2. Übervölkerung
Von mir gibt es gerade genug, von dir viel zuviel
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Bangladesch hat rund 118.000.000 Menschen, was fast der Hälfte der Bevölkerung der USA entspricht, die jedoch alle in einem Land von der Größe Iowas leben. Es geht also eng zu in Bangladesch. Seine Bevölkerungsdichte liegt bei mehr als 3400 Menschen pro Quadratkilometer. Wenn die Bangladeschis auf die Idee kämen, sich auf den Boden zu legen und alle viere von sich zu strecken, wäre für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind natürlich nur gerade genug Platz, um ein Football-Feld bis zur Achtzehn-Yard-Linie zu besetzen. Immer noch genug Platz, sich zurückzulehnen und einen Fallstoß zu wagen. Doch an diesem Nachmittag hatte ich das Gefühl, als stapelten sie sich übereinander.
Ich war in das Motijheel-Viertel in der Innenstadt von Dakka gefahren, um mir ein Flugticket zu kaufen. Das Büro der staatlichen Fluglinie Biman war - ich konsultiere einen Reiseführer - "überfüllt", die Menschen "drängten sich", "es wimmelte", "die Leute werden zusammengequetscht wie Sardinen".
Zusammengequetscht wie Sardinen - diese Beschreibung ist ungenügend. In einer Sardinendose geht es ruhig zu. Die Fische liegen säuberlich aufgereiht da, den Kopf alle in einer Richtung. Bei diesen Menschen konnte davon nicht im mindesten die Rede sein, und außerdem waren sie noch dichter zusammengedrängt. Man kann mit weniger Körperkontakt, als nötig ist, um an einen Angestellten dieser Fluglinie heranzukommen, am offenen Herzen operieren. Sechs oder acht dieser gleichmütigen Amtsträger saßen hinter einem Schalter und taten nichts, und das auch noch langsam, während die Menschen sie in lautstark schimpfenden Trauben bedrängten.
In den Teilen der Welt, in denen die Menschen wahrhaft frei sind, in denen sie persönliche Freiheiten und demokratische Rechte genießen, bildet eine Menschenmenge, die auf etwas wartet, automatisch eine Schlange: eine einzige Reihe, die fast militärische Disziplin wahrt und dem Grundsatz folgt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Doch in denjenigen Teilen der Welt, in denen die Menschen überwiegend nur die Freiheit haben, sich vom Militär erschießen zu lassen oder von Aristokraten ausgehungert zu werden, wird jede Schlange, gleichgültig, wonach sie ansteht, zu einer Springflut. Darin liegt eine Lehre, aber mir war nicht danach zumute, ihr auf den Grund zu gehen, ebensowenig wie mir damals danach zumute war, die Lehre aus all den Scheußlichkeiten zu ziehen, die ein längerer Besuch in Bangladesch mir beibringen konnte.
Zum Glück hatte ich einen Reiseführer und Dolmetscher, den ich Abdur nennen möchte. Abdur war mein Vergil in diesem überbuchten Höllenkreis. (Wie würde wohl der menschenreichste Teil eines Danteschen Infernos von heute aussehen? Diese künftigen Fluggäste konnten in einem früheren Leben doch nicht alle Multi-Kulti-Ausbilder gewesen sein.) Abdur bahnte sich mit Schultern und Ellbogen - daneben noch mit Knien, Hüften und Füßen - den Weg zum Kartenschalter, während er immer wieder die Rufe hören ließ, die in der unterprivilegierten Welt besondere Privilegien betonen. "Dies ist ein höchst wichtiger Journalist! Er hat absoluten Vorrang!"
Im Handumdrehen (das in Bangladesch zweieinhalb Stunden dauert) waren wir wieder in unserem Taxi, worauf der Verkehr in Dakka, der normalerweise nicht von der Stelle kommt, auch damit aufhörte. Ein Busfahrer war gestorben. Nicht am Steuer oder so, sondern wohl schon vor ein paar Tagen, doch heute hatte sich eine große Zahl seiner Kollegen entschlossen, ihre Busse ausgerechnet in dieser Ecke der Stadt zu einer Sternfahrt zu formieren, um (wie ich vermute) eine Art Bus-Blumenstrauß zum Gedenken an den Verstorbenen zu bilden. Damit war die Straße blockiert. Doch nicht nur durch Busse, sondern auch durch einen großen Protestmarsch, dem eine Band vorausmarschierte, die den Eindruck erweckte, als bestünde sie aus lauter Taubstummen. Sechzehntausend Bahnarbeiter demonstrierten gegen die Entlassung von sechzehntausend Bahnarbeitern durch die staatliche Eisenbahngesellschaft. Vor dem nationalen Presseclub fand überdies ein Hungerstreik statt, was mir als merkwürdiger Ort für einen Hungerstreik erschien (ein Cocktail-Streik wäre mir geeigneter vorgekommen). Obwohl die Bangladeschis gewitzt genug waren zu wissen, daß man nie zu ihrem Arbeitsplatz gehen soll, wenn man Journalisten auf die Nerven gehen will: Dort wird man sie nämlich nie finden.
Nun saß ich also fest in einem kleinen, schmutzigen und hochgradig nicht-klimatisierten Taxi. Ein Ausländer, der in einem Taxi festsaß. Das wurde zunächst von einem Bettler, dann von hundert Bettlern bemerkt. Ich kurbelte die Scheiben hoch. Sie klopften dage-
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gen. Sie fuchtelten mit Gliedmaßen voller Geschwüre herum. Es folgten deformierte Gliedmaßen. Dann Menschen ohne Gliedmaßen, da sie nur noch Arm- oder Beinstümpfe hatten. "Bakschisch!" "Bakschisch!" Augenlose Gesichter preßten sich gegen die Windschutzscheibe, und nasenlose Gesichter und Gesichter ohne menschliche Züge. Die Temperatur im Innenraum des Wagens stieg auf fast vierzig Grad. Abdur drehte sich auf dem Vordersitz um und begann mit einer ausführlichen Darlegung der theoretischen Schwierigkeiten beim Übergang von einer zentralen Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft. Ich schnappte Satzfetzen auf wie etwa "große Bedeutung der infrastrukturellen Standortverteilung" und "der Sub-Sektor der Arbeitslosigkeit hält sich bedauerlicherweise immer noch auf hohem Niveau" und "die positivsten Impulse sind gesellschaftlich-vertrauensbildender Natur".
Als Dolmetscher hatte Abdur einige Schattenseiten. Einmal war es mir kaum möglich, zwischendurch ein Wort zum Übersetzen einzuwerfen, da er ununterbrochen redete. Außerdem hörte er sich an wie ein Apostel des Sozialismus. Ich nehme an, Abdur war gegen die Privatisierung, weil sie die Armen am härtesten trifft. Sie verlieren ihre Jobs wie etwa die Bahnarbeiter. Eine erschreckend ausgemergelte Frau tauchte an meiner Seitenscheibe auf. Sie hielt zwei Babys im Arm, die tot zu sein schienen. "Ein Taka, zwei Taka, Bakschisch", bettelte sie in ihrem Singsang. Ein Taka ist etwa soviel wert wie zweieinhalb Cent. "Keine Mutter, kein Vater, kein Bruder, keine Schwester, Bakschisch", leierte sie in ihrem angelernten Englisch. Sie sah aus wie siebzig, obwohl ich bezweifle, daß sie überhaupt schon zwanzig war. Der Anblick erschreckte mich. "Oh, die ist aus dem Land in die Stadt gekommen", sagte Abdur. "Die geht lieber betteln."
"Könnte sie denn einen Job finden, wenn sie ernsthaft sucht?" fragte ich.
"Warum nicht?" erwiderte Abdur, der mir pro Tag hundert Dollar dafür berechnete, daß er mir Bangladesch erklärte.
Die Gedenkstunde der Busfahrer hatte endlich ein Ende, die junge Frau mit den toten Babys verschwand, unser Taxi bewegte sich ein paar hundert Meter, doch dann blieben wir in einer wirklich schlimmen Verkehrsstockung stecken. Wir waren von Tausenden von Dreirad-Rikschas umgeben, die sich anderthalb Kilometer in jeder Richtung Reifen an Reifen drängten. Das Gewimmel der Rikschas war so unentwirrbar, daß Abdur und ich eineinhalb Stunden lang nicht einmal aus dem Fenster unseres Taxis hätten klettern
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können, um zu Fuß weiterzugehen. Ein kalifornischer Freeway mit drei Fahrspuren zur Zeit der Rush hour, der am schlimmsten Smogtag des Jahres auch noch wegen eines Erdbebens gesperrt werden muß, jagt einem dagegen vergleichsweise wenig Platzangst ein. Überdies geht es in Kalifornien entspannt und ruhig zu. Befürworter "alternativer Verkehrsmittel" sollten sich mal eine durch Rikschas ausgelöste Verkehrsstockung ansehen. Und eine Prise der Luft in die Nase ziehen.
Überall sonst in Südasien, etwa in Vietnam, sind Dreirad-Rikschas kompakte kleine Fahrzeuge, so etwas wie Rollstühle mit einer verbreiterten Karosserie. Der Rikscha-Fahrer hockt auf dem dritten Rad hinter dem Fahrgast. Die Bangladeschis haben sich ein schlimmeres Design ausgedacht, eine Art einspännige Kutsche mit einem verlängerten Fahrradrahmen, der nach vom ragt. Das Ergebnis ist unbeholfen und langsam, und während der Fahrt hat man ständig das verschwitzte Hinterteil des Fahrers vor sich. Die Seitenvorhänge der Rikschas sind aus Leinwand und hübsch dekoriert. Oft sieht man gemalte Bilder der wilden Tiere, die heute in Bangladesch ausgerottet sind, und der ländlichen Szenen, welche die Rikscha-Fahrer soeben verlassen haben, um ihr Glück in der Großstadt zu versuchen. Sowie Rambo-Porträts. Einmal sah ich eine Rikscha, die mit der ansehnlichen Wiedergabe eines Containerschiffs geschmückt war.
"Hier liegt die Lösung unserer Energiekrise", sagte Abdur mit unnachahmlicher Einfalt. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, man müsse an der Yale University Jura studieren, um sich so äußern zu können. Eine Dreirad-Rikscha ist so energie-effizient wie eine brennende kuwaitische Ölquelle. Die Regierung von Bangladesch behauptet, der Durchschnittsbewohner des Landes nehme pro Tag 2215 Kalorien zu sich. Eine Gallone Benzin erzeugt 125.000 Btus, was 31 250 Kalorien entspricht. Mit anderen Worten: Eine Gallone Benzin entspricht einem Karton mit Zucker-Doughnuts, einem halben Dutzend dicker Steaks, drei Sechserpackungen Bier, einer Pizza, einem Apfelkuchen, einer Packung Kentucky Fried Chicken mit zwanzig Stücken, einhundert Schokoladenkeksen, einer Geburtstagstorte, einer Flasche Bourbon sowie einem Big Mac mit Pommes frites - was mehr ist, als ein Rikschafahrer in zwei Wochen bekommt, falls überhaupt. Und eine Gallone bleifreien Normalbenzins kostet vor Steuern rund fünfundsiebzig Cent. Jetzt versuchen Sie mal, jemanden von fünfundsiebzig Cent zwei Wochen lang zu ernähren. Das wird selbst in Dakka nicht gelingen.
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Abdur erklärte, daß es auch Rikschas mit einer offenen Ladefläche gebe, mit denen man Lasten transportieren könne. Er war der Meinung, sie könnten in New York City gut zu gebrauchen sein. Irgendwann schafften wir es endlich, aus dem Taxi zu klettern, doch als wir zu Fuß weiterzugehen versuchten, entdeckte ich, warum kein Mensch zu Fuß geht, sondern lieber mit einer Dreirad-Rikscha fährt. Es gibt in Dakka kaum Bürgersteige, und wenn es welche gibt, sind sie von Händlern und Bettlern mit Beschlag belegt worden. Die Bettler ergreifen einen an der Hand, wenn sie nicht allzu verkrüppelt sind, oder packen einen am Fußknöchel, wenn es nicht anders geht. Die Straßenhändler sind fast genauso hartnäckig. Die Rinnsteine sind so schmutzig, daß man sie nicht betreten kann, und alle paar Meter sieht man breite, abgrundtiefe Gruben, die offenbar mit einem Entwässerungssystem verbunden sind, obwohl Dakka dem äußeren Anschein nach keins zu haben scheint. Kein Mensch watet allerdings in diesem Gelände herum, wenn er nicht unbedingt muß. Und in einer anständigen muslimischen Stadt läuft keine Frau ohne Begleitung herum. Überdies gilt Zufußgehen als Beschäftigung für Leute von niederer Geburt. Immerhin kostet eine Rikscha-Fahrt nur drei Taka oder zwanzig Taka pro Stunde, wenn man im Stau steckt.
Ich bezahlte Abdur dafür, daß er mir Bangladesch erklärte, und so hörte er keine Sekunde damit auf. Er erzählte, in Dakka gebe es einhunderttausend Rikschas und dreihunderttausend Männer, die sie führen. Und jeder dieser Männer habe durchschnittlich fünf Personen zu ernähren. Somit ernähren sich bemerkenswert viele Bewohner Dakkas davon, daß sie einander in Rikschas herumkutschieren.
Wir quetschten uns zwischen Pedalen, Speichen und Leibern hindurch, bis wir mitten auf einer Straßenkreuzung standen. Ich kletterte auf einen Betonsockel, auf dem ein Verkehrspolizist stand, der schon längst aufgegeben hatte. Ab und zu blies er auf seiner Trillerpfeife und ruderte irgendwie mit den Armen herum. Von diesem Standort aus konnte ich einen Feuerwehrwagen mit blitzendem Blaulicht und heulender Sirene sehen, der in zwanzig Minuten fünfzig Meter zurücklegte.
Wir bahnten uns mit den Ellbogen den Weg nach Süden durch die Altstadt, die allerdings eher heruntergekommen als wirklich alt wirkte. Die Häuser waren aus Zement und in schmutzigen Pastellfarben gestrichen, und die Straßen waren so eng und unübersichtlich, daß man manchmal kaum sagen konnte, ob man draußen
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stand oder drinnen - ob man sich auf der Straße befand oder im Flur eines Hauses. Am Ende dieses Straßengewirrs gelangten wir auf den Bund, die Hafenstraße am Burhi Ganga, eine der zahllosen Wasserstraßen Bangladeschs, die zu dem großen Flußsystem des Brahmaputra gehört, wie ich glaube. Allerdings ist es nicht immer hilfreich, Karten zu konsultieren, denn dort verändern Brahmaputra, Ganges, Jamuna, Padma und Meghna ständig Namen und Verlauf, während ihre Zuflüsse, Verästelungen, Bachläufe und Mündungsarme herumfuchteln wie die Arme einer dieser Hindu-Göttinnen, wenn sie nicht gerade stillsteht, sondern spastisch zuckt.
Hier am Bund fand ich auch den Sadarghat, den wichtigsten Bootsanleger Dakkas. Ungeheure Menschenmengen bewegten sich in jede Richtung, die Männer in schäbigen lungi-Lendenschurzen und schmutzigen Hemden, die Frauen in billigen Saris oder shalwar kameez-Pyjamas und grauen oder graubraunen dupatta-Kopftüchern. Die Kinder hatten fast gar nichts an, und alle waren sehr mager. Auf den Kais aus Lehm war Feuerholz drei bis vier Stockwerke hoch gestapelt, Holz, das in den Mangrovensümpfen an der Küste illegal gefällt worden war. Diese Mangrovensümpfe bilden kleine Inseln, chars, fruchtbaren neuen Ackerlands. Ohne die Mangroven wird der Mutterboden von Bangladesch in die Bucht von Bengalen gespült. Allein der Brahmaputra schwemmt jedes Jahr eine Milliarde Tonnen Schlamm ins Meer. Am Sadarghat sah ich überall nur Schmutz und Unrat. Wie kann es sein, daß ein Land nicht genug zu essen hat und trotzdem so nach Scheiße stinkt?
Doch ging gerade die Sonne unter, und Staub und Holzrauch verliehen der Luft über dem schlammigen Flußufer ein silbernes Glühen. Und ab und zu gab es Lichtblicke der Schönheit in diesem Chaos. Eine Hindu-Braut, die vielleicht dreizehn war, entstieg mit einer Entourage von Verwandten einem Wassertaxi. Sie kehrte nach der Trauungszeremonie zum zeremoniellen Besuch ihres Elternhauses zurück. Goldfäden glitzerten in dem Schal, den sie sich um Kopf und Schultern drapiert hatte. An den Handgelenken blitzten einige Armreifen auf, und über einem Nasenloch baumelte ein kleiner goldener Knopf - wahrscheinlich der gesamte Reichtum, den sie je haben würde. Ein schönes Mädchen, und damit schießt die Geburtenrate wieder in die Höhe.
