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3   Ein asiatischer Berufsrevolutionär 

   04      Anmerk

 

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«Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Rußland aus den Angeln heben.»26) Die Erfindung einer solchen Organisation, die später als «Partei neuen Typus» bekannt wurde, soll einer der Ruhmestitel Lenins sein.

Er starb aber zu früh, um die Vollendung seines Werkes durch seinen wirksamsten Schüler zu beobachten. Iossif W. Dschugaschwili hatte es verstanden, sich dieser Erfindung zu bemächtigen.

Dschugaschwili, der als Josef W. Stalin in das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei und darum auch in die Annalen der Weltgeschichte aufgenommen wurde, hat ein Selbstzeugnis hinterlassen, das eine gewisse Glaubwürdigkeit besitzt, sofern es seine Ausbildung zum Berufsrevolutionär nach dem von Lenin festgelegten pädagogischen Kodex beschreibt.

 

   

Rosa Luxemburg

«Lenin/Trotzki entscheiden sich .... für die Diktatur
im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur
einer Handvoll Personen,
d.h. für die Diktatur nach bürgerlichem Muster.»
(Rosa Luxemburg)

Damals (1926) sprach er als Generalsekretär der KPdSU vor Arbeitern der Eisenbahnwerkstätten in Tiflis, an einem Ort, wo er einst bolschewistische Propaganda gegen Menschewiki und Sozialrevolutionäre betrieben hatte. Anscheinend wurde dem hochgestellten Parteifunktionär übertriebenes Lob bei der Begrüßung gespendet, was den Besucher veranlaßte, eine unaffektierte Bescheidenheit an den Tag zu legen und gleichzeitig anzudeuten, daß er den Weg zur Macht noch lange nicht durchlaufen hatte:

Ich muß Ihnen, Genossen, ganz ehrlich sagen, daß ich nicht einmal die Hälfte des Lobes verdient habe, das mir hier gespendet wurde. Wie es sich herausstellt, bin ich der Held des Oktober und der Führer der Kommunistischen Partei der Sowjet-Union und der Führer der Komintern und ein sagenhafter Recke und wer weiß, was noch alles. All das ist Unsinn, Genossen, und eine absolut überflüssige Übertreibung. In einem solchen Tone spricht man gewöhnlich am Grabe eines verstorbenen Revolutionärs. Ich aber habe noch nicht die Absicht zu sterben.27

Stalin bot sich also an, das wirkliche Bild dessen, was er früher war, zu rekonstruieren, und zu schildern, wie er durch «drei Etappen» — Lehrling, Geselle, Meister — hindurch zu seiner jetzigen Stellung in der Partei gekommen war. Ein Tifliser Arbeiter hatte den Mut, zu erklären, daß Stalin einst sein Schüler gewesen war, was dieser ohne Umschweife bestätigte: Ich bin und bleibe in der Tat ein Schüler der fortgeschrittenen Arbeiter der Tifliser Eisenbahn­werkstätten.

Diese ersten Schritte fanden im Jahre 1898 statt, als man ihn einem Tifliser Arbeiterzirkel zuteilte, wo der Anfänger den ersten Unterricht in der praktischen Arbeit erhielt, wenn er auch vielleicht damals ein wenig belesener war als seine Lehrer. Bei der Arbeit erhielt er die erste revolutionäre Feuertaufe und wurde zum Lehrling der Revolution.

Andere Erlebnisse dieser Lehrzeit verschwieg er und ging direkt zur nächsten Etappe über, zu den Jahren 1907 bis 1909, als er durch den Willen der Partei nach Baku geschickt wurde: Drei Jahre revolutionärer Arbeit unter den Arbeitern der Erdölindustrie stählten mich als Kämpfer und einen der Leiter der praktischen Arbeit am Ort. Wiederum im Umgang mit fortgeschrittenen Bakuer Arbeitern, auch im Sturm schwerster Konflikte zwischen Arbeitern und Erdölindustriellen, bereicherte Stalin seine Erfahrung, wobei er zum erstenmal in der Führung großer Arbeitermassen unterrichtet wurde. Dort, in Baku, erhielt ich somit meine zweite revolutionäre Feuertaufe. Dort wurde ich ein Geselle der Revolution. 28) 

Stalins Kurzbericht enthält hier eine neue Lücke, da er sich begnügt, die Zeitspanne 1910 bis 1917 durch eine vage Andeutung zu umschreiben:

