7. Schule: Gewähren lassen, wachsen lassen
"Aber meine Tochter ist eine Tänzerin!"
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Meine Tochter sah ihr erstes Ballett mit drei Jahren, eine Weihnachtsaufführung von <Der Nußknacker>. Zwei Stunden lang war sie wie verzaubert. Als es vorbei war, verkündete sie, sie wolle Ballerina werden. Meine Frau und ich fragten uns, wie lange diese kindliche Begeisterung wohl anhalten würde. Eine Woche ... einen Monat ... ein Jahr?
Kathryn hat jetzt die High School abgeschlossen und ihr Wunsch besteht noch, stärker denn je. Der unbeholfene Charme ihrer ersten zögernden Tanzbewegungen ist längst zum Versprechen professioneller Könnerschaft geworden. Sie hat die Gabe, sie ist wirklich Tänzerin, das Ballett ist ihre Berufung. Ich habe keine Ahnung (denn auf was kann man in einer so verrückten und hektischen Welt wie der des Balletts wohl bauen?), ob es auch ihr Beruf wird. Auf jeden Fall wird es die wirkliche Schule ihrer frühen Jahre gewesen sein, die strenge und gern akzeptierte Disziplin, in der sie die Musik ihres Körpers erlernte, den Sinn der Kunst und den Reichtum der Imagination erfaßte.
Seit dem Tag, an dem mir klar wurde, wie ernst es Kathryn war, ist alles, was ich bis dahin in Bezug auf Erziehung geglaubt hatte, völlig umgekrempelt worden. Ich sah, wie meine Tochter eine authentische persönliche Entscheidung zu einer Arbeit und einem Studium traf. Sie hat sich mit der Intensität, die durch Inspiration entsteht, einer feinen und edlen Kunst verschrieben; sie ist in dieser Hingabe gewachsen und hat darin ihre besten und schlechtesten Eigenschaften entdecken können. Schmerzhaft deutlich erfuhr sie, was Höchstleistung bedeutet. Der Tanz hat ihr in lebendiger Form all die hohe Kultur nahegebracht, die ich seit Jahren (und meist erfolglos) Hunderten von Studenten zu vermitteln versuche. Ich konnte zusehen, wie der Tanz für sie zu all dem erblühte, was echte Erziehung sein sollte: ein leitendes Ideal, eine inspirierende Berufung.
Und ich sah noch etwas. Ich sah, wie die sehr bestimmte Entscheidung meiner Tochter für ein schöpferisches Leben in allen Schulen, die sie in drei Ländern besuchte, mit vollkommener Gleichgültigkeit aufgenommen wurde. Sie brachte eine reiche und zarte Begabung mit in die Schule — eine Begabung, die sie zum Studium von Musik, Geschichte und Literatur hinlenkte —, doch für ihre Lehrer war das eine nicht akzeptable Währung. So mußte die Schule schließlich qualvoll langweilig und gegenstandslos für sie werden, und sie bat, zum frühest möglichen Zeitpunkt davon befreit zu werden.
Was für Schulen hat Kathryn besucht?
Nur öffentliche Schulen — in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und in Kanada. Jedesmal Schulen, die man zu den 'besten' in ihrem System zählte. Meine Frau und ich — beide Produkte der öffentlichen Schule — sind in unserer Abneigung gegenüber Privatschulen geradezu fanatisch. Aufgrund tiefer Prägung durch unsere Herkunft aus der Arbeiterklasse haben wir gar nicht erwogen, Kathryn dieses Privileg einzuräumen. Aber es wäre auch gar kein Vorteil gewesen, davon bin ich überzeugt. Für ihre Begabung hätte es auch da weder Schutz noch Nahrung gegeben. Einmal gaben wir ihrem Drängen nach, endlich erlöst zu werden, und trafen uns zu einem Gespräch mit dem Direktor der, wie es hieß, besten (und teuersten) Privat-Akademie in Berkeley.
Betty und mir war gar nicht wohl dabei, unserem Kind ein Privileg einzuräumen, das wir als versnobt und ungerecht zu betrachten gelernt hatten. Aber wir gingen doch hin und ließen den Direktor alle Elemente einer 'Spitzenerziehung' vor uns ausbreiten: die 'akademischen' Fächer, das Versprechen strikter Ordnung und Disziplin, hoher Leistungsstandard, garantiert durch viel Hausarbeit, strenge Benotung und präzise kalibrierte College-Vorbereitung, zugeschnitten auf die Aufnahmeanforderungen der zehn besten Universitäten.
Alles war da, alles, was in sämtlichen Erziehungsdiskussionen, an denen ich je teilgenommen habe, als Kennzeichen einer guten Schule hervorgehoben wurde. "Wir verlangen ihnen was ab", sagte der Direktor im Brustton tiefster Überzeugung und gewährte uns Einblick in die akademischen Karrieren seiner Alumni: Harvard, Princeton, Yale, MIT ... Ärzte, Anwälte, Forscher, Professoren ... eine ganze Liste von <Top-Leuten>. Gewiß, das Schulgeld war hoch, aber gab es eine bessere 'Investition' für die Zukunft unseres Kindes?
"Aber unsere Tochter ist eine Tänzerin", warf ich ein. "Werden ihre Tanzkurse sich mit Ihrem Curriculum vereinbaren lassen? Zum Beispiel, indem sie nachmittags früher geht ...?"
Ah, da würde es wohl Probleme geben. Solche Sachen würden den Schüler nur von seiner Arbeit ablenken und die Disziplin der anderen gefährden. Schließlich stellen wir hier ja Anforderungen ... und hohe Anforderungen. Und Kathryn wollte doch sicher jede Chance nutzen, für das College ein ausgezeichnetes Abschlußzeugnis zu bekommen.
Aber wir waren nicht sicher, ob sie überhaupt aufs College wollte. "Sie möchte Tänzerin werden", erklärte ich noch einmal. Aber mir fiel auf, das war gar keine Erklärung. Es war schlicht die Benennung eines Wunsches, und den konnte man nicht erklären, allenfalls erkennen und akzeptieren.
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Nicht sicher, ob sie aufs College wollte ...? Eine leichte Befremdung verbreitete sich auf dem Gesicht des Direktors. Ja, warum kamen wir mit Kathryn dann zu ihm? Weil die öffentliche Schule eine solche Zeitverschwendung war.
Kathryn interessierte sich lebhaft für akademische Gegenstände. Sie war eine eifrige Schülerin — ausgezeichnete Noten, starke intellektuelle Motivationen und so weiter. Also suchten wir doch einen College-Vorbereitungskurs, wo ihr was abverlangt wird.
Nein ... Kathryn muß man nichts abverlangen, korrigierten wir. Sie konnte sehr gut unter eigenem Dampf arbeiten; wenn sie etwas mochte — Themen aus Kunst und Geisteswissenschaften, die sie mit dem Tanz in Beziehung setzen konnte —, arbeitete sie gern wie der Teufel. Wir suchten nach einer Schule, wo sie ihre Ausbildung auf den Tanz ausrichten konnte.
"Ach so." Dem Direktor kamen immer mehr Zweifel. "Nun, das hier ist eine akademische Schule ... für ernsthafte Schüler." Er begann Kathryn — die ihm den Eindruck eines ernsthaften Mädchens machte — zu versichern, sie würde später sicher bedauern, wenn sie die Voraussetzungen für ein College-Studium nicht habe. Und heute gab es ja beruflich so viele Möglichkeiten für junge Frauen; wäre es nicht besser, das Tanzen warten zu lassen, bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte? Für solche Hobbies gab es doch im Leben immer noch Platz — später.
Während er sprach, muß Kathryn wohl allmählich gedämmert haben, daß eine ,gute' Schule schlimmer sein könnte als die, in der sie war. Wo sie jetzt war, konnte sie wenigstens ungestraft Stunden schwänzen oder früher gehen, und jede Stunde, die sie versäumte, war später in ein paar Minuten nachgeholt. Es mochte ein lascher, öder und manchmal demoralisierender Betrieb sein, doch zumindest gab es hier eine Art Freiraum, in dem sie ihren eigenen Weg suchen konnte — geschaffen von ein paar sympathisierenden Lehrerinnen, die mitspielten und wegsahen, wenn sie mal fehlte oder mit der Hausarbeit in Verzug war. Vielleicht war das — so faul der Kompromiß sein mochte — das Beste, was sie erwarten konnte.
So kehrte Kathryn an die Berkeley High School zurück, um ihre Zeit abzudienen. Und irgendwo in dem administrativen Dickicht machte sie schließlich eine stellvertretende Direktorin aus, die ein Auge für ernstzunehmende Begabungen hatte. Mit leichter elterlicher Nachhilfe ließ sie sich dazu herbei, Kathryn an etlichen Anforderungen vorbeizusteuern, so daß sie früh ihren Abschluß machen konnte. Es war wirklich ein administratives Kunststück und der beste Beitrag, den je eine Schule zu ihrem Leben als Tänzerin geleistet hat.
Natürlich gibt es in abgelegenen Ecken der Welt besondere Schulen für begabte Kinder, für Studenten der bildenden und darstellenden Künste. Doch aus Kathryns Erfahrungen habe ich gelernt, daß dies keine Lösung für das erzieherische Grundproblem in unserer Gesellschaft ist.
