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Zwischen Psychologie und Ökologie 

von  Peter Münch,  28.03.1995

Quelle ehemals:  wendelstein.com/privat/gegenwartsfragen  
 mit weiteren Texten von Peter Münch  

 

 

Im Herbst 1994 kam von Theodore Roszak das Buch <Ökopsychologie> auf den deutschen Buchmarkt. Mit dem Buch geht die Kritik an den Grenzen des Individuums weiter. 

Das Thema des Buches gehört zu einer ganzen Reihe allmählich aufkommender Fragen nach den Zusammenhängen von Psychologie und Psychotherapie. So kam im Jahr vorher (1993) von James Hillman und Michael Ventura eine scharfe Kritik an der Psychotherapie auf den Markt („Hundert Jahre Psychotherapie - Und der Welt geht’s immer schlechter“), die an die Wurzeln des Systems rührte und kräftig daran rüttelte. Wo sind die Grenzen zwischen Individuum und Welt? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Ökologie und Psychologie? 

Roszak baut ein große Brücke, schlägt thematisch weite Kreise und bemüht sich darum die Psychotherapie in einen weiten Rahmen zu stellen. Seine These: Die Heilung der Biographie ist nur im Zusammenhang mit der Biosphäre möglich. Es ist zu kurz gegriffen wenn wir den Menschen reduzieren auf seine individuelle Biographie. Denn auch die Biographie ist in einem Kontext entstanden, der enorm breit und komplex ist. Der Kontext der Biographie ist das soziale Umfeld, das kulturelle und schließlich auch das ökologische Umfeld. Was geschieht psychisch mit Menschen, deren ökologisches Umfeld zerstört, vergiftet oder zumindest gefährdet ist? Wie nehmen wir diese großen Zusammenhänge wahr? Und vor allem, wie verarbeiten wir sie? 

Es ist ja seit der Aufklärung des 16. und 17. Jahrhunderts ein tief eingeschnittener Weg, das wir reduktionistisch und teilend an Lebens­phänomene herangehen. Wir nehmen nicht den Kontext wahr, nicht das was sich zwischen den einzelnen Teilen ereignet, sondern wir nehmen die Welt mechanistisch wahr. Wir isolieren ein Teil, problematisieren es und sind dann bemüht dieses Teil zu bearbeiten. Gelingt das nicht, dann zerlegen wir das Problem in weitere, kleine Problemkreise die wir problematisieren und einer Lösung zuführen. Und wenn wir alle Teilbereiche des Problems gelöst haben, glauben wir das Problem an sich gelöst zu haben. Wenn aber das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dann ist auch die Lösung des Gesamtproblems anders als die Summierung von Teilproblemen. Es ist also nicht gesagt, daß wenn wir alle Teilprobleme gelöst haben auch das Gesamtproblem lösen können. Dahinter steht aber ein anderes Denken, ein anderes Wahrnehmen, das Roszak versucht durchzuarbeiten und in einem großen Wurf transparent zu machen bemüht ist. 

Wie kann Psychologie aussehen, wenn sie die Ökologie mit einbezieht? Wie sieht eine ganzheitliche Psychologie aus und wo gab es schon Modelle im Abendland die mehr ganzheitlich waren? Das teilende, das zer-teilende Denken ist dabei die Welt buchstäblich in Stücke zu reißen. Wir können es uns nicht mehr leisten das Individuum so zu behandeln als sei es aus dem ganzen Kontext seiner Mit- und Lebenswelt herauszunehmen um dann so zu tun als ließen sich so selektiert alle auftretenden Schäden reparieren, allein auf dem Hintergrund der individuellen Biographen. Was wird damit auch dem Individuum an Last aufgeladen, die nicht mehr zu bewältigen ist? 

Auf diesen letzten Punkt geht Roszak zwar nicht ein, aber ich halte ihn in diesem Zusammenhang für außerordentlich wichtig. Roszak versucht einen Weg, eine durchaus gewagten Weg, über die Psychotherapie zu den Alchimisten, die Kosmologie, die Ökologie, den Feminismus, bis er über dieser Wanderung wieder am Ausgangspunkt, also der Psychotherapie, ankommt. Nicht mehr so wie am Anfang, sondern mit einer ganzen Serie von Einsichten, die er so am Anfang nicht hätte äußern können. Dabei ist er bemüht, die Zusammenhänge herzustellen, den Blick zu weiten für die Frage nach dem evolutionären Woher des Menschen und den kosmologischen Kontext in dem unsere individuelle Biographie sich ereignet. 

In den vorhergehenden Papieren über die Frage nach dem „Geist in der Maschine“ habe ich bereits die Frage nach dem Woher des menschlichen Bewußtseins angerissen. Vielleicht haben wir etwas gespürt von der hohen Brisanz dieser Frage, die bislang nicht beantwortet werden kann. Warum Bewußtsein im Zuge der Evolution auftreten konnte, ist durchaus schwer zu verstehen. Es ist so denkbar unwahrscheinlich, daß Bewußtsein entstehen kann durch zufällige Prozesse. Aber da es da ist, da es sich scheinbar aus der Materie heraus entwickelt hat, muß uns die Frage bewegen. Ich möchte aber diesen Aspekt im Moment einmal so stehen lassen und statt dessen andere Fragen anreißen die sich um die Thematik der Ökopsychologie drehen oder drehen sollen. Es wird mir nicht möglich sein das Buch von Roszak zu referieren, dazu ist es umfangreich und zu detailliert. Worum es mir geht, ist die Problematik an sich. Also die Frage wie eine integrative Psychologie aussehen kann, die nicht mehr das Individuum aus seinem Gesamtkontext herausseziert um es dann auf seine Biographie reduzierend behandeln zu können. 

Mich bewegt diese Frage sehr, da ich eigentlich aus der Richtung individualistischer Behandlungskonzepte komme, damit aber sehr stark an die Grenze gekommen bin, auch was den Umgang mit meiner eigenen Biographie betrifft. Darüber hinaus liegt hier eine Naht- und Umbruchstelle, die uns in nächster Zukunft noch sehr bewegen wird. Wie wollen wir auf die Dauer individualistische Behandlungskonzepte rechtfertigen, wenn wir die Zusammenhänge in denen Menschen leben, regelrecht auslöschen? Wie können Menschen das Verschwinden tradierter Wirklichkeit kompensieren allein auf ihrem biographischen Hintergrund? Die Jugendsoziologie tut sich schon schwer noch Aussagen zu machen, da sich die Biographien aufgrund sehr schnell verändernder öffentlicher Strukturen so grundlegend verändern, daß sie zum einen stark individualisiert werden (Stichwort: Bastelbiographie / U. Beck) und dadurch die klassischen psychologischen Entwicklungs- und Reifestadien nicht mehr greifen?! Was heißt künftig Entwicklung für das Individuum, wenn sich seine Umgebung, also die Strukturen öffentlichen Lebens so sehr und so rasch verändern, daß man ohnehin regelrecht mitgespült wird, ganz gleich wo man sich befindet. Ist Entwicklung der zum scheitern verurteilte Versuch Schritt zu halten mit der Auflösung tradierter Strukturen oder ist Entwicklung die bewußt eingesetzte Weigerung sich diesem „Spüleffekt“ auszusetzen oder ist Entwicklung der mühsame Versuch einen Weg durch die Unwegsamkeit zu finden, der aber auch hart an die Grenzen führen kann? Was ist Zielangabe wenn es um die Frage psychischer Gesundheit geht? Kann das Individuum gesund sein, wenn es von einer strukturieren Krise in die nächste gewürfelt wird? Oder ist diese Frage gar nicht zulässig da sie äußerst zugespitzt formuliert ist? Das aber sind Fragen, die uns bewegen, die zusammenhängen mit der Frage nach einer Ökopsychologie. 

Dazu drei Wege, die ich versuchen möchte zu begehen: 

1. Die Biographie in der Krise öffentlicher Strukturauflösungen
2. Die Alchimie ganzheitlicher Modelle
3. Der ökologische Kontext biographischer Heilungsversuche

 

1. Die Biographie in der Krise öffentlicher Strukturauflösungen

 

In einer Studie „Jugend und Religion“ kommt Heiner Barz zu durchaus bemerkenswerten Aussagen zum Thema Biographie. In einer Welt die sich unglaublich schnell verändert, die sehr schnell tradierte Strukturen öffentlichen Lebens aufzehrt und sie durch ständig wechselnde Trends ersetzt, ist die Biographie ein großes Fragezeichen geworden. Was heißt zum Beispiel Ich-Stärke, wenn die Stärke des Ich auf einem Persönlichkeitskern beruht, der immer weniger entwickelt werden kann, da sich eine solche Entwicklung an stabilen Strukturen anlehnt? Das heißt, nicht nur die Strukturen öffentlichen Lebens verändern sich rasant, sondern auch die Biographien verändern sich durch den raschen Wandel. Woran macht man den Jugendbegriff überhaupt noch fest? Was heißt Adoleszenz und wann findet sie statt? Vor wenigen Jahrzehnten noch hätten wir mit solchen Fragen keine ernsthaften Schwierigkeiten gehabt, nun aber kommen wir in diese Schwierigkeiten, weil die typischen Züge der Jugendphase selbst in der Auflösung begriffen sind. Menschen, also auch Jugendliche, die noch stärker nach ihrer Identität fragen, müssen ihre Biographie selbst zusammenbasteln. So der Soziologe Ulrich Beck, der darin auch den Grund zur Verunsicherung, Überforderung und schließlich zur Standardisierung von Biographien durch Institutionen sieht. Wie aber werden wir tatsächlich mit der Forderung fertig alles selbst entscheiden zu müssen? Dazu Barz:

„Mit der Zunahme individueller Freiheitsspielräume ist also auch der Zwang zu individuell zu erbringenden Reflexionsleistungen anstelle der Befolgung selbstverständlicher Normen verbunden, wie sie von der Tradition vorgegeben waren. Hand in Hand mit der Individualisierung und Rationalisierung vollzieht sich die Pluralisierung der Gesellschaft: Die soziale, kulturelle und regionale Ausdifferenzierung von Lebensformen macht eine einheitliche Beschreibung immer weniger möglich, die gewachsenen städtischen, aber auch ländlichen Milieus schmelzen zusehends ab, tradierte religiöse aber auch säkulare, z.B. klassenspezifische Weltbilder büßen ihre sinngebende Kraft ein (vergl. Fechhoff 1985, 71). Neue Wertstrukturen werden im ständigen Wechsel der Interessen, Bedürfnisse und Orientierungen kaum noch etabliert...... Diese strukturelle Strukturlosigkeit führt zur Vorherrschaft der „Ideologie der Unfertigkeit“(Reccum), die Werte beginnen zu vagabundieren und sich zu ständig neuen Wertcollagen zu gruppieren. Als Pendant zur Collage-Gesellschaft bietet sich die „patchwork-identity“ (Keupp 1988). Das Individuum wird in seinen verschiedenen Rollen in den verschiedenen Lebensbereichen mit äußerst verschiedenen Anforderungen, Erwartungen und Normen konfrontiert, denen es gerecht werden muß. Während etwa in der Familie Wärme, Nähe, emotionale Rückendeckung etc. herrschen (sollen), begegnet der Jugendliche in der Schule ganz anderen universalistischen, unpersönlichen, emotional neutralen Beziehungsanforderungen. Für die heutige Situation notiert Tippelt (1988, 623), „daß Kindern und Jugendlichen ein ganzheitliches soziales Verhalten ohne rollenspezifische Aufsplitterung zunehmend verwehrt ist.“

Die „Verinselungen“ unserer arbeitsteiligen Gesellschaft bringen die Heranwachsenden z.B. zwischen Familie, Schule, Peer-Group, Vereinsleben, Medien etc. Spannungen, Widersprüche und Abstimmungsschwierigkeiten mit sich, die ihnen ein hohes Maß an Rollendistanz, damit Selbstbestimmung einerseits ermöglichen, andererseits aber auch die Gefahr zunehmender Außenleitung im Sinne David Riesmans beinhalten (vergl. Tippelt 1988, 635). (Heiner Barz, „Religion ohne Institution?“, S. 28-29)

Kann ein Mensch das wirklich leisten oder waren es nicht immer nur einzelne Menschen die dazu in der Lage waren? Was also geschieht mit der Biographie wenn die ganze Kultur in einem krisenhaften Umbruch ist? Die Soziologie hat damit zu kämpfen, daß sie kaum noch allgemeine Aussagen machen kann über die Jugend, da sich das was wir Jugend nennen so schnell verändert, das jede soziologische Studie veraltet ist, wenn sie veröffentlicht wird. Und es finden biographische Veränderungen von bedeutender Tragweite statt. War es über lange Zeit durch die Entwicklungspsychologie verbürgt, eine klare Sache wann der heranwachsende Mensch welche Entwicklung durchläuft, so können sich soziologische Untersuchungen kaum noch an solchen Standards orientieren, da sie zum Teil gar nicht mehr stattfinden oder aber in einer vorhersehbaren Weise individuell verschoben stattfinden.

„Hatte schon das Phänomen der „säkularen Akzeleration“ – z.B. erkennbar in der Vorverlegung der ersten Monatsblutung in Westeuropa von 17 auf 13 Jahre von 1830 bis 1960 (Heckhausen 1974, 89) – die Phasenabgrenzung in Frage gestellt, so wird seit einigen Jahren „das Paradox der Vorverlagerung erotisch-sexueller und politischer Ansprüche bei gleichzeitiger Hinausschiebung von Abschlußstufen der Ausbildung“ (Rosenmayr 1976, 240) beobachtet. Die Entstrukturierung der Jugendphase wird einerseits als Vorverlagerung der Frühadoleszenz beschrieben, weil Jugendliche früher Zugang zu gesellschaftlichen Lebens- und Erfahrungsbereichen haben (vergl. Olk 1989, 38): 

– Konsum (höheres Taschengeld, Umwerbung als Konsumenten) 
– Mediennutzung (häufig eigene Geräte) 
– Mobilität (Urlaubsreisen, eigene Fortbewegungsmittel) 
– Partnerschaft und Sexualität („Enttabuisierung der Sexualität“) 
– Eigene Wohnung (Auszug aus dem Elternhaus) (Heiner Barz, a.a.o. S.34)

 

Die Biographie und darum geht es hier, verändert sich in dem Maße, wie sie auf eine sich ständig verändernde und umstrukturierende Öffentlichkeit trifft. Wir können nicht erwarten das wir die Welt mit High-Tech ausstatten, sie ständig an die neuesten technischen und strukturellen Erfordernisse anpassen ohne damit zugleich dem Verlauf von individuellen Entwicklungen die Orientierungspunkte zu nehmen. Die individuelle Entwicklung kann nur so stabil verlaufen wie ihre Umwelt es vorgibt. Verändert sich diese Um-Welt ständig, dann muß das Rückwirkungen auf die Biographie haben. Beck spricht von Entkoppelungen und Bastelbiographien (vergl. auch U. Beck/E. Beck-Gernsheim, „Riskante Freiheiten - Individualisierung in modernen Gesellschaften“). 

Die Frage prallt mit aller Wucht auf die Psychologie zurück. Mit welchen Menschen hat sie es zu tun? Welche Problematik stellt sich dar und was läßt sich in den individualistisch ausgerichteten Behandlungskonzepten kompensieren? Können wir überhaupt noch so tun, als ließe sich beim Individuum irgend etwas ansteuern was durch die wechselnden öffentlichen Trends ständig in Frage gestellt wird? Kurzum, welche Auswirkungen hat eine solche Feststellung auf die Psychologie? Die Psychologie und die Psychotherapie ist ja nicht unbedingt auf solche Fragen eines sich wandelnden Kontextes ausgerichtet. Psychotherapie arbeitet mit biographischen Verläufen, nicht mit kontextuellen Zusammenhängen. Was aber macht die Psychologie und die Psychotherapie wenn die Biographien sich selbst entstrukturieren? Woraufhin behandelt sie dann Menschen? Mit welchen Verläßlichkeiten kann Psychotherapie arbeiten, mit welchen Konstanten? Das mag im Einzelfall kein größeres Problem darstellen, aber es könnte sich zum Problem auswachsen, wenn man einmal vom konkreten Einzelfall abstrahiert und auf eine grundsätzliche Ebene geht. 

Wie zulässig ist es dann, so zu tun, als habe man lediglich mit einem Menschen zu tun, dessen biographische Entwicklung individuelle Ungereimtheiten aufweisen, die sich deshalb als Ungereimtheiten darstellen, weil es irgendwo so etwas gibt wie ein Konzept oder eine Vorstellung von dem was normal ist. Psychotherapie muß von einer Normalität ausgehen, die sich an den Normen bemißt, die sie in der Gesellschaft vorfindet. Wenn aber nun diese Normen selbst in der Auflösung begriffen sind, woran mißt dann die Psychotherapie ihre Zielangabe? Man spricht in diesem Zusammenhang auch von vagabundierenden Werten... Das ist eine heikle Frage, die sich ebenso nur auf dem Hintergrund eines kontextuellen Ansatzes stellen und beantworten läßt. Was ist das Ziel einer Behandlung, wenn nicht mehr deutlich zu machen ist was öffentliche Norm sein soll? 

Ich weiß nicht, inwieweit sich die Psychotherapie solchen Fragen widmet, aber es müßten von den Befunden her drängende Fragen sein, die durchaus Mühe machen in der Beantwortung. 

Bevor wir daher den großen Bogen schlagen zu einer Ökopsychologie würde ich erst einmal den Sprung zu einer kontextuellen, also einer kontextorientierten Psychologie versuchen. Die Sache ist nicht neu! In den 70er Jahren, als sich vieles an Werten im Umbruch befand, hat die Antipsychiatrie (R.D. Laing, Thomas S. Szasz, David Cooper usw.) diese Frage schon einmal aufgeworfen: Damals konnte man allerdings noch leichter auf die Außenseiterposition der Antipsychiater verweisen. Inzwischen dürfte das schwieriger werden, da es keine Außenseiter mehr sind, die deutliche soziologische Befunde vorlegen. Wie also verhält sich Psychotherapie zur Norm? Das war die Frage der 70er Jahre, die nun abgewandelt werden muß zu der Frage: Wie verhält sich Psychotherapie zu dem Verschwinden von Normen? 