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Ich blickte auf den Fluß, auf die Dschunken, Flöße und Fischerboote mit ihren großen viereckigen roten Segeln und auf die Ruderer in den kleinen Wassertaxis, die nicht größer waren als Kanus, auf die tausend Boote jeder Art und Größe - Küstenfahrer, Punte, Skiffs und die Dorys mit ihren strohgedeckten Kajüten, auf denen die Badhi leben, die Flußzigeuner. Kinder planschten in dem fauligen Wasser zu meinen Füßen. Schiffsglocken und Sirenen läuteten, und überall ertönten seemännische Kommandos. Riesige Fähren durchpflügten den Strom. Sie waren so überfüllt, daß sie gekentert wären, wenn alle an Bord gleichzeitig in dieselbe Richtung geblickt hätten. Das Ganze kam mir vor wie der Jachtclub am Ufer des Styx.
II
Daß die Welt übervölkert ist und daß Übervölkerung eine schreckliche Sache ist, scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. Was manche Leute allerdings nicht davon abhält, es immer und immer wieder zu sagen. "Hungersnöte, niedriger Lebensstandard, Arbeitslosigkeit, politische Instabilität und ökologische Katastrophen. Die Gesellschaft ... muß Mittel und Wege finden, das Bevölkerungswachstum zu dämpfen", heißt es im Scientific American.
"Entweder ergreifen die Nationen mit einem übermäßigen Bevölkerungswachstum Schritte zur Begrenzung der Bevölkerungszahl, oder malthusianisches Elend - Hunger und Epidemien - wird das gleiche Ziel erreichen", sagt Newsweek.
"Malthus", sagt US-Vizepräsident Al Gore in seinem Buch Wege zum Gleichgewicht, "hatte recht mit der Vorhersage, daß die Weltbevölkerung in geometrischer Progression wachsen würde." Al muß es wissen, schließlich ist er Vater von vier Kindern. In einem Tonfall dümmlicher Besorgtheit, die so unbeholfen ist wie sein literarischer Stil, verkündet der Vizepräsident: "Für die Rettung der Umwelt ist kein Ziel von größerer Bedeutung als die Stabilisierung der Weltbevölkerung."
Solches Gerede ist nicht neu. Im dritten Jahrhundert v. u. Z. sagte der großspurige chinesische Philosoph Han Fei-tsu: "Im Augenblick meinen die Menschen, fünf Söhne seien nicht zuviel. Und jeder dieser Söhne hat auch fünf Söhne, und noch vor dem Tod des Großvaters gibt es schon fünfundzwanzig Nachkommen. Daher gibt es mehr Menschen und weniger Wohlstand." Und das wurde in einer Zeit gesagt, bevor sich jemand auch nur die Mühe machte, Frauen zu zählen.
(d-2004:) Wie kann man jemanden, der schon 2000 Jahre tot ist, als "großspurig" bezeichnen? Dann müßte man zumindestens dessen Schrifttum genau kennen. Aber hat Han Fei-Tsu wirklich soviel hinterlassen, daß man sich das erschließen kann? (Aus dem kleinen Zitat hier, kann ich das nicht.) Aber: Rourke soll ja sehr belesen sein.
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Platon behauptete in seinen Gesetzen, die ideale Zahl von Haushalten in einem Stadtstaat liege bei 5040. Er war der Meinung, daß sich diese Zahl aufrechterhalten ließe, wenn die Väter ihre Töchter an Männer von außerhalb der Stadt verheirateten, einen Sohn als Erben auswählten und die anderen Geschwister zur Adoption freigäben. Falls es zu viele Nachkommen gebe oder - angesichts von Platons sexuellen Vorlieben - zu wenige, solle die Regierung eingreifen und die Familienplanung regeln, nämlich "durch angemessene Verteilung von Ehren und Kennzeichen der Schmach". So etwas wie die Programme zur Stärkung des Selbstbewußtseins, mit denen man es gegenwärtig in unseren Städten probiert.
Weder Vizepräsidenten noch Journalisten ließen sich mit der Höhe der Weltbevölkerung erschrecken, bis 1798 der schon erwähnte Thomas Robert Malthus seinen Versuch über das Bevölkerungsgesetz veröffentlichte. Malthus verwendete die Reizwörter der Aufklärung, Begriffe, die für seine Zeitgenossen den gleichen leicht unverständlichen, doch gleichzeitig sehr bedeutsamen Klang hatten, wie sie "Ozonloch" und "Bio-Vielfalt" für uns haben. "Ungebremst wächst die Bevölkerung in einem geometrischen Verhältnis", sagte Malthus (kursiv von mir), während "Subsistenzmittel ... sich nicht schneller steigern lassen als in einem arithmetischen Verhältnis." Mit anderen Worten: Man kann zwar unendlich viele Babys machen, jedoch nur so viel Weizen pflanzen, bis man mit dem Pflug an die Hauswand stößt.
Das war ein brillanter, einleuchtender Gedanke und brachte eine Reihe scharfer Denker dazu (John Stuart Mill, David Ricardo, Charles Darwin, Thomas Macaulay), sich an die Stirn zu schlagen, weil sie es selbst nicht als erste erkannt hatten. Doch wie es so vielen brillanten und einleuchtenden Ideen ergeht (freie Liebe, unfreundliche Unternehmensübernahmen, New Coke), war auch diese in Wahrheit gar nicht so brillant.
Malthus sagte, die Bevölkerung neige dazu, sich schneller zu vermehren als die Mittel zu ihrer Ernährung, so daß es eine "beständige Neigung bei allen Lebewesen gebe, sich über das Maß hinaus zu vermehren, in dem Nahrung zur Verfügung steht". Der Mann hat sich geirrt.
Die OECD, die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, ist eine internationale Forschungsbehörde, die von rund zwei Dutzend der reichsten Länder der Welt gegründet worden ist, um eine Wirtschaftspolitik zu fördern, die den Wohlstand der Völker mehrt. Die OECD hat Wirtschaftsdaten aus allen Staaten der Welt zusammengetragen, in denen in diesem Jahrhundert ernstzunehmende Statistiken geführt worden sind - Stati-
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stiken aus zweiunddreißig Ländern, deren Wohlstand von Bangladesch und China bis zu den USA und Japan reicht. Als die OECD diesen Zahlensalat entwirrt hatte, stellte sich heraus, daß das Bruttoinlandsprodukt pro Person in diesen Ländern - gemessen an US-Dollar zu Preisen von 1980 - von 841 Dollar pro Jahr im Jahre 1900 auf 3678 Dollar im Jahre 1987 gestiegen war. In dem Zeitraum also, der sich durch das erstaunlichste Bevölkerungswachstum in der mehrhunderttausendjährigen Geschichte der Menschheit auszeichnet, ist die Menschheit wirklich reich geworden.
Die Lebenserwartung in den Industrieländern liegt jetzt bei 74,6 Jahren und ist damit viel höher, als sie es je irgendwo gewesen ist. Und Zahlen der Weltbank sowie der UN-Behörde für wirtschaftliche und soziale Entwicklung zufolge ist die Lebenserwartung in den Entwicklungsländern seit 1960 von 44,2 Jahren auf erstaunliche 62,4 Jahre gestiegen.
Eine Veröffentlichung der Weltbank, "Social Indicators of Development 1990" ("Soziale Entwicklungsfaktoren 1990"), hält fest, daß die weltweite Säuglingssterblichkeit, ein zuverlässiger Maßstab für Ernährung und Gesundheitsfürsorge, zwischen 1965 und 1988 von sechsundneunzig auf dreiundfünfzig Tote pro tausend Lebendgeburten gesunken ist.
Und die FAO, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO, sagt, daß die weltweite Nahrungsmittelproduktion von 1968 bis 1990 pro Kopf um mehr als zehn Prozent gestiegen ist, während die chronische Unterernährung um mehr als sechzehn Prozent abgenommen hat. In der Zwischenzeit war die Weltbevölkerung jedoch um 2,8 Milliarden Menschen gewachsen.
Es gibt also einfach keinen empirischen Beleg zur Stützung der Malthus'schen Theorie.
(d-2005:) Ich werde wohl nie verstehen, warum bei allen Optimisten immer wieder Malthus auftaucht. - Der Mann ist doch schon 200 Jahre tot. Er kann uns Lebende doch nicht mehr zwingen, uns mit ihm zu beschäftigen! - Mir scheint manchmal, daß ich "ausgestrickst" werden soll: Also das die Optimisten mit mir das selbe machen wollen, was sie immer "den Medien" vorwerfen. (Sie werfen mir einen schmackhaften Köder vor, und behalten die besten Brocken für sich. Zum Beispiel: Jesus hat doch eindeutig gesagt, was wir tun sollen! Und das viel umfassender als Malthus und viel früher und viel deutlicher.)
Wenn jedoch bereits der Gegenbeweis genügte, um uns von bestimmten Ideen zu befreien, wären wir jetzt schon von manchem befreit: etwa von den Sozialwissenschaften, Gruppentherapien oder steigenden Steuern zur Verringerung der Staatsausgaben.
Und so erschien im Jahre 1968, einhundertsiebzig Jahre nach der Veröffentlichung von Malthus' Versuch über das Bevölkerungsgesetz, Paul R. Ehrlichs Die Bevölkerungsbombe, einer der ärgerlichsten Bucherfolge unseres Jahrhunderts, ein Buch, das sich als bedauerlich einflußreich erwiesen hat. Wieder einmal schlugen sich großspurige Intellektuelle angesichts dieser göttlichen Offenbarung an die Stirn. Dr. Ehrlich, ein Insektenforscher, hatte als Demograph
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etwa die gleiche Qualifikation wie Reverend Malthus, ein anglikanischer Pfarrer. Allerdings sollte festgehalten werden, daß Malthus kein Malthusianer war. Er hat nie vorhergesagt, künftig werde jeder an Hungersnot, Seuchen oder durch Krieg sterben. Malthus sagte nur, daß alle Gemeinwesen ihr Bevölkerungswachstum kontrollieren sollten, denn wenn sie es nicht täten, würde es die Natur für sie in einer weniger liebenswürdigen Weise erledigen. Ehrlich allerdings hat sich weder durch Logik noch durch Beobachtung Zügel anlegen lassen. Die Bevölkerungsbombe verkündete schon auf dem Umschlag: WÄHREND SIE DIESE WORTE LESEN, WERDEN VIER MENSCHEN AN HUNGER GESTORBEN SEIN. DIE MEISTEN DAVON KINDER. (Folglich sind - unter der Voraussetzung, daß sich die Dinge nicht gebessert haben, und Paul Ehrlich und seinesgleichen werden uns sagen, sie hätten es nicht - bis jetzt in diesem Kapitel 750 Menschen an Hunger gestorben, die meisten davon Kinder. Sie hätten zwar aus dem Haus gehen und ihnen etwas zu essen geben können, aber Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ein Buch zu lesen.)
Ehrlichs Vorwort beginnt mit den Worten: "Die Schlacht zur Ernährung der gesamten Menschheit ist geschlagen. In den siebziger Jahren wird die Welt Hungersnöte erleben - Hunderte von Millionen Menschen werden verhungern, trotz aller eilig verabschiedeten Programme, mit denen man jetzt beginnt. Zu diesem späten Zeitpunkt kann nichts mehr eine substantielle Zunahme der weltweiten Todesrate verhindern ..."
Dr. Ehrlich liefert uns mehrere Vorhersagen. In seinem günstigsten Szenario stellen die USA im Jahre 1974 jede Lebensmittelhilfe für "Indien, Ägypten und einige andere Länder ein, von denen sie der Meinung sind, es gebe keine Hoffnung mehr für sie". In den USA selbst gebe es eine "milde" Lebensmittelrationierung. Der Papst stimmt einer Geburtenkontrolle zu und billigt die Abtreibung. Hungersnöte und Lebensmittelunruhen "fegen über Asien hinweg". Desgleichen über Afrika, Lateinamerika und die arabische Welt. Hinzu kommen Seuchen und Krieg. Rußland hat eine Reihe innerer Probleme. "Dürrekatastrophen" setzen sich bis 1985 fort. Was dann noch von der Welt übrig ist, setzt sich eine Weltbevölkerung von zwei Milliarden Menschen für das Jahr 2025 als Ziel und 1,5 Milliarden für das Jahr 2100.
Was Rußland angeht, hat der Mann recht gehabt.
In Ehrlichs ungünstigstem Szenario sind Asien, Afrika und Lateinamerika Ende der siebziger Jahre wiederholt von Hungersnöten, Seuchen, Kriegen und Katastrophen heimgesucht worden.
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Anschließend kommt es zu einem thermonuklearen Holocaust, und alle Erdbewohner sterben.
Hat dieser Unsinn Dr. Paul Ehrlich diskreditiert? Keineswegs. Man führt ihn immer noch regelmäßig als Experten für Bevölkerungsfragen vor.
Aber wenn Malthus' Versuch über das Bevölkerungsgesetz und Die Bevölkerungsbombe und ähnliche Werke sich irren, wie sollen wir dann diese malthusianische Menschenexplosion in Bangladesch nennen? Es kann zwar sein, daß ein Mensch sich idiotische Sorgen macht, daß er etwa fürchtet, von einem Auto überfahren zu werden, wenn er in Wahrheit am Ertrinken ist, aber das macht Autounfälle nicht weniger gefährlich und sorgt auch nicht dafür, daß die Lungen des Betreffenden plötzlich kein Wasser mehr enthalten. Außerdem kann es sein, daß in der Nähe gerade ein Kennedy vorbeifährt. Die Bevölkerung von Bangladesch ist tatsächlich gewaltig und völlig verarmt. Die Übervölkerung ist real. Und für einen Amerikaner, der gewohnt ist. Ellbogenfreiheit zu haben, ist diese Realität tatsächlich furchterregend.
Aber dieser Amerikaner – womit ich gemeint bin – muß aufhören, wegen Bangladesch in Panik zu geraten, und anfangen, sich das Land einmal näher anzusehen. Es ist zwar leicht, auf den ersten Blick Prognosen zu wagen, aber womit beweist man deren Richtigkeit? Das Land ist zwar übervölkert, aber ist das sein Hauptproblem? Hongkong und Singapur haben eine noch weit größere Bevölkerungsdichte (nämlich 14315 und 12347 Menschen pro Quadratmeile) als Bangladesch, und diese beiden Stadtstaaten nennt man überaus erfolgreich. Das gleiche gilt für Monaco. Tatsächlich ist die gesamte Riviera im August vollgepackt mit Menschen, und weder Malthus noch Ehrlich haben sich je über die Strande von Saint Tropez mit ihren barbusigen Frauen beschwert.
(d-2005:) Das ist eben das Dilemma mit den Medien - in diesem Fall dem Medium "Reißerisches billiges Sachbuch plus Bestsellerlisten und Promotiontour". Und: Schützenhilfe geben die ungezählten Katastrophenfilme. Kurz: Der Realitätsverlust der "Verbraucher" ist schuld.
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Die Innenstadt von Dakka im Nachmittagstrubel ist eine Attacke auf die Nerven, doch dabei blieb es. Eine andere Attacke gab es nicht. Niemand hat versucht, mich zu verletzen, mich auszurauben, einzuschüchtern oder zu beleidigen, weil Amerika mit nur 4,7 Prozent der Weltbevölkerung 20,6 Prozent der Energiereserven der Welt verbraucht. Was Gefahr für Leib und Leben und angenehmes Verhalten der Ortsbewohner angeht, ist ein Besuch der ärmeren
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Stadtteile jeder beliebigen amerikanischen Großstadt eine schlimmere Erfahrung. Selbst Dakkas schamlose Bettler erhoben nie die Stimme, und wenn man sie verjagte, kamen sie nicht wieder.
Bangladeschis sind unfehlbar höflich, und das so sehr, daß sie einem manchmal auf die Nerven gehen können. Als ich Mr. Atiqul Alam besuchte, den Bürochef von Reuters, der im Dakka Sheraton residiert, wurde ich versehentlich zu einem Mr. Shafiul Alam geschickt, dem Zimmermanager des Sheraton. Shafiul Alam hatte mir schon zwei Tassen Tee serviert und mich eine halbe Stunde lang mit angenehmem Geplauder erfreut, bevor er es über sich brachte, mir zu sagen, daß ich an den falschen Mann geraten war. Der Telefonist der Handelskammer von Dakka versuchte zwei volle Minuten lang (am Telefon eine lange Zeit) meinen Nachnamen korrekt auszusprechen. "Ich werde mir noch die Zunge abbrechen", sagte er schließlich.