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Solche Schulen gehen von schon erkannten Talenten aus, die nur noch entwickelt werden müssen. Sie sind da, um Blumen zu pflegen, die schon blühen. Und die meisten schwingen die Peitsche des 'Erfolgs' genauso wie unsere 'guten' Streberschulen. Das ist die harte Kehrseite von Kathryns Berufung — sie muß mit ihrer Gabe jetzt in die Welt der darstellenden Künste aufbrechen, in der vielleicht der schlimmste Konkurrenzdruck überhaupt herrscht und ihre schöpferische Kraft mehr bedroht ist als je zuvor.
Ich höre schon, wie ihre Mittänzerinnen und Lehrerinnen ihr eintrichtern, daß Aufstieg mehr bedeutet als Freude, daß Erfolg mehr zählt als Schönheit, und daß die Kunst des Tanzes etwas ist, das man sich aus Übungen in Lehrbüchern zusammenstoppelt, die entwickelt wurden, um die jungen Talente für die Bedürfnisse des corps de ballet zurechtzumechanisieren. Sonderbarerweise ist Kathryn ihrer Liebe zu Musik und Bewegung trotz all ihrer geistigen Unabhängigkeit in den vielleicht größten erzieherischen Anachronismus gefolgt: in die Welt des klassischen Balletts, die noch starrer als die Schulen, die sie hinter sich hat, auf unpersönlicher Präzision und Fließbanduniformität besteht, ein Zug, der dem Ballett noch aus der Zeit des zaristischen Rußland anhaftet.
Auch das war für mich als Erzieher aufschlußreich. Ich habe in Ballettschulen gesessen und beobachtet, wie Regimenter von Kindern durch Stunden, Tage und Jahre von erbarmungslosem technischem Drill gehetzt wurden, ich sah, wie der natürliche Fluß ihrer Bewegungen mikroskopisch fein zerstückelt und analysiert wurde, und ich begriff, daß der Übungsraum der Ballettschule einer der letzten Orte ist, wo man die traditionelle Pädagogik der westlichen Gesellschaft wie in einem Museum in ihrer reinsten und autoritärsten Form beobachten kann, völlig unberührt von den Reformen, die seit den Tagen John Deweys immerhin einen minimalen liberalisierenden Einfluß auf die öffentliche Erziehung gehabt haben. Es mag Ausnahmen geben, aber der Geist des alten Maryinsky-Theaters ist im Ballett noch erstaunlich lebendig und bewahrt bis heute eine Erziehungspsychologie, die sich viel auf ihre rigide Disziplin, auf Demoralisierung, Verhöhnung und niederschmetternde Kritik zugute hält — auf jede Art negativer Verstärkung, mit der man den Willen der Jungen brechen und ihre Originalität austreiben kann.
Wie die klassische Literatur im Westen lange Zeit nichts weiter war als eine Vorlage für geisttötendes Sätzezergliedern und Ableiern von Deklinationen, so freudlos und mechanisch, mit der gleichen entfremdeten Wirkung und der gleichen Rechtfertigung wird der klassische Tanz heute noch gelehrt: das öde Einerlei und die Selbstauslöschung sind gut für die Bildung der Seele, persönliche Interpretation und freie Selbstäußerung sind die Feinde wahrer Könnerschaft. Beim Ballett, das soll Kathryn lernen, ist Kreativität das Vorrecht der Choreographen; Tänzer sind Ausführungsmaschinen.
So droht also auch der Tanz — zumindest der klassische Tanz — ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf und fade Routine für sie zu werden. Und ich frage mich, wo in aller Welt es einen Schutzraum für das Idealistische, das Ursprüngliche, das Persönliche geben soll, wenn nicht unter den Künstlern.
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Geborene Sonderlinge
Ich möchte von einem Dilemma sprechen, das nicht von Kathryns Erfahrung als Tänzerin aufgeworfen wird, sondern von ihrer Erfahrung als Sonderling — als ein Kind, das einer Berufung folgt, für die es im etablierten Curriculum keinen Platz gibt. Es ist unser Dilemma, denn wir sind alle als Sonderlinge mit eigentümlichen Berufungen geboren. Ich meine, daß alle Erzieher, Eltern und Lehrer gleichermaßen die Verantwortung haben, diese Tatsache zum Leitmotiv aller Erziehung zu machen. Wir alle bringen eine völlig unerforschte und unvorhersehbare Identität mit ins Leben und in die Schule, und erziehen heißt, diese Identität mit äußerster Feinfühligkeit zu entfalten in der Erkenntnis, daß sie der kostbarste Besitz, der wahre Reichtum der ganzen Spezies ist.
Deshalb wäre es für die Probleme meiner Tochter keine Lösung, die heutigen Lehrpläne durch klassischen Tanz oder andere künstlerische Lernprogramme zu 'bereichern'. Auch hier würde es von Anfang an wieder Anforderungen, Prüfungen, Wettlauf um Noten geben — wie in den meisten Ballettschulen.
Überdies wäre die Annahme, die Schulen könnten allein durch Ausweitung der Curricula verbessert werden, nur eine Neuauflage der alten Unterstellung, die Lehrenden seien in der Lage, all das vorzuschreiben, was Kinder studieren oder werden können. Sie können es nicht, denn die menschliche Vielfalt ist unerschöpflich. Wie Kathryn bei ihrem Abenteuer als junge Tänzerin gelernt hat, gibt es unverwechselbare Eigenarten von Stil, Interpretation und Ausdrucksverhalten, denen kein festgelegtes Curriculum gerecht werden kann. Die Standardtechnik kann für die Besonderheiten jedes Tänzers zwar von Nutzen sein, aber sie enthält sie nicht und bringt sie nicht hervor.
So entdeckt Kathryn jetzt, daß sie nicht einfach nur tanzen, sondern ihre ganz eigene Art von Tänzerin sein will — sie will Tänze schaffen. Choreographin sein. Aber dafür findet sie in den Akademien wenig Gegenliebe, denn ihre Lehrer sind schließlich Lehrer — Inhaber von Autorität und Disziplinargewalt, für die es nichts Neues mehr geben kann, schon gar nicht von Seiten ihrer Schüler. Im Ballett-Curriculum sind Improvisation, freier Ausdruck, choreographische Erfindungsgabe oder gar offene ästhetische Diskussion nicht vorgesehen.
Doch das ist genau die Richtung, der die Erziehung der Person von Anfang an folgen muß: vom Schüler zum Lehrer. In jeder erzieherischen Beziehung hat zunächst der Lehrer etwas zu lernen. Er muß sich die Frage stellen: "Wer ist dieses Kind? Was bringt es mit in die Welt? Was habe ich hier zu entdecken, das noch niemand kennt?"
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Vor allem müssen wir wollen, daß die Kinder uns lehren, wer sie sind. Wir sollten die Begegnung mit ihnen, mit dem Unerwarteten, als einen Glücksfall betrachten und immer davon ausgehen, daß in diesen jungen Menschen eine Berufung darauf wartet, erkannt und benannt zu werden. In einer personalistischen Welt, so meine ich, bedeutet Erziehung: die Bestimmung des Kindes entdecken. Deshalb fällt dem Erzieher die Aufgabe zu, das Recht auf Selbstentdeckung über all die Kräfte der Welt zu stellen, die aus unseren Kindern nur noch mehr vom Gleichen, vom Bewährten, vom Erfolgreichen machen wollen.
In allen erzieherischen Kontroversen komme ich immer wieder auf den einen Bezugspunkt zurück — "Aber meine Tochter ist eine Tänzerin ..." Und weil sie es ist, haben die 'besten' Schulen keinen Platz für sie. Wenn sie nun Dichterin hätte werden wollen oder visionäre Physikerin, Heilerin, Zirkusclown, Yogi, Holzschnitzerin, Prophetin, Zauberin, Hellseherin, Kämpferin für gesellschaftliche Erneuerung, exzentrische Erfinderin, Närrin Gottes — wo wäre dann Platz für sie? Nirgendwo, außer in der Finsternis von Verachtung und Vorurteil.
Aber was wäre die menschliche Kultur ohne solch sonderbare schöpferische Geister?
Diese Frage habe ich oft an Lehrer — und mich selbst — gerichtet. Nehmen wir an, wir seien in einer 'guten' Schule; wir legen die Kinder an die Leine von hohen Leistungsnormen und hartem Konkurrenzkampf und hetzen sie in Richtung College und Karriere. Viel Arbeit, harte Benotung, strenge Disziplin. Und so lernen sie mit sechs Lesen, beherrschen bald den Aufsatz so, wie sie ihn für die Aufnahmeprüfung ins College brauchen, können ordentlich rechnen, hantieren virtuos mir ihren elektronischen Taschenrechnern ... alles nach Plan... nach unserem Plan. Und wir sehen die glänzenden Akademiker die soziale Leiter hochklettern, um Ärzte, Rechtsanwälte, leitende Angestellte zu werden; die Nichtakademiker müssen mit Jobs wie Klempner, Mechaniker, Schreibkraft vorlieb nehmen. Eine gute, praktische, leistungsorientierte Erziehung, die alle in schon bestehende soziale Boxen einsortiert.