Schließlich erinnere ich mich des Jahres 1917, als ich durch den Willen der Partei, nach meinen Wanderungen durch Gefängnisse und Verbannungsorte, nach Leningrad entsandt worden war. Dort, im Kreise der russischen Arbeiter, in der unmittelbaren Nähe des großen Lehrers der Proletarier aller Länder, des Genossen Lenin, im Sturm der großen Schlachten zwischen Proletariat und Bourgeoisie, unter den Verhältnissen des imperialistischen Krieges, lernte ich zum erstenmal verstehen, was es heißt, einer der Führer der großen Partei der Arbeiterklasse zu sein. Dort, im Kreise der russischen Arbeiter, der Befreier der unterdrückten Völker und der Vorkämpfer des Proletariats aller Länder und Völker, erhielt ich meine dritte revolutionäre Feuertaufe. Dort, in Rußland, wurde ich unter Lenins Leitung einer der Meister der Revolution.29

So beschrieb der damals siebenundvierzigjährige Stalin das, was er die Schule einer revolutionären Lehrzeit nannte. Er hielt sich treu an das Vorbild mittel­alterlicher und handwerklicher Berufsausbildung, wonach jeder, der Meister werden will, sich zuvor als Lehrling und als Geselle üben muß.

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Stalin hatte aber ganz konkrete Gründe, den Tifliser Arbeitern, «seinen Lehrern», zu schmeicheln. Sie waren ja auch seine Landsleute und vor fünf Jahren noch Bürger der unabhängigen sozialdemokratischen Bauernrepublik Georgien gewesen. Im Mai 1920 wurde Georgien von Sowjetrußland als unabhängiger Staat anerkannt, mit dem bekannten Menschewiken Noah Jordanija als Präsident. Im Februar 1921 erfolgte der Einmarsch einer sowjetischen Armee, womit das weitere Los der georgischen Republik besiegelt wurde. Ihre Unabhängigkeit wurde 1918 verfassungsmäßig, auf Grund des von Lenin und Stalin proklamierten Prinzips der nationalen Selbstbestimmung, gesichert. Da aber Georgien menschewistisch war, «war in Moskau sein Todesurteil gesprochen». Daran erkannte Kautsky bereits 1921 den «Bonapartismus» Sowjetrußlands. 30)  

Es gab noch einen weiteren Grund für Stalins Schmeichelei seinen «Lehrern» gegenüber: in einer Tifliser Zeitung wurde erst kurz zuvor ein Polizeibericht aus dem Jahre 1911 veröffentlicht, der Stalins agitatorische Anfänge in Georgien enthüllte: «Nach uns von unseren Agenten neulich zugekommenen Informationen war Dschugaschwili in der Organisation unter den Spitznamen Sosso und Koba bekannt; in der sozialdemokratischen Partei seit 1902, zuerst Menschewik und später Bolschewik, betätigte er sich als Propagandist und Leiter des ersten Bezirks (Eisenbahn).» 31)  

Der Nachwelt ist kein anderes Dokument erhalten, das die menschewistische Phase in Stalins politischer Laufbahn bestätigt, auch gibt es kein Selbstzeugnis zu diesem Punkt. Stalin hat vom Beginn seiner Machtstellung darauf geachtet, als geborener Bolschewik charakterisiert zu werden. Dafür zeugt der unter seiner Aufsicht, vielleicht auch von ihm selbst diktierte biographische Artikel, der zum Zeitpunkt jener Tifliser Ansprache im 41. Band des russischen «Enzyklopädischen Wörterbuchs» (Granat) zu lesen war. 

Hier eine Zusammenfassung dieser ersten politischen Kurzbiographie des Mannes, von dem es heißt, daß über ihn mehr geschrieben wurde als über jede andere geschichtliche Figur: 

Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili (Stalin) wurde im Jahre 1879 in Gori, Gouvernement Tiflis, geboren und war georgischer Nationalität. Sein Vater, der als Schuster in der Tifliser Schuhfabrik Adelchanow arbeitete, war als Bauer im Dorf Didi-Lilo (Gouvernement Tiflis) angemeldet. Nach Verlassen der kirchlichen Grundschule in Gori (1893) trat Sosso in das Priesterseminar von Tiflis ein, wo damals unter der Jugend liberale Ideen, nationalistisch-patriotische wie marxistische, verbreitet wurden.