Außerhalb der großen Städte – und in Bangladesch gibt es nur zwei, Dakka und Chittagong –, ist das Land flach und von üppigem Grün mit viel offenem Raum, der allerdings nicht menschenleer ist. Es ist alles recht angenehm, wenn auch ziemlich zahm. Die meisten Flächen werden landwirtschaftlich genutzt, und es gibt nicht viel zu sehen. Dörfer mit engstehenden Lehmhäusern mit Strohdächern kauern auf den kleinen Fleckchen Land, die sich über die Reisfelder erheben. Am Straßenrand sieht man gelegentlich ein Grabmal eines pir, eines muslimischen Heiligen, eine zerbröckelnde buddhistische Stupa oder - von ehrfurchtgebietenderem Aussehen als diese - ein rotes viktorianisches Backsteingebäude aus der Kolonialzeit, das schon etwas heruntergekommen wirkt, aber immer noch eindrucksvoller als die religiösen Mahnmale. Und in großen Abständen sieht man eine kleine Gruppe gelbblättriger Sal-Bäume. Dieses Hartholz war früher ein wichtiger Exportartikel, und einstmals lebten sogar Nashörner in den Sal-Wäldern. Heute allerdings fällt es schwer, einen Hain zu finden, der so groß ist, daß das Horn des Nashorns nicht am einen Ende herausragt und sein Schwanz am anderen. Abdur hatte ein paar Reisen durch die USA unternommen, und als wir in Bangladesch über Land fuhren, schwärmte er von der schönen Landschaft am Erie-See. "Was für ein schöner Ort", sagte Abdur. "Bäume auf beiden Seiten der Straße!"
In Bangladesch sieht man nicht viele Bäume, aber auch nicht viele Katastrophen - obwohl das Land in den Köpfen der meisten Menschen geradezu ein Synonym dafür ist. Ich hatte schon halb erwartet, beim Einschalten des Fernsehers in meinem Hotelzimmer
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beim lokalen Wetterbericht von Dakka einen Meteorologen zu sehen, der bis zur Hüfte in der Flut stand, von Unrat und toten Kühen umspült wurde und sagte: "Heute abend im Südosten weniger schreckliche Todesfälle, dafür Aussichten auf entsetzliche Sterbefälle morgen."
"Wir sind nicht so schlecht, wie es sich draußen in der Welt darstellt", sagte Chowdhury Kamal Ibne Yusuf, Bangladeschs Gesundheits- und Familienminister. Er erzählte mir, daß Amerikaner ihn bei einem Besuch der USA gefragt hatten: "Wie kommt es, daß Sie so gesund sind?" und sich überrascht zeigten, daß er englisch sprechen konnte. Eine Dame habe ihm gesagt, sie wolle nicht nach Bangladesch reisen, da sie nicht schwimmen könne. Bei einem Besuch in China 1979, erzählte mir der Minister, habe ein US-Senator ihn irrtümlich für den Chauffeur der Delegation von Bangladesch gehalten und ihn diskret beiseite genommen. Dann habe er ihn mit großer Liebenswürdigkeit gefragt, ob der Minister irgend etwas brauche, ob er vielleicht Hunger habe?
Mahbubur Rahman, Präsident der Handelskammer von Dakka, sagte, der frühere Präsident des Landes, Hussain Mohammad Ershad, sei einmal gefragt worden, ob sein Land überhaupt einen Flughafen habe und ob es Straße gebe. "Und das", sagte Rahman mit großer Heiterkeit, "vom Präsidenten Simbabwes!"
Mein Hotel in Dakka war ruhig, sauber und bequem, wie es die gewohnten charakterlosen internationalen Hotels sind, wenn man davon absieht, daß es einen großen Garten hatte, in dem man sich nachmittags hinsetzen konnte, um den Schatten zu genießen und einen Pink Gin zu schlürfen. Was ich jeden Nachmittag getan habe. Schwärme ärgerlicher Hauskrähen hüpften und flatterten in den Mangobäumen herum. Ein Angehöriger des Hotelpersonals, der eine makellose weiße Jacke trug, erschien dann auf dem Rasen und erschoß sie mit einem Luftgewehr. Am unteren Ende des Gartens befand sich ein Tennisplatz, wo man Tennis so spielt, wie man es spielen sollte, nämlich in dem Tempo und mit dem Feuer von Badminton. Eines Tages versammelte sich die Schwimmerinnenmannschaft der Stadt zu einem Treffen am Hotelpool. Da die Mädchen aus guten Familien kamen, trugen sie keine Badeanzüge, sondern ihre shalwar kameez. Sie waren somit voll angekleidet. Unter der nassen Kleidung sah man die Umrisse schlichter Unterwäsche, wie man sie in Versandhauskatalogen findet. Die meisten der jungen Frauen brauchten zehn Minuten, um eine Runde zu schwimmen. Nach Sonnenuntergang zog ich mich in die Hotelbar zurück, wo
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sich jeder aufzuhalten schien, der in Dakka eine Krawatte besaß. Wegen des Alkohols gab es kein muslimisches Getue wie etwa in Pakistan. Man brauchte weder seinen Paß zu zeigen noch zu beschwören, daß man Christ sei. Und irgendwelche scheußlichen einheimischen Getränke gab es ebenfalls nicht. (Ein Hotelpage in Peshawar, den ich zuvor fürstlich bestochen hatte, brachte mir einmal eine Flasche "Old Collie".)
Einige Cocktails später machte ich mich auf den Weg, um mir ein Restaurant zu suchen, immer ein durchschnittliches. Die Stadt hat eine Reihe absolut scheußlicher chinesischer Restaurants, und an den Hotelbuffets gibt es eine englische Küche, die so schlecht ist, wie man sie außerhalb Englands nur finden kann.
Die drei wichtigsten einheimischen Gerichte sind biriyani. Reis mit Huhn, Rindfleisch oder Hammel (als könnte man die drei Sorten überhaupt auseinanderhalten); puliao. Reis ohne Huhn, Rindfleisch oder Hammel, und bäht. Reis ohne Geschmack. Vielleicht findet man auch Vielleicht-Huhn-vielleicht-Rindfleisch-vielleicht-Hammel-Kebabs und eine Menge von Gerichten mit Fleischbällchen, nämlich der Art, wo man mehr Bällchen als Fleisch vorfindet.
Es war vermutlich gar nicht so schlecht, daß es kein Fleisch gab. Ich hatte mir nämlich den Viehmarkt von Dakka angesehen, einen großen offenen Platz in der Nähe eines Kopfbahnhofs. Der Markt hatte weder Zäune noch Boxen. Die Hirten schienen ihre Tiere durch schiere Willenskraft beisammenzuhalten. Hier fiel mir auf, daß man einen ganzen alten Wasserbüffel, der fast eine halbe Tonne wiegt, für dreitausend Taka kaufen kann - das heißt für sieben oder acht Cent pro Pfund -, während Rindfleisch für 1,75 Dollar pro Kilo verkauft wurde. Damit war mir klar, warum man Huhn, Rindfleisch und Hammelfleisch nicht auseinanderhalten kann, nämlich weil alles so stark nach Wasserbüffel schmeckt. Die Hygiene war auf diesem Viehmarkt auch nicht gerade erstklassig, und nur der Fleiß der hier tätigen Menschen sorgte dafür, daß es damit nicht schlimmer wurde. Ich sah ein kleines Mädchen von etwa acht oder neun Jahren, das einen Korb auf dem Kopf balancierte. Dieser war mit säuberlich aufgestapelten Kuhfladen gefüllt.
Dieser Viehmarkt war ein eindrucksvolles Unternehmen für ein Land, von dem ich so oft gehört hatte, daß es ständig am Rand des Hungers lebt. Und 1,75 Dollar pro Kilo (achtzig Cent pro Pfund) ist ein günstiger Preis für Rindfleisch. Ich brachte Abdur dazu, sich nach dem Grund dafür zu erkundigen und zu fragen, warum so viele der Kühe von der weißen Brahminen-Rasse waren, obwohl
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ich auf dem Land keine einzige davon gesehen hatte. Wie sich herausstellte, waren es heilige Kühe aus Indien. Die Inder verehren Kühe, aber auch Gottheiten können manchmal unter die Räder kommen. Und die Inder sind nicht die ersten, die Gott vermarkten und mit ihm Geld machen.
Die Tatsache, daß die Inder alles zu Geld machen, was sich irgendwie verwerten läßt, war ein weiterer Grund dafür, daß die Vorspeisen in Dakka kaum zu genießen waren. Trotzdem hielt ich weiter nach einem halbwegs anständigen Restaurant Ausschau. Abends kann man in der Stadt ungehindert Auto fahren, denn nach Einbruch der Dunkelheit ist Dakka menschenleer. Ich wußte zwar nicht, wohin alle plötzlich verschwunden waren oder wo überhaupt für sie Platz war, aber selbst die meisten Bettler hatten sich abends frei genommen. Und wenn man von ein paar Universitätsstudenten, die sich wegen politischer Differenzen gegenseitig erschießen, absieht, ist die Stadt absolut sicher.
Ein Mann, mit dem ich abends gelegentlich essen ging, ein britischer Diplomingenieur, der in den letzten zehn Jahren von Zeit zu Zeit in Bangladesch gelebt hat, traf sich jeden Abend nach der Cocktailstunde vor meinem Hotel mit einer Gruppe von etwa zwanzig Kindern. Sie kamen nicht, um zu betteln, sondern nur um ihn zu sehen, obwohl er ihnen immer ein paar Süßigkeiten schenkte oder Kleingeld oder ein Muschelhalsband kaufte, das eines der älteren Kinder gemacht hatte. An den Wochenenden packte dieser Mann die ganze Rasselbande in Rikschas und fuhr mit ihnen in den Zoo oder zu einem Fußballspiel. Er hatte die Kinder mehr oder weniger adoptiert. "Nicht daß sie keine Familien hätten", sagte er. "Ihre Eltern sind aber nicht in der Lage, ihnen Süßigkeiten oder etwas Besonderes zu schenken."
"Die Menschen hier lieben ihre Kinder", fuhr er fort. "So wie manche Entwicklungshelfer reden, könnte man meinen, die Bangladeschis hätten ihre Kinder nicht aus den gleichen Gründen wie wir. Man sieht aber nur sehr selten, daß ein Kind schlecht behandelt wird." Tatsächlich habe ich es nie erlebt. Selbst die Frau mit den beiden tot aussehenden Babys hatte sie behutsam im Arm gehalten.
Dakka hat nicht nur Restaurants, Hotels und einen Fleischmarkt, sondern auch luxuriöse Vororte. Die modernen, mit Stuckornamenten versehenen Häuser befinden sich meist auf bewachten Grundstücken, wie man sie in den schlimmeren Teilen der Welt findet und wie sie sich auch in den USA immer mehr einbürgern.
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Dakka hat sogar einen Golfplatz. Ein Freund von mir, der Fotoreporter John Giannini, spielte einmal achtzehn Löcher und sagte, der Platz sei in etwa so, wie man es in einem Land erwarten könne, das so übervölkert sei, daß drei Bauernhöfe von durchschnittlicher Größe auf das Grün eines Lochs mit Par 4 passen. Die Vierergruppe, mit der John spielte, hatte vier Caddies, vier Hilfscaddies sowie eine Reihe weiterer Helfer der Hilfscaddies, die Regenschirme hielten und Drinks holten. So gut wie jede Grassode hatte einen eigenen Rasenpfleger, und neben der Flagge auf jedem Grün stand jemand, der sie entfernte, wenn die Spieler auftauchten. Außerdem standen überall Dutzende von Jungen in der Landschaft herum, um verlorene Bälle zu suchen und sie gegen ein bescheidenes Entgelt mit einer gut ausgedachten Lüge wiederzufinden. "Ich schwöre bei Gott", sagte John, "wenn ich nicht meine eigenen Tees mitgebracht hätte, hätte sich jemand auf alle viere hingekniet und mir statt dessen seinen Daumen hingehalten." John sagte, "derart unverschämt bin ich noch auf keinem Golfplatz der Welt ausgenommen worden."
(Obwohl John damit nicht buchstäblich recht hatte. Ein paar Tage später war ich in Cox' Basar, wo es noch einen Golfplatz gibt. Hier sind die Tees sogar eingezäunt, um die Ziegen fernzuhalten. Ich beobachtete einen Japaner, der mit einem Holz drei einen mächtigen Schlag abschloß. Der Ball flog gegen die oberste Querlatte des Zauns und landete prompt am Kopf des Mannes.)
IV
Es wäre unangemessen zu fragen, was mit Bangladesch nicht stimmt. In diesem Land stimmt nichts. Die Frage lautet vielmehr, wie dieses Land es schafft, überhaupt zu existieren. Als es Ende 1971 von Pakistan unabhängig wurde, zeichneten Bangladesch international nur zwei Dinge aus - es war das größte arme Land der Welt und das ärmste große Land der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen in Bangladesch betrug nur ein Drittel von dem Rotchinas. Die gesamte Wirtschaftsleistung des Landes betrug weniger als siebenundsiebzig Cent pro Tag und Person, und dieser winzige Betrag war zudem seit Beginn des Jahrhunderts immer geringer geworden. Überdies waren rund eine Million Menschen während des Bürgerkriegs ums Leben gekommen. Auf dem Land streiften immer noch bewaffnete Guerilleros umher. Und acht bis zehn Millionen Flüchtlinge kehrten völlig mittellos und auch sonst ohne etwas aus Indien zurück.
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Die Situation war so schlimm, daß selbst Rockstars meinten, helfen zu können. Aber trotz der von der Kritik bejubelten Wohltätigkeitskonzerte von George Harrison, Bob Dylan, Ringo Starr, Leon Russell und einer Reihe anderer talentierter Musiker, die damals noch talentiert waren, konnte das Konzert für Bangladesch nichts an den Dingen ändern.
(In späteren Jahren entdeckten talentierte Musiker, daß sie auch Afrika nicht ernähren, die Familienfarm nicht retten und AIDS nicht kurieren konnten.)
Bangladesch – Ostpakistan, wie es damals noch hieß – hatte schon im Jahre 1947 schwere soziale Umwälzungen erlebt. Damals wurde das Land seiner zwar verhaßten und geldgierigen, aber halbwegs kompetenten herrschenden Klasse beraubt, als das Land geteilt wurde. Nicht nur die britischen Kolonialherren verließen das Land, sondern auch die Hindus, die unter dem Schutz der Briten zu Wohlstand gekommen waren. Im Bangladesch vor der Teilung kontrollierten die Hindus das Geschäftsleben, die Finanzwelt und übten qualifizierte Berufe aus. Mehr als drei Viertel aller Beamten waren Hindus, und Hindus besaßen mehr als achtzig Prozent des Großgrundbesitzes und der städtischen Immobilien.
Es war etwa so, als würden die USA urplötzlich alle College-Absolventen und Rotarianer verlieren. Einerseits wäre das schon eine Erleichterung. Wer aber sollte andererseits die Klammern für die Zähne der Kinder herstellen und unsere Steuern bezahlen? Menschen aus West-Pakistan sowie Biharis - Moslems aus dem Norden Indiens - strömten ins Land, um das Vakuum zu füllen und ihr Glück zu suchen. Als das Land 1971 unabhängig wurde, wurden auch diese Menschen hinausgeworfen. Folglich hat Bangladesch in einer Generation dreimal einen gebildeten Mittelstand verloren.
Die erste Regierung Bangladeschs nannte sich "Volksrepublik" und verstaatlichte neunzig Prozent der Industrie des Landes - mit den gleichen glücklichen Ergebnissen, wie sie solche Vorhaben in Kuba, Bulgarien und Nordkorea gehabt haben.
(d-2005:) Nein - der Weltkommunismus war eine Machtbewegung der "Zukurzgekommenen" aus dem kriminellen Milieu! Daher war "Verstaatlichung" nur eine Umverteilung des Reichtums und nie der Wunsch nach allgemeiner Wohlfahrt. Daher sind solche Vergleiche, die Rourke noch öfter bringt, nicht überzeugend.
Das Wirtschaftsleben und das restliche Leben dazu wurden politisiert. Die Federal Research Division der Library of Congress veröffentlicht eine Reihe von "Area Handbooks" über fremde Länder. Diese Werke sind selbst zwar alles andere als unpolitisch, aber trotzdem schimpft das Area Handbook on Bangladesh: "Parteizugehörigkeit, politische Kontakte und dokumentierter Dienst für die Revolution
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wurden zu den Haupterfordernissen für die Zulassung zu der schnell wachsenden neuen Elite in Politik und Industrie." Die Kleinbauern wurden ebenfalls nicht in Ruhe gelassen. "Auf dem Land kauften neue Eliten mit verwandtschaftlichen Bindungen an die Dörfer Grundeigentum, um ihre soziopolitische Kontrolle zu etablieren." Wissen, Tüchtigkeit und Bildung galten plötzlich nichts mehr. Die Armut wurde schlimmer als je zuvor. Und der normale Bangladeschi fand sich plötzlich in einer so absurden Situation wieder, wie es uns ergehen würde, wenn unser Wohlergehen davon abhinge, ob wir etwa mit der Frau des früheren Gouverneurs von Arkansas zur Schule gegangen wären.*
Die immer wiederkehrenden Zyklone wehten den Mutterboden Bangladeschs unterdessen halbwegs zum Himalaya, während ein weiterer Teil des Mutterbodens durch die normalen Überschwemmungen in die See gewaschen wurde. (Selbst auf dem relativ hohen Grund um Dakka herum habe ich Telefonmasten gesehen, die in zweieinhalb Meter Höhe Wasserflecken aufwiesen.) Und seit der Unabhängigkeit ist die Bevölkerung Bangladeschs um zwei Drittel gewachsen - von etwa siebzig Millionen auf heute mehr als 118 Millionen.
