich, gleichgültig, so heißt es in der Hegeischen »Rechtsphilosophie«, ob jemand Jude, Christ oder was auch immer ist. 

Und damit ist dieses Prinzip der Rechtsgleichheit die Ermöglichung auch der Freiheit des einzelnen Individuums in der Gesellschaft, und dies ist der größte Freiheitsfortschritt, der in der 2000jährigen Geschichte des Kampfes um politische und rechtliche Freiheit erreicht werden konnte. Durch das Rechtsprinzip des »Not- und Verstandesstaates« bekommt der Mensch als Mensch zum ersten Mal ein Recht, ganz unbesehen, was er ist, was er kann, woher er kommt. Das ganze Experiment des totalitären marxistischleninistischen Sozialismus ist daran gescheitert, daß Karl Marx die Bedeutung und die geschichtliche Wurzel, an die dieses Rechtsprinzip gebunden war, nicht erkannt hat. Marx hat auf dem Wege der Vernichtung dieses Gleichheitsgrundsatzes die revolutionäre Verwirklichung von Freiheit gesucht.

Wer vor 20 Jahren in unserem Land für dieses Rechtsprinzip und für die darin enthaltene Anerkennung der Menschenrechte eintrat, galt unter Marxisten als ein »Ideologe der Menschenrechte«, der die Repressionsstrukturen der kapitalistischen Gesellschaft ideologisch verteidigen und rechtfertigen wollte. Dieser Ideologe wurde als eine Art Klassenfeind bekämpft. 

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Der Rechtsstaat ist nicht nur eine Sache, die in Rußland aktuell ist, sondern er ist auch eine bewegende Sache der ganzen geschichtlichen und politischen Entwickung der Bundesrepublik. Auch über unser Schicksal der Freiheit wird in letzter Instanz die Funktionsfähigkeit und Stärke des Rechtsstaates entscheiden.

Das Interessante ist aber, daß Hegel trotz dieser emanzipatorischen, befreienden, politisch die Freiheit realisierenden Bedeutung auch die Schattenseiten, die Negativität dieser bürgerlichen Gesellschaft mit einer solchen Radikalität entlarvt hat, daß die marxistische Kritik an dieser Kritik der bürgerlichen Gesellschaft durch Hegel nichts mehr hinzufügen konnte. Worin liegt für Hegel die Grenze der bürgerlichen Gesellschaft? Die Grenze der bürgerlichen Gesellschaft findet ihren Niederschlag in seiner Aussage, daß die bürgerliche Gesellschaft, wenn sie sich selbst gegenüber Geschichte, Staat und Religion absolut setzt, nichts anderes sei als der »Atheismus der sittlichen Welt«, die in ihre Extreme aufgelöste Idee der Sittlichkeit: Der Anblick, den die bürgerliche Gesellschaft bietet, sagt Hegel, ist der Anblick der »Ausschweifung, des Elends und des sittlichen Verderbens«. Hier haben wir einen ganz wichtigen Konvergenzpunkt von Hegel und Marx. Übrigens ein Konvergenzpunkt, an dem sich Hegel mit Marx gegen alle Formen des gegenwärtig florierenden Liberalismus gewandt hätte. Hegel ist damit der erste große Kritiker des Liberalismus.

Hegel war kein Liberaler, so wie wir heute Liberalität verstehen. In ihrer Kritik am Liberalismus bilden auch heute noch Marx und Hegel eine gemeinsame Front. Die Hegeische Begründung für diese Begrenzung der Anerkennung des Prinzips des Liberalismus ist klar. Er hat deutlich gesehen, daß die sich absolut setzende Gesellschaft Probleme produzieren wird, an denen sie selbst zugrunde geht. Marx geht hier mit Hegel konform, wenn er sagt, daß das radikal durchgeführte Prinzip der kapitalistischen Ausbeutung zur Selbstzerstörung des Kapitalismus führen wird, wobei für Marx immer auch die Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft eingeschlossen war. 

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Wenn die Gesellschaft zum Absoluten wird, so wie sie heute bei uns zum Absoluten geworden ist, wenn die Gesellschaft alles sein will und den Menschen ganz an sich reißt, dann würde nach Hegel diese bürgerliche Gesellschaft die an sie gebundenen Errungenschaften der Freiheit selbst verspielen. Hegel hatte erkannt, daß die Gesellschaft als das neue Absolute zur eigentlichen Religion der modernen Welt geworden war. Die sittliche und religiöse Substanz würde aufgelöst werden, es sei denn, sie würde durch den Nachweis gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung legitimiert. Dann werde die Gesellschaft zu dem Gegenstand, der an die Stelle der Anbetung Gottes trete. Hegel war der Meinung, daß eine solche Gesellschaft die an den zweitausendjährigen Prozeß der Verwirklichung der Freiheit gebundenen Resultate der Freiheit selbst vernichte.