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Stalins Geburtshaus
in Gori

 

      

Das um Stalins Geburtshaus errichtete Marmor-Mausoleum in Gori 

 

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Es gab dort vielerlei Studienzirkel. 1897 leitete er im Seminar marxistische Schülerzirkel und trat gleichzeitig in Verbindung mit der illegalen sozialdemokratischen Organisation in Tiflis, wo er besonders in den Eisenbahnwerkstätten agierte. 1898 wurde er Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR), wonach er wegen geheimer Propagandatätigkeit als «politisch verdächtig» aus dem Seminar ausgeschlossen wurde. 1900 war er bereits einer der wichtigsten Leiter des Tifliser SDAPR-Komitees und nahm an der neuen politischen Massen­agitation teil. Nach der Aufsehen erregenden Maidemonstration in Tiflis ging Sosso in die Illegalität. Er wurde endgültig Berufsrevolutionär und wirkte unter verschiedenen Decknamen, wie «David», «Koba», «Nischeradse», «Tschischikow», «Iwanowitsch» und «Stalin».

Ende 1901 gründete er in Batum das Komitee der SDAPR, leitete Streikbewegungen und organisierte im Februar 1902 eine der bedeutendsten Arbeiterdemonstrationen. Im März verhaftet, blieb er bis Ende 1903 im Gefängnis, wonach er für drei Jahre nach Ostsibirien verbannt wurde. Noch im Gefängnis entschied er sich für den Bolschewismus, nachdem er über die Meinungs­differenzen zwischen Bolschewiken und den Menschewiken auf dem II. Parteitag erfahren hatte.

Stalin als Schüler 
des Priesterseminars 
in Tiflis, 
1894

 

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Nach seiner Flucht aus Sibirien (Januar 1904) kam er nach Tiflis, wo er an der Spitze der kaukasischen Bolschewiki eine bedeutende Rolle in der Agitation für die Einberufung des III. Parteitags spielte.

Während der Oktober-Ereignisse schrieb er die Broschüre Kurze Darlegung der Meinungs­verschieden­heiten in der Partei und beteiligte sich Ende 1905 als kaukasischer Delegierter an der Allrussischen Konferenz der Bolschewiki in Tammerfors (Finnland). Dort wurde er mit Lenin bekannt und schloß sich ihm an. 1906 stand er mitten im Kampf gegen alle «antiproletarischen Elemente» des Kaukasus, schrieb die Artikelserie Anarchismus oder Sozialismus? und beteiligte sich am Parteitag in Stockholm. 1907 wurde er von den Tifliser Bolschewiken zum Londoner Parteitag delegiert, worauf er sich nach Baku begab. Hier leitete er die illegale Zeitung «Bakinski Proletari» und sicherte den vollständigen Sieg der bolschewistischen Organisation. In den Jahren 1908 bis 1912 wurde er viermal von der Ochrana gefaßt, und jedesmal gelang es ihm zu entfliehen.

Ende 1911 wurde er von der Prager Konferenz in seiner Abwesenheit zum Mitglied des ZK der Partei gewählt. 1912 traf er Lenin in Krakau, wo er an der Konferenz der Bolschewiki Ende Dezember teilnahm. Nach St. Petersburg zurückgekehrt, leitete er die bolschewistische Gruppe der Duma-Fraktion und veröffentlichte die Schrift Der Marxismus und die nationale Frage, Februar 1913 erfolgte seine letzte Verhaftung; er wurde auf vier Jahre in die Turuchansk-Region nördlich des Polarkreises verschickt, wo er bis zur Februar-Revolution verweilte.

 

Der «Granat-Artikel beschreibt schließlich Stalins führende Rolle an der Seite Lenins im ZK der Partei und in seinen verschiedenen Funktionen. «Seit 1922 ist er einer der Sekretäre des ZK und übt diese Funktion noch gegenwärtig aus.»

 

«Koba» im Jahre 1900. 

Polizeifotos aus Tiflis

 

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Stalins Begegnung mit Lenin in Tammerfors, 1905. 