Das ist vielleicht eine Zuspitzung der Anfrage, weil sie noch tiefer ansetzt und damit noch tiefer verunsichert. Wie geht Psychotherapie damit um, daß Strukturen des öffentlichen Lebens im Verschwinden begriffen sind und längst auf die Subjekte übergegriffen haben? Während Freud noch von einer stabilen öffentlichen Struktur ausgehen konnte und dementsprechend auch eine therapeutische Theorie entwickeln konnte, die von einer solchen Stabilität ausgehen konnte, muß sich die Psychotherapie inzwischen mit fundamental anderen Fragen auseinandersetzen, die, geht man von dem individualistischen Ansatz aus, völlig anderer Natur sind. 

Im Februar 1992 erschien in der Zeitschrift „Psychologie Heute“ ein Interview mit Gerd Gerken, Trendforscher seines Zeichens. Gerken sprach von ständig wechselnden Identitäten, die für den westlichen Menschen in Zukunft das Normale sein werden. Der Popstar „Madonna“, die ihre Identität ständig wechselt, sei der Prototyp der Zukunft. Der Interviewer fragte erstaunt noch einmal nach und antwortete, das diese Beschreibung Gerkens bisher unter Borderline-Syndrom laufe und einem Krankheitsbild entspreche. Was aber, so muß die Frage weiter lauten, wenn wir das, was heute Krankheit ist morgen überall antreffen? Was ist dann normal, wenn die Norm in ständig wechselnden Identitäten besteht? 

Der Sozialpsychologe Kenneth Gergen hat darauf eine Antwort versucht. In der gleichen Zeitschrift, zwei Jahre später (Heft 10/94) spricht er von einem „multiphrenen Selbst“ das sich nicht mehr über eine stabile Kernidentität definiert sondern über eine Beziehungsvernetzung die verschiedene Variable offenhält. Gergen warnt davor die Norm für das was gesund ist von der Geschichte abzuheben und nur im Rahmen des Jetzt zu definieren:

„Zu den dramatischen Entwicklungen des postmodernen Denkens gehört, daß diese ganze Tradition in Frage gestellt wird. Für viele postmoderne, vor allem französische Denker, ist das Selbst schlicht ausgelöscht oder „dekonstruiert“. Aber ich denke, daß sich aus diesen neuen Überlegungen eine weitaus positivere Konzeption des Selbst ableiten läßt - eine, die ich als das „Beziehungs-Selbst“ oder relationale Selbst nenne. Darunter verstehe ich ein Selbst das von Beziehungen getragen und niemals vom fundamentalen Zustand des Bezogenseins getrennt ist. Diese Auffassung breitet sich allmählich in unterschiedlichsten Wissensgebieten aus. In der Psychologie ist das abzulesen an der Wiederentdeckung von Vigotski, der Hinwedung zu kulturell fundierten Sinn-Systemen, aber auch an Forschungen über die geschlechtsspezifische Moralentwicklung oder am Interesse für Lacans Schriften..... Wir müssen diese Kriterien einer sinnvollen Existenz im historischen Kontext sehen. Es ist problematisch, wenn wir Ideen und Ideale einer bestimmten Epoche der Kulturgeschichte als universell betrachten. In den letzten Jahrhunderten, in denen sich die Moderne entwickelte, sprach vieles dafür, von einer Zentralinstanz des Selbst namens Vernunft oder Ratio auszugehen: Ihr verdanken wir schließlich die demokratischen Institutionen, die öffentliche Bildung und die Ideale der Menschenrechte. Aber indem uns der technologische Fortschritt in immer engere Nähe zueinander zwingt, indem wir wirklich im „globalen Dorf“ leben, verändert sich diese Tradition. Das Individuum über alles zu stellen erzeugt ein gefühl der Isoliertheit. Wir glauben, daß wir die subjekte Weltsicht der anderen nicht wirklich teilen können, und daß es deshalb darauf ankommt, die eigenen Interessen zu wahren und sich nicht von anderen beeinflussen zu lassen.....“ (Kenneth Gergen, „Sinn ist nur als Ergebnis von Beziehungen denkbar“ in „Psychologie Heute“ 10/94)

 

Gergen ist bemüht der Veränderung Rechnung zu tragen, die sich zunehmend als eine Veränderung des gesamten westlichen Wertegefüges darstellt. So kann er deutliche Warnungen aussprechen in Bezug auf das was psychische Störung sei soll bzw. was so definiert wird.

„Was die Klassifizierung psychischer Störungen betrifft, so dürfen wir nicht außer acht lassen, daß die Therapeuten die Agenten eines bestimmten kulturellen Umfeldes sind - vor allem betraut mit der Aufgabe Sinn zu stiften. Sie stellen der Kultur die Kategorien von Krankheit zur Verfügung und sie ermöglichen es den Menschen, ihr Leben, aber auch dessen Probleme zu verstehen. Allerdings: Die therapeutischen Sprachschöpfungen schaffen erst die Nachfrage nach entsprechender Therapie. So gibt es heute über vierhundert Formen von psychischen Störungen und die Zahl wächst exponentiell - das ist doch Grund zur Sorge!“ (Kenneth Gergen in „Psychologie Heute“ 10/94, S.35)

Gergen verweist die Psychotherapie in ihre kontextuellen Grundgegebenheiten um sie dort als relative Erscheinung auf das zu beschränken was sie ist: Ausdruck einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit, die irgendwann in der heutigen Form entwickelt wurde und ebenso wieder verschwinden kann. Nicht als Sache, sondern als Form! Das könnte sich als sehr wichtig herausstellen, wenn mit einer anderen Definition von Personalität, Identität und psychischer Stabilität umzugehen sein wird. Psychologie ist daher gefordert auf einer Metaebene kontextuelle Entwürfe zu liefern von dem was ihre Arbeit ausmacht. Wenn der Kontext sich verändert und wenn der sich verändernde Kontext die Subjekte verändert, dann kann die Psychologie nicht mehr bleiben was sie ist! Daher sind kontextuelle Ansätze nötig um über das Nachzudenken was über die Tagesfragen hinaus von grundsätzlicher Bedeutung sein wird.

 

 

2. Die Alchimie ganzheitlicher Modelle

Es ist längst nicht mehr Neues, daß die Psychotherapie in allen Kulturen immer schon existiert hat. Neu ist die Erscheinungsform seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Was es so vor Wilhelm Wundt und Sigmund Freud so nicht gab, ist die ausgegliederte Einzelwissenschaft dessen was wir unter Psychologie laufen lassen. Es ist eine moderne westlich-kulturelle Erscheinung den Menschen isoliert von allem was ihn sonst ausmacht zu betrachten und zu glauben man könne allgemeingültige Aussagen machen auf einem solchen reduktionistischen Hintergrund, der den Menschen isoliert und herausseziert aus seinem elementaren Zusammenhängen in denen er steht. Diese isolierte Betrachtung des Menschen war nicht die Erfindung von Wilhelm Wundt oder Sigmund Freud, vielmehr war diese Betrachtung Ausdruck einer ebenso strukturierten Weltwahrnehmung. Descartes glaubte sich allein Selbstgewißheit verschaffen zu können indem er sich auf sich selbst bzw. auf seinen eigenen Zweifel zurückzog. Das „corgito ergo sum“ hat uns eine isolierte Betrachtung des Menschen beschert und die Psychotherapie konnte in der westlichen Kultur nur auf diesem Hintergrund entstehen. Descartes war hier programmatisch. Er setzte mit seinem methodischen Zweifel da an, wo sonst vorher niemand wirkliche Fragen stellt hat. Descartes fragte nämlich, was denn an wirklicher Gewißheit bleibt, wenn erst einmal alles angezweifelt werde was gewiß erscheine. Damit nahm er methodisch vorweg was einige Jahrhunderte später zur sozialen Alltäglichkeit werden sollte. Die Gewißheit, die mich leben läßt, die Selbstgewißheit, kommt aus mir selbst. Ich muß mir den Grund meines Da-Seins selbst beschaffen. Damit war der Mensch aus den Zusammenhängen, in denen er lebte herausseziert worden. War vorher die Frage nach der Gewißheit des Daseins aus der Bezogenheit auf Institutionen oder auf Menschen, Zusammenhänge, Traditionen usw. begründet, so war dieser Begründungszusammenhang nun zusammengebrochen. Der Mensch war nicht, wie es christlicher Lehre entspricht, weil er von Gott und dem Nächsten angesprochen wurde, sondern der Mensch war, indem er sich auf sich selbst zurückbezogen wußte. Zugespitzt können wir sagen: Hatte die Kommunikation vorher einen Adressaten, so war sie nun kreisförmig, sie bog sich auf den Fragenden zurück. Nicht mehr irgend etwas oder irgend jemand der dem Fragenden Antwort auf seine Frage nach dem Da-Sein gegeben hätte tauchte auf, sondern der Frager antwortete sich selbst und war mit der Antwort auch zufrieden. Was bei Descartes noch skurril wirkte, lebt sich heute wie eine Selbstverständlichkeit. Jeder einzelne ist für die Bestätigung seines Daseins selbst verantwortlich. Die Existentialisten gingen an dieser Stelle am weitesten nach draußen bzw. auf sich selbst zurück. Sie gingen davon aus, daß das Leben prinzipiell sinnlos sei und das es die Sache des einzelnen sei dieser Sinnlosigkeit einen Sinn zu geben. Das war konsequent aber für die meisten Menschen unlebbar. Um eine solche Leere auszuhalten muß man schon eine große innere Stärke haben um nicht völlig in der schwarzen Leere dieses Da-Seins unterzugehen. Dieser Herauslösung des Menschen aus seinen Zusammenhängen lag die Maschinenmentalität einer Weltsicht zugrunde, die ich in den vorhergehenden Papieren beschrieben habe. Es ist die Sicht einer Welt, in der man jedes Teil auf sich selbst reduzieren kann um seine „Mechanismen“ zu studieren. Der Mensch war hier nur ein Teil der gigantischen Maschinen, daß mit anderen Teilen aus Zusammenhängen herausgelöst wurde um es so klarer in den Blick zu bekommen: Der Mensch, die Dinge, Pflanzen, Tiere, Organe usw. alles wurde und wird zerlegt in einzelne Teile deren Funktion jeweils nur für sich selbst stehen. Nicht der Zusammenhang in denen Einzelteile stehen, sondern die Teile an sich waren Gegenstand der Betrachtung. Auf diesem Weg war es nur konsequent die Seele des Menschen ebenfalls isoliert zu behandeln und auf diese Weise eine reine Psychologie, eine Lehre von der Seele und ihren Mechanismen, zu entwerfen. Es ist dabei kein Zufall das der Begriff des Mechanismus bei Freud häufig auftaucht und entsprechende Vorstellungen Bewirkt. Eine Art Mechanik der Seele wurde versucht, die im Behaviorismus einen gewissen Höhepunkt erreichte damit aber auch die Seele vollständig auf die Summe ihrer rational verstehbaren Funktionen reduzierte. Eine Vorstellung, die nur mit Mühe und sehr langsam überwunden wird. Das möglicherweise die Seele gar nicht verstanden werden kann, wenn man sie aus den Bezügen und Beziehungen in denen sie lebt, kam gar nicht erst auf. 