Aber gehen wir ganz an den Anfang zurück. Angenommen, wir hätten damals im Kindergarten und in den ersten Schuljahren — also bevor wir sie zu dem machten, was sie dann wurden — gewußt, daß in diesen unerkannten und ungeformten Kindern etwas ganz anderes angelegt war, vielleicht eine Emily Dickinson, ein Nijinsky, ein Franz von Assisi ...
Was hätten wir dann von all den 'Leistungen', die diesen Verlust rechtfertigten? Welchen Gefallen hätten wir diesen Kindern wohl getan, indem wir ihre vielversprechenden Begabungen einfach auslöschten? Würden wir uns dann noch damit brüsten, daß unsere Drittkläßler den Anforderungen der fünften Klasse genügen und unsere Neuntkläßler denen des College?
College-Niveau ... das Niveau, auf dem ich lehre. Ich habe jetzt über zwanzig Jahre lang Erfahrungen mit Studenten der ersten Semester gesammelt, die schließlich den Weg nach ganz oben schafften.
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An der Stanford University habe ich die Kinder einiger der reichsten amerikanischen Familien unterrichtet, ehrgeizige Musterschüler, selbstsicher auf dem Weg zu glanzvollen Karrieren. Jetzt unterrichte ich an einer der California State Universities Studenten, die vorwiegend aus der unteren Mittelklasse und Arbeiterklasse stammen, darunter auch viele Schwarze und Chicanos, die sich alle um einen Abschluß abrackern, mit dem sie wenigstens vor Arbeiterdasein und Arbeitslosigkeit bewahrt sind ... und oft genug schaffen sie es nicht.
Alle Studenten, die ich unterrichtet habe, muß man als erfolgreiche Produkte unserer Schulen einstufen; sie gehören zu jenen 5 Prozent, die sich mit einer Gesamtnote aus dem oberen Drittel für das College qualifizieren. Das System kann stolz auf sie sein. Die Eltern können stolz auf sie sein. Sie sind die Glücklichen, die den Wettkampf überlebt haben. Und irgendwo unter diesen wenigen sind die ganz wenigen, die schließlich die Führer und Macher werden.
Aber wenn ich sie betrachte, sehe ich nur das, was ich selbst geworden war, nachdem ich meine Ausbildung an der Princeton Graduate School magna cum laude abgeschlossen hatte — ein trauriger Fall von konsequenter Fehlerziehung. Ich sehe verstörte und ängstliche Menschen, die glauben, daß es bei Erziehung und Bildung darum geht, Aufgaben zu erfüllen, Notenquerschnitte zu errechnen, es den Lehrern recht zu machen. Ich sehe geschulte Spezialisten, die mit vorgestanzten Darbietungen auf Gebieten, die keinerlei persönliche Bedeutung für sie haben, Beifall heischen.
Manche beherrschen das grandios; viele der Stanford-Studenten hatten sämtliche Tricks, mit denen man ständig die besten Noten angelt, schon in der ersten Klasse gelernt. Von denen, die ich jetzt unterrichte, beherrschen manche nicht einmal Rechtschreibung und Interpunktion und werden wahrscheinlich sehr schnell ausgesiebt — außer wenn sie Farbige sind, ein Sonderbonus, der ihnen Stützkurse und gutes Zureden einträgt. Doch Gewinner und Verlierer sind Opfer derselben pädagogischen Deformierung. Beide sind auf jene Minimalidentität zurechtgetrimmt, die wir ,Student' nennen.
Wieviel von sich selbst bringen sie mit, wenn sie sich zu meinem Kurs versammeln? Ein Vorderhirn, daß mit einem Sprechapparat, zwei Augen und zwei Ohren verdrahtet ist, das ganze nichts weiter als ein Prozessor für Wörter und Zahlen. So sitzen sie vor mir, langweilen sich, aber zwingen sich zur Aufmerksamkeit, lauter intellektuelle Apparate, die darauf warten, daß ich die vertrauten Knöpfe drücke: Wichtiges Faktum ... Große Idee ... Aufgabenverteilung ... Testfrage ... Richtige Antwort ... Literaturhinweis ... klick-klick-klick. Beobachte den Lehrer — finde heraus, was er will — tu es — hol dir den Schein — mach deinen Abschluß — schnapp dir den Job — beobachte den Chef — finde heraus, was er will — tu es — hol dir die Gehaltserhöhung.......
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Manchmal frage ich mich, ob irgendeiner von ihnen sich noch erinnern kann, wer er war und was er lernen wollte, bevor Schule und Lehrer ihn dressierten — und dann versuche ich, mit ihnen über den Sinn der Ausbildung zu diskutieren. Ich habe nicht die Illusion, daß innerhalb des Systems viel für sie getan (oder ungeschehen gemacht) werden kann, am allerwenigsten von jemandem, der so hoffnungslos akademisch ist wie ich selbst. Dennoch frage ich sie, ob Erziehung und Bildung nicht noch mehr sein könnten — etwas, an dem auch ihr persönlicher Stil und Geschmack beteiligt ist, etwas, das unserer gemeinsamen Arbeit einen Schimmer von Wirklichkeit geben könnte.
Aber solche Exkurse scheinen für die meisten nur verwirrend und peinlich zu sein. Nur einige ältere Studenten greifen das Thema auf — die Männer und (vor allem) Frauen, die schon Kinder großgezogen haben und jetzt mit vierzig oder fünfzig Jahren wieder in die Schule gehen. Die ernsthaften und kritischen Geister finden sich meist unter diesen Studenten; ich würde mit Vergnügen ganze Kurse solcher Leute unterrichten, wie es in den Volkshochschulen europäischer Länder geschieht. Doch für die anderen, die um ihren Job besorgten jungen Studenten, ist es zu spät, noch einmal zu überdenken, was Schule heißt, und zu früh, um sich zu fragen, was leben heißt. Ihre Erwartungen und Reaktionsweisen liegen fest. Sie wollen so schnell wie möglich wieder ,zur Sache' kommen — ihre Seminararbeiten schreiben, Prüfungen ablegen, Scheine hamstern... alles an der Oberfläche des Großhirns. Es macht sie nur nervös, wenn ich ihnen vorschlage, sich Studienobjekte vorzunehmen, denen sie sich mit persönlichem Engagement widmen können; sie haben keine Ahnung, wer sie als Person sind... oder sie mißtrauen mir, wenn ich sie bitte, mich sehen zu lassen, wer sie sind. Vielleicht halten sie so etwas für eine 'Fangfrage', was ich in ihrem Alter sicher auch getan hätte.
Die Welt schuldet uns allen ein zweites Leben mit einer neuen Erziehung, einer ,Heil'-Erziehung, die nichts mit Hausaufgaben, Noten und Prüfungen zu tun hat.
Das Interesse der Kinder
Ich empfinde einen tiefen väterlichen Stolz, wenn ich sehe, wie meine Tochter etwas wird, was ich niemals hätte vorhersehen oder selbst anbahnen können, etwas in unserer Familie noch nie Dagewesenes. Bevor sie sich ernsthaft in den Tanz vertiefte, hatte ich wohl angenommen, sie würde den Weg gehen, den Vater und Mutter genommen hatten — einen geraden akademischen Weg zu College und Beruf. Nicht daß Betty und ich diesen Weg als selbstverständlich oder mit ganz ungemischten Gefühlen betrachteten; als erste Generation von College-Absolventen in unserer Familie standen wir unseren Eltern — eingewanderten Mitgliedern der Arbeiterklasse — noch nahe genug, um zu wissen, daß es auch andere und achtbare Möglichkeiten gab. Doch das war die allgemeine Bewegungsrichtung in dem Zuhause, das wir unserem Kind gaben — zur Welt der Bücher und hohen Gelehrsamkeit.
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Kathryn hat sich anders entschieden. Mag sein, daß sie einmal doch noch diesen Weg einschlägt, aber erst einmal hat sie etwas eigenes, das sie versuchen muß. Und weil ich das Glück hatte, ihre Berufung wachsen und reifen zu sehen, konnte ich eine große Wahrheit über die Elternschaft erfahren. Ich habe verstanden, daß es nicht zu meiner Rolle gehört, ihr Leben zu formen. Hätte ich sie und mich mit Gedanken über 'praktische' Entscheidungen und Zukunftsaussichten gequält, so hätte nichts von ihrer ursprünglichen Begabung sich zeigen können. Mit der besten Absicht hätte ich sie (und die Welt) dann nur der Schönheit beraubt, die sie durch ihre Kunst vielleicht zu geben hat.
Wer einmal das Aufblühen der kindlichen Persönlichkeit gesehen hat, weiß mit instinktiver Freude, daß dies Sinn und Seele der Erziehung ist. Etwas von unserer innersten Natur erklärt sich da vor uns: die Originalität und Vielfalt, die uns zu diesem einzigartigen Wesen machen. In diesem 'großen Sprung nach vorn', mit dem eine Generation über die Erwartungen der vorigen hinauswächst, erhaschen wir einen Blick auf die ehrfurchtgebietenden Kräfte der Erneuerung in uns und bekommen vielleicht eine Ahnung von unserer Bestimmung als Spezies.