Welche Konsequenz zieht Hegel im Gegensatz zu Marx? 

Die Hegelsche Theorie der Beschreibung der Grenzen der modernen Gesellschaft und ihrer inneren Widersprüche mündet nicht in eine Apologie der Revolution. Hegel wollte die bürgerliche Gesellschaft, anders als Marx, nicht revolutionär aufheben. Seine Antwort auf die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft war nicht die Revolution, sondern die Forderung nach einem »sittlichen Staat«. Hegel war der Meinung — und hier liegt der fundamentale Punkt, an dem Hegel dem Marxismus im Ansatz widersprochen hätte —, daß die Aporien und Widersprüche der Gesellschaft durch Revolution nicht zu lösen sind. Marx dagegen meinte, daß die durch die geschichtliche Konstitution bedingte Grenze der bürgerlichen Gesellschaft dadurch gelöst werden könne, daß man den gesellschaftlichen Antagonismus zwischen Produktionskräften und Produktionsverhältnissen beseitige. Im Gegensatz zur Vorstellung von Marx, daß der Widerspruch innergesellschaftlich aufgelöst und eine Identität oder eine Harmonie zwischen dem gesellschaftlichen und dem individuellen Interesse hergestellt werden könne — das war ja die ganze Absicht des existierenden Sozialismus —, war Hegel überzeugt, daß dieser Versuch zum Scheitern verurteilt sei und daß alle in der Geschichte erreichten Fortschritte im Bewußtsein der Freiheit damit verschwinden würden. 

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Die Hegelsche Lösung der Unauflösbarkeit dieser Widersprüche auf dem Boden und im Element der Gesellschaft treibt ihn zum »sittlichen Staat« als der Instanz der Versöhnung der Widersprüche in der Gesellschaft. Wieviel Polemik wird bis zum heutigen Tag daran verschwendet, Hegel als einen preußischen Staatsphilosophen, als einen Apologeten der bestehenden Verhältnisse zu schmähen. Dabei unterstellen wir irrtümlicherweise Hegel unseren Begriff vom Staat. In der Hegeischen Rechtsphilosophie ist dagegen in zweifacher Weise vom Staat die Rede: Hegel spricht einmal vom Staat als dem »Not- und Verstandesstaat«. Diesen Staat haben wir heute. Der Staat setzt die Rahmenbedingungen und die Spielregeln, um den innergesellschaftlichen Austausch und Verkehr nach formalen Regeln zu ordnen. 

Andererseits spricht Hegel aber auch von einem »sittlichen Staat«. Die ganze Schwierigkeit, Hegel heute zu verstehen, liegt in dessen Verständnis des sittlichen Staates. Offenbar denkt Hegel an einen Staat, der über die Funktionen, die der Staat in der Gesellschaft erfüllt, weitere Funktionen auf sich vereinigt. Hegel war der Meinung, die sich selbst überlassene Gesellschaft löse sich selbst auf. Daher sei in und gegenüber dieser Gesellschaft eine Substanz zu erhalten und zu retten, nämlich eine Substanz, aus der die Geschichte der Freiheit von den Griechen über die Christen bis auch zu den großen Denkern der Neuzeit gelebt habe. Hegel glaubte nun, daß der sittliche Staat dieser Ort zur Bewahrung der Freiheit sein könnte. Dieser sittliche Staat hat den Ort seiner Sittlichkeit nicht, wie viele Interpreten glauben machen wollen, in einer christlich indoktrinierten staatlichen Administration, sondern in der christlichen Gemeinde und in der gläubigen Subjektivität.

Es ist das Verhängnis der marxistischen Theorie, die die Aufhebung der Herrschaft zum Ziele einer politisch-gesellschaftlichen Herrschaftspraxis erhob, daß sie gerade zu dem Terror geführt hat, der vermieden werden sollte. Man kann heute mit gutem Grund sagen, daß die westliche Methode über die östliche triumphiert hat. Gleichwohl ist noch viel mehr geschehen. Es ist im Sinne Hegels die Vernunft der Geschichte selbst, die sich, nach unendlichen Leiden und Opfern, heute im Rahmen des zusammenbrechenden Sozialismus zurückmeldet — und nicht nur dort.

Der reale Sozialismus ist gescheitert, soviel steht fest. Mit dem vorläufigen Sieg des Liberalismus sind seine Stärken zumTragen gekommen, aber mittlerweile leben auch die Widersprüche desselben und der modernen Gesellschaft wieder auf, Widersprüche, an die Hegel schon erinnert hat. Sie machen sich, sieht man die politische Wirklichkeit etwas genauer an, unvermindert, wenn auch in neuer Weise bemerkbar. Stärken und Schwächen der Philosophie des Liberalismus herauszuarbeiten ist die Absicht des folgenden Kapitels, ehe wir dann die Schwachstellen desjenigen Liberalismus, der sich in Deutschland etabliert hat, aufzeigen und analysieren.  

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