Die Versuche eine grundlegende andere Sicht zu entwickeln blieben meist in den Anfängen stecken, weil die Zeit, so scheint es rückblickend, noch nicht reif war. So versuchte Wilhelm Reich, ein Freud Schüler, in seiner frühen Periode den Bezug zu politischen Fragestellungen herzustellen. Er nahm den Sozialismus als Grundlage für eine politische Psychologie, die interessante Ansätze hat. Leider verrannte sich Reich, indem er sich bei der Rolle der Sexualität so verbiß, daß kaum mehr verständlich wurde, was sein Anliegen war.

„Aber in seinen frühen Jahren, als Kritiker der Freudschen Orthodoxie, brachte Reich eine Reihe von faszinierenden Ideen hervor. Zu den fruchtbarsten dieser Ideen gehörte seine These, das Unbewußte, wie Freud es beschrieb, sei nicht das wahre Unbewußte. Das Freudsche Unbewußte war in Reichs Sicht nur „die Summe aller sogenannten Sekundärtriebe“, eine vermittelnde Schicht zwischen dem Ich und einer noch tieferen seelischen Ebene. Es war nicht das Unterdrückte, sondern das Unterdrückende. Und was wurde unterdrückt? Die „primären biologischen Triebe“, die man das Es unter dem Es nennen könnte:

„Dringt man durch diese zweite Schicht des Perversen tiefer ins biologische Fundament des Menschentieres vor, so entdeckt man regelmäßig die dritte und tiefste Schicht, die wir den „biologischen Kern“ nennen. Zutiefst in diesem Kern, ist der Mensch ein unter günstigen sozialen Umständen ehrliches, arbeitsames, kooperatives, liebendes, oder, wenn begründet, rational hassendes Tier.“

In der Zwischenschicht, dem Freudschen Unbewußten, sah Reich die psychische Kraft, die von repressiven Ideologien benutzt wurde, um die primären biologischen Triebe des Menschen abzuwürgen.“ (Theodore Roszak, „Ökopsychologie - Der entwurzelte Mensch und der Ruf der Erde“ S. 394)

Auch Alfred Adler ging über Freud hinaus und bemühte sich über die Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft und für das Ganze der Welt hinauszuarbeiten. Aber das waren erst Ansätze, im Grunde war man erst dabei eine Wissenschaft von der Seele zu entwerfen und zu gestalten. Das Ziel war nicht die Integration des Menschen in das Ganze der Welt, sondern die isolierte Betrachtung der individuellen Seele und ihrer Funktionen. Die so vorgestellte Seele kam ohne die Bezugnahme zu Pflanzen und Tieren aus. Wenn es weit ging dann wurde der Mensch als soziales Wesen definiert dessen Bezüge, meist zurückgebunden, in die Belange der menschlichen Mitwelt reichten. Die Mit- oder Um-Welt des Menschen waren im äußersten Falle andere Menschen, aber nicht Tiere, Pflanzen, Luft, Licht oder Dinge. Die Lehre von der Seele kam ohne solche Bezüge aus. Sie war mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Biographie bzw. mit der Biographie der einzelnen Seele, so daß sich hier die methodische Haltung von Descartes durchgesetzt hat. Die Seele zeiht ihre Gewißheit aus sich selbst und nicht aus der Bezogenheit auf ihre Mitwelt. Ich würde, vorwegnehmend sagen, daß die Gewißheit des Daseins aus der kommunikativen Bezogenheit auf etwas kommt, das nicht die Seele selbst sein kann. Bevor ich auf die Frage komme, woher sich die Psychologie entwickelt hat, möchte ich noch einen Einschub hinzufügen, der sich mit der Frage nach der theologischen Entkörperlichung des Menschen beschäftigt.

 

Der Sprung über die Natur hinweg

Die westliche Form der Psychologie wurzelt in einer christlichen Grundhaltung, so wie sie hier verstanden worden ist. Es ist daher ein Aspekt die Theologie der Natur wenigstens erwähnt zu haben, da sie de facto eine große Rolle spielt. Es war nicht immer so in der Theologie das die Natur eine so nichtige Rolle gespielt hat wie seit der Aufklärung. Die Beziehung zur Natur war nie die beste, da man immer davon ausgehen mußte, daß in der Natur die gefallene Schöpfung zu sehen sei. Schon die Israeliten bekamen eine klare Weisung die Naturgottheiten nicht zu verehren und damit der selbst religiöse Verehrung zukommen zu lassen. Der Schöpfungsbericht, der während des babylonischen Exils der Israeliten geschrieben wurde, erhält sogar eine gewisse Ironie. Die Babylonier verehrten die Gestirne wie Gottheiten und wenn im Schöpfungsbericht die Rede von „Lampen“ ist, die Gott an den Himmel gehängt habe um der Beleuchtung willen, dann trifft das zwar nicht die Fakten aber es traf die Naturreligion der Babylonier. Die Israeliten sollten, in scharfer Abgrenzung zu ihren Nachbarn lernen, allein Gott die Ehre zu geben und in seiner Schöpfung nicht Gottheiten zu sehen, die an sich verehrungswürdig seien. An manchen Stellen werden Kulte als Dienst an Dämonen bezeichnet, was den Gedanken der gefallenen Schöpfung zum Hintergrund hat. Diese scharfe Abgrenzung zieht sich durch bis in das Neue Testament und wirkt fort bis in die Frühzeit der Kirche. Die ersten Christen bzw. die ersten Generationen von Christen, die von den römischen Kaisern verfolgt und umgebracht wurden, hatten die Lehre von der Freiheit, von der alten Natur durch die Taufe gelehrt bekommen. Mit der Taufe wurde der Mensch frei von der alten Natur und konnte sie überwinden und ganz Christus leben. Augustin, der bis heute eine großen Einfluß hat, sah das anders. Aufgrund eigener Lebenserfahrungen ging er davon aus, daß der Mensch hoffnungslos an die sündige Natur gebunden bleibt, an die er regelrecht versklavt ist. Er muß zwar dagegen ankämpfen, aber da er die Sünde zu seinem natürlichen Wesen gehörig erfuhr, konnte er sie nicht ablegen oder loswerden. Von Augustin stammt auch die Lehre von der Erbsünde, die sich durch den sexuellen Akt vererbt. Nach Augustin war die Natur immer eine von der Sünde durchsetzte Natur. Damit traf er sicher ein Faktum, daß nicht von der Hand zu weisen ist. In der Natur geht es mitunter grausam zu und der Mensch, wir hören es tagtäglich, ist nicht nur gut, er hat auch Züge, die uns Angst machen. Dazu brauchen wir nur nach Bosnien zu blicken oder in unsere eigene Vergangenheit, die noch lange nicht bewältigt ist. Der Mensch ist von Natur aus weder gut noch böse, er ist sowohl das Eine als auch das Andere, so wie die Natur auch beides ist.... Das wäre sicher auch nicht problematisch, wenn nicht die Last auf die Seite des Bösen gekippt wäre. Die Natur, ohnehin vom Garten Eden zum Urwald verfallen, zur Wildnis, hatte im christlichen Verständnis immer diesen Anstrich des Sündhaften, des Unguten und Bösen. In der Welt war der Herrschaftsbereich der Dämonen der die Welt (also den Kosmos) zu einem dunklen Ort machte. Die Natur war immer in der Gefahr zur Projektionswand zu werden. Die Sünde war der Natur anhaftend. Der „natürliche“ Mensch, also der Mensch, der seiner Natur verhaftet ist, ist der sündige, der böse Mensch. Das mag eine skizzenhafte Überzeichnung sein, aber sie läßt sich über die Reformation bis in unsere Tage zurückverfolgen. Es mag auch eine Überzeichnung sein, wenn wir sagen, daß die Naturnegation bei Kierkegaard nur auf diesem Hintergrund zu verstehen ist, aber eine solche Überzeichnung kann dennoch hilfreich sein um den gesamten Komplex zu verstehen. Es mag auch sein, daß sich gnostische Einflüsse im Christentum gehalten haben um immer wieder als Affront gegen die Natur aufzustehen. Nach der Lehre der Gnosis ist die Materie der Wohnort des Bösen aus dem sich der gute Geist herausarbeiten muß, nachdem er, durch eine Art Sündenfall, in die Materie gestürzt ist. Die Materie als Widersacher des Geistes, gar als Wohnort des Bösen, daß ist ein harter Vorwurf und eine schlimme Unterstellung, die wesentliches bewirkt und mitgestaltet hat in der abendländischen Entwicklung. Die Gnosis hätte aber vermutlich mit dieser Lehre nicht so ohne weiteres am Christentum anknüpfen können, wenn dort nicht bereits ein Boden gewesen wäre. Nach Kierkegaard ist Gott nur durch einen gewagten Sprung zu finden, der nicht nur die Natur zurückläßt, sondern sie regelrecht preisgibt.