Ich kehre zu dem Ideal zurück, das wir im Zusammenhang mit der Möglichkeit einer offenen Kindheit diskutiert haben. Ein einziges Wort, eine ganze Erziehungsphilosophie: Sokrates, der sich selbst als 'Hebamme' für seine Studenten bezeichnet. Hebamme — sie bringt ans Licht, was schon da ist und nur darauf wartet, geboren zu werden: das verborgene Strahlen der Selbsterkenntnis. Dort muß eine personalistische Erziehung ansetzen, bei dieser sokratischen Überzeugung, daß unser erstes und oberstes Studienobjekt in uns ist. Es ist vorgegeben. Lehrer können Information, Know-how, Techniken, Beispiele einbringen, doch solange die eingeborene Berufung des Schülers sich noch nicht erklärt hat, erreichen wir nichts als Mimikri, Auswendiglernen, oberflächliche Leistung. Erst wenn ein echter eigener Antrieb ins Spiel kommt, kann wirkliche Erziehung stattfinden. Dann entfaltet sich alles, was Tiefe und Eigenart begründet, vor unseren Augen — von innen nach außen. Ein Geist, der sich seine Ziele suchen, der interpretieren und erfinden wird. Ein Leben, das sich seine Zwecke selbst setzt und seine eigene Struktur gewinnt.
Aber wieviele von uns, die Kindern und Studenten gegenüberstehen, vertreten dieses sokratische Ideal? Unsere Beziehungen zu Kindern sind durch und durch politisch: beherrscht von Macht und einem festen Schema der Herrschaft und Unterwerfung. Jede Begegnung mit einem Kind ist doch eine gar zu verführerische Gelegenheit, uns aufzuplustern und ein Gefühl von Wichtigkeit und Richtigkeit zu empfinden, das die Welt uns sonst nur selten gewährt. Wir treten diesen kleinen, abhängigen Menschen mit der vollen Arroganz unserer Selbstbezogenheit entgegen: unsere Chance, Herrgott zu spielen.
Und das Ego, das sich dort austobt, ist das Werkzeug von gesellschaftlichen Kräften — Staat und Wirtschaft, Regierungspartei und privilegierte Klasse —, die nur die nächste Generation zu Untertänigkeit und Ehrerbietung erziehen wollen.
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Was lernen diese machtlosen Kinder als erstes von ihren ach so wohlmeinenden elterlichen Autoritäten? Daß sie von Natur aus erst mal gar nichts sind: Ton und Wachs, die erst geformt werden müssen, und zwar nach den Plänen von Leuten, die was davon verstehen.
Personalistische Erziehung verlangt uns mehr ab als irgendein anderes Ideal. Nämlich den Verzicht auf Macht, auf die eine Macht, deren Ausübung wir als unser unbezweifelbares Recht betrachten, unsere Macht, die Kinder für hundert geheime, egoistische Ziele zu gebrauchen oder zu mißbrauchen. Jeder hat ein Interesse an der Erziehung der Kinder. Und wie leicht fällt uns die Behauptung, daß unser Interesse auch das der Kinder ist. Versteht es sich nicht von selbst, daß unser Wunsch, strebsame, bestens ausgebildete, erfolgreiche Kinder zu haben, nur ihrem eigenen Besten dient? Was könnte mehr in ihrem Interesse liegen als eine Erziehung und Ausbildung, die ihnen Arbeit, Status und Erfolg einträgt, eine Erziehung also, die unsere Welt fortsetzt?
Aber was ist das eigene, unbeeinflußte Interesse des Kindes? Erscheint diese Frage unbeantwortbar? Vermutlich. Es ist noch nicht lange her, da wußte niemand zu sagen, welches eigene Interesse eine Frau wohl unabhängig von ihrem Mann oder Vater hat. Und noch früher war es sinnlos zu fragen, welches Interesse Sklaven unabhängig von ihren Herren haben mochten. Es gibt Menschen, deren Unterjochung durch lange Gewöhnung so 'natürlich' geworden zu sein scheint, daß wir nicht einmal auf die Idee kommen uns vorzustellen, was für autonome Interessen sie haben mögen.
Mehr als jede andere Gruppe, die in gesellschaftlicher Abhängigkeit lebt, gehören die Kinder dieser Kategorie an. Und doch haben sie ihr eigenes Interesse, es ist das Interesse, das wir entdecken, wenn wir in Augenblicken besonderer Gelöstheit oder Vertiefung plötzlich eigenständige Person werden und ganz in unserer eigenen Arbeit, unserer eigenen Erlösung aufgehen. Nur das Abenteuer, von dem wir in solchen Augenblicken einen Geschmack bekommen, verdient 'Leben', genannt zu werden. Das ist das Interesse des Kindes, und es muß vor nichts so sehr beschützt werden wie vor den gräßlichen 'praktischen Fragen', von denen die Erwachsenen ständig umgetrieben werden.
Die Grenzen der <Entschulung>
Die meisten unserer Erziehungsdiskussionen befassen sich überhaupt nicht mit Erziehung, sondern mit der Schule. Sie drehen sich um Finanzierung, Disziplin, öffentliche Kontrolle, Einführung neuer Schultypen, Lehrergehälter ... zahllose ständig auf den Nägeln brennende Probleme, die es schon schwer genug machen, das System Jahr um Jahr auch nur lebensfähig zu halten.
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Allzu leicht vergessen wir bei der Bewältigung der vielen Krisen, daß die Schule wie alle Institutionen in erster Linie dazu da ist, einer kollektiven Anschauung des Guten und Notwendigen zu dienen. Solche Anschauungen fallen unter den Tisch kritischer Reflexion; irgendwann sind sie einfach vorgegeben, werden automatisch und tauchen in Gesprächen nur noch in Form von Klischees auf. Unsere Schulen, so unterstellen wir, existieren zum Wohl der Kinder. Sie sollen sie ,auf das Leben' vorbereiten. Harte Arbeit und gute Noten sind der erste Schritt auf dem Weg zum Erfolg. Einem Kind, das die Dinge nicht so sieht, muß entweder der Kopf zurechtgesetzt werden, oder es scheitert halt.
Ich gestehe, daß ich nicht weiß, wie unsere Schule zu retten wäre; allerdings bin ich auch gar nicht so sicher, ob sie überhaupt gerettet werden sollte, wenn sie das zwanghafte, von Konkurrenzdenken beherrschte System offizieller Zertifikation bleibt, das sie geworden ist. In ihrer jetzigen Form ist mit dem 'Leben', auf das sie die Kinder in der ganzen Welt vorbereitet, nichts weiter gemeint als lebenslange Unterordnung unter eine urban-industrielle Ökonomie, die mit den Rechten der Person nichts weiter anzufangen weiß, als sie zu zermahlen. Wenn wir die richtige Reihenfolge einhalten, dann lautet die erste Frage nicht "Wie kann die Schule überleben?", sondern "Gibt es ein Ideal, dem die Schule so dienen kann, daß es sich überhaupt lohnt, um ihr Überleben besorgt zu sein?"
So ernsthaft ich jedoch davon überzeugt bin, daß die Zwangsbeschulung ein Verrat an den persönlichen Rechten der Jugend ist, so unrealistisch und rücksichtslos finde ich es andererseits, wenn zum Beispiel Ivan Illich und John Holt* eine totale "Entschulung" unserer Gesellschaft fordern — als könnte das Lehren nicht eine Gabe und Berufung sein, die durchaus ihre eigenen Institutionen verdient.
Trotz all ihrer Probleme wird die Schule uns sicherlich noch lange begleiten — schlecht und recht. Das mag zum Teil einfach an der Trägheit sozialer und beruflicher Interessen liegen, in deren Zentrum sie steht. Vergessen wir aber nicht, daß diese Interessen mittlerweile mehr umschließen als nur die weiße Mittelklasse und die Bildungselite (deren Vorteile übrigens in einer entschulten Gesellschaft, in der private und konfessionelle Schulen vorherrschen, womöglich noch größer würden). Zumindest kann man der Schule zugute halten, daß sie die billigste Unterbringungsstätte für Kinder ist, die arbeitende Eltern finden können. Allein in diesem Umstand werden die Entschuler auf einen ihrer härtesten Widerstände stoßen. Wichtiger ist aber, daß die Armen und Ausgeschlossenen in unserem Land die Schule als den zentralen Kampfplatz für ihren Kampf um Selbstachtung und soziale Gerechtigkeit betrachten. Die Schule ist wohl oder übel in den moralischen Umsturz unserer Welt verstrickt, und vielleicht gibt uns gerade das genug Hebelkraft, um diese erdrückende Institution in neue Bahnen zu lenken.
Obwohl es sich ständig anbietet und auch keinerlei Mühe macht, die Schule anzuschwärzen, entspringt unter dieser desolaten Einrichtung doch ein neuer Idealismus. Man findet ihn bei jenen urbanen Minderheiten, die (vielleicht etwas voreilig) annehmen, die öffentliche Erziehung habe etwas mit Würde und demokratischen Werten zu tun.