Dennoch ist Bangladesch nicht zu einem Somalia oder Kambodscha oder auch nur einem East Los Angeles geworden. Das Land hat überlebt. Es hat sogar einige Fortschritte gemacht, zumindest in den Städten. 1975 fegte ein Militärputsch die linksextreme Regierung aus dem Amt, und seitdem hat es ein Wirtschaftswachstum von inflationsbereinigten 2,1 Prozent pro Jahr und Kopf gegeben, was ausgereicht hätte, um in den USA George Bush im Amt zu halten.
Nachdem Bangladesch ein eigener Staat geworden war, erhöhte sich die Lebenserwartung von 44,9 Jahren (erschreckende 1,6 Jahre weniger, als ich im Augenblick selbst zähle) auf einen Wert von 52,8 Jahren, der allerdings immer noch kein Methusalem-Alter darstellt. Die Säuglingssterblichkeit fiel von 140 pro 1000 Lebendgeburten auf 108 Todesfälle. (Das ist eine immer noch erschreckend hohe Zahl toter Babys, obwohl die Abtreibungsrate in den USA bei 404 auf 1000 Lebendgeburten liegt, falls der Leser sich über tote Babys Sorgen macht.) Und obwohl in Bangladesch heute 23 Prozent weniger Kinder gleich nach der Geburt sterben, hat sich das alljährliche Bevölkerungswachstum von 2,6 Prozent pro Jahr bei der Unabhängigkeit auf 2,39 Prozent heute verringert.**
* Bill Clintons Ehefrau Hillary (Anm. d. Übers.)
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** Anmerkung zu den Zahlen im zweiten Kapitel und an anderen Stellen des Buches:
Mancher Leser mag sich fragen, wie die Regierung von Bangladesch - die nicht gerade für besondere Kompetenz auf anderen Gebieten bekannt ist - in der Lage sein will, uns das alljährliche Bevölkerungswachstum des Landes bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma zu nennen. Die Antwort: Sie kann es nicht. Ebensowenig kann die weiter oben zitierte OECD das Bruttoinlandsprodukt seit 1900 auf einen Dollar genau angeben. Ebensowenig wissen die UNO und die Weltbank, um wie viele Zehnteljahre das weltweite durchschnittliche Lebensalter zugenommen hat. Wir haben es mit dem ersten Gesetz der Sozialwissenschaften zu tun: "Je exakter die Zahl, um so allgemeiner die Lüge." Diese exakten - und somit absurden - Zahlen existieren, weil die UNO, die Weltbank, die OECD und die Regierung von Bangladesch sie brauchen, um Entwicklungshilfe und andere Geldmittel zu bekommen. Wenn man Geld für geschäftliche Transaktionen ausgibt, ist dies ein Zeichen von rationalem Handeln. Wir wollen etwas. Wir haben das Geld dafür. Wir kaufen es. Wenn man allerdings Geld für geopolitische Transaktionen ausgibt, kann von Rationalität kaum die Rede sein. Wir können nicht einfach die UNO anrufen und sagen: "Bitte schicken Sie mir ein Pfund Weltfrieden." Und wir können nicht nach Bangladesch reisen und fragen: "Was bekomme ich für eine Gallone wirtschaftliche Aussichten landloser Bauern?" Versuche, solche Güter zu erlangen, setzen Glauben voraus, und glauben heißt nicht wissen; also liegen dem irrationale Entscheidungen zugrunde. Wenn wir irrationale Entscheidungen treffen, verbrämen wir sie oft mit vernünftigen Argumenten. Und nichts hört sich vernünftiger an als eine Zahl, und nichts läßt eine Zahl sorgfältiger ermittelt erscheinen als zwei Stellen hinterm Komma.
Somit spiegeln uns UNO, Weltbank, die Regierung von Bangladesch etc. eine lächerliche statistische Genauigkeit vor. Und ich verwende diese Statistiken in dem vorliegenden Buch. Ich tue dies jedoch aus zwei Gründen mit einem mehr oder weniger reinen Gewissen:
1. Die Statistiken entstammen den zuverlässigsten Quellen, die ich habe finden können. Ich glaube, daß die Leute, die diese Statistiken erarbeitet haben, sich um Genauigkeit bemühen, selbst wenn das Ausmaß der Genauigkeit, auf das sie Anspruch erheben, lächerlich ist.
2. Ich bin der Meinung, daß die Statistiken wenigstens als Vergleichsmaterial einigen Wert haben. Das heißt, daß die Irrtümer und Fehler, die bei der Berechnung von "Bla bla bla 1940" eine Rolle gespielt haben, die gleichen Irrtümer und Fehler sind, die auch bei der Berechnung von "Bla bla bla 1990" eine Rolle gespielt haben. Beide Zahlen können zwar falsch sein, aber es kann immer noch nützlich sein, sie einander gegenüberzustellen. Natürlich stimmt es, daß die Gärten der Statistiker in den Hainen der Wissenschaft falsche Früchte hervorbringen. Ich habe allerdings nur versucht, Wachs-Orangen mit Wachs-Orangen zu vergleichen und Kunststoff-Bananen mit Kunststoff-Bananen.
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Die Zahl der Menschen pro Arzt in Bangladesch hat sich von 8810 im Jahre 1980 auf 4755 im Jahre 1990 verringert - und das ohne jede Hilfe von Hillary Clinton. Die Müttersterblichkeit ging in dem gleichen Zeitraum von sieben pro tausend Geburten auf vier zurück - und das in einer Gesellschaft, die nicht dafür berühmt ist, daß sie sich sonderlich um ihre Frauen kümmert. Von 1982 bis 1989 stieg der tägliche Kalorienverbrauch pro Kopf um etwa eine Praline, von 1925 auf 2215, und der Proteinverbrauch pro Tag stieg von 56 auf 64 Gramm, obwohl der Verbrauch von Fleisch und Fisch ein wenig zurückging.
Bangladesch ist nicht gerade das Musterbeispiel eines erfolgreichen Landes, aber es ist auch kein "Faß ohne Boden" oder ein Schwamm, der alles an Entwicklungshilfe aufsaugt, was nur zu haben ist, ohne eine Wirkung zu zeigen. Das Land wurde im November 1970 von einem Wirbelsturm heimgesucht, der etwa 225.000 Menschen tötete. (Wenn ich über Bangladesch schreibe, überkommt mich manchmal das Gefühl, als könnte ich in jenen letzten Satz irgendeine Zahl einsetzen, und die Leute würden mir trotzdem glauben. Ich könnte sagen, bei einem Zugunglück in Bangladesch seien eine Million Menschen ums Leben gekommen, und die Leser würden nur kurz die Augenbrauen hochziehen und den Kopf nur kurz besorgt schütteln, um dann wieder zur Tagesordnung überzugehen.)
Wie auch immer: Ein weiterer schwerer Wirbelsturm suchte Bangladesch im Herbst 1988 heim, doch diesmal starben "nur" 2200 Menschen. Der Grund: Diesmal hatte man die Evakuierung der Menschen vorher geplant, es waren Schutzunterkünfte gebaut worden, und die Wettervorhersage hatte sich ebenso verbessert wie die Verbreitung dieser Nachrichten. Überdies waren eineinhalb Millionen Tonnen Lebensmittel eingelagert worden sowie ausreichend Medikamente; 3000 zivile und militärische Ärzteteams standen abrufbereit.
Natürlich kam 1991 wieder ein Wirbelsturm, der 140.000 Menschen den Tod brachte. In dem großen Zwölf-Punkte-Programm zur Erholung Bangladeschs kann man also nur Tag für Tag vorgehen und planen.
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Ich habe gesagt, daß Bangladesch nicht gerade das Musterbeispiel eines erfolgreichen Landes ist, aber irgendwie muß ich mich trotzdem mit dieser Aussage irren. Was sollten 118 Millionen Menschen sonst in diesem Land tun? In Kenia leben keine 118 Millionen Menschen. Und dabei ist Kenia die Wiege der Menschheit, so daß dieses Land praktisch seit dem Aufkommen des homo sapiens bevölkert ist. Es ist viermal so groß wie Bangladesch und hat ein berühmt gutes Klima und einen fruchtbaren Boden. Trotzdem leben in Kenia nur 26 Millionen Menschen.
Einhundertachtzehn Millionen Menschen tauchen nicht in einer bestimmten Region auf, nur damit wohltätig gesinnte Menschen sich wichtig fühlen können oder weil damit Freiwilligen von Organisationen wie OxFam Gelegenheit gegeben wird, am Wochenende etwas Sinnvolles zu tun. Und all diese Menschen haben sich auch nicht wie Wüstenmäuse vermehrt, weil sie hungerten und ohne Hoffnung waren. Wie kommt es also, daß Bangladesch so auffällig geworden ist? Liegt es etwa daran - wie bei so vielen anderen auffallenden Dingen -, daß es des Guten etwas zuviel getan hat?
Als sich die ersten Menschen in der Jungsteinzeit dort ansiedelten und für damalige Verhältnisse gut leben konnten, war dies auf die verblüffende Fruchtbarkeit des Landes zurückzuführen. Bangladesch ist durch das Zusammenströmen von drei der größten Flüsse des indischen Subkontinents entstanden - des Ganges, des Brahmaputra und des Meghna. Diese Flüsse mäandern, gabeln sich, winden sich und fließen in rund siebenhundert klar erkennbaren Wasserläufen zusammen und bilden insgesamt das traditionell so genannte "Ganges-Delta". Aus der Luft sieht Bangladesch aus wie ein Gewirr von Blutkapillaren oder Ganglien oder wie etwas aus dem Chemieunterricht, das man nur durch das Mikroskop erkennen kann. Im Osten und Nordosten erheben sich wenig eindrucksvolle Hügelketten, aber neun Zehntel der Fläche Bangladeschs liegen nicht höher über dem Meeresspiegel als eine Eigentumswohnung im vierten Stock mit Meeresblick. Dies ist das größte Delta der Welt, ein riesiges Schwemmland, eine einzige große Schlammebene. Zur Zeit der letzten Jahrhundertwende, bevor in Bengalen die neuesten landwirtschaftlichen Methoden überhaupt angewandt wurden, lebten in manchen Regionen bis zu neunhundert Menschen pro Quadratmeile allein von der Landwirtschaft. Jeder Bewohner gewann seinen Lebensunterhalt durch die Bearbeitung von etwa sechzig Quadratmeter Land - auf einer solchen Grundfläche kann man nicht einmal ein Häuschen bauen. Und
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dabei muß man noch davon ausgehen, daß die Menschen im Stehen schliefen und sich dabei an die Stützpfähle ihrer Tomatenpflanzen lehnten.
Als Grundeigentum hat das Land seine Nachteile. Eine der ältesten steinernen Inschriften, die man in Bengalen gefunden hat, ermahnte die Menschen, Lebensmittel zu lagern, um sich vor künftigen Überschwemmungen zu schützen. Ein marokkanischer Reisender des vierzehnten Jahrhunderts, Ibn-Batauta, sagte, die Bengalis bezeichneten ihr Land als "eine Hölle voller Segnungen". Der Mutterboden des Landes ist jedoch so wundervoll dunkel und fruchtbar, daß man der Meinung ist, er sei in kleinen Beuteln in einer Baumschule eingekauft worden. Der Boden ist feucht und locker und hat den dunklen, reifen, süßsauren Duft, der an Rekordernten gemahnt und an den ich mich aus meiner Kindheit erinnere, wenn ich beim Football manchmal mit dem Gesicht im Lehm Ohios landete. Dieses Erdreich ist der Stoff, in den sich Komposthaufen verwandeln sollen, doch statt dessen werden sie nur zu stinkendem Schleim. Wenn man einen Fuß in die Erde von Bangladesch steckt, wachsen einem weitere Zehen.
In der 1911 erschienenen Ausgabe der Encyclopaedia Britannien wird Bengalen wie folgt beschrieben:
Es ist eine der fruchtbarsten und am dichtesten bevölkerten Regionen der Welt. Das Land bringt Naturprodukte in großer Fülle hervor. Tee, Indigo, Kurkumawurzel, Lackharz, wogende weiße Felder mit Schlafmohn, Weizen und unzähligen Getreidearten und Hülsenfrüchten, Pfeffer, Ingwer, Betelnuß, Chinin und viele kostbare Gewürze und Kräuter, Ölsaaten, Baumwolle, Maulbeerbäume, unerschöpfliche Ernten von Jute und anderen Fasern, Holz des Bambusbaums und der Elfenbeinpalme bis hin zu dem eisenharten Sal-Baum - kurz, alle pflanzlichen Produkte, die ein Volk ernähren und kleiden und es in die Lage versetzen, mit fremden Völkern Handel zu treiben, gibt es in überreicher Fülle.
Weiter heißt es in dem Artikel, daß "die Geschichte Bengalens seit dem Beginn der britischen Verwaltung im wesentlichen von Wohlstand geprägt gewesen ist".
Das Pro-Kopf-Einkommen der Region war damals etwa so hoch wie heute, was daran erinnert, daß unsere Maßstäbe für Wohlstand sich verändert haben (bedauerlicherweise auch die Grundsätze, nach denen Enzyklopädien geschrieben werden). Überdies fällt
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auf, daß ein Begriff wie "dicht bevölkert" im Jahre 1911 noch keinen mißbilligenden Beigeschmack hatte.
Es gab noch weitere Gründe für Bengalens relativen Wohlstand. Der Hooghly-Fluß, der rund hundert Kilometer westlich der heutigen Grenze Bangladeschs verläuft, war der Ort, an dem die Briten im Jahre 1650 erstmals in Indien landeten. Kein Mensch mag zu viele Briten um sich haben, aber die britische East India Company hat immerhin 1690 die Stadt Kalkutta gegründet. Damit hatten die landwirtschaftlichen Produkte Bengalens einen gewaltigen Markt vor der Haustür, und später wurden Straßen und Eisenbahnen gebaut, mit denen die Produkte transportiert werden konnten, und Soldaten und Polizisten konnten diese Straßen und Bahnlinien schützen.
Der Islam kam dem Land ebenfalls zugute. Anfang des zwölften Jahrhunderts wurde Bengalen noch von der Sena-Dynastie beherrscht, militanten Hindus, die wegen ihrer Begeisterung für das Kastensystem verhaßt waren. Als das muslimische Mughal-Reich Bengalen im Jahre 1202 eroberte, traten Hindus der niederen Kasten eilig zum Islam über. Als Moslems hatten die Bengalis einige Gleichheit vor dem Gesetz und überdies Gesetze, bei denen sich die Gleichheit lohnte. Die Mughal-Herrschaft brachte den Bengalen auch technische Innovationen, ein intellektuell anregendes geistiges Klima und die verfeinerte Wirtschaftsform der mittelalterlichen arabischen Welt.
Was Bengalen jedoch wahrhaft reich machte, war Jute. Jute ist eine Angelrute von Pflanze, eineinhalb bis drei Meter hoch, fast ohne Zweige und nur so dick wie ein Finger. Wenn man heute irgendwo in Bangladesch davon spricht, wird man nichts weiter als ein "ha?" ernten. Doch noch vor einem Jahrhundert war Jute ein landwirtschaftliches Hauptprodukt. Man baute Jute wegen ihrer Fasern an, die denen des Hanfs ähnlich sind (soviel ich weiß, jedoch ohne dessen Nebenprodukte, die sich als Haschisch rauchen lassen). Für Weber und Textilindustrie waren nur Baumwolle und Flachs wichtiger. Dabei ist Jute gar kein besonders wertvoller Stoff. Sie ist weicher als Flachs, rauher als Baumwolle und weniger haltbar als beide. Dafür war sie um ein Drittel oder die Hälfte billiger. Aus Jute wird nämlich Sackleinwand gefertigt, und so bestanden vor der Erfindung der Kunstfasern die meisten Säcke und Verpackungsstoffe aus Jute. Sämtliche Sandsäcke beider Weltkriege waren aus Jute gemacht. Schnüre, Seile, Taue, billige Teppiche und Matten wurden aus Jute hergestellt, ebenso Segeltuch, billige Stoffe
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und minderwertige Malerbürsten. Im Jahre 1906 verbrauchte die Welt dreieinhalb Milliarden Pfund Jute. Sie war das Polyester der damaligen Zeit.