„Der Weg führt nicht durch die Natur hindurch; man versucht die Natur durch einen „wagenden Sprung des Glaubens“ zu transzendieren. Die Natur ist das Gefängnis, dem wir entkommen müssen, auf der Suche nach einem Gott, der als das Unvorstellbare, dem Menschen gänzlich Fremde gedacht wird.“ (Theodore Roszak, a.a.o. S.84)

Für Kierkegaard ist die Natur etwas das überwunden werden muß. Sein Glaube setzt an den Absoluta des Jenseitigen an. Der Glaubende findet nirgendwo einen Halt außer in der eigenen Haltlosigkeit. Die Bedingtheit der Natur wird bei Kierkegaard in die Unbedingtheit des Absoluten gezwängt, wo der Mensch nicht mehr zählt. Nicht der ganze Mensch schafft den Sprung in die Nähe Gottes, sondern nur der Teil des Menschen, dem es gelingt sich dem Absoluten Gottes auszusetzen. Gott wird zum absolut Jenseitigen, die Welt zum Wohnort des Todes, aus dem sich der Mensch durch eine existentiellen Sprung befreien muß. Kierkegaard hat diesen Weg bis zu Ende gedacht und ist beim Tod herausgekommen. Der Lebende schafft diesen Sprung nicht, niemals wird es gelingen sich so aus dem Bedingten der Welt ins Unbedingte Gottes aufzuschwingen. Der Versuch ist nicht nur tödlich, er ist Hybris des frommen Bewußtseins bis an die Schmerzgrenze vorangetrieben. Bei Kierkegaard wird die Natur absolut negiert bis zum Tode hin. Entsprechend selbstqälerisch sind seine Gedankenkreise, die nicht loskommen von der Relativität des Natürlichen. Die Natur bietet allenfalls den Boden von dem man in die unbedingte Existenz zu springen habe, aber sie ist an sich zu nichts gut. Sie ist der Ansporn über sich hinaus zu gehen, sie ist dazu da daß man sie hinter sich lassen kann. Das wird bei Kierkegaard so sehr abstrakt, daß er am Ende wie in einem Würgegriff seiner eigenen Ansprüche liegt und röchelnd das Paradies zu sehen meint. Die Natur ist der hinderliche Vorhang den man durchlaufen muß um ganz im Eigentlichen zu sein. Nur wer erträgt die ständige Gegenwart des Eigentlichen, wer möchte die Luftleere der ständigen Bedrohung aushalte. Kierkegaard sah sich selbst wie einen Schwimmer, „4000 Faden über dem Boden“ schwimmend, ohne die gewisse Hoffnung irgendwo ankommen zu können. Quält sich Kierkegaard noch persönlich mit seiner konkreten Natur ab, so scheinen die Schüler und Nachfolger seiner Philosophie diesen Kampf gar nicht erst auf sich nehmen zu wollen. Kierkegaard, der sich selbst als „Geopferter“ definierte, als einer, der sich einer Generation opfert, brach das Tor zur Moderne auf wie kaum ein Anderer. Sein Zeitgenosse, Friedrich Nietzsche, war in vieler Hinsicht anders als Kierkegaard, aber sie hatten beide die Vision des Vereinzelten, der zwischen dem Wahn seiner Unbedingtheit und der Tragik des Konkreten hin und her wankte. Sie waren beide, so Paul Schütz, Geopferte, die etwas vorwegnahmen was einmal als zur Norm werden sollte. Die Norm, das Unbedingte, herausseziert aus der Natur, selbst leisten zu müssen und nicht zu können.

„Kennzeichnend sind Mischformen, Widersprüche, Ambivalenzen (abhängig von politischen, wirtschaftlichen, familiären Bedingungen). Kennzeichnend ist die „Bastelbiographie“, die - je nach Konjunkturverlauf, Bildungsqulifikation, Lebenspahse, Familienlage, Kohorte - gelingen oder in eine Bruch-Biographie umschlagen kann. Scheitern und unverzichtbare Frehiet wohnen nah beieinander, mischen sich vielleicht sogar (z.B. in der „gewählten“ Single Existenz). (U. Beck/E. Beck-Gernsheim, „Riskante Freiheiten“, S.19)

Karl Barth unternahm in unserem Jahrhundert den Versuch, die Natur völlig von Gott zu lösen, als Antwort auf Schleiermacher, der zu wenig Abgrenzung betrieb als er sich dem Humanismus widmete, damit aber einer der großen Theologen des 19. Jahrhunderts wurde. Barth, dem mit seinen Buch über den Römerbrief eine prophetische Schärfe gelang, die lange nicht so zu hören war in der evangelischen Theologie (vergl. Heinz Zahrnt, „Die Sache mit Gott“), trennte rigoros Gott und Natur, Himmel und Erde, Welt und Geist. Eine solche Klärung schien notwendig, da die Theologie ihre klare Kontur verloren hatte die ihr das nötige Profil gab. In der Fortführung des Werkes von Karl Barth wirkte sich dieser Weg aber nicht nur zum Guten aus. Gott war dort und der Mensch war hier, der Himmel dort, der Mensch hier. Barth ging sogar soweit das er glaubte, daß sich das was hier Ereignis wird, im Unsichtbaren längst ereignet habe. Dadurch wird nicht nur der Riß zwischen Himmel und Erde unüberbrückbar tief sondern auch das Sichtbare, die Natur wird zur Welt der zweiten Wahl, die nicht so wichtig ist wie der Himmel. Barth, der im Widerstand gegen Hitler eine klare Position bezogen hatte, lebte das nicht, er war kein Weltabgewandter, aber er verkündete es so. Nach Barth hatte die evangelische Theologie schon große Mühe wieder auf den Boden dieser Welt zu kommen. Es mag hier auch, hier und da, wirklich gelungen sein, sie hat große Theologen hervorgebracht die von Barth abwichen (Emil Brunner, Dietrich Bonhöfer und zum Teil auch Paul Tillich) aber von diesem Zug hat sie sich bis heute nicht wirklich erholt. Es hängt dem christlichen, in der Natur lediglich eine notwendige Nebensächlichkeit zu sehen, in der eher routinemäßig, aber auch erst nachdem andere schon begonnen hatten, zur Bewahrung der Schöpfung aufzurufen. Ein Versuch mit ähnlichen Themen in einer evangelischen Erwachsenenbildung zu landen, traf auf die Resonanz des Leiters, der meinte, Themen wie die „Bewahrung der Schöpfung“ müßten halt auch hin und wieder ins Programm. Aber da war nicht Interesse sondern reine Pflicht herauszuhören. In der Schwierigkeit „Gott in der Schöpfung“ (Moltmann) wahrzunehmen, spiegelt sich ein Problem evangelischer Theologie bzw. des Christlichen generell wieder. Es war bzw. ist ein Zug des Christlichen den Menschen zu entnaturalisieren, ihn herauszuschälen aus dem Ballast der Natur, die ihm anhaftet wie Schmutz. Das hört sich nach Kierkegaard an, aber es ist, nicht zuletzt durch ihn beeinflußt, eine Stimme im Chor christlicher Weltanschauung. Das Christliche wirkt immer irgendwie der Natur enthoben, das dahinter eine lange Tradition steht, die sicher wesentlich das Menschenbild mit beeinflußt hat, sollte in dieser kurzen Skizze deutlich werden.