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Man findet ihn in den Herzen von Lehrern und Eltern, die sich für die Kinder aufrichtig eine Erziehung wünschen, in der es nicht nur um Berufsausbildung und Leistung geht. Dank solcher sozialer Elemente, die nicht lockerlassen, sind die letzten zehn Jahre eine Periode humanistischen und freiheitlichen Experimentierens geworden, wie es sie seit der Bewegung für Progressive Erziehung in den zwanziger und dreißiger Jahren kaum noch gegeben hat. Energien für den Wandel sind reichlich vorhanden; was immer noch fehlt, ist ein Leitideal, das ihnen Gestalt gibt, indem es die tiefen Bedürfnisse der Zeit anspricht. In der Erziehung haben wir uns den Rechten der Person noch nicht gestellt.
Das Bedürfnis liegt in der Luft. Man spürt es in allen Theorien und Experimenten, die uns nahelegen, der Jugend Freiheit anzuvertrauen und ihre ureigenen Einsichten und Schöpfungen über alles andere zu stellen. Häufiger tritt es aber vielleicht im Leben junger und sensibler Lehrer als schreckliche Enttäuschung über die Lügen und Beschränktheiten der öffentlichen Erziehung auf, die sie schließlich zwingen ihren Beruf aufzugeben; oder es zeigt sich unter Studenten als dumpfe Unlust, Neigung zu Vandalismus, angewiderte Abkehr, Aussteigen — Probleme, die inzwischen epidemische Ausmaße angenommen haben. Selbst unter freiheitlichen Pädagogen, die sich um alternative Schulen bemühen, herrscht Verwirrung. Oft interpretieren sie die Suche nach Personalität als bloßes Fluchtverhalten — Flucht der Farbigen vor der weißen Kultur, der Armen vor den Wertvorstellungen der Mittelklasse, der Kinder vor den Erwachsenen. Dabei kommen oft freie Schulen heraus, die Enklaven für gescheiterten jugendlichen Unmut sind.
Dann wieder gibt es andere, die dem brasilianischen Erzieher Paolo Freire folgen und alternative Schulen für politische Bewußtseinsbildung der benachteiligten Jugend und ihrer Eltern einsetzten wollen — mit dem Ziel, das Rathaus einzunehmen, als sei es der Winterpalast des Zaren.* Aber das ist nicht besser als die Verwechslung von Erziehung mit Agitprop, und viel kreative Energie wird hier im politischen Parteiengeplänkel versickern. Alle Kinder sind Opfer unserer Schule, nicht nur die armen. Auf jeden Fall braucht Selbstentdeckung aber mehr als Zorn, um wachsen zu können. Sie umfaßt mehr, als nur die Leute zu benennen, denen wir nicht gehorchen oder ähnlich sein wollen. Zu ihr gehört auch, die Person zu finden, die wir werden wollen. Neben der Freiheit von müssen wir Freiheit für haben.
Wenn ich mich hier nicht weiter in eine Diskussion des Schulsystems vertiefe, so deshalb, weil die Idee der Erziehung dadurch einem Mißverständnis ausgesetzt wird. Ohne eine solche Absicht zu haben, stützen wir vielleicht selbst die Auffassung, Erziehung sei für eine bestimmte Gruppe von Lernenden namens 'Jugend' da, die dafür in besonderen Einrichtungen namens 'Schule' untergebracht wird.
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Wie Ivan Illich so klar herausgestellt hat, ist das eine Verzerrung der Tatsachen, an der sogar freie und alternative Schulen mitwirken. Erziehung, wie ich sie hier verstehe, sollte die kennzeichnende Geste menschlicher Existenz sein. Sie ist der tägliche Fortschritt, den unser Leben macht, während wir dem Abenteuer der Erfahrung nachgehen und die Augenblicke in einen sinnhaften Zusammenhang bringen. Erziehung betrifft jeden, überall und ein Leben lang. Sie mag in Kindheit und Jugend, der Zeit grenzenloser und beharrlicher Wißbegier, besonders wichtig sein, doch daraus folgt nicht, daß es irgendwo einen Punkt gibt, wo das Lernen (vor allem, wenn wir damit Selbstentdeckung meinen) aufhört und wir eine Art Zeugnis der Reife für etwas namens .Leben' bekommen. Selbst der Tod ist eine letzte Lektion, unser letzter Aufsatz über das Menschsein.
Warum sorgen wir uns so sehr darum, wie schnell die Kinder lesen, schreiben, rechnen oder nützliche Arbeiten verrichten lernen? Weil wir wissen, daß sie diese Dinge jetzt lernen müssen, wenn sie jung sind, denn sonst werden die meisten von ihnen ihre einzige Chance verpaßt haben. Diese Tyrannei des Jetzt-oder-nie nimmt uns die Freiheit zu experimentieren, zu scheitern, umzukehren, noch einmal anzufangen — vielleicht einen neuen Beruf zu ergreifen, ein neues Leben zu starten. Wir brauchen ein Erziehungsideal, das unser institutionalisiertes Leben mit der ganzen Wucht dieses Bedürfnisses konfrontiert.
Ich halte mich hier also an das Klischee jedes Universitätsinstituts, daß Lernen ein lebenslanger Prozeß ist. Wenn das so ist, dann greift jede Erziehungsphilosophie zu kurz, deren Ideale, Methoden und Einrichtungen zu sehr auf die Jugend abgestellt sind. Die Schwächen unseres Schulsystems sind nur zu heilen, wenn wir daran festhalten, daß Erziehung und Bildung lebenslangen Zugang zum Lernen bedeuten. In dieser Hinsicht stimme ich mit den Entschulern überein. Das praktische Recht, als Erwachsener zum Lernen zurückzukehren — also die Möglichkeit, sich Zeit zu nehmen und Unterrichtsmöglichkeiten zu finden —, ist sogar noch wichtiger als das Recht auf freie Erziehung in der Kindheit. Es gibt wenige Entscheidungen, die man in der Jugend schon fällen kann, am wenigsten die Entscheidung über die Lebensarbeit.
Wenn wir Erziehung und Bildung im Sinne von Selbstentdeckung auffassen — und nicht nur als Aneignung bestimmter Fertigkeiten und Wissensakkumulation —, so ist jeder Augenblick voller Lernanstöße; Erziehung kann nicht von einer Institution allein und auch nicht in einem bestimmten Lebensabschnitt bewältigt werden. Sehr wahrscheinlich ist nicht einmal ein ganzes Leben lang genug dazu.
Zwei Ströme pädagogischer Erneuerung
Im personalistischen Erziehungsideal vereinigen sich zwei Ströme zeitgenössischen Denkens. Quelle ist für beide der sokratische Dialog und seine modernere Fassung in Rousseaus Erziehungsroman Emile.
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Diese beiden Strömungen stimmen in vielen Punkten überein. Beide sind nicht-autoritär und schülerorientiert — was vom konventionellen Standpunkt aus heißt, daß sie die Kinder durch Freizügigkeit 'verderben'. Beide gehen davon aus, daß der Zweck der Erziehung darin besteht, die Schüler zu freien und autonomen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft zu machen. Wenn ich die beiden Strömungen im folgenden getrennt betrachte, so möchte ich damit auf einen wichtigen Unterschied in ihrer pädagogischen Psychologie hinweisen, der uns erlaubt, die eine Bewegung als historische Vorläuferin der anderen zu sehen.
1. Nennen wir den ersten (und älteren) Strom die freiheitliche Pädagogik. Hier habe ich einen Stammbaum vor Augen, der mit Rousseau beginnt und etwa so aussieht:
Johann Pestalozzi
William Godwin
Max Stirner
Francisco Ferrer
Leo Tolstoi
John Dewey
Maria Montessori
A.S. Neill
Paul Goodman
Paolo Freire
Ivan Illichund alle heutigen Vertreter der freien Schule und der Entschulung (John Holt, Jonathan Kozol, Herbert Kohl, Edgar Friedenberg, George Dennison, Neil Postman und viele andere).* Sie vermitteln uns eine kritische Perspektive der Strukturen, Machtverhältnisse und Politik in der modernen Pädagogik. Hier finden wir Erzieher, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, den maßlosen Ansprüchen Widerstand zu leisten, die die öffentlichen Autoritäten seit dem Aufkommen des modernen Staats an die Jugend stellen — wobei sie sich vor allem der allgemeinen Schulpflicht bedienen. Erziehung ist für diese Pädagogen nicht das Eintrichtern von Wissen, sondern vor allem die freie Entwicklung der Kinder, eine frühe Verwirklichung dessen, was Stirner "Selbst-Eignerschaft" nennt.
Tolstoi, einer der größten freiheitlichen Erzieher und einer der ersten, die eine experimentelle freie Schule gründeten (er richtete sie auf seinem Landgut Jassnaja Poljana ein und nahm alle Bauernkinder aus der Umgebung auf), formulierte die entscheidende Frage mit letzter Präzision: "Wer hat das Recht zu erziehen?" Seine Antwort: "Niemand." Weder Staat noch Kirche noch Familie.
Es gibt solche Rechte nicht. Ich erkenne keine an, noch sind sie jemals von der jungen Generation anerkannt worden oder werden jemals von ihr anerkannt. Niemand ist befugt zu erziehen.*
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Wer sich das Recht zu erziehen anmaßt, so argumentierte Tolstoi, wird auf seine eigenen Interessen hin erziehen — auf Kosten der Autonomie des Kindes. Daher der Zwang, die Bestechungen, der autoritäre Stil, mit denen das System dieses unterstellte Recht durchzusetzen versucht.