Jute ist in Bengalen zu Hause, und Bengalen ist außerdem der einzige Ort, an dem Jute gedeiht. Die "goldene Faser", wie man sie früher nannte, brachte der Region, aus der später Bangladesch wurde, Geld und Ansehen, Industrie und Exporterlöse. Jute war der Schlüssel zu Bangladeschs Erfolg.
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Bedauerlicherweise ist Jute noch heute der Schlüssel zum Erfolg des Landes. Die Jute ist immer noch der wichtigste Devisenbringer. Jute und Juteprodukte machen noch heute ein Drittel der Exporte Bangladeschs aus. Jute ist das einzige Landwirtschaftsprodukt von Bedeutung in einem Land, in dem 82 Prozent der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft verdienen. Das Problem: Kaum ein Mensch will heute noch Jute kaufen.
Die Regierung von Bangladesch hat sogar ein Jute- Ministerium. Während meines Aufenthalts in Bangladesch bekam ich in meinem Hotel immer wieder Anrufe aus dem Büro des Juteministers. "Ja, spreche ich mit Mr. Oh-Dork-Ee? Wir schätzen uns glücklich. Ihnen mitteilen zu können, daß der Herr Juteminister bereit ist. Ihnen ein Interview zu gewähren." Unerbetene Anrufe. Ich hatte dem Juteminister absolut keine Frage zu stellen, wenn ich mal davon absehe, wie er wohl seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle hält, wenn er jemandem seinen Titel nennen muß.
Jute ist aber immer noch das Hauptprodukt von Bangladesch. Und da sich ein Journalist in der Stadt befand, mußte über Jute gesprochen werden. Als ich mich zur Handelskammer von Dakka begab, um mit Mahbubur Rahman zu sprechen (dem Mann, der mir von der Frage des Präsidenten von Simbabwe erzählt hatte, ob Bangladesch Straßen habe), wollte auch er über Jute plaudern.
Die Handelskammer befindet sich im Geschäftsviertel Motijheel, gleich um die Ecke des Büros der Biman-Fluglinie. Ich ging ein paar staubige Treppen in einem schnell alternden modernen Betonbau hinauf und landete in einem großen, feuchten Raum voller männlicher Sekretäre, die in riesigen Hauptbüchern herumkritzelten und auf alten Schreibmaschinen herumtippten, wie man sie in den USA nur noch auf kleinen Bühnen sieht, wenn Ben Hechts Stück Extra-
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blatt aufgeführt wird. Rahman hatte stahlgraues Haar und war elegant gekleidet, einer dieser Männer, für die das mittlere Lebensalter wie geschaffen zu sein scheint. Und die Charme mit Würde verbinden. Er setzte sich für Jute ein, wie niemand es besser hätte machen können. Schließlich gibt es für diese Faser unzählige Verwendungsmöglichkeiten. Sie lasse sich, erklärte er, beispielsweise als Unterlage für Teppichböden verwenden. Überhaupt als Unterlage. Ob ich wisse, daß nicht nur die Sandsäcke des Ersten und des Zweiten Weltkriegs aus Jute hergestellt worden seien, sondern auch die des Koreakriegs? Rahman ließ auf einem Tablett Tee und Kekse bringen. Jute sei eine Naturfaser. Und Naturfasern seien im Augenblick sehr in Mode. Zwar habe die Jute als Textilie einige kleinere Nachteile, lasse sich aber mit anderen Materialien verbinden, und zwar, nun ja, zu einer Mischung aus anderen Materialien und Jute. Und jetzt gebe es sogar eine Methode, Papier aus Jute herzustellen. "Meine Visitenkarte zum Beispiel ist aus Jutepapier hergestellt", sagte Rahman und reichte mir eine Karte, die auf faltigem, braunem, verfärbtem und welligem Karton gedruckt war.
"Außerdem eignet sich Jute sehr gut zur Herstellung von Teppichen. Man kann daraus Teppiche machen, die genau wie Wolle aussehen und sehr haltbar sind. Der Teppich in diesem Büro ist auch aus Jute." Ich warf einen Blick darauf. Er sah überhaupt nicht wie Wolle aus und ging allmählich in Stücke.
Seit Erfindung der Kunststoffe ist der Preis für Jute ständig gefallen. Und in den achtziger Jahren, als die petrochemischen Grundstoffe, aus denen Kunststoffe hergestellt werden, so billig wurden wie noch nie, brachen die Jutepreise zusammen. Die Regierung von Bangladesch reagierte auf den Siegeszug des Kunststoffs genauso wie Dustin Hoffman auf die Erwähnung dieses Worts in dem Film Die Reifeprüfung. In Wahrheit noch schlimmer. Denn was die Regierung des Landes anschließend tat, war weit kostspieliger, als wenn sie nur selbstgefällig dreingeblickt und untätig geblieben wäre. Der Preis für Jute fiel unter die Gestehungskosten. Und so beschloß die Regierung, eine der ärmsten der Welt, Jutebauern und Hersteller von Juteprodukten zu subventionieren. "Ironischerweise", heißt es dazu in dem Area Handbook, "wurde der unentbehrliche Devisenbringer Bangladeschs damit selbst zu einem Verlustbringer für die Wirtschaft." Eine lebendige Prosa gehört vermutlich nicht zu den Dingen, mit denen die Schreiber der Federal Research Division der Library of Congress gesegnet sind, doch selbst dann ist "ironischerweise" ein lauwarmer Ausdruck.
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"Wahnsinn" ist das Wort, nach dem die Autoren dieses Beitrags gesucht hatten. Allerdings ist Jute nicht der einzige sichtbare Wahnsinnsposten in der politisch geprägten Ökonomie Bangladeschs. Im Haushaltsjahr 1990-1991 erhielten staatseigene Betriebe ohne jede Gegenleistung drei und eine Viertel Milliarde Taka, doch selbst dann konnten sie noch keinen Gewinn machen. In Wahrheit haben sie rund zwanzig Milliarden weitere Taka verloren, was einer Gesamtsumme von 612 Millionen US-Dollar entspricht, die somit durch den Schornstein gingen.
Hier nur einige der staatseigenen Betriebe in Bangladesch:
Osmania Glass Sheet Factory
Dhaka Match Factory
Bangladesh Diesel Plant
National Tubes Ltd.
Dhaka Vegetable Oil Industries
Kohinoor Battery Manufacturing Co.
Bangladesh Cycle Industries
Khuina Hard Board Mills
Bangladesh Blade Factory
Eagle Box Cartoon (sie) Manufacturing Co.
Bangladesh Steel Engineering Corporation Can Making and Tin
Printing Plant Bangladesh Insularer and Sanitary Ware Factory
Diese Unternehmen stammen aus einer Liste von Betrieben, welche die Regierung zu verkaufen versucht. Ich möchte gern einmal dem Mann die Hand schütteln - nun ja, ihn kennenlernen -, der etwa "Bangladesh Insulator and Sanitary Ware" kauft.
Beim Blättern in der Monatszeitschrift der Handelskammer von Dakka fielen mir Meldungen auf wie etwa: "In den Jahren 1990-1991 lagen Stoffe im Wert von etwa vierzehn Millionen US-Dollar noch unverkauft in den Webereien des Landes." Schon im nächsten Absatz folgte ein Zitat eines Mr. Mannan, der das absurde Portefeuille eines "Staatsministers für Textilien" hält. Er soll dem Parlament des Landes gesagt haben, daß "das Land im Jahre 1993 bei Stoffen Selbstversorger hätte sein sollen", daß "die Stoffproduktion des Landes bis dahin jedoch nicht in der Lage war, diesen Anforderungen zu genügen".
Oder man sehe sich einmal die nächste Meldung an, und das in einem Staat, der nur menschliche Ressourcen hat und dessen einzige Hoffnung in einer gebildeten Arbeitnehmerschaft besteht, von
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dessen Landbevölkerung aber nur siebzehn Prozent lesen und schreiben können: "Der Minister für Forsten, Fischerei, Vieh und Umwelt, Abdullah Al-Noman sagte ... die Regierung habe beschlossen, den Import ausländischer Bücher mit Ausnahme von Nachschlagewerken und wissenschaftlichen Büchern zu verbieten." Wie der Minister für Forsten, Fischerei, Vieh und Umwelt in die Lage versetzt worden ist, den Import von Büchern zu verbieten, war für mich in diesem Augenblick ein zu deprimierendes Thema, um ihm weiter nachzugehen. Wie auch immer: Mr. Al-Noman fuhr fort: "Die Entscheidung der Regierung, den Import von Büchern zu beenden, die nicht mit unserer Kultur und unserem Erbe in Einklang zu bringen sind, wird unserer eigenen Literatur und Kultur zu neuer Blüte verhelfen."
Ich möchte dem Minister vorschlagen, daß er zumindest Telefonbücher von seinem Importverbot ausnehmen sollte. Die einzige brauchbare Quelle für Telefonnummern in Bangladesch ist ein fotokopiertes Blatt Papier, das von der Handelskammer verteilt wird. Allerdings fällt auf, daß schon die Nummer der Handelskammer falsch ist.
Das ist allerdings nicht so wichtig. Denn wenn man von einem Anschluß in Bangladesch aus wählt, erreicht man nicht zweimal den gleichen Teilnehmer (es sei denn, wie es scheint, man ruft aus dem Büro des Juteministers an). Mit Brieftauben oder wahrscheinlich sogar mit Briefmäusen ließe sich ein besseres Kommunikationssystem aufbauen. Denn es ist nicht zu erwarten, daß die High-Tech-Revolution, die dieses Problem lösen würde, schon bald in Bangladesch Einzug hält, zumindest nicht nach dem zu urteilen, was mein Freund John Giannini durchmachen mußte, bevor er seinen Laptop-Computer einrühren durfte. Man hätte meinen können, John wäre mit einhundertachtzehn Millionen Exemplaren von Salman Rushdies "Die Satanischen Verse" beim Zoll aufgetaucht, und zwar ohne Genehmigung des Ministeriums für Forsten und Fischerei.
Giannini wußte nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. In der Dritten Welt wird fein zwischen verschiedenen Arten von Zollbeamten unterschieden: Einmal gibt es ein halbes Dutzend Beamte, die darauf warten, daß man sie besticht, sowie ein halbes Dutzend weiterer Beamter, die darauf warten, daß man einen Bestechungsversuch wagt, damit sie einen ins Gefängnis werfen können. Wie sich herausstellte, ging es jedoch nicht um Bakschisch. Es mußten nur Papiere ausgefüllt werden, ganze Stapel, Bündel und Bogen von Papier, alle in mindestens vierfacher Ausfertigung und alle
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dahingehend, daß John nicht vorhabe, seinen Computer in Bangladesch zu verkaufen. "Um so", wie John zu einem Zollbeamten sagte, "die ungeheuer wichtige Computerindustrie Bangladeschs zu ruinieren, nämlich durch Überschwemmung des heimischen Markts mit importierter Billigware." Zum Glück hatte sich der Zollbeamte geistig nur von Literatur und Kultur des Landes ernährt, so daß seinem unvollkommenen Englisch der Sarkasmus entging.
Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt sah ich am Straßenrand ein Schild mit der Aufschrift LERNEN SIE, IHRE KARRIERE MIT DEM COMPUTER AUFZUBAUEN. Daneben entdeckte ich eine Anzeige für die alljährliche TEXTIL-, LEDER- UND JUTE-MESSE. Ich überlasse es der Phantasie des Lesers, was für Attraktionen es dabei zu sehen gab.
Jede Begegnung mit der Bürokratie Bangladeschs, jeder Visaantrag, jede Hotelbuchung und jeder Geldwechsel löste den gleichen Papierkrieg aus. Als ich in einem staatlichen Laden, der dörfliche Handarbeiten verkaufte, mit einer American Express-Karte zahlen wollte, dauerte es fast zwei Stunden. Und es waren wirklich anrührende Handarbeiten: bestickte Bettüberwürfe mit einer Million handgenähter Stiche für etwa hundert Dollar pro Stück. Wunderschöne Sachen, aber bedenken Sie, was dabei für ein Stundenlohn herauskommt. Während ich mir diese Handarbeiten in größter Muße ansah, rief der Verkäufer die Zentralbank auf einem Apparat an, der nicht funktionierte. Die Zentralbank schickte American Express ein Telex, das ebenfalls nicht beim ersten Anlauf abging, und American Express faxte seine Genehmigung an ein Kopiergerät, das es gar nicht gab. Unterdessen hatte der Verkäufer alle Informationen auf meiner Kreditkarte, meinem Paß, meinem Führerschein aus New Hampshire und von meinem Journalistenausweis von Rolling Stone fotokopiert.
Regierungsdekrete und -vorschriften, die so kompliziert sind wie ein Bettüberwurf mit einer Million handgenähter Stiche, regeln jeden Aspekt des Wirtschaftslebens in Bangladesch und lassen die feine Handstickerei wie eine vergleichsweise hochproduktive Nutzung von Zeit erscheinen. Es gibt über vierzig Ministerien, darunter das Lebensmittelministerium, das Landministerium, das Ministerium für Jugend und Sport, das Arbeitsministerium (das mit dem Arbeitskräfteministerium jedoch nichts zu tun hat) und das Ministerium für die Verteilung von Kabinettsposten, das heißt ein Ministerium für die Ernennung von Ministern.
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Bei Abdurs endlosem erläuterndem Geplapper wurde jedes Anzeichen materiellen Fortschritts mit der Bemerkung begrüßt: "Oh, dafür hat die Regierung gerade Mittel freigegeben." Ein Block mit Gartenappartements am Stadtrand von Dakka für Mittelstandsfamilien, eine Flut frisch mit Lehm bestrichener Hütten in einer ländlichen Gegend, ein Industriepark: "Oh, dafür hat die Regierung gerade Mittel freigegeben." Als wären diese Mittel ein Kobold der muslimischen Mythologie, als könnte nur die Regierung die Fackel des Fortschritts zum Leuchten bringen.
Es hatte den Anschein, als wäre der Rest des Landes mit Abdur darin einig, daß die Regierung die Quelle aller guten Dinge sei, denn jede senkrechte Fläche in Bangladesch war mit politischen Graffiti geschmückt. Nun, nicht gerade mit Graffiti, da die meisten Menschen weder lesen noch schreiben können, dafür aber mit Symbolen der politischen Parteien, etwa einem Reisbüschel für die herrschende Bangladesh National Party, einem Boot für die oppositionelle Awami League, einem Pflug für Ex-Präsident Mohammed Ershads Jatiyo Party, einer Waage für die Jamaat-E-Islami-Fundamentalisten sowie einem Regenschirm, einem Stuhl, einer Ananas, einem Auto, einem Bus und so weiter für die mehr als hundert kleineren Parteien. (Wann endlich erhalten die politischen Parteien der Welt passende Symbole: Schlange, Laus, Schakal, Plumpsklo, Mülltonne, Clownsgesicht, Dildo, Geldscheine mit Flügeln?)
Das Oberste Gericht von Bangladesch, ein großer Steinhaufen in falschem Mughal-Stil, ist dreimal so groß wie das Oberste Bundesgericht der USA und vermittelt allein schon durch seine schiere Masse den Eindruck, als würde es jeden Streit im Land entscheiden, ob es um den Fahrpreis einer Rikscha geht oder um eine geklaute Ziege. Das Jatiyo Sangsad, Bangladeschs Parlament, ist ein riesiger, schauerlich moderner Betonklotz, den der exzentrische amerikanische Architekt Louis I. Kahn entworfen hat, der einmal gesagt hat: "Etwas absichtlich schön zu machen, ist eine Gemeinheit." Der Mann hat es tatsächlich so gemeint.
Nicht alle Regierungsgebäude sind so sympathisch, aber wenn es sich um ein großes Bauwerk handelt und es nicht gerade ein Hotel für die Verteiler von Entwicklungshilfe ist, gehört es vermutlich der Regierung. Ich sah massige Ytong-Bauten aus den ersten bescheidenen Tagen des Post-Kolonialismus und schreckliche Plattenbauten aus den frühen siebziger Jahren, in denen sich der sowjetische Einfluß stark bemerkbar machte, und Betonklötze aus der heutigen Zeit, die keiner Beschreibung lohnen.
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Chowdhury Kamal Ibne Yusuf, der Minister für Gesundheit und Familienwohlfahrt, den man einmal versehentlich für einen Chauffeur gehalten hatte, saß in einem Bauwerk aus Ytong- Blocks, einem heruntergekommenen Kasten, dessen blauer Anstrich so wirkte wie der Swimmingpool eines stillgelegten Motels. Die im Vorzimmer des Ministers unter einem Fenster eingebaute schadhafte Klimaanlage machte einen Höllenlärm und ließ es im Zimmer zehn Grad wärmer sein als draußen. Ein Dutzend Bittsteller saßen da und warteten, und der Sekretär des Ministers, ein junger Mann in Jeans und Pullunder, mischte Papiere, als wären es Spielkarten. Das mag zwar ein Klischee sein, aber dieser Bursche tat es tatsächlich - er wirbelte die Papiere durcheinander, als wären es übergroße Spielkarten, mit denen er Kunststücke vorführte. Auf einem Schreibtisch stand ein einziges Telefon mit Wählscheibe, das unablässig läutete, ohne daß jemand abnahm.