„Sudhir Kakar weist darauf hin, daß die moderne Psychotherapie, zumindest in ihrer klassischen freudianischen For, den „Text“ über den „Kontext“ stellt. Mit dem „Text“ meint er das Privatleben des Patienten, das als in sich geschlossene Geschichte eine autonomen Individuums betrachtet wird. Dieses Verständnis der Identität als heroisch-wehrhafte Festung geht auf den Glauben der westlichen Kulturen an die Realität der individuellen Seele zurück, ursprünglich als besondere Schöpfung Gottes betrachtet, die in die Welt entlassen wurde, um an ihrer eigenen Erlösung zu arbeiten. Auf dieser jüdisch-christlichen Lehre beruht die Begeisterung unserer Kultur für die Autobiographie und das Portrait, für die Nabelschau in der Kunst und der Poesie und für die puritanische Fixierung auf die Schuld, die uns in der Bekenntnisliteratur so oft entgegentritt. Als Basis für Psychotherapie bewirkt diese einseitige Konzentration auf das Selbst als Text, daß die Heilung der verwundeten Seele zu einem einsamen, rein innerpsychischen Kampf wird. Der Patient meldet sich beim Psychotherapeuten zu einer privaten Sitzung an, lehnt sich im ruhigen, abgedunkelten Behandlungszimmer auf der Couch zurück und wendet sich nach innen, um sein Leben Revue passieren zu lassen. Dabei assistiert nur der meistens schweigende Analytiker als mitfühlende, nicht urteilende Präsenz oder als leere Leinwand, auf die der Patient seine oder die Patientin ihre Ängste projizieren kann.“ (Theodore Roszak, a.a.O. S.114-115)

 

Ganzheitliche Modelle aus der Geschichte

„Wo liegt die Ursache der „epistemologischen Einsamkeit“, die das moderne Leben charakterisiert? Könnte sie in unserer ökologischen Ignoranz liegen? Der qualvolle Zustand des pathologisch isolierten Ich ist es, der Menschen dazu bringt, psychotherapeutische Hilfe zu suchen, und von diesem Ausgangspunkt aus müssen sie ihre Suche nach dem Selbst beginnen. Aber kann die verarmte, grundsätzlich negative Vorstellung von einer umgebenden Natur, die wir im Umweltbegriff der Daseinsanalyse verkörpert finden, wirklich etwas zur Heilung dieses Isolationszustandes beitragen? Mary Midgley, die sich darum bemüht, die subtilen und komplexen Verbindungen zwischen Tier und Mensch in unserem kulturellen Erbe nachzuzeichnen, sieht in der doktrinären Ablehnung der physischen und biologischen Welt das „wirklich monströse Element“ des Existentialismus. Die existentialistische Philosophie argumentiert so, „als bestehe die Welt nur aus toter Materie (Dingen) einerseits und völlig rationalen, gebildeten erwachsenen Menschen andererseits, so als gäbe es überhaupt keine anderen Lebensformen. Der Eindruck der Verlassenheit und Geworfenheit, der das Lebensgefühl der Existentialisten prägt, geht mit Sicherheit nicht auf die Abwesenheit Gottes zurück sondern auf die verächtlich-ignorante Zurückweisung der Biosphäre, der Pflanzen, Tiere und Kinder. Wenn das Leben auf ein paar urbane Räume zusammenschrumpft, kann es nur als absurd erscheinen. (Mary Midgley) (Theodore Roszak, a.a.o. S.84-85)

Woher rührt eigentlich die Psychologie? War es dem 19. bzw. dem 20. Jahrhundert vorbehalten diesen Bereich zu entdecken und fruchtbar zu machen? Es scheint mitunter wohl so, weil es vorher die Psychologie nur als Teil der Philosophie gab und davor lange Zeit nur im Rahmen weltanschaulicher Gebundenheiten, die durchaus bedenkenswert sind. Wie bereits erwähnt, die Zerteilung der Welt beruht auf einem relativ jungen Experiment der Neuzeit.

„Alle Formen von Seelenheilkunde waren einmal „Ökopsychologien“. Jene, die ihre Aufgabe in der Heilung der Seelen sahen, setzten selbstverständlich voraus, daß die menschliche Natur tief in der Natur verwurzelt ist, die wir mit Tieren, Pflanzen, Mineralien und den vielen unbekannten Kräften des Kosmos teilen. So wie alle Formen von Medizin in der Vergangenheit „holitisch“ verstanden wurden - als Heilung von Körper, Geist und Seele - und nicht eigens so definiert werden mußten, so wurden auch alle Formen von Psychotherapie spontan als Verbindung des inneren mit dem äußeren Kosmos aufgefaßt. Erst die Psychiatrie und Psychologie der modernen westlichen Gesellschaften spalteten das „innere“ Leben von der „äußeren“ Welt ab, eigenartigerweise; denn ist das, was in uns ist, nicht auch im Universum, real, folgerichtig und von unserer Erforschung der natürlichen Welt nicht trennbar?“ (Theodore Roszak, a.a.o. S.13)

In der Alchimie gab es den Satz: Wie oben so unten. Damit war gemeint, das alles was wir im Großen bzw. Kleinen sehen und erleben, eine Entsprechung im jeweiligen Gegenteil hat. Die Alchimisten nahmen an, das die Welt eine große Ganzheit ist, in der alles was wir wahrnehmen auf ein Anderes bezogen ist, das möglicherweise unserer Wahrnehmung entzogen ist. Für die Alchimie war die Erde die große Mutter, die Anima Mundi, die allen Lebewesen Nahrung und Lebensraum gab. Zwar war eine Richtung der Alchimie auf die Beherrschung der Natur angelegt, aber für die andere, die sich durchgesetzt hat, war die Natur ein Gegenüber, das sich in der Kommunikation öffnete. Die Alchimie war allerdings auch mit diesem Denken eingebunden in eine Tradition der Darstellung. Im 17. Jahrhundert, so Roszak, gab es eine Kunstform die sich darauf verstand den Zusammenhang von Kosmologie und Psychologie heraus- und darzustellen. Wir kennen diese kosmischen Schaubilder und empfinden sie in der Regel als unübersichtlich und schwer zugänglich. Sie sind uns in dieser Weise nicht mehr zugänglich, da sich hier Mythen, Tierkreiszeichen, Philosophie und Psychologie völlig vermischen zu einem graphischen Konzept in dem alles in Zusammenhänge gebracht worden war. Schon rein kosmologisch stimmt der Kosmos nach Ptolemäus nicht mehr, aber was uns interessiert ist die Schau, die sich hier zeigt:

Quelle: Theodore Roszak, a.a.o. S.281

Der Mensch war nicht ein Einzelwesen, er war eingebunden in ein geordnetes Ganzes, in dem er seinen Platz hatte, das auch um ihn herum angeordnet war, daß aber als Gewebe, in das er eingewoben war durchaus einen wichtigen Erklärungshintergrund lieferte.

„Noch im 17. Jahrhundert,“ schreibt Roszak, „waren führende Denker der westlichen Welt davon überzeugt, daß die Kräfte der Natur, die Prinzipien der Kunst und der Musik, die Medizin, das Bibelwissen und die hohe Theologie alle harmonisch in ein einheitliches System eingefügt werden können. ( Theodore Roszak, a.a.o. S.282)

Der Mensch fand sich wieder in einem Kosmos, der auf ihn hin geordnet war, der aber zugleich eine sinnvolle Ganzheit bildete. In einem Buch über die Kultur der Renaissance schreibt der Historiker Jakob Burkhard, das es den Menschen in der Zeit der Renaissance völlig fremd war sich als einzelnes Ich wahrzunehmen. Der Mensch, so Burkhard „aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Kooperation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen.“ (Jakob Burkhard, Die Kultur der Renaissance“). Es gab wohl dann in der Renaissance ein Aufflackern von Individualität, aber dieses erste Wahrnehmen eines einzelnen Ich blieb den Wohlhabenden vorbehalten, die es sich auch finanziell leisten konnten. Für die breite Masse war dieses Bewußtsein nicht in der uns vertrauten Weise zugänglich. Daher gab es auch im 17. Jahrhundert immer noch solche Entwürfe eines ganzheitlichen Kosmos. Die Anima Mundi, die große Mutter, spielte in solchen Entwürfen eine wichtige Rolle, auch wenn sie sich Gott unterzuordnen hatte. In Abb. 2 sehen wir die Anima Mundi, die das Leben von Gott empfängt und weitergibt an alle Geschöpfe.

 

Abb.2

Quelle: Theodore Roszak, a.a.o. S. 283

 

In dieser Ordnung hatte der Mensch, der seine Biographie noch gar nicht entdeckt hatte, eine Orientierung und einen Rahmen. Erst im Zuge der Aufklärung fiel der Mensch aus diesem Rahmen heraus und siedelte sich außerhalb dieses kosmischen Gefüges an. Gemessen an dieser universalen Ordnung ist der Bruch gar nicht hoch genug anzusiedeln. Die Ordnung bekam eine erheblichen Knacks und zerbrach schließlich. Eine ähnliche Ordnung finden wir in animistischen Religionen. Im Schamanismus ist der Schamane Priester, Psychotherapeut und Ordnungsinstanz in einem. Dem Schamanen würde es nicht einfallen eine isolierte Seele zu behandeln, er schafft auch den Ausgleich und die Heilung des sozialen Gefüges, sagt für die religiöse Rückbindung des Kranken und ist an einer insgesamt Heilung beteiligt, die alle Bereiche von öffentlichem und privatem Leben umfaßt. Wir kommen aus einer solchen Ordnung und haben uns aus dieser Ordnung in eine Zerstückelung begeben, die nicht zu unterschätzen ist von ihren Auswirkungen her.

Nun gibt es neue Modelle, die die Evolution, die Kosmologie und die Elementarteilchenphysik mit berücksichtigen. Wir stoßen auf eine Form von Zusammenhängen, die nicht mehr magisch sondern rational begründet sind. In solchen Modellen gibt es Zusammenhänge zwischen den Elementarteilchen, der DNA bis hin zu den Fixsternen und Galaxien. Der Mensch ist nach wie vor Teilhaber an einem faszinierenden Ganzen in das er eingebunden ist. Das sind Anrisse, die ich hier nur andeuten kann. Worum es geht ist die Wahrnehmung des Zusammenhanges. Von einer magisch-geschlossenen Welt wurden wir allmählich entlassen in die rationale Welt, in der alles über die Vernunft und die Mechanik erklärt werden mußte. In einer solchen Welt war der Mensch herausgetreten aus den Zusammenhängen des Kosmos und er begann sich selbst und die Welt in lauter Einzelteile zu zerlegen. Diese Einzelteile gingen bzw. gehen inzwischen bis in die Biographien, bis in die Subjekte hinein. Die Seele ist zerlegt worden wie auch die Biographie zerlegt wird. Die so zerlegte Existenz ist ab irgendeinem Punkt nicht mehr lebbar und zerfällt. Daher könnte es ein, daß wir nach neuen Modellen ganzheitlicher Zusammenhänge Ausschau halten müssen um uns nicht selbst in unsere Bestandteile aufzulösen und da gibt es eine Tradition, die durch die Aufklärung unterbrochen worden ist, die aber unterschwellig weitergelebt hat und nun wieder aufbricht.