Niemand hat das Recht zu erziehen, aber die Kinder haben das Recht, erzogen zu werden. In der Erziehung liegen alle Rechte bei ihnen und sollen ihren Bedürfnissen dienen. Wo das der Fall ist, wird Lernen ein spontaner Akt, der ohne Zwang und bürokratische Organisation und mit wenig Aufsicht auskommt. Das pädagogische Modell der freiheitlichen Erzieher könnte man 'situatives Lernen' nennen — eine völlig informelle, am konkreten Leben orientierte gemeinschaftliche Form der Unterweisung, wie sie in allen überlieferten Sozialgefügen natürlich gegeben ist und heute noch überall am Beispiel der Spracherlernung beobachtet werden kann. So wie die Kinder von selbst zu sprechen anfangen, lernen sie auch bereitwillig alles, was sie sich frei wählen können und was für ihre Entwicklung tatsächlich notwendig ist. In ihrem doktrinären Extrem (bei Ivan Illich) wird diese Überzeugung zur offenen Kriegserklärung an jede Art von Professionalismus in der Erziehung. Die Schulen sollen abgewrackt und durch passive Einrichtungen für die Selbst-Bildung ersetzt werden, etwa Bibliotheken und Workshops. Das Lernen geht weiter, die Lehrer entfallen.
2. Die zweite Strömung pädagogischen Umdenkens entspringt in unserer Zeit — besser gesagt in der heutigen Vorliebe für Formen der psychischen und spirituellen Unterweisung, die so alt sein können wie die primitivsten Übergangsriten. Hier sind die wichtigen Verbindungen nicht politisch sondern psychotherapeutisch, künstlerisch, religiös. Bis jetzt gibt es noch keine definitive Beschreibung der Inhalte dieser wachsenden Sammlung von Philosophien und Techniken, die mit Erziehung weiter und tiefer reichen wollen als bis zur verbal-zerebralen Ebene der Persönlichkeit; als Namen sind in Gebrauch: affektive Erziehung, human-potential-Erziehung, persönliches Wachstum. Aldous Huxley nannte diesen Bereich einmal "die nichtverbalen Geisteswissenschaften". Die führenden Gestalten dieser Richtung bilden weder eine Genealogie noch eine Bewegung, sondern eine immer deutlicher werdende Konstellation der verschiedensten Disziplinen.
Ich denke an:
Wilhelm Reich (Bioenergetik)
Abraham Maslow (Humanistische Psychologie)
Frederick Perls (Gestalt-Therapie)
Franz Alexander
Charlotte Selver (Sensory Awareness)
Ida Rolf (Strukturelle Integration = Rolfing)
Moshe Feldenkrais
George Leonard (Erziehung und Faszination)
George I. Brown (Integrative Erziehung)*
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und die vielen Therapien, die an Zentren für persönliches Wachstum wie dem Esalen Institute entwickelt wurden. Die Liste der hier zusammenströmenden Einflüsse ließe sich noch erweitern; wir könnten spirituelle Führer des frühen 20. Jahrhunderts wie Rudolf Steiner (Anthroposophie und die Waldorfschulen) und G.I. Gurdjieff hinzufügen, Lehrer, die jetzt immer mehr Interesse für wegbereitende Disziplinen tiefer Selbsterkenntnis wecken.
Der wachsende Einfluß östlicher Lehren (vor allem Zen, tantrischer Buddhismus und Sufismus) berührt sicher auch das Zentrum dieser Konstellation. Man könnte sogar einen Lernbegriff einbeziehen, wie er in Carlos Castanedas Büchern zu finden ist, denn manche betrachten solche schamanischen Initiationen als ein relevantes Modell für persönliches Wachstum.
Einige der freiheitlichen Erzieher (wie Neill und Goodman) gehören beiden Strömen an; im übrigen teilen alle affektiven Erzieher die Prämisse der freiheitlichen Richtung, daß Lehren ohne Zwang und frei von Konkurrenzdruck sein muß. Doch trotz solcher Überschneidungen besteht zwischen den beiden Strömen eine Art der Arbeitsteilung, die wir uns so vorstellen können: Die freiheitlichen Erzieher hatten die Aufgabe, den pädagogischen Boden von offizieller Verfügungsmacht und sozialen Privilegien zu säubern.
Als Werkzeuge haben sie dazu die vertrauten Ideale revolutionärer Politik benutzt: die Menschenrechte und den Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit — diesmal auf das Leben der Kinder bezogen. Jetzt treten die affektiven Erzieher auf und bringen lange verbotene und exotische Samen mit, um sie in die befreite Erde zu säen... wenigstens soviel befreite Erde, wie sie an den Rändern unserer Gesellschaft finden können. Für sie ist der hart erkämpfte Boden die Gelegenheit, eine unermeßliche Vielfalt schlummernder Talente ihrer Schüler zu kultivieren. Es geht nicht mehr darum, die Rechte des Individuums zu verteidigen, sondern das Potential der Person zu erforschen, und dazu entwickeln sie ein Curriculum und ein Repertoire von Lehrtechniken, die seit dem Humanismus der Renaissance den radikalsten Neubeginn der westlichen Pädagogik darstellen. Damit besitzen wir anscheinend endlich ein Erziehungsideal, das auf den ganzen Menschen zugeschnitten ist — auf Körper, Geist und Seele.
Unsere Schulen werden oft mit der kritischen Frage angegriffen, "Warum kann Hänschen nicht lesen und schreiben?" Man ruft danach, wieder zu den 'grundsätzlichen Dingen' zurückzukehren, vor allem aber zu strikter Disziplin und hohem Leistungsdruck. Die affektiven Erzieher haben dafür eine Erwiderung, die eine noch schärfere Kritik an der konventionellen Schule darstellt. Wissen wir wirklich so genau, so fragen sie, was die grundsätzlichen Dinge im Leben sind? Schlimm genug, daß Manschen nicht lesen oder schreiben kann. Aber weshalb machen wir uns nur darüber Sorgen? Weshalb nicht auch darüber, daß sein Organismus und seine eigenen Gefühle ihm so fremd sind, daß er für den Rest seines Lebens (wie die meisten von uns) unter der Bürde dieses Unwissens keuchen wird?
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Warum nicht darüber, daß sein Körper von erstickter Wut und unterdrückten Begierden beherrscht ist, daß sein Stoffwechsel von miserabler Ernährung und nervösen Spannungen gepeinigt wird, daß sein Traumleben öd und leer ist, seine Fantasie darniederliegt, sein soziales Gewissen unter Egoismus begraben ist? Warum nicht darüber, daß Hänschen nicht tanzen kann, nicht malen kann, nicht atmen kann, nicht meditieren kann, nicht entspannen kann, nicht mit Angst, Aggression, Neid fertig wird und keine Ausdrucksmöglichkeiten für Vertrauen und Zärtlichkeit hat? Weswegen macht es uns eigentlich so wenig aus, daß Hänschen nicht weiß, wer er ist, und nicht weiß, daß er es nicht weiß? Wenn die grundsätzlichen Dinge mit all dem nichts zu tun haben, dann sollten wir endlich zugeben, daß sie nichts mit Hänschens Gesundheit und Glück, nichts mit seinem Leben zu tun haben, sondern nur mit seiner Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Wessen Interesse dient Hänschens Erziehung also?
Das Projekt der Selbstentdeckung, so denke ich, muß diese beiden Ströme — den freiheitlichen und den affektiven — zu einem einzigen Ideal vereinigen. Wir müssen erkennen, daß einer im Grunde den anderen voraussetzt und keiner für sich allein ausreicht. Mit Dewey müssen wir daran festhalten, daß eine Erziehungsphilosophie erst vollständig sein kann, wenn sie das Soziologische mit dem Psychologischen verknüpft. Zweifellos brauchen wir den kritischen Elan und das politische Engagement der freiheitlichen Erzieher, um die Jungen und Unterdrückten schützen zu können, denn die Krise der Erziehung in unserer Zeit ist ein institutionelles Problem. Die Schulen, die den Zugang zur Bildung kontrollieren, sind in unsere Klassenstruktur und wirtschaftlichen Zielsetzungen eingebettet, und diese Tatsache muß immer wieder zu Verletzungen der natürlichen Rechte der Jugend in der Erziehung führen. In den Werken der freiheitlichen Erzieher finden wir mehr als genug Tatsachen und Theorien, mit denen sich demonstrieren läßt, wie die Zwangsbeschulung die Spontaneität des Lernens und die freie Entwicklung der Persönlichkeit blockiert.
Aber wenn wir, wie viele freiheitliche Erzieher, ganz damit beschäftigt sind, die Übergriffe des Staats und der Erziehungsbürokratie abzuwehren, kommen wir vielleicht nie dazu, die Schüler, die uns gegenüberstehen, in ihrer Ganzheit zu erfassen. Sie werden dann auch in unseren Augen nie eine andere Identität bekommen als die von Opfern, die Bewußtseinserweiterung nötig haben und eine faire Chance, die grundsätzlichen Fertigkeiten zu erwerben. Und damit lassen wir ihre Persönlichkeit dann zu einer dünnen politischen Kampflinie einschrumpfen. Trotz unserer radikalen Absichten arbeiten wir mit dieser Unterlassung letztlich der herrschenden Kultur in die Hände.