Das eigentliche Ministerbüro war mit Kunststoffpaneelen in Holzmaserung ausgekleidet, und der Juteteppich auf dem Boden hatte den beigen Farbton einer Promenadenmischung. Der Teppich war sehr feucht. Bangladesch ist ein feuchtes Land, und Jute ist bemerkenswert saugfähig, so daß es fast ein Viertel seines Gewichts an Flüssigkeit aufnehmen kann - eine Art Badezimmermatte der Natur. Der Minister hatte sich mit einem halben Dutzend rangniederer Minister umgeben. Sie debattierten gerade über einen Punkt ihrer Familienplanungspolitik und forderten mich auf, mich an der Diskussion zu beteiligen. Angesichts der umfangreichen internationalen Hilfe, die Bangladesch empfängt, sind die Leute daran gewöhnt, daß wildfremde Menschen sich in ihre Angelegenheiten einmischen.
Der Minister war ein gedrungener Mann, schien Akademiker zu sein, trug aber merkwürdig anmutende Freizeitkleidung. Er sah nicht im mindesten wie ein Chauffeur aus, obwohl er leicht als Sitar-Begleitmusiker von Ravi Shankar hätte durchgehen können. Als wir uns darauf geeinigt hatten, wie viele männliche Kinder Juteweber im Alter von vierzig Jahren durchschnittlich haben sollten, oder was immer es war, bat ich Minister Yusuf, mir von der Entwicklungshilfe zu erzählen. Die alljährlichen Wohlfahrtsleistungen aus Übersee - ganze 1,5 Milliarden US-Dollar - machen zehn Prozent von Bangladeschs Bruttoinlandsprodukt aus und stellen 85 Prozent des Entwicklungskapitals im Lande. Aber bringt es etwas? Die Entwicklungshilfe ist eine riesige Industrie in Bangladesch, und es gibt Anzeichen dafür, daß die Regierung des Landes das Geld nicht besser verwalten kann als die Eagle Box Cartoon Manu-
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facturing Company oder die Bangladesh Insulator and Sanitary Ware Factory. Ende der achtziger Jahre überstieg "die noch unausgezahlte Hilfe für bestimmte Projekte" - das heißt Geld aus der Entwicklungshilfe, das die Bangladeschis hatten, über dessen Verwendung sie sich aber noch nicht hatten klarwerden können - den Betrag von fünf Milliarden US-Dollar.
Minister Yusuf hatte natürlich nicht vor, mit seinem Schild GEGEN GELD MACHEN WIR DER ÜBERVÖLKERUNG EIN ENDE von der internationalen Straßenecke zu verschwinden. Er gab jedoch zu, daß viele der großen Hilfsprojekte der Vergangenheit - Stahlwerke, Zementfabriken, etc. - seine Regierung am Ende doch nur Geld gekostet hatten, statt für seine Landsleute Gutes zu bewirken. Und diese Großprojekte endeten oft nur mit horrenden Ausgaben für Beraterhonorare, die direkt zu den Ländern zurückströmten, die das Geld gespendet hatten.
"Funktionierende Entwicklungshilfe ist die", sagte Yusuf, "bei der ein Technologietransfer stattfindet." (Obwohl man Giannini ausdrücklich verboten hatte, mit seinem Laptop-Computer genau dies zu tun.) "Und mehr ausländische Investitionen." (Wenn allerdings 85 Prozent eines Entwicklungsbudgets keine Investition sind, was dann?) "Allerdings", sagte Yusuf, "wäre es noch wichtiger, wenn die Vereinigten Staaten und die Europäische Gemeinschaft und andere ihre Handelshemmnisse beseitigten, beispielsweise ihre Textileinfuhrquoten, und uns erlaubten, unsere Produkte auf ihren Märkten zu verkaufen."
Das heißt, es ist bequemer, jemandem ein Almosen zu geben, als ihn probieren zu lassen, einem den Job wegzunehmen. Was spenden die Spender übrigens wirklich? Die Stahlwerke waren offensichtlich keine gute Idee. Bangladesch hat weder Eisenerz noch Kohle, um Stahl zu erzeugen. Die Herstellung von Zement ist eine einfache Technologie. Gewiß hätte man es dem freien Unternehmertum, selbst dem, wie es sich in Bangladesch findet, überlassen können, die Zementherstellung selbst in die Hand zu nehmen. Bangladesch erhält nicht nur von den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland und Japan Geld, sondern auch von Kanada, Schweden, Finnland, den Niederlanden, der Schweiz und Australien. Schicken diese Staaten vielleicht Experten nach Bangladesch, um dessen Bewohner in Eishockey auszubilden. Nudismus, der Zähmung von Rentieren, darin, wie man Tulpenschauen veranstaltet, jodelt und trinkt, bis man würgt?
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Tatsächlich hat sich die Entwicklungshilfe auf die Landwirtschaft konzentriert. Die Weltbank hat ungeheure Bewässerungsvorhaben und Programme zur Verhinderung von Überschwemmungen finanziert und überdies eine Fabrik gebaut, mit der fünfhunderttausend Tonnen Düngemittel pro Jahr erzeugt werden können. Die Hälfte der Finanzhilfe der Asiatischen Entwicklungsbank ist für Vorhaben ausgegeben worden, bei denen es um Landwirtschaft und landwirtschaftliche Produkte ging. Von der Entwicklungshilfe der USA sind zwei Drittel für solche Zwecke ausgegeben worden. Und während all diese Landwirtschaftshilfe über dem Land ausgestreut wurde, verschlimmerte sich die Armut in den ländlichen Gebieten Bangladeschs immer mehr. Als das Land unabhängig wurde, waren 25 Prozent der Landarbeiter ohne eigenes Land, heute sind es 40 Prozent. Geschätzte 47 Prozent der Landbevölkerung leben heute unterhalb der Armutsgrenze - einer Grenze, die in Bangladesch nicht allzuweit vom Grab entfernt verläuft.
In einem Land, das es verzweifelt nötig hat, dem Würgegriff der Landwirtschaft zu entkommen, ist ausgerechnet diese immer wieder gefördert worden. Weit über 40 Prozent der Arbeiter in Manhattan haben ebenfalls kein eigenes Land, wenn man Eigentumswohnungen nicht mitzählt. Doch bis jetzt sind die Bäume auf dem Washington Square noch nicht gefällt worden, weil jemand Feuerholz braucht, und auch der Mittelstreifen der Park Avenue ist noch nicht von Ziegen abgeweidet worden.
Eines Tages begab ich mich zur Niederlassung der Weltbank in Dakka, einem flotten neuen Backsteinbau. Die Menschen, die dort arbeiteten, schienen ein besseres Leben zu haben und in einer gesünderen Umgebung zu arbeiten als der Minister für Gesundheit und Familienwohlfahrt. Die Weltbank ist eine Agentur der UNO. Ihre Arbeit besteht darin, die reichen Länder um Geld anzuzapfen. Dann verwendet sie dieses Geld, um armen Ländern Darlehen zu gewähren, die Art von Darlehen, die zurückgezahlt werden, wenn der Papst aus dem Talmud predigt. Die Weltbank staubt unter anderem amerikanische Steuerdollar ab, so daß ein Teil des von ihr verliehenen Geldes meins ist. Ich wollte die Weltbanker fragen, ob sie mit meinem Geld die Dinge anstellten, die ich mit meinem Geld tun würde, wenn es noch mein Geld wäre und die Weltbank sich nicht damit aus dem Staub gemacht hätte.
Dies ist der einzige echte Test jeder Entwicklungs- oder Beihilfe, ob sie nun national, international oder für sonst etwas verpulvert wird. Würden Sie selbst jemandem so helfen? Falls nein - warum lassen wir dann zu, daß die UNO unser Geld so ausgibt? Wenn man
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jemandem Geld leiht, um eine schwachsinnige Idee zu verfolgen - wenn jemand etwa eine Eisdiele gründen will, in der er seinen Kunden Eiscreme mit Fleischgeschmack vorsetzt -, verschwendet man nicht nur eigenes Geld, sondern tut auch dem Kreditnehmer keinen Gefallen (ganz davon zu schweigen, daß man den Kunden Übelkeit verursacht). Das gleiche gilt, wenn man für wohltätige Zwecke spendet. Es ist zwar gut, den Armen Geld zu geben, aber nicht für Drogen oder wie im Fall von Bangladesch Jute.
Ich wollte die Weltbanker auch fragen, ob sie mir eine Kreditkarte der Weltbank zur Verfügung stellen könnten, um sie mit den Kosten für Wasserkraftwerke und derlei zu belasten. Doch leider waren alle Angestellten der Weltbank essen gegangen.
Statt dessen begab ich mich zur Grameen Bank. Die Grameen Bank ist von einem Mann gegründet worden, der tatsächlich eigenes Geld verliehen hat. Der Mann heißt Muhammad Yunus und ist Dekan der volkswirtschaftlichen Fakultät der Universität von Chittagong. Professor Yunus war über die wirtschaftliche Situation seines Landes in den siebziger Jahren so erschüttert, daß er beschloß, nicht nur nationalökonomische Theorien zu lehren, sondern sich aktiv am Wirtschaftsleben zu beteiligen. Er lieh zunächst zweiundvierzig verarmten Dorfhandwerkern insgesamt dreißig US-Dollar, damit sie sich einige der für ihr Handwerk notwendigen Materialien kaufen konnten. Heute hat die Grameen Bank neunhundertzehn Zweigstellen und mehr als eine Million Darlehenskunden. Die durchschnittliche Darlehenshöhe liegt bei fünfundsiebzig Dollar, und der Höchstbetrag beträgt einhundertachtzig Dollar, es sei denn, jemand möchte ein Haus bauen, dann kann er dreihundert Dollar bekommen.
Grameen ist ein florierendes Unternehmen, obwohl es Geld nur an die ärmsten Bangladeschis ausleiht. Die Bank verlangt sechzehn Prozent Zinsen und hat eine Ausfallquote von nur acht Prozent. Die Darlehenskunden der Bank bilden jeweils Fünfergruppen, die sich wechselseitig die Darlehen garantieren. Nur zwei Mitglieder jeder Gruppe dürfen gleichzeitig ein Darlehen aufnehmen. Mehrere Gruppen bilden ein "Zentrum", von denen jedes wöchentlich von einem Vertreter der Bank besucht wird. Zweiundneunzig Prozent der Darlehenskunden sind Frauen, weil die Chefs der Bank daran glauben, daß eine Steigerung der Einkommen von Frauen den Haushalten direkt zugute kommt. Professor Yunus sagt: "Ein Mann hat ganz andere Prioritäten, bei denen die Familie nicht ganz oben steht." Ich glaube, er dachte dabei an Zigaretten und Flittchen.
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Die Grameen Bank drängt die Frauen nicht nur dazu, sich wirtschaftlich auf eigene Füße zu stellen, sondern bestimmten Grundsätzen zu folgen, den sogenannten "sechzehn Entscheidungen". Dazu gehören Vorsätze wie "Wir wollen unser Leben verändern", "Wir möchten Bäume anpflanzen" und "Wir werden keine Mitgift nehmen, wenn unsere Söhne heiraten, und keine Mitgift geben, wenn unsere Töchter heiraten". Die Grameen Bank verkauft ihren Kunden auch Saatgut, um deren Ernährung zu verbessern. Obwohl Gemüse in Bangladesch mühelos anzubauen ist (in dem Land wächst alles), sind die Menschen nicht daran gewöhnt, Gemüse zu essen. So sind Vitaminmangelkrankheiten weit verbreitet.
Angesichts der Politik dieser Bank verwundert es nicht, daß sie auch auf Opposition stößt. Linke behaupten, sie bringe den Armen Bangladeschs den Kapitalismus bei. Die Dorfmullahs predigen, daß es Gotteslästerung sei, wenn sich Frauen mit Geld beschäftigen. Und die Anhänger traditioneller Werte sind schockiert über Bräute ohne Mitgift und vermutlich auch über Gemüse. Die Grameen Bank ist ein kleines Stück Gemeinwesen, das sich erneuern möchte. Im Büro von Khandaker Mozammel, dem zweiten Mann der Bank, fiel mir auf, daß im Bücherregal Werke wie Rousseaus Über den Gesellschaftsvertrag, Milton und Rose Friedmans Chancen, die ich meine, Selected Works of Chairman Mao und Beyond Love standen. Im Verlauf dieser Erneuerung wird offensichtlich jeder Stein umgedreht, wie schwer erreichbar oder bemoost er sein mag. (Man sollte es allerdings dem Minister für Forsten, Fischerei, Vieh und Umwelt nicht verraten.)
Die Grameen Bank ist für Bangladesch offenkundig weit besser als die massiven Abwürfe weichen Geldes durch die Weltbank. Besser auch als die ehrenwerten Bemühungen des Peace Corps, Scharen idealistischer junger Studenten der Vergleichenden Literaturwissenschaft nach Bangladesch zu entsenden, um Menschen Landwirtschaft beizubringen, die seit dreitausend Jahren Landbau treiben. Allerdings ist es verführerisch, von einem Institut wie der Grameen Bank zuviel zu erwarten. Schließlich hat die Bank nur Aktiva von sechsunddreißig Millionen Dollar. Und das Ergebnis der von Grameen finanzierten Unternehmen ist letztlich nur dieser Bettüberwurf mit einer Million handgenähter Stiche, dessen Kauf mich zwei Stunden gekostet hat. Allerdings ist das noch besser als gar kein Produkt, doch Bettüberwürfe sind nicht das, worauf sich das Wirtschaftswunder Deutschlands und Japans nach dem Krieg gründete.
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VI
Bevor ich Bangladesch verließ, besuchte ich noch den schlimmsten Slum Dakkas. Es war schon schwierig, dazu eine Vorentscheidung zu treffen. Allerdings glaube ich, es geschafft zu haben. Es war ein Viertel mit fünfundzwanzigtausend Menschen, die auf so engem Raum lebten, daß er in den USA kaum für einen mittelgroßen Parkplatz ausgereicht hätte, ein Viertel mit Rattanhütten mit Blechdächern. Diese waren zwei Meter zehn mal drei Meter groß und hatten weder Fenster noch Schornsteine oder auch nur Abzugslöcher für den Rauch. Jede Hütte grenzte direkt an die der Nachbarn und rührte auf eine Lehmgasse, die nur 1,2 Meter breit war. Am Ende dieser Gassen sah ich ein paar Wasserhähne, deren Rohre dreißig Zentimeter aus dem Schlamm ragten, sowie einige Latrinenlöcher in Unterständen aus Zement. Ich versuchte zu fragen, wie viele Menschen in jeder Hütte lebten. "Mehr, als sich überhaupt darin unterbringen lassen", lautete die Antwort, wenn ich mich recht erinnere.
Mehr über diesen Slum kann ich kaum erzählen, da ich immer dann, wenn ich stehenblieb, um mir Notizen zu machen, von einem Schwärm kichernder, herumhüpfender, bettelnder, grabschender und prügelnder Kinder umringt wurde. Es waren immer Hunderte. Als ich mich einmal von dem Gewimmel lösen konnte, warf ich einen Blick durch eine niedrige Türöffnung und sah eine Frau auf dem Boden hocken, die aus zappelnden Salamandern eine Mahlzeit bereitete. Ich bin zwar kein Koran-Experte, bin aber fast sicher, daß Salamander für einen Muslim keine erlaubte Nahrung ist. Oder für mich als Christen.
Die Slumviertel brennen oft. Dieser hier war in den letzten zwanzig Jahren schon ein halbes Dutzend Mal niedergebrannt. Es gibt keine Möglichkeit zu erfahren, wie viele Menschen bei diesen Feuersbrünsten ums Leben kommen, und niemand versucht es herauszufinden. Umziehen können die Bewohner auch nicht, weil sie hier nicht zu Hause sind. Es sind Landbesetzer. Sie würden von der Grameen Bank keine dreihundert Dollar für den Bau eines Hauses bekommen. Sie haben keinen Ort, an dem sie legal ein Haus bauen könnten. Und sie können sich legal auch keinen Bauplatz besorgen, da sie keine Staatsbürger sind. Es sind Biharis.
Die Biharis, die indischen Muslime, die bei der Teilung Indiens im Jahre 1947 nach Ost-Pakistan kamen, haben im Unabhängigkeitskrieg von Bangladesch die falsche Seite gewählt. Sie hatten
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sich den Einheimischen Bengalens überlegen gefühlt, denn diese hatten sich in ihren Augen zu sehr den Hindus angepaßt. Die Biharis hatten sich geweigert, Bengali zu lernen, und waren von der von Westpakistanis dominierten Regierung bevorzugt behandelt worden. Abdur sagte, die Biharis hätten sogar eigene Brigaden aufgestellt, um an der Seite der westpakistanischen Armee gegen Guerilleros der Bangladeschis zu kämpfen. Abdur war während dieses Krieges in Gefangenschaft geraten und gefoltert worden - man hatte ihm Nägel unter die Fingernägel gesteckt.
