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2  Emigranten-Marxismus

Rubel-1975

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Der russische Marxismus und die russische Sozialdemokratie sind hauptsächlich in Westeuropa und nicht in Rußland entstanden - nicht als politisch-theoretischer Ausdruck einer massenhaften, im eigenen Klassenkampf herangereiften Arbeiterklasse, sondern als schulmeisterliche Ideologie und sektiererischer Machtanspruch einer in sich uneinigen Literatenelite. 

«Befreiung der Arbeit» nannte sich der Verein der nach Genf emigrierten russischen Revolutionäre, die sich für berufen hielten, die entscheidende emanzipatorische Rolle in der erwarteten Revolution zu spielen.

Titelblatt der ersten russischen Ausgabe des ersten Bandes des «Kapitals», 1872

Die Gründung dieser ersten marxistischen Gruppe Rußlands, mit Georgij W. Plechanow, Wera I. Sassulitsch und Pawel B. Axelrod an der Spitze, erfolgte 1883, im Todesjahr von Karl Marx. Etwa zwei Jahre vor dieser Gründung hatte Marx durch die Vermittlung von Wera Sassulitsch den russischen Revolutionären ein geistiges Vermächtnis zugedacht. Befragt, ob für Rußland die Möglichkeit bestünde, dank der zwar archaischen, aber noch lebenskräftigen Bauernkommune dem Joch der kapitalistischen Ökonomie zu entgehen, antwortete er:

«Die im <Kapital> gegebene Analyse enthält ... keinerlei Beweise – weder für noch gegen – die Lebensfähigkeit der Landgemeinde, aber die Spezialstudien, die ich darüber gemacht habe und wofür ich die Materialien in den Originalquellen geschöpft habe, haben mir die Überzeugung verschafft, daß diese Dorfgemeinschaft der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands ist; damit sie aber als solcher wirken könnte, müßte man zunächst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen, beseitigen und ihr sodann die normalen Bedingungen einer spontanen Entwicklung sichern.»13

Ein Jahr später, im Vorwort zur zweiten russischen Ausgabe des «Manifests», verkündeten Marx und Engels ihr letztes gemeinsames Bekenntnis zu jener Bauernkommune: «Wenn die russische Revolution das Signal zu einer Arbeiterrevolution im Westen wird, so daß beide einander ergänzen, dann kann das heutige russische Gemeineigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.»14

Im damaligen Rußland, wo trotz beginnender Industrialisierung die traditionelle Agrarwirtschaft und die überwältigend zahlreiche Bauernschaft für die Gesellschaftsstruktur bestimmend waren, agitierten die Fürsprecher des unpolitischen «Ökonomismus» für die unmittelbare Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen des politisch noch ungeschulten Industrieproletariats.

Sie wurden von sämtlichen marxistischen Fraktionen der im Ausland wirkenden Sozialdemokratie als «Revisionisten» und «Bernsteinianer» angeprangert.

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Georgij W. Plechanow

Wladimir I. Uljanow, genannt Lenin

«Lenin war überhaupt kein Dialektiker, sondern ein Opportunist. 
Diese Verwechslung charakterisiert sein ganzes System und seine gesamte Politik. 
Sie ist auch zum Erbteil seiner Nachfolger geworden.»  
(Otto Rühle)

wikipedia  Otto_Rühle_(Politiker,_1874) 
*1874 bei Freiberg in Sachsen bis 1943 (68)

Plechanow benutzte den aus der materialistischen Gesellschaftstheorie entliehenen Gedanken von der befreienden Sendung des modernen Proletariats, um den Führungsanspruch Lenins und der bolschewistischen Sekte «marxistisch» zu rechtfertigen.

Von ihm ausgehend trieb Lenin seinen Führungseifer so weit, daß er die Verschwörerpraxis einer als politische Partei getarnten Truppe von gutdisziplinierten Berufsrevolutionären als die unabdingbare Voraussetzung der erstrebten «demokratischen Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft» bezeichnete und dementsprechende Elemente für seine Avantgarde anwarb. 