Aufgrund solcher Überlegungen könnte ich manchmal vor Ungeduld schier platzen, wenn ich die freiheitlichen Erzieher lese, die besten wie Ivan Illich und John Holt eingeschlossen. Ihre Vorstellungen und Entwürfe sind einfach uferlos.
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Sie verbreiten sich über die Ungerechtigkeiten im Klassenzimmer und lassen kein Detail aus; sie beschreiben brillant, wie die jungen Geister durch Bildungs- und Leistungsnormen verbogen werden. Wenn ich aber frage, was denn nun im Leben dieser Kinder geschehen soll, um wirkliche Erziehung und Bildung zu ermöglichen, so kommt als Antwort entweder der Vorschlag, ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen weniger gewaltsam beizubringen, oder ein wortreiches, erschütternd realitätsfernes Plädoyer für die augenblickliche Abschaffung der Schule. Diese Leute wissen, daß die Pflichtschule ein Gefängnis ist; die freie Schule ist eine offene Tür, und wir wollen wissen, was sie hinter ihrer einladenden Schwelle sehen.
Die freiheitlichen Erzieher greifen darin zu kurz, daß sie das Selbst, welches ja das Objekt der "Selbst-Eignerschaft" ist, nicht tief genug erforschen — sie fragen nicht nach seinen geheimen Zwängen und seinem verborgenen Potential. Stirner sprach davon, daß die Gesellschaft in den Köpfen ihrer Mitglieder Räder installiert und sie damit hinterrücks und unbemerkt ihrer Autonomie beraubt. Aber weder er noch andere freiheitliche Denker haben erkannt, wie subtil dieses Räderwerk sein kann und wie unmerklich in seinen Bewegungen. Er hätte nicht vermutet, daß die Räder sich auch in unseren Grundanschauungen über uns selbst, die Natur, die Wirklichkeit drehen — daß wir sie vielleicht aus Geweben und Organen, aus Sexualimpulsen und halbvergessenen Träumen wieder heraussuchen müssen. Wenn die Erziehung nicht so tief in die Persönlichkeit vordringt, wird sie die Wurzeln unserer Entfremdung wahrscheinlich unberührt lassen.
Ich denke zum Beispiel an Francisco Ferrer, den mutigen spanischen Pädagogen, der 1909 wegen Staatsverbrechen hingerichtet wurde. In seinem Kampf gegen eine unterdrückende Gesellschaftsordnung verpflichtete er die einflußreiche Bewegung für eine moderne Schule zu striktem Antiklerikalismus. Doch die "exakten Naturwissenschaften" blieben auch für ihn das Kernstück des Lehrplans, denn nur sie, davon war er überzeugt, bildeten eine "sichere und unerschütterliche Grundlage" für das Leben der Vernunft. So beschränkte er seine Schulen auf jenen schmalen Ausschnitt intellektueller Kräfte, aus dem, mit Lewis Mumfords treffendem Ausdruck, die "wahnsinnige Rationalität" unserer technokratischen Gesellschaft ihre Kraft bezieht.
Das gleiche gilt für die progressive Pädagogik, die John Dewey vertrat. Sie ist vielleicht die ergiebigste Formulierung des freiheitlichen Ansatzes in der Erziehung, doch stellt sie nirgendwo die Richtigkeit und Vernünftigkeit der urban-industriellen Gesellschaft in Frage. Sie nimmt den Industrialismus vielmehr als ihren Rahmen, den sie zu zivilisieren trachtet. Dadurch hat sie sich mit der Zeit ganz zwanglos in einem Curriculum niedergeschlagen, das die Schulen noch fester in die tödlichen Orthodoxien der modernen Welt einbindet.
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Das Menschenbild der freiheitlichen Erzieher ähnelt immer noch sehr der Vorstellung, die man sich in der Aufklärung vom freien und rationalen Bürger machte, dessen Bedürfnisse durch technologischen Fortschritt zu befriedigen sind und dessen Ängste Wissenschaft und Logik zerstreuen können. Selbst wo diese Erzieher die marxistische Analyse des 'falschen Bewußtseins' und Freuds Theorie der Verdrängung in ihr Weltbild einbeziehen, kommen sie über die verbal-zerebrale Schicht der Persönlichkeit nicht weit hinaus.
Marx und Freud bleiben der rationalen Analyse und der intellektuellen Beherrschung des Selbst verpflichtet. Beide gehen davon aus, daß wir uns zur Selbsterkenntnis hinsprechen können. Erst mit Vertretern der freien Schule wie Neill und Goodman finden die problematischeren Aspekte der Persönlichkeit Eingang in den Bereich der Erziehung. Schon früh kam Neill in Übereinstimmung mit Wilhelm Reich zu der Einsicht, daß Freiheit in Schule und Gesellschaft die Befreiung der unterdrückten Sexualität bei den Schülern voraussetzt. Es mußte eine Pädagogik geschaffen werden, die nicht nur das Vorderhirn und den Sprechapparat berücksichtigte, sondern den ganzen Organismus. Sein Programm wurde "Sozialismus ... plus entspannter Körper". Goodmans Erziehungsphilosophie kam auf dem Weg über die Gestalt-Therapie zu einem immer tieferen Vertrauen in die Weisheit des Körpers und das große Tao.
Die affektive Pädagogik baut diese Ansätze aus, unterstützt von nach-freudianischen Schulen der Psychiatrie, die organische Selbstregulierung und Selbsterfüllung für möglich halten. Wo solche Entwicklungen mit den spirituellen Disziplinen des Ostens zusammentreffen, wie es jetzt bei den humanistischen und transpersonalen Therapien der Fall ist, gewinnen wir eine pädagogische Perspektive, die das Lebensganze berücksichtigt — von vorgeburtlicher Erfahrung bis zum Augenblick des Todes — und auch die Möglichkeit spiritueller Erleuchtung einbezieht. Das Schweigen nimmt seinen Platz als Zeichen des Wissens ein, wo bisher nur kluges Reden Gültigkeit besaß; der Weise taucht neben dem Wissenschaftler und dem Gelehrten als pädagogisches Modell auf.
Die affektiven Erzieher haben es jedoch bisher noch nicht geschafft, ein durchdachtes Sozialprogramm für ihre Reformen zu entwickeln, und es fehlt ihnen ganz allgemein an politischem Verstand. Sie können sich kaum der Tatsache verschließen, daß Erziehung derzeit überall das Monopol von Institutionen ist, die mit den Fehlern und Absurditäten der ganzen Gesellschaft durchtränkt sind. Solange Kinder durch solche Systeme der Zwangsindoktrination geschleust werden, können die affektiven Erzieher kaum mehr bieten als kleine Dosen von Therapie in späteren Jahren — wenn oft die Schäden schon verheerende Ausmaße angenommen haben; und das kann nie eine wirkliche Prüfung ihrer Methoden sein. Zentren für persönliches Wachstum und private Workshops sind keine ausreichende Antwort auf die Bedürfnisse einer ganzen Gesellschaft, sondern bestenfalls Laboratorien und Schaufenster für neue Techniken.
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Es ist auch nicht unbedingt vielversprechend, winzige Quanten von affektiver Erziehung in das Standardcurriculum einzuführen (wie es G.I. Brown mit der integrativen Erziehung versucht — wenn auch mit lobenswerter Behutsamkeit).
Wir stehen vor der traurigen Erfahrung, die auch die Progressive Erziehung machte, als sie vor zwei Generationen eingeführt wurde. Gewiß, sie hat dazu beigetragen, den erstickend konservativen Lehrplan zu durchlüften und das Klassenzimmer zu liberalisieren, doch als ihre Prinzipien in der Ausbildung von Pädagogen Routine wurden und schließlich dem bestehenden System einverleibt waren, wurde sie zu mancherlei sonderbaren und unansehnlichen Kreuzungen verhunzt. Ihre besten freiheitlichen Intentionen verloren ihre Biegsamkeit und wurden zu neuen pädagogischen Dogmen.
Ich erinnere mich an die Karikatur progressiver Erziehung, der mein Bruder ausgeliefert wurde, als er in den späten vierziger Jahren (eben hatte eine völlig entstellte Deweyanische Orthodoxie das ganze Schulsystem an sich gerissen) in New York eingeschult wurde. Jeden Tag stand zu einer festgesetzten Zeit Spielen mit Bauklötzen oder Fingerfarben auf dem Stundenplan, ob man Lust hatte oder nicht; und unter keinen Umständen durfte er irgend etwas lesen, bevor der offizielle Stundenplan es erlaubte — und selbst dann war phonetisches Lesen zu vermeiden. Meine Eltern wurden streng ermahnt, seine Lesefähigkeit nicht zu zerstören, indem sie ihn zu früh und auf falsche Art anfangen ließen: diese große, geheimnisvolle Sache überließ man lieber Leuten, die etwas davon verstanden. Das ist die teuflische Logik aller großen Institutionen und Systeme. Sie vergiften die Spontaneität mit Routine, sie lassen alle intelligente Flexibilität versteinern. Was mag wohl aus Hatha-Yoga, sensory awareness oder Zen-Tennis werden, wenn sich die scholastische Maschinerie ihrer bemächtigt? Werden eines Tages Studenten darüber verzweifeln, daß sie noch drei Scheine in Kundalini brauchen?