Als Bangladesch 1971 seine Freiheit erkämpft hatte, wurde den westpakistanischen Soldaten freier Abzug nach Hause gewährt. Gebürtige Westpakistanis wurden repatriiert, und auch wohlhabende Biharis durften nach Pakistan gehen. Aber, wie Abdur es ausdrückte, "die armen Teufel blieben da". Und da sind sie nun, rund 600.000 Menschen, die in Flüchtlingslagern und Landbesetzerslums hausen. Im Staat Bihar haben sie nichts zu erhoffen. Die meisten waren noch nicht einmal geboren, als Indien geteilt wurde, und heute gehört in Bihar alles Hindus. Pakistan will die Biharis nicht haben, und in Bangladesch sind sie verhaßt.
Ein Bankier aus Bangladesch, den ich in meiner Hotelbar traf, ein Mann, der, wie er sagte, seit dem Zweiten Weltkrieg freiwillige Hilfsarbeit in Flüchtlingslagern geleistet hatte, erklärte, die Biharis seien einfach nur faul. Doch das stimmt nicht. Ich sah überall an den Rändern des Slum Reihen kleiner Hütten mit Läden. Diese Läden waren voller Jungen, welche die kunstvollen, mit Goldfäden durchwirkten Brautausstattungen nähten, die eine Spezialität der Biharis sind. Allein der Schal für eins dieser Hochzeitsgewänder, ein Schal, wie ihn die kleine Hindu-Braut auf dem Sadarghat trug, kostet 780 Taka. Die Jungen verdienen etwa 200 Taka in der Woche. In anderen Läden waren Biharis dabei, scheußliche alte Juteteppiche zu reparieren, illegal gefälltes Mangrovenholz zu spalten und andere Dreckarbeit für die Nation zu verrichten.
Abdur behauptete, bis vor kurzem nichts von diesen Bihari-Slums gewußt zu haben. Auch sonst schien niemand etwas davon zu wissen. Wir mußten uns fünf- oder sechsmal nach dem Weg erkundigen, bis wir diesen hier fanden. Abdur sagte, er habe die Biharis immer verachtet, doch jetzt empfinde er Mitleid mit ihnen. Er kam also mit mir, obwohl er hier nicht übersetzen konnte. Wir verbrachten einen Nachmittag damit, in einem Gewimmel lärmender Halbwüchsiger herumzuspazieren und etwas anzusehen, was auf den ersten Blick Armut zu sein schien, sich bei näherer Betrachtung jedoch als Politik erwies. Was ein Land mit zu vielen Menschen zu sein schien, erwies sich in Wahrheit als Menschen ohne Land.
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VII
Was könnte Bangladesch verändern? Wie anders könnte das Land aussehen, wenn es eine andere Wirtschaftsordnung hätte, andere politische Institutionen, andere soziale Strukturen?
Die kalifornische Stadt Fremont hat die gleiche Bevölkerungsdichte wie Bangladesch. Es mag zunächst absurd erscheinen, eine amerikanische Stadt mit 177.500 Einwohnern mit einem asiatischen Land zu vergleichen, in dem 118 Millionen Menschen leben. Ich bin aber nicht so sicher, ob das so ist und warum. Fremont ist kein autarker Staat. Bangladesch auch nicht. Fremont ist Teil einer größeren politischen Einheit. Das ist auch Bangladesch einmal gewesen, und damals war das Land noch schlimmer dran. Fremont hat in seiner Umgebung kaum bewohnte, weite Räume. Die Nordgrenze Bangladeschs ist nur einhundertsechzig Kilometer von Tibet entfernt. Überdies ist Fremont viel kleiner als Bangladesch. Aber dafür ist Taiwan auch viel kleiner als Rotchina, und trotzdem scheint Peking von seinem kleinen Nachbarn eine Menge gelernt zu haben.
Wenn Übervölkerung überhaupt etwas ist, weswegen man sich Sorgen machen muß, und Bangladeschs dichte Besiedlung Übervölkerung darstellt, sollte uns auch Fremont Sorgen machen. Schließlich ist Fremont mit seinen 2250 Menschen pro Quadratmeile noch etwas besorgniserregender als Bangladesch mit 2130.
Fremont liegt an der Ostseite der südlichen Bucht von San Francisco an der Dumbarton Bridge, genau gegenüber der Stanford University und der Art von Leuten, die sich wegen Übervölkerung die Haare raufen, und fünfundzwanzig Meilen südlich von den Slums von Oakland, wo die Menschen leben, die sich deswegen keine grauen Haare wachsen lassen. Fremont hat absolut nichts Bemerkenswertes an sich. Die Stadt liegt auf einem Stück flachen Landes zwischen dem Marschland an der Bucht und den Vorbergen des Diablo Range. Es wurde 1956 Stadt. In ihr ist so gut wie alles neu, wenn man von ein paar Bauernhäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert absieht, Ladengeschäften aus den zwanziger Jahren, Tankstellen aus den Fünfzigern und einem übertrieben sorgfältig restaurierten spanischen Missionsgebäude aus dem Jahre 1797.
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Fremont hat zahlreiche Einkaufszentren und Gewerbegebiete für Unternehmen wie Kaiser Permanente und First Interstate Bank, daneben noch Industrie. Eine Gemeinschaftsgründung von General Motors und Toyota hat sich angesiedelt, die New United Motor Manufacturing (NUMMI), ebenso eindrucksvolle Neugründungen wie Logitech, LSI Logic, GRID Systems, Syquest Technology, Seagate Magnetics und LAM Research Corporation. Die Industriegebiete sind säuberlich vom Rest der Stadt abgetrennt und in braungelben, hygienischen Gebäuden untergebracht, die von weiten Rasenflächen und angelegten Gärten umgeben sind. Die Fabriken Fremonts weisen mehr landschaftsgärtnerische Bemühungen auf als die Einkaufszentren. Überdies ist Fremont umweltbewußt. Als ich die Stadt 1993 besuchte, wurde sie von einem großen Thema beherrscht: ein Erweiterungsbau des NUMMI-Werks für fünfundvierzig Millionen Dollar wurde vorerst gestoppt, weil man auf dem vorgesehenen Bauplatz eine einzelne Höhleneule entdeckt hatte, die gerade dabei war, sich eine Höhle zu graben. Dabei ist die Höhleneule nicht einmal eine gefährdete Tierart. "Ihre Gesamtpopulation und ihre Lebensräume gehen jedoch zurück", wie die Biologin Joanne Karlton vom California Department of Fish and Garne Wildlife sagte (die Dame ist übrigens nicht befugt, Bücher zu verbieten).
Die Bewohner Fremonts tun etwas für ihre Vögel. Zwanzigtausend Morgen Land, die an die Stadt grenzen, wurden an das San Francisco Bay National Wildlife Refuge abgetreten und bilden heute das größte Entenschutzgebiet der Welt. Daneben verrügt die Stadt über rund dreißig andere Parks und Spielplätze, darunter in der Stadtmitte über einen See, dessen Größe sogar für Windsurfer ausreicht. Und dort habe ich mehr Enten herumwatscheln sehen als in dem Naturreservat.
Die dichte Besiedlung Bangladeschs mag zwar dazu führen, daß es wie in der Dritten Welt üblich auch auf dem Land eng zugeht, aber im kalifornischen Suburbia ist gähnend leerer Raum das Ergebnis. Fremonts Stadtgrenzen schließen zehntausend Morgen biologisch bedeutsamen Brachlands ein, auf dem die Leslie Salt Company Verdunstungsteiche angelegt hat. Am Nordende der Stadt wird eine zweihundertfünf Morgen große historische Farm bewahrt, und ein Indianerdorf der Ohlone ist rekonstruiert worden. Durch das heutige Fremont verlief einmal der Schienenstrang
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der ersten transkontinentalen Bahnlinie. Ebenso ist das kleine Kaff Niles fast vollständig erhalten geblieben. Niles wurde früher als "Wildwest"-Set für Stummfilme verwendet, in denen Bronco Billy, Ben Turpin, Wallace Beery und Charlie Chaplin die Stars waren. Schon vierzig Jahre, bevor es Fremont überhaupt gab, wurden dort Filme mit dem kleinen Vagabunden gedreht.
Fremont verrügt auf dem Mission Peak über einen Segelflugplatz, über zahlreiche kleine Pferdeweiden und Hobbyranches, und in den Mission Hills wird sogar Vieh gezüchtet. Und innerhalb der Stadtgrenzen befinden sich überdies noch die Weinberge des Sektherstellers Weibel, des fünftgrößten amerikanischen Produzenten von nicht sehr gutem Schaumwein.
Nur wenige von Fremonts Gebäuden haben mehr als fünf Stockwerke, die meisten nur eins. Man könnte in der Stadt Wochen verbringen, ohne einmal eine Treppe hinaufgehen zu müssen. Einfamilienhäuser, Industrie und Gewerbegebiete sind so ausgedehnt, daß jeder Versuch, sie als Fußgänger abzuklappern, zu einer veritablen Expedition wird. Allerdings macht niemand auch nur den Versuch. Schließlich ist hier Kalifornien, so daß unter den vielen offenen Flächen, die einen in Fremont umgeben, auch weitläufige Parkplätze zu sehen sind, vermutlich so viele, daß jeder der Bewohner zwei oder drei Autos dort abstellen könnte. Parkuhren sind unbekannt.
Fremont wird von breiten Freeways durchschnitten. Sämtliche größeren Straßen haben sechs oder acht Fahrspuren. Die Verkehrsampeln sind computergesteuert, und der Verkehr fließt immer, sogar in der Zeit der Rush hour.
Nach der letzten Zählung von 1990 hat die Stadt 39 212 Einfamilienhäuser, 3784 Reihenhäuser, 18531 Appartements und 618 Wohnwagen. Und sämtliche Behausungen sind so großzügig angelegt, daß praktisch jeder Platz für einen Gasgrill hat, einen Basketballreifen, ein Blumenbeet, einen Swimmingpool, einen Hund und einen Wohnwagen.
Schlechte Stadtteile gibt es nicht. Obwohl die Handelskammer in einer Broschüre für künftige Bewohner freimütig zugibt: "Die Wohnviertel Fremonts sind meist sehr gepflegt, aber die Wohnqualität ist trotzdem manchmal unterschiedlich. Einige Rasenflächen werden nicht mehr gepflegt..."
Man sieht kaum Abfall herumfliegen, und Graffiti habe ich nur wenige entdeckt. In einem der tiefen, überwölbten Kanäle aus Beton, die sich von den Hügeln bis zur Bucht erstrecken, sah ich,
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wie jemand den Spruch THRASH METAL RULES an eine Wand gesprüht hatte. Eigentlich hätte es TRASH METAL RULES heißen sollen, aber jemand hatte ein den Sinn entstellendes großes H eingefügt.* Daneben verkündete ein Schild, daß Skateboards oder Fahrräder in diesen verführerischen Betonröhren verboten seien. Ich nehme an, der Vandalismus hat jemanden für die erlittene Unbill entschädigt.
Ich habe in Fremont nur drei Bettler gesehen, und einer davon, eine Frau, ging nicht sehr professionell vor. Es war eine untersetzte Frau, die ein acht- oder zehnjähriges Mädchen bei sich hatte. Es war sechs Uhr nachmittags, und die Frau hielt ein Plakat hoch, auf dem es hieß, sie würde sogar für drei Mahlzeiten am Tag arbeiten. Sie stand jedoch neben einer Ausfahrt, wo es für einen Wagen fast unmöglich ist anzuhalten. Überdies hatte sie sich eine Tageszeit ausgesucht, zu der die Leute es eilig haben, nach Hause zu kommen und es überdies unwahrscheinlich ist, daß sie Lebensmittel oder Arbeit im Wagen haben. Fünfzig Meter hinter der bettelnden Frau sah ich ein Restaurant von McDonalds, in dessen Fenster ein Schild hing: WIR STELLEN EIN. Ein Mann mittleren Alters verließ den McDonalds-Parkplatz und gab der Frau und dem Mädchen Big Macs.
Fremont gilt als Wohnstadt für den Mittelstand, obwohl es diese leicht verächtliche Bezeichnung nicht verdient. Zweiundachtzig Prozent der Kinder Fremonts leben mit beiden Eltern zusammen. Die schulischen Leistungen der Kinder rangieren in Kalifornien im oberen Drittel. Pro Jahr hat die Stadt zwei Morde zu verzeichnen. Und die Kriminalitätsrate liegt dreißig Prozent unter dem nationalen Durchschnitt. Fremont hat sich also einige anständige und solide Werte bewahrt.
Die Bevölkerung ist integriert: Etwa 19,5 Prozent sind Asiaten, vier Prozent Schwarze und 13 Prozent Lateinamerikaner. Eine gut durchmischte Bevölkerung also. Die Gemüseabteilungen der Supermärkte bieten Gemüse an, das so fremdartig aussieht, daß ich meinen Baseballschläger holen würde, wenn etwas davon in meinem Garten auftauchte. Außerdem habe ich in Fremont einen Volvo mit tiefergelegtem Fahrwerk gesehen.
* Statt HIER IST TRASH METAL ANGESAGT heißt es jetzt etwa VERPRÜGELT DIE METAL-FREAKS (Anm. d. Übers.).
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Nach dem Zweiten Weltkrieg begann Fremont als Schlafstadt für Arbeiter. Die Übersicht der Handelskammer über die in der Stadt gezahlten Löhne und Gehälter weist aus, daß keine dreistelligen Wochenlöhne gezahlt werden und nicht viele am oberen Ende der zweistelligen Skala. Dafür sind Wohnhäuser teuer. Die Immobilienteile der Fremonter Zeitungen verrieten mir, daß kein einziges Einfamilienhaus für weniger als zweihunderttausend Dollar zu haben war. Außerdem erhalten die Leute nicht übermäßig viel für ihr Geld. Die Häuser haben zwar den üblichen Komfort, wirken aber eher unauffällig und sind kaum voneinander zu unterscheiden. Sie sind in einem Ranch-Stil erbaut, der die einstigen rancheros Kaliforniens verwirren würde. Das auffälligste architektonische Merkmal ist meist die angebaute Garage für zwei Autos.
Fremont selbst ist eher unauffällig, wenn auch einigermaßen komfortabel. Und auf eine sehr nette Art und Weise vom Rest Amerikas kaum zu unterscheiden. Die Broschüre der Handelskammer gesteht, daß es in der Stadt nur "wenige erstklassige Restaurants" gebe. Immerhin hat Kalifornien seit mehreren Jahren eine Rezession. In den Einkaufszentren von Fremont gibt es einige leere Läden. Es fällt den Menschen schwer, ihre Rechnungen zu bezahlen. Doch niemand, mit dem ich dort sprach, hat nach internationalem Beistand gerufen. Es gab keine zornigen Demonstrationen auf den Straßen.
Die Bewohner Fremonts sind fast so freundlich wie Bangladeschis. Eines Morgens joggte ich auf der Straße und quälte mich gerade an einem Bierwagen vorbei. "Wirklich schade, daß Sie sich dieses Zeug abstrampeln", rief mir der Fahrer zu, "ich wollte Ihnen gerade einen Kasten anbieten." In einem Laden ließ ich zufällig das Wechselgeld liegen. "Tips an den Besitzer unter zehn Dollar werden nicht angenommen", sagte der Mann hinter dem Tresen. Als ich einen Park Ranger fragte, ob er Karten vom Wildreservat habe, sagte er: "Ich habe Tausende davon - schließlich gehört das Ding dem Staat." Und als ich in der Handelskammer der Dame am Empfang sagte, ich sei gerade dabei, einen Vergleich zwischen Fremont und Bangladesch anzustellen, gab sie mir einen Stapel Literatur und ein warmherziges und aufmunterndes Lächeln. Ich war in ihren Augen offensichtlich verrückt, aber sie freute sich, daß ich mich zu beschäftigen wußte (die Handelskammer von Fremont hat übrigens einen Teppichboden aus Nylon und Visitenkarten aus gewöhnlichem Papier).
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Fremont ist einfach ein ganz gewöhnlicher Ort. Vielleicht nicht gerade der Stoff, aus dem die Träume sind, aber alles, was ein anständiges Leben ausmacht, ist hier zu haben. Oder vielleicht ist Fremont doch der Stoff, aus dem die Träume sind. Mir fiel ein, daß ich außerhalb des Landbesetzer-Camps der Biharis in Dakka ein Bild gekauft hatte. Es zeigt ein quadratisches einstöckiges Haus ohne besondere Merkmale mit einer freistehenden Garage. Dazu einen Rasen und viele Blumen. Auf dem Dach eine Fernsehantenne, vor dem Haus ein kleiner Wagen. Das war die Vision eines Bangladeschi vom Paradies auf Erden, und es sah genauso aus wie Fremont, Kalifornien.