 

 

3. Der ökologische Kontext biographischer Heilungsversuche 

 

Gesellschaftliche Vorgaben in denen sich der Mensch entwickeln kann sind rar und dünnen sich immer mehr aus. War es vor wenigen Generationen noch so, daß es gar nicht soviel zu entscheiden gab für den einzelnen Menschen, so ist dieser Rahmen so dünn geworden, daß er schon bei der geringsten Bewegung bricht. Mitunter mag es sogar sein, daß dieser Rahmen gar nicht mehr gegeben ist. Die Vorgaben in die hinein man sich zu entwickeln hat, sind nicht mehr so ohne weiteres gegeben. Vielmehr muß sich der einzelne Mensch sein Vorgaben selbst wählen und erarbeiten. Dazu Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim:

„Für die neuen Vorgaben dagegen muß man etwas tun, sich aktiv bemühen. Hier muß man sich erobern, ind er Konkurrenz um begrenzte Ressourcen sich durchzusetzen verstehen - und dies nicht nur einmal, sondern täglich. Die Normalbiographie wird damit zur „Wahlbiographie“, zur „reflexiven Biographie“, zur „Bastelbiographie“. Das muß nicht gewollt sein, und es muß nicht gelingen. Bastelbiographie ist immer zugleich „Risikobiographie“, ja „Drahtseilbiographie“, ein Zustand der (teils offen, teils verdeckten) Dauergefährdung. Die Fassaden von Wohlstand, Konsum, Glimmer täuschen oft darüber hinweg, wie nah der Absturz schon ist. Der falsche Beruf oder die flasche Branche, dazu die privaten Unglücksspiralen von Scheidung, Krankheit, Wohnungsverlust - Pech gehabt! heißt es dann. Im Falle des Falles wird offen erkennbar, was untergründig immer schon angelegt ist: Die Bastelbiographie kann schnell zur Bruchbiographie werden. An die Stelle selbstverständlich vorgegebener, oft erzwungener Bindung tritt das Prinzip „Bis auf weiteres“, wie Zygmunt Bauman sagt.....“ (U. Beck/E. Beck-Gernsheim, „Riskante Freiheiten“, S.13)

Die Bastelbiographie wird damit, in je nach Wohngebiet zur stärker oder schwächer empfundenen Normalität. Das Zusammengebastelte bricht auch schneller. es hat nicht den Charakter von Massivität und Fertigkeit wie tradierte Vorgaben. An den Nahtstellen bricht die Biographie schneller und leichter als früher. Diese Gefahr von Biographiebrüchen und Bruchbiographien braucht man sich nicht auszusuchen, sie sind schon vor uns da und zwingen und in ihre Umklammerung. Der Zwang zur Freiheit kann damit auch schneller zum Sturz werden. Die Freiheit der Wahl, so sehr wir sie für gut befinden mögen, hat diese Rückseite einer schnelleren Brüchigkeit. Wir sind nicht mehr in der Ausgangsposition das wir und wählen könnte zwischen Tradition und eigenem Weg, wir werden, noch bevor wir uns vergewissern können was Tradition ist, in die Freiheit geschickt, die uns gnadenlos Entscheidungen abverlangt. Nicht das es nicht immer so gewesen wäre, daß die Freiheit die man sich erkämpft hat ein hoher Grad sei, aber eine Freiheit, die man sich nicht erkämpft wird schnell zu einer „Black-Box“ deren Inhalt uns dazu verführt zu projizieren und spekulieren. 

 

Frühere Generationen mußten sich von der Starre der tradierten Systeme zu befreien such. Wir Heutigen bekommen die Freiheit nachgeworfen, die sich uns wie ein Zwang um die Seele klammert. Damit sind biographische Momente geschaffen, die in dieser Form und auch in der Massenhaftigkeit, neu sind. Vereinzelt hat es solche Erscheinungen sicher immer schon gegeben, aber wir haben es mit Massenerscheinungen zu tun. Diese Neuheit der Situation müssen wir berücksichtigen, wenn wir danach fragen was denn Heilung bedeuten würde! Ist Heilung der Schritt auf eine feste Basis zu, die wir uns nicht aussuchen, die vielmehr einfach da ist oder ist Heilung das Schwimmen lernen, also das umgehen lernen mit der Freiheit? Die biographische Schwierigkeit ist nicht so leicht zu beantworten bzw. zu sichten. Wir müssen uns die Basis unseres Lebens selbst wählen, ob wir wollen oder nicht. Was aber ist dann Heilung wenn wir nicht mehr wissen was aus uns werden soll? 

Die Frage ist buchstäblich zu nehmen, wobei das uns sehr schnell auf das „mir“ zusammenschrumpft. Was soll aus „mir“ werden, da ich doch alles offen habe?! Die Therapie, die ja die Frage nach der Heilung in irgendeiner Form zu stellen hat, steht hier vor einem grundlegenden Problem. Ist es Heilung die Kontextlosigkeit des Individuums so zu nehmen wie sie ist und dem Menschen der Hilfe sucht eine Art Schwimmkurs anzubieten oder ist es Heilung, wenn wir vor der Frage nach dem Kontext nicht den Bestand hinnehmen sondern weiterfragen? Hier mag sich die Psychotherapie streiten soweit es denn überhaupt ein Thema ist. Bisher sind es eher Einzelne, die an dieser Stelle weiterfragen und nicht aufgeben wollen. Einzelne die auch mehr als nur nach dem Kontext fragen; die Frage geht nach einer kosmischen Vision in der wir als Einzelne unseren Platz haben. Wenn Menschen, nicht aufgrund biographischer, familiärer Engpässe in die Mühlen der Not geraten, sondern aufgrund der kulturellen Befindlichkeit, also mit der Freiheit, dem Zwang zur Freiheit, ihre Brüche zu produzieren, dann muß die Frage nach der Heilung auch in einem kontextuellen Zusammenhang gestellt werden. Der Einzelne, der aufgrund seiner Biographie, aufgrund der Freiheit sich diese Biographie selbst zu gestalten, in größte Not gerät, kann möglicherweise nur bedingt mit mehr des Gleichen Heilung geschaffen werden. 

Wenn Menschen, nicht aufgrund biographisch-familiärer Engpässe in die Mühlen der Not geraten, sondern aufgrund der kulturellen Befindlichkeit, also mit der Freiheit, dem Zwang zur Freiheit, ihre Brüche zu produzieren, dann muß die Frage nach der Heilung auch in einem kontextuellen Zusammenhang gestellt werden. Der Einzelne, der aufgrund seiner Biographie, aufgrund der Freiheit sich diese Biographie selbst zu gestalten in größte Not gerät, kann möglicherweise nur bedingt mit mehr des Gleichen geholfen werden. Wir müssen uns ganz klar vor Augen führen; frühere Generationen gingen in die Therapie weil sie mit einer starren Familiensituation, mit dem Vater, der Mutter oder anderen nahestehenden Persönlichkeiten nicht zurechtkommen. Heute gehen Menschen in die Therapie weil sie die Risiken, die mit der Bastelbiographie verbunden sind, nicht mehr übersehen können und dadurch Bruchlandungen erleben. Die Bastelbiographie wird so, wie Beck/Beck-Gernsheim schrieben, zur Bruchbiographie. Ich wage daran zu zweifeln, daß eine Heilung der Biographie, ohne Berücksichtigung des Kontextes dauerhaft überhaupt möglich ist. Wir müßten Heerscharen von Psychotherapeuten, Heilern, Seelsorgern oder anderen Personen bereitstelle um das ebenfalls wachsende Heer von Menschen, die mit ihren Brüchen nicht mehr zurechtkommen, zu kompensieren. Das wird auch tatsächlich versucht, muß aber am Geld scheitern. Würde es am Kostenaufwand nicht scheitern so käme an einer späteren Stelle dieser Fragekette der Punkt, wo es scheitern muß. Die Heere von Menschen, die mit der Freiheit nicht zurechtkommen über individuelle Therapien heilen zu wollen, könnte sich nicht nur als Sisyphusarbeit herausstellen, sondern auch als ein versuch das Feuer mit Öl löschen zu wollen, was kaum möglich sein dürfte.... Es kann darüber hinaus keine Sinn ergeben, wenn wir bemüht sind heile Menschen zu fertigen, während die Welt vor die Hunde geht. 

Anders gesagt: Was nützt der heile Mensch wenn er der Lebensräume beraubt ist und im Nichts seiner selbstproduzierten Wüsten steht? Was wäre dann heil? Was ist Heilung, wenn wir im gleichen Zuge, wie wir Individuen durch therapeutische Bemühungen das schwimmen beibringen und zugleich den Lebensraum zerstören in dem diese Individuen leben sollen? Produzieren wir die Krankheit, die wir am Ende heilen möchten selbst? 