Wenn die affektiven Erzieher nicht hilflos zusehen wollen, wie aus ihren besten Ideen Stoff für Karikaturen wird, haben sie keine andere Wahl, als den politischen Kampf aufzunehmen, den auch die freiheitlichen Erzieher so lange gekämpft haben. Sie müssen die Herrschaft von Zwang, Konkurrenzkampf und bürokratischem Professionalismus über die Erziehungseinrichtungen der Welt brechen. Affektive Erziehung kann nur in freien Schulen zu Hause sein.
Erkenne dich selbst, vertraue dir selbst, sei du selbst
Sehen wir zu, ob wir die beiden pädagogischen Ströme zu einem kohärenten personalistischen Ideal vereinigen können.
Die Erziehungserfahrung, die mir vorschwebt, hat drei Ebenen. Zuerst ist da der Geist, in dem die Begegnung zwischen Lehrer und Schüler stattfindet. Diesen Geist schauen wir den freiheitlichen Erziehern ab: wir entscheiden uns für die freiwilligste Form des Zusammenschlusses, die wir praktisch verwirklichen können, zumindest müssen aber die Lehrer ihren Schülern gegenüber erklären, daß sie den bestehenden Zwang des Systems als falsch und ungesund betrachten.
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Sodann ist da der Erfahrungsbereich, den wir den Schülern zugänglich machen müssen; hier lehnen wir uns an die affektiven Erzieher an und hoffen, daß wir den Zugang zum ganzen Spektrum menschlicher Möglichkeiten eröffnen können — vom Lesen und Schreiben bis zu den höheren Bildekräften von Gesundheit und Wachstum. Schließlich räumen wir jedem Schüler das Recht ein, seine einzigartige Berufung zu entdecken; das ist das spezifisch personale Element der Erziehung, auf das sich sowohl die freiheitlichen wie die affektiven Erzieher zubewegen.
Ein Pakt des Lehrers mit seinen Schülern, der all das berücksichtigt, würde etwa so aussehen:
Unsere Begegnung
Ihr kommt zu mir als meine Mitbürger, geboren mit allen Rechten und Freiheiten der Gemeinschaft. Ich werde diesen Status auch bei den jüngsten von euch respektieren und alles tun, um euer Lernen zu freier und spontaner Aktion zu machen. Denn nur die Erfahrung der Freiheit lehrt echte Bürgerschaft und Vertrauen in das gemeinsame Leben.
Ich bin nicht hier, weil ich annehme, ich hätte das Recht, euch zu unterrichten — sei es im Namen des Staates, der Kirche, der Partei oder des Volkes. Ich bin vielmehr hier, weil es euer unveräußerliches Recht ist, unterrichtet zu werden — durch jeden und alles in der Gemeinschaft und zu Zeiten, über Gegenstände, an Orten und unter Umständen, die eurer unvorhersehbaren Wahl unterliegen. Ich glaube, daß ihr aus eigenem freiem Willen und wenn die Zeit dazu reif ist zu mir kommen werdet, um zu lernen, denn der Wunsch zu lernen und Vorbilder zu finden liegt in eurer Natur. Dieser Wunsch muß nicht durch Gesetz, Demütigung oder Einschüchterung gewaltsam geweckt werden, und wo er vorhanden ist, braucht man ihn nicht mit Belohnungen zu bestechen. Ich weiß, daß Anwesenheitspflicht und Benotung eure echte Motivation korrumpiert, die ihre natürliche Wurzel in Staunen und Wißbegier hat. Wo solcher Zwang in unsere Beziehung eindringt, will ich euch darauf aufmerksam machen, daß er nur da ist, weil ihr gegen eure eigenen Interessen unterrichtet werdet, und ich will euch an euer natürliches Recht erinnern, nicht hierher zu kommen.
Meine Stellung als Lehrer verlangt von mir, euch das Beste zu vermitteln, was in meinen Kräften steht, damit ihr den Zugang zur Wahrheit finden könnt. Ich werde euch nie vorgaukeln, Erfolge seien leicht zu erringen; doch will ich auch nie meinen beruflichen Vorsprung benutzen, um euch herabzusetzen oder einzuschüchtern oder euch in Abhängigkeit zu halten. Ich erwarte nicht, daß ihr irgendeine Wahrheit oder Wertvorstellung annehmt, solange ihr deren innere Notwendigkeit nicht selbst erkannt habt.
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Ich werde in allen Dingen eure entwicklungsgemäße Bereitschaft als Ausdruck eures freien Wachstums achten. Ich werde euch nichts aufzwingen, was ihr nicht selbst von mir lernen wollt. Und da Lernbereitschaft keine Altersgrenzen kennt, werde ich mich bemühen, euch für das ganze Leben praktischen Zugang zum Wissen zu geben. Ihr müßt die Möglichkeit und Fähigkeit haben, zu eurer Erziehung zurückzukehren, wann immer das Leben es notwendig und erstrebenswert macht.
Die Reichweite unserer Arbeit
Wir sind Mitglieder einer erstaunlichen Spezies von (vielleicht) grenzenlosem Potential. Ich werde euch helfen, euer ganzes Menschsein zu erkunden, und dabei kein Talent und kein Problem als nicht zur wahren Erziehung gehörend ausschließen. Denn ihr seid der Gegenstand meines Forschens.
Ich werde niemals den bloß funktionalen Umgang mit Wörtern und Zahlen als höchstes Erziehungsziel hinstellen, denn es gibt viele Kräfte in uns, die sich über Sprache und Maß erheben. Ich werde stets euer Bewußtsein für den Unterschied zwischen Dingen von bloß gesellschaftlichem Nutzen und denen, die unser Menschsein erfüllen, wachhalten. Ich werde euch nie den Rat geben, die höheren Kräfte des Lebens irgendwelchen praktischen Zwängen aufzuopfern. Ich werde euch nie glauben machen, ein Tänzer sei weniger als ein Gelehrter, ein Clown geringer als ein Techniker.
Ich will mich bemühen, euch das kindliche Gefühl der Verbundenheit mit allem Lebendigen zu erhalten, denn es ist die Grundlage für eine intelligente Wechselbeziehung mit der Natur. Ich werde euch die eingeborene Weisheit eures Körpers und die Sprache eurer Sinne lehren, denn in ihnen werdet ihr die naturgegebene Gesundheit eures Organismus finden. Ich werde euch lehren, die emotionalen Stürme in euch so zu lenken und zu besänftigen, daß ihr nicht Opfer von verborgener Furcht und heimlicher Wut werden könnt. Ich werde euch die Wege zu eurer Imagination und euren visionären Kräften zeigen, damit ihr sie als reiche Quellen für den Intellekt kennenlernt.
Ich werde alles tun, was ich kann, um die spirituelle Dimension eures Seins zum Klingen zu bringen, aber nicht durch trennende Glaubensbekenntnisse und konfessionelle Lehrsätze, sondern durch jene hohen und feinen Erfahrungen, die uns dem ganzen Universum verpflichten. Ich werde euch die Heiligen und Propheten als Beispiele für euer eigenes höchstes Wesen vorhalten. Ich will euch mit dem Alleinsein vertraut machen, denn je näher ich euch der großen Stille in euch bringen kann, desto bereitwilliger werdet ihr eure Sterblichkeit hinnehmen. Und in dieser einsamen Gewißheit, darauf vertraue ich, werdet ihr das Mitempfinden entdecken, das die einzige sichere Grundlage für gemeinschaftliches Leben ist.
Das Zentrum unserer Begegnung
Du kommst zu mir als die Person, die kein anderer sein kann, ein einmaliges Ereignis im Universum. Irgendwo in dir wartet eine besondere Bestimmung darauf, entdeckt zu werden. Ich werde ihr Erwachen aufmerksam erwarten, denn es ist der Höhepunkt meiner Aufgabe.
Während ich dir unsere überkommene Kultur nahebringe, werde ich im Auge behalten, daß sie ein Speicher einzigartiger Sinnschöpfungen ist — jede die überraschende Leistung einer inspirierten Persönlichkeit. Ich werde auch dich als einen Menschen betrachten, dem es gegeben sein mag, etwas grundlegend Neues zu sagen. Vielleicht wird es allen, die es hören, auch mir, sonderbar klingen. Doch will ich dieses Sonderbare an dir über alles stellen und nicht erlauben, daß irgendeine Autorität sein Wachstum hemmt, denn das Leben auf unserem Planeten entwickelt sich (falls überhaupt) durch fantasievolle Neuerungen und Überraschungen.
Im Austausch des Lehrens und Lernens will ich nie vergessen, daß die wichtigste Lehre von dir kommt und von mir zu lernen ist: deine ureigene Identität.
Erkenne dich selbst
Vertraue dir selbst
Sei du selbst
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