Gemälde

 

1925 wurde er ins Präsidium des ZK der Komintern gewählt. Die letzten Daten betreffen seine Rolle im Bürgerkrieg, seine Auszeichnung mit dem Orden des Roten Banners. Genannt werden als seine wichtigsten Schriften: Marxismus und die nationale Frage, Auf dem Wege zum Oktober, Lenin und der Leninismus, Probleme des Leninismus. 32)

 

Stalins «Granat»-Biographie umreißt die idealisierte Karriere eines vor 1917 vielversprechenden Funktionärs in der von Lenin konzipierten Revolutionsorganisation. Fakten und Daten sind mit fiktiven Ruhmestaten vermengt, in der deutlichen Absicht, dem Helden eine adäquate Vergangenheit für die künftige Glorie zu verschaffen. Da die eigentlichen Quellen zur Geschichte der russischen Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung vor 1917 so gut wie keine Spur jener Heldenlaufbahn aufweisen, mußten die von Stalin bestellten Biographen sich darum bemühen, dokumentarisches Material und besonders Memoirenliteratur herbei­zuschaffen, deren Wahrheitsgehalt nur schwer zu überprüfen ist.

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Stalin, 1913. 

Fotos aus den Akten der zaristischen Polizei

 

 

Zur Feier des sechzigjährigen Jubiläums des Diktators erschien eine Sammlung von persönlichen Erinnerungen über die «Kindheit und Jugend des Führers» und «Erzählungen alter Arbeiter über den großen Stalin».33) Manche der dort zitierten Aussagen können durch glaubwürdige Zeugnisse emigrierter Altersgenossen Stalins widerlegt oder korrigiert werden.

Im allgemeinen hat Stalin eher über seine jungen Jahre geschwiegen, was die seltenen Dokumente um so wertvoller macht. So gab er in einem Interview auf die Frage, wie und warum er zum Sozialisten wurde, folgende Antwort:

Der revolutionären Bewegung schloß ich mich im Alter von fünfzehn Jahren an, als ich mit den illegalen Gruppen russischer Marxisten, die damals in Transkaukasien lebten, Verbindung aufgenommen hatte. Diese Gruppen übten großen Einfluß auf mich aus und brachten mir Geschmack an der illegalen marxistischen Literatur bei.

Ganz anders war es im griechisch-orthodoxen Priesterseminar, wo ich damals lernte. Aus Protest gegen das schändliche Regime und die jesuitischen Methoden, die im Seminar angewandt wurden, war ich bereit, Revolutionär zu werden, und ich wurde tatsächlich Revolutionär, ein Anhänger des Marxismus, dieser wahrhaft revolutionären Lehre.

Befragt, ob er den Jesuiten keine «positiven Eigenschaften» zuerkenne, erwiderte Stalin: 

Ja, sie besitzen Systematik und Beharrlichkeit beim Verfolgen ihrer schlechten Ziele. Ihre Hauptmethode aber ist Spitzelei, Spionage, Ausspürerei, Verhöhnung; was kann daran Positives sein? 34) 

26-27


Jekaterina G. Dschugaschwili, 
Stalins Mutter, 
in orthodoxer Nonnentracht

«Wie schade, daß du nicht doch Geistlicher geworden bist.»

 

Wichtig an diesem Bekenntnis ist der nach mehr als dreißig Jahren noch so stark empfundene Widerwille gegenüber Methoden der Seelenvergewaltigung, die dazu beigetragen hatten, aus dem ungläubigen Priesterkandidaten einen gläubigen Marxisten zu machen, der ausgerechnet im Gebrauch der von ihm verworfenen Methoden eine unübertroffene Begabung entwickeln sollte.

Genau wie er die nachhaltigen Folgen jener entwürdigenden Erziehung an sich selbst nicht wahrhaben wollte, erkannte er auch nicht, daß die Mißhandlungen, die er von seinem trunksüchtigen Vater erdulden mußte, ebenfalls zu seinem Rebellentum Wesentliches beigetragen hatten. Lieber bestritt er die von ernsten Zeugen bestätigte Tatsache.35

Vielleicht hat er es seiner Mutter nie verziehen, ihn als Jüngling den Launen und Brutalitäten fanatischer Mönche ausgeliefert zu haben.

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Daß der junge Sosso wegen seiner Begabung in jene Priesteranstalt aufgenommen wurde, ist wahrschein­lich, und es ist nicht auszuschließen, daß er auch dichterisch begabt war. Seine Erstlingswerke dürften jene sechs Gedichte gewesen sein, die man später entdeckte und die der sechzigjährige Mann