Die beiden Gemeinwesen vereint mehr als nur die Zahl der Menschen pro Quadratmeile. Beide liegen etwa gleich hoch über dem Meeresspiegel. Beide sind außerordentlich fruchtbar. Fremonts Klima ist trockener, aber es steht reichlich Wasser für die Bewässerung zur Verfügung, und es ist so warm hier, daß mehrere Ernten im Jahr möglich sind. Bis in die fünfziger Jahre hinein war die Wirtschaft Fremonts wie die von Bangladesch ausschließlich von der Landwirtschaft geprägt. Kein Ort auf der Welt erlebt so viele Naturkatastrophen wie Bangladesch, aber in Fremont gibt es Erdbeben, gelegentlich Überschwemmungen und Buschfeuer. Und: Fremont hat eine erstaunliche Bevölkerungszunahme erlebt - von 22.443 im Jahre 1956 auf die heutigen 177.500. Das ist eine Zuwachsrate, die Bangladesch aussehen läßt wie eine onanistische Nation von Familienplanungs-Aktivisten, die am liebsten jeden Mann auf Dauer in ein Ganzkörper-Präservativ einnähen würden.
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Gibt es irgendeinen wissenschaftlich erhärteten Grund, warum Bangladesch nicht so sein kann wie Fremont in Kalifornien? Natürlich würde eine ganze Welt, die so volkreich ist wie Bangladesch (oder Fremont, Kalifornien), rund 112 Milliarden Menschen beherbergen und ein äußerst lebhafter und zweifellos unangenehmer Ort sein. Allerdings glaubt kein vernünftiger Mensch, nicht mal ein vernünftiger Pessimist, daß so etwas passieren wird.
Die gegenwärtige Weltbevölkerung liegt bei etwa 5,3 Milliarden Menschen. Charles C. Mann hat in einem sehr ausführlichen und ernsthaften Artikel über Bevölkerungsfragen in der Februar-Ausgabe 1993 von Atlantic Monthly betont, daß die Fruchtbarkeitsraten der Welt ihren Höhepunkt schon seit einigen Jahren überschritten haben. In den Industriestaaten sogar schon vor recht langer Zeit. Doch selbst in sehr armen Ländern mit der größten Zahl von Babys sind die Geburtenraten zwischen dem Ende der sechziger und dem
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Anfang der achtziger Jahre um dreißig Prozent gefallen. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird das Wachstum der Weltbevölkerung im Jahre 2005 einen Ausgleich zwischen Geburten und Sterbefällen erreichen, einem Jahr, für das die UNO eine Weltbevölkerung von 6,7 Milliarden Menschen prognostiziert. (Tatsächlich würde die Bevölkerung noch eine Zeitlang danach weiterwachsen, nämlich wegen einer sogenannten "demographischen Verzögerung". Andererseits könnte sich jedoch auch die Abnahme der Geburtenrate ebenfalls beschleunigen - wenn Sie hier noch folgen können, sind Sie besser als ich -, so daß, ach, was soll's, nehmen wir einfach 6,7 Milliarden als optimistischste Schätzung an.)
Der Information Please Almanac von 1993 - diese sagenumwobene Erkenntnisquelle für alle Achtkläßler, die am Montagmorgen eine Hausarbeit abliefern müssen und erst am Sonntagabend um halb zehn damit anfangen - geht von einer düstereren Zahl aus. Information Please behauptet, daß die Weltbevölkerung im Jahr 2020 8,2 Milliarden Menschen umfassen wird. Das ist auch etwa mein vermutliches Todesjahr, wenn meine Leber bis dahin mitmacht.
Vizepräsident Gore, der sogar noch pessimistischer ist als ein abschreibender Achtkläßler, sagt in seinem Buch <Wege zum Gleichgewicht>, daß die Zahl lebender Menschen eines Tages vierzehn Milliarden erreichen könne.
Natürlich müssen wir vorsichtig sein, wenn wir mit Zahlen spielen. Zahlen können die Wahrheit mit einer Unschuldsmiene verdrehen, wie es Worte nie schaffen. Und mathematische Projektionen sind besonders verdächtig. 1970 veröffentlichte die Zeitschrift Look einen Artikel über Paul Ehrlich, den Champion aller Weltuntergangspropheten, in dem es hieß, Ehrlichs Organisation für ein Nullwachstum der Bevölkerung "habe jetzt schon mehr als 8000 Mitglieder, und deren Zahl verdoppelt sich alle zwei Monate". Sie werden sich sicher erinnern, daß sein Verein schon 1977 17,6 Trillionen Mitglieder hatte.
Wie viele Menschen gibt es denn wirklich in der Welt? Versuchen Sie mal in Aserbaidschan Köpfe zu zählen oder sogar in ihrem eigenen Haus, wenn Ihre Teenager eine Party feiern. Ich wette, daß Sie mindestens drei übersehen, die in der Waschküche auf Tauchstation gegangen sind. Die 1992 revidierte Ausgabe der UN World Population Prospects spricht von 5.295.300.000 Menschen. In einem statistischen Werk der USA von 1991 sind es 5.318.013.000 Menschen. Und Information Please spricht von 5.321.000.000 Menschen. Zwischen der größten und der kleinsten Zahl könnte man die Bevölkerung eines ganzen Landes unterbringen - 25,7 Millionen. Tatsächlich können wir Kanada nicht finden. Als ob uns das etwas ausmachte.
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Nichtsdestoweniger lassen sich Streitereien um Bevölkerungszahlen vorzüglich zu Zahlenspielen verwenden. Nehmen wir einmal an, 5,3 Milliarden sei eine einigermaßen angemessene Schätzung der Menschen, die heute auf der Erde atmen. Wie überfüllt ist damit die Welt? Wenn wir die Antarktis ausschließen - unter der Voraussetzung, daß auch weiterhin nur wenige Menschen den Wunsch haben werden, sich dort anzusiedeln -, ergibt eine Zahl von 5,3 Milliarden auf die Erdoberfläche umgerechnet eine Bevölkerungsdichte von 101 Menschen pro Quadratmeile, was etwas weniger ist als in Tennessee, denn dort leben 118 Menschen pro Quadratmeile. Natürlich ist ein großer Teil der Erdoberfläche nicht sehr bewohnbar, doch das gilt auch für einen großen Teil von Tennessee. Sollte sich ein Bevölkerungsgipfel von 6,7 Milliarden Menschen ergeben, hätten wir 128 Menschen pro Quadratmeile. Wenn Information Please recht behält, werden wir zum Zeitpunkt meines Todes 156 Menschen pro Quadratmeile haben. Und wenn Al Gore sich mit seinen Zahlen korrekterweise Angst eingejagt hat, stünden wir am Ende mit 267 Menschen pro Quadratmeile da.
In New Hampshire leben 124 Menschen pro Quadratmeile. In Indiana sind es 154, in Pennsylvania 265. Wir bewegen uns also von einer Welt, die so stickig ist wie Tennessee, auf eine Welt zu, die mindestens so überfüllt ist wie New Hampshire, möglicherweise so von Menschen wimmelt wie Indiana, und vielleicht werden die Leute dort so wie Sardinen zusammengepackt in jener wimmelnden Masse bedauernswerter Lebewesen leben, die im Staat Pennsylvania zu Hause sind (mit seinen fast zwei Milliarden Morgen Staatswald und neun Millionen Morgen Ackerland, die pro Jahr Lebensmittel und Landwirtschaftsprodukte im Wert von 38 Milliarden Dollar erzeugen).
Gegenwärtig sieht es so aus: Sollte die Welt den Wunsch haben, im kalifornischen Fremont zu leben, mit seinem Brei aus Einfamilienhäusern - und ein großer Teil der Welt scheint sich dies zu wünschen -, könnte jeder Mensch auf Erden in Europa ein Einfamilienhaus beziehen, wobei der größte Teil Rußlands westlich des Ural noch als Reserve übrigbliebe. Sollten wir eine etwas kosmopolitischere Umgebung vorziehen - wie etwa San Francisco mit seiner Bevölkerungsdichte von 15.502 Menschen pro Quadratmeile -, würden alle 5,3 Milliarden in Texas und Oklahoma Platz finden,
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wobei ein paar Millionen übrigblieben, um die Futterkästen des Planeten für die Vögel zu füllen und die Regenwälder zu harken und von Unkraut zu befreien. Wenn wir eine etwas anrüchigere Postleitzahl wollen, könnten wir - bei der Bevölkerungsdichte Manhattans von 52.415 Menschen pro Quadratmeile - im ehemaligen Jugoslawien leben. Und wenn wir uns wie New Yorker verhalten werden, ist Jugoslawien genau das, was wir verdienen.
Damit bleibt uns die Frage, was Menschen meinen, wenn sie die Erde übervölkert nennen. Diese besorgten Bürger wollen meist nichts anderes sagen, als daß sie eine ganze Menge ganz gewöhnlicher Erdbewohner ganz aus der Nähe betrachtet haben und daß ihnen das, was sie gesehen haben, kein bißchen gefällt.
Paul Ehrlich beginnt das erste Kapitel der Bevölkerungsbombe mit einer Schilderung einer "stinkenden heißen Nacht in Delhi", als er mit Frau und Tochter eine Taxifahrt unternahm (eine Taxifahrt, die sich für mich so anhört, wenn ich das sagen darf, als hätte er im Kopenhagener Tivoli einen Spaziergang gemacht, wenn ich an meine Taxifahrt in Dakka denke): "Wir kamen in ein überfülltes Slumviertel. Die Temperatur betrug mehr als vierzig Grad ... Die Straßen schienen vor Menschen zu wimmeln. Wir sahen essende Menschen, Menschen, die sich wuschen, schlafende Menschen." Anschließend verbindet Ehrlich "Menschen" mit acht anderen Verben, die typische menschliche Tätigkeiten bezeichnen, und endet mit diesem denkwürdigen Satz: "Menschen, Menschen, Menschen, Menschen." Darauf Ehrlich: "Offen gestanden bekamen wir es alle drei mit der Angst."
Charles C. Mann schließt seinen im übrigen staunenswert ausgewogenen Artikel in Atlantic Monthly mit einem kleinen erschreckten Erschauern über unsere von zu vielen Menschen bewohnte Welt der Zukunft: "Ich vermute, daß es etwa so sein wird, als würde man heute in New York leben." Und das wird, wie ich schon hervorgehoben habe, so sein, wenn wir alle nach Jugoslawien ziehen.
Und auch bei Malthus findet sich ein starkes ästhetisches Element unter den anscheinend kühlen rationalen Argumenten. Obwohl Malthus wenigstens den Anstand besaß, sich um die Leiden anderer zu sorgen statt um seine eigenen. Er beschreibt "die unglücklichen Bewohner von Feuerland": "Wir können nicht umhin zu sehen, welche Hindernisse sich einer Besiedlung unter einer Rasse von Wilden entgegenstellen, die, vor Kälte zitternd und mit Unrat und Ungeziefer bedeckt, in einer der unwirtlichsten Klimazonen der Welt leben, ohne den Scharfsinn zu besitzen, sich mit Bequemlichkeiten zu versorgen, die ihr Los lindern und das Leben etwas angenehmer machen könnten."
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Mit anderen Worten: Die Menschen sind - Anwesende wie immer ausgeschlossen - einfach schrecklich. Und "Menschen, Menschen, Menschen, Menschen", sind es um so mehr. Vor allem, wenn diese Menschen zufällig nicht ganz weiß sind. Man beachte, daß Paul Ehrlich keineswegs in Panik gerät, wenn er am Tag des Kentucky Derby in das ungeheure Gedränge reicher Leute an der Bar des Churchill Downs-Clubhauses gerät. So wie sich Charles C. Mann nicht über das Gedränge an einem Premierenabend der Metropolitan Opera in New York aufregen kann. Und wenn Malthus von einer Rasse ungewaschener Wilder spricht, die an einem ungastlichen Ort leben und nicht genug Verstand besitzen, sich vor dem Regen zu schützen, spricht er nicht über Gutsherren der schottischen Highlands.
Das Gejammer wegen Übervölkerung bietet für "fortschrittliche" Menschen eine von Schuldgefühlen vollkommen freie - ja geradezu scheinheilige - Möglichkeit, Rassisten zu sein. Die Zeitschrift <Time> veröffentlichte 1989 einen Artikel mit dem Titel <Jenseits des Schmelztiegels>, der zeitlich zufällig mit jenen leicht besorgniserregenden Volkszählungsformularen erschien, die wir in jenem Jahr in der Post fanden.
Der erste Absatz des Artikels begann so: "Eines nicht allzu fernen Tages ... werden weiße Amerikaner zu einer Minderheit werden." Und im zweiten Absatz hieß es: "Wenn sich die gegenwärtigen Trends der Einwanderung und der Geburtenraten halten, wird sich der hispanische Bevölkerungsanteil um geschätzte weitere 21 Prozent steigern, die Zahl der Asiaten um etwa 22 Prozent, die der Schwarzen um fast 12 Prozent und die der Weißen um wenig mehr als zwei Prozent, wenn das zwanzigste Jahrhundert zu Ende geht."
Time erlaubte sich dann ein paar Spaltenzentimeter lang frömmelndes Wehklagen über kulturelle und rassische Empfindlichkeiten, um dann fortzufahren: "Die Geschichte läßt vermuten, daß es schwierig oder zumindest ungewöhnlich ist, eine wahrhaft multirassische Gesellschaft aufrechtzuerhalten." Was ist mit dem Babylonischen Reich? Dem Persischen Reich? Dem Indischen Reich? Den verschiedenen Reichen, die aus den Eroberungen Alexanders des Großen hervorgingen? (Dieser forderte von seinen Offizieren, daß sie ausländische Frauen heirateten.) Was ist mit dem Römischen Weltreich? Dem Mughal-Reich? Dem Britischen Empire? Amerika? Kanada? Australien? Brasilien?
"Es wird sich ohne Zweifel erweisen, daß eine wahrhaft multirassische Gesellschaft viel schwerer zu regieren ist", erklärte Time. Im Gegensatz zu ethnisch homogenen Gemeinwesen wie etwa Somalia.
Die Vorstellung, daß es zu viele Menschen gibt, führt für diese Menschen zu bedauerlichen und sogar tödlichen Plänen. Eins der Motive von Thomas Malthus, seinen Versuch über das Bevölkerungsgesetz zu schreiben, war sein Wunsch, etwas gegen das Armengesetz seiner Zeit zu unternehmen, demzufolge verarmte Familien je nach Kinderzahl staatliche Hilfe erhielten. Malthus war der Meinung, daß diese Methode weitere Arme geradezu herbeizüchte. Malthus schrieb überdies, um die Getreidegesetze Großbritanniens zu unterstützen, die importiertes Getreide mit hohen Zöllen belegten. Während der großen Kartoffel-Hungersnot der 1840er Jahre trugen diese Gesetze zum Tod von mehr als einer Million Iren bei.
Dabei hat Malthus natürlich nicht den Wunsch gehabt, Menschen Schaden zuzufügen. Er war immerhin ein Kleriker. "Ich hätte nie den Wunsch, allgemeine Grundsätze zu weit zu treiben", sagte er, "obwohl ich der Meinung bin, daß man sie nie ganz aus den Augen verlieren sollte." Wir sollten also arme Teufel und Iren zwar nicht gerade ins Grab schubsen, aber die Möglichkeit dazu doch nicht ganz aus den Augen verlieren.
Und Paul Ehrlich behauptet in der 'Bevölkerungsbombe' rundheraus, daß Indien - das Land, in dem er in einem Taxi ein so bedauerliches Erlebnis hatte - eins "jener Länder ist, die in dem Spiel um einen Ausgleich zwischen Bevölkerung und Ernährung so weit zurückgefallen sind, daß keine Hoffnung besteht, sie mit unserer Nahrungsmittelhilfe bis zur Selbstversorgung durchzubringen."* Ehrlich war der Meinung, die USA sollten die gesamte Hilfe für Indien einstellen und die dunkelhäutigen Heiden einfach abkratzen lassen.
Es gibt tatsächlich zu viele Menschen. Jeder, der einmal eine Woche in der Bibliothek mit Thomas Malthus, Paul Ehrlich, Albert Gore und den Schreibern von Time und Newsweek verbracht hat, kann es Ihnen bestätigen - selbst einer dieser Leute ist schon einer zuviel.
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* Fünfundzwanzig Jahre später und mit einer erheblich größeren Bevölkerung braucht Indien keine Lebensmittelimporte mehr. Die Inder hungern nicht - obwohl sie sich dafür gegenseitig in recht großer Zahl in die Luft sprengen.
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