Mit Ideenperlen, die er - eingestandenermaßen - von den nihilistisch-jakobinischen Revolutionären Sergej G. Netschajew und Pjotr N. Tkatschew übernahm, schmückte er seinen eigenen «Jakobinismus» aus. Dies erlaubte ihm, sein Organisationsprinzip, das er als «strengste Konspiration, strengste Auslese der Mitglieder, Heranbildung von Berufsrevolutionären» definiert, mit der Einsicht zu bereichern, «daß eine aus wirklichen Revolutionären bestehende Organisation vor keinem Mittel zurückschrecken wird, wenn es gilt, ein untaugliches Mitglied loszuwerden».15

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Leo D. Bronstein, genannt "Trotzki"

«Trotzki, der sich nicht eingestehen will, 
daß er selber einer der Hauptbegründer 
der russischen Bürokratie ist.»
(Otto Rühle)

Unter dem plausiblen Vorwand, daß die Marxsche Theorie keineswegs abgeschlossen und unantastbar, sondern bloß das «Fundament einer Wissenschaft [ist], die die Sozialisten nach allen Richtungen weiterentwickeln müssen»,16) zögerte Lenin nicht, die Marxsche Lehre von der Selbstemanzipation des Proletariats in ihr Gegenteil zu verkehren. Indem er sich auf die Autorität des Marx-Epigonen Karl Kautsky berief, vertrat Lenin die psychologisch unsinnige These, daß es die Aufgabe einer marxistischen Partei sei, dem bloß «trade-unionistisch» bewußten Proletariat «sozialistisches Bewußtsein» einzuimpfen, es ihm «von außen» zu «bringen», es in seinen Klassenkampf «hineinzutragen».17

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Nun trifft es sich, daß Marx die grundsätzliche These vertrat, wonach «das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein», von der ausgebeuteten Klasse ausgeht, ein Bewußtsein, «das sich natürlich auch unter den anderen Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann»18. Mit anderen Worten: Marx gewann sein kommunistisches Bewußtsein durch das Verständnis einer seiner historischen Aufgabe bereits bewußten Arbeiterklasse, der er, der bürgerliche Intellektuelle, sein Wissen und seine Theorie anbot. An sich selbst konnte Marx erfahren, daß die revolutionäre Theorie die revolutionäre Bewegung voraussetzt und nicht, wie es Lenin seinem Lehrer Plechanow nachsprach, daß es «ohne revolutionäre Theorie ... keine revolutionäre Bewegung geben [kann]»19.

Wie Marx aus der «bürgerlichen Intelligenz» stammend hat sich Lenin von seiner bürgerlichen Anschauungsweise nie befreien können. Im Gegenteil: Nach dem «Großen Oktober» bot sich ihm die Gelegenheit, sie in ihrer ganzen Tragweite bis zu den letzten Konsequenzen zu erproben.

Weniger konsequent war ein dritter bürgerlicher Intellektueller, Leo Trotzki, der sich im Revolutionsjahr Lenin anschloß, obwohl er bereits 1904 dessen Parteikonzeption vorbehaltlos verworfen hatte.

Seine Broschüre «Unsere politischen Aufgaben» (1904) darf wohl als die gründlichste Widerlegung des Bolschewismus in Marxscher Sicht betrachtet werden, obgleich ihr Autor sie ab 1917 als siegreicher Komplice Lenins verleugnen sollte.

Damals verteidigte er gegen Lenin Ideen wie die politische «Selbstbestimmung» der Arbeiterklasse und unterstrich die Marxsche Lehre von der historischen «Selbsttätigkeit» des Proletariats. Besonders verwarf er das von Lenin vertretene «System der politischen Substitution», das eine Arbeitsteilung zwischen einer zentralen Elite bewußter Berufsrevolutionäre und einer verstreuten Armee von disziplinierten Beauftragten und Exekutoren vorschrieb. 

Er rügte Lenins Parteikonzept, das die Kaserne und die Fabrik zum Vorbild hatte, und verspottete seine Manie, den Jakobinismus für die revolutionäre Sozialdemokratie und die Klassenbewegung des Proletariats zu fordern. 

Alle seine Ausführungen, wie einseitig «marxistisch» sie auch sein mögen, laufen auf eine schlichte Ablehnung von Lenin hinaus, dem «Führer des reaktionären Flügels unserer Partei».20)

Wie hellsichtig der fünfundzwanzigjährige Trotzki seine Kritik an der Leninschen Fraktion formulierte, davon zeugt seine thesenartige Zusammenfassung ihrer «sozial-revolutionären Philosophie». Diese Kritik trifft das bolschewistische Diktatur­verständnis, wie es Lenin ab 1917 und Stalin nach ihm in die Praxis umsetzte, ins Herz:

«1. Die Vorbereitung des Proletariats auf die Diktatur ist eine organisatorische Aufgabe, die in der Vorbereitung des Proletariats darauf besteht, eine mächtige Organisation, gekrönt von einem Diktator, zu erhalten.  

2. Das Erscheinen dieses Diktators über dem Proletariat, im Interesse der Diktatur des Proletariats, muß unbedingt vorbereitet werden.  

3. Abweichung von diesem Programm bedeutet Opportunismus.»21

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So gelang es Trotzki, die von Lenin und seinem Anhang erarbeitete politische Philosophie auf die einfachste – und ganz im Geiste von Marx gedachte – Formel zu bringen: «... nicht die selbsttätige Arbeiterklasse, die das Schicksal der Gesellschaft in ihre Hände nimmt, sondern die <starke und mächtige Organisation>, die über das Proletariat und durch es über die Gesellschaft herrscht, wird den Übergang zum Sozialismus sichern.» 22

Weitblickend proklamierte er das kommende «Fiasko des organisatorischen Fetischismus»: das Proletariat wird sich als Klasse nicht zur Diktatur führen lassen. Was er voraussieht ist die Fahnenflucht der «Mystiker der organisatorischen Form», ihren Übergang zum Reformismus oder Anarchismus: «... und wenn es sich ergeben wird, daß wir ihnen auf der Kreuzung zweier politischen Straßen begegnen, werden wir sie an diese Prophezeiung erinnern.»23

Weil Trotzki selbst 1917 zum Fahnenflüchtigen wurde, unterließ er eine weitere Kritik, die an seiner Stelle von Rosa Luxemburg vollbracht wurde. Den Kern des Problems sah sie in dem für Marx-Schüler paradoxen Experiment, eine sozialistische Partei in Rußland zu schaffen, «ohne die unmittelbare politische Herrschaft der Bourgeoisie». Sozialdemokratische Zentralisation habe in der Tat nichts gemein mit mechanischer Unterordnung der Parteikämpfer und Parteiorgane unter eine Zentralgewalt, sondern bedeute gewissermaßen «Selbstzentralismus», wobei die führende Vorhut der Arbeiterschaft innerhalb der Parteiorganisation ihre Majoritäts­herrschaft ausübe. Gerade der von Lenin gewollte Zentralismus führe zwangsläufig zu dem von ihm verurteilten Opportunismus, indem er «die noch unklare proletarische Bewegung [in Rußland] einer Handvoll akademischer Leiter mit dem Kopfe ausliefert».24

In Lenins Organisationsschema sah Rosa Luxemburg die größte Gefahr für die russische Sozialdemokratie, weil es die «noch junge russische Arbeiterbewegung» den «Herrschaftsgelüsten der Akademiker» aufopfere, sie «in den Panzer eines bürokratischen Zentralismus» einzwänge, die kämpfende Arbeiterschaft zum gefügigen Werkzeug eines «Komitees» herabwürdige. Und gerade weil Rußland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution stand, kam es darauf an, die freie Initiative und den politischen Sinn der Arbeiterelite zu entfesseln, anstatt sie, von einem Zentralkomitee «politisch geleithammelt und gedrillt», den bürgerlichen Demagogen zu überlassen.

Mit kühnem Spürsinn enthüllte die Verfasserin das Bestreben der Bolschewisten, die russische Arbeiterbewegung «durch die Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees vor Fehltritten zu bewahren», als Revancheakt des vom zaristischen Absolutismus zermalmten «Ichs» der Parteiführung. Diese besetzt den verlassenen Thron, zunächst als Verschwörerkomitee und später als Zentralkomitee, das sich zum Lenker der Geschichte aufspielt.

Jedoch übersieht sie, daß das «Massen-Ich der Arbeiterklasse» als eigentlich lenkendes Subjekt der Geschichte lieber aus seinen eigenen Fehlern «Dialektik» lernt, als daß es der Unfehlbarkeit des besten Zentralkomitees Vertrauen schenkt. «Fehltritte» einer revolutionären Arbeiterbewegung hielt Rosa Luxemburg für «geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller» als jede eigenmächtige Unfehlbarkeit. 25)

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