Eine Ökopsychologie begegnet diesen Fragen und wagt vorsichtige Antworten. dabei ist es nicht die Antwort, die uns bewegt, sondern die Fragen die gestellt werden. Antworten können nur bedingt und als vorläufige Antworten gegeben werden, die morgen wieder vom Tisch sein werden. Viel wichtiger ist das Bohren der Frage, die das was ist einmal aufgreift und thematisiert. So mag der Versuch einer Ökopsychologie gewertet werden wie er mag, daß die Fragen gestellt werden, die gestellt werden ist schon ein Zeichen. Was also wäre, wenn wir über den menschlich-sozialen Kontext hinausgehen und nach der Erde frage, nach unsere vegetativen und instinktiven Verwurzelungen, in denen wir, so oder so, immer auch leben. Es mag sein, daß wir den Bezug zu diesen Wurzeln nicht mehr vernehmen, daß wir ent-wurzelt sind, aber es gibt etwas ín uns, das genau weiß wovon die Rede ist. So stellen wir die Frage. ob nicht vom Standpunkt eine Berges aus gesehen das menschliche Unterfangen, so vernünftig es uns erscheinen mag, glatter Wahnsinn ist.

„Die Vernunft, die uns als gesellschaftliche Wesen aneinander bindet, ist nicht notwendigerweise dieselbe Vernunft, die uns in freundschaftlicher Weise an die anderen Wesen bindet, mit denen wir die Erde teilen. Wenn wir den Standpunkt der nichtmenschlichen Natur einnehmen könnten, würde das, was in unseren sozialen Angelegenheiten als evrnünftiges Verhalten durchgeht, wie schierer Wahnsinn erscheinen. Aber dem herrschenden Realitätsprinzip gemäß könnte nichts größerer Wahnsinn sein, als anzunehmen, daß Tier und Pflanze, Berg und Strom einen „Standpunkt“ haben.“ (Theodore Roszak, a.a.o. S.11)

Können Berge Standpunkte haben? Ist es mehr Wahnsinn einem Berg,, einem Baum, einer Wiese oder dem Wald einen Standpunkt zuzugestehen als diesen Standpunkt zu verleugnen oder diese Möglichkeit für verrückt zu halten? Indem wir dem Berg das Denken absprechen, sprechen wir ihm seine Wesenheit ab! Wir machen in stumme und verstummt wird er zum Ding das durch andere Dinge ersetzbar erscheint. Es mag uns kindisch erscheinen, wenn wir aufgerufen werden, wie ein Berg zu denken, aber was ist, wenn wir dem Berg diese Art von Lebendigkeit absprechen? Wird ein Berg, der nicht mehr Berg sein darf nicht zum Ding? Wir sind ja bemüht, die Welt der Lebewesen zu ersetzen durch Dinge. Nicht durch Dinge, die von der Evolution hervorgebracht wurden, sondern durch Dinge, die wir als Massenware produzieren und verbrauchen. Was würde der Berg in uns an Resonanzen auslösen, wenn wir gelernt hätten auf diese Resonanzen zu hören? Und welche Resonanzen lösen Betonberge, Hochhäuser, Wohnsilos, Satellitenstädte aus? Was wäre, wenn wir einmal den Standpunkt der Dinge einnähmen um uns zu sensibilisieren für deren Resonanzen?! Die Welt der Seele und die Welt der Dinge sind nur in unserer, von der reduktionistischen Rationalität geprägten Wahrnehmung getrennt. Tatsächlich aber gibt es diese Trennung gar nicht, sie ist eine Operation des Denkens nicht der Wirklichkeit.

„Seit rund zweihundert Jahren streben das rationale Denken und die exakten Wissenschaften mit allen Kräften danach, diese beiden Bereiche strikt voneinander getrennt zu halten; ein Dialog ist nicht mehr möglich. Die Materie sthet auf der einen Seite, das Bewußtsein auf der anderen. Da draußen das Objektive; hier drinnen das Subjektive. Das eine der sichere Bereich mathematischer Gewißheit; das andere die trüben Gewässer veränderlicher Emotionen, Träume, Halluzinationen. Gedanken sind keine Dinge, Dinge sind keine Gedanken.“ (Theodore Roszak, a.a.o. S.15)

 

Die Seele ist mit der Welt in der sie sich befindet tiefer und elementarer verwurzelt als wir das wahrnehmen können. Wir haben uns nach Kräften bemüht die Trennung zwischen der Welt „da draußen“ und der Seele „da drinnen“ so gründlich wie eben möglich zu vollziehen. Wir können sogar sagen, daß uns das recht gut gelungen ist. es ist uns so gut gelungen, daß der Schrei der Erde nicht mehr an unser Ohr dringt. Während wir mit der Freiheit beschäftigt sind unsere Biographie auf einen Grund zu bekommen, stirbt die Welt und dröhnt uns ihr Ruf in den Ohren. Wir aber, entwöhnt von solcher Wahrnehmung, glauben das sei Kinderkram. Tatsächlich haben Kinder bedeutend weniger Schwierigkeiten sich mit einem solchen Wahrnehmen vertraut zu machen. 

Es ist daher meine Überzeugung, daß die Heilung der Biographie nicht abgelöst von der Heilung der Erde zu bekommen ist. Das mag auf den Einzelfall gesehen unzutreffend sein, aber von der Tendenz her, die damit verknüpft ist, ist es durchaus so, daß die Welt nicht teilbar ist, und das wir nicht das Leben der Erde zerstören können in der Erwartung selbst Heilung im Rahmen der eigenen Biographie zu erleben. Die Kontextlosigkeit der Freiheit die eigene Biographie selbst zu basteln ist im tiefsten eine Illusion. Ulrich Beck verweist darauf, daß die Freiheit so weit in Wirklichkeit ja gar nicht gehe. Wir sind eingewoben in ein Netzwerk von Institutionen und Übereinkünften, die uns, da sie mit der Mode ständig wechseln, unfreier machen als es den Anschein hat. Anders gesagt: Das Leben, auch das menschliche Leben ist nicht in der Lage kontextlos von der Hand in den Mund zu leben. Wir leben in Zusammenhängen bzw. wir müssen in Zusammenhängen leben. Und wo wir die Zusammenhänge bzw. das Bewußtsein dafür gekappt haben, da bedarf es einer neuen Sensibilität diesen Kontext neu zu lernen.

„Vernünftige Umweltpolitik bedarf einer neuen psychischen Sensibilität, einer Fähigkeit, mit dem dritten Ohr auf die Leidenschaften und Sehnsüchte zu lauschen, die den scheinbar gedankenlosen ökologischen Gewohnheiten unserer Kultur zugrundliegen. Offenbar speisen diese Gewohnheiten sich aus vielen Quellen, durch machtvolle, oft ehrenwerte und zweifellos intensiv anregende menschliche Motivation..... Es muß einen Grund dafür geben, daß sich Menschen überall auf der Welt dafür entschieden haben, die wahnsinnige Vernichtung ihres eigenen Planeten zu betreiben. Wichtiger noch: Es muß einen Weg geben, sie zu überzeugen, daß nichts von dem, was sie wirklich wollen, durch diese Vernichtung erreicht werden kann. Es gibt wertvollere Ziele als die Unterwerfung der Natur, zuverlässigere Formen des Sich-Wohlfühlens als die psychische Dominanz; es gibt einen Reichtum, der größer ist als die schrankenlose Anhäufung materieller Dinge. Die Veränderung dieser Wahrnehmungen auf der tiefsten persönlichen Ebene ist für die Bewältigung unserer ökologischen Krise genauso wichtig wie jede denkbare Wirtschaftsreform. Aus diesem Blickwinkel heraus erscheint die Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen und kosmologischen Fragen, die sonst vielleicht als abgehobener intellektueller Zeitvertreib gewertet würde, in einem ganz anderen Licht. Was Menschen im Leben erwarten, wertschätzen und wünschen, hängt eng damit zusammen, wie sie ihren eigenen Stellenwert im Universum definieren. Die modernen Industriegesellschaften wuchsen mit einer Naturvorstellung heran, die unter anderem lehrt, das menschliche Leben sei innerhalb der galaktischen Wildnis eine bloße Zufallserscheinung, wir seien „angsterfüllte Fremde“ in einer Welt, die wir nicht geschaffen haben. Welche andere Haltung als die der Unsicherheit, der Furcht, ja der Feindseligkeit können Menschen unter solchen Umständen der Welt, der Natur gegenüber einnehmen?“ (Theodore Roszak, a.a.o. S.47-48)

 

Das mag leicht gesagt sein und wir werden sicher auch keine 180-Grad-Wende erleben. Aber das solche Fragen gestellt werden, daß sie bohren und beunruhigen, daß ist durchaus beachtlich und zeugt, so meine Überzeugung, von einem allmählichen Kippvorgang. Die extreme Individualität, die buchstäblich auf die Spitze getrieben wird, könnte umschlagen in den brennenden Wunsch nach sinngebenden Kontexten. 

Wir rühren damit an eine der ältesten Fragen der Philosophie neu an. Wie ist es möglich, daß wir mit der Welt da draußen in Kontakt treten können? Was wir aber zu spüren beginnen ist auf jeden Fall die Notwendigkeit mit dieser Welt, da draußen, in eine Beziehung zu kommen. 

 

Peter Münch

 

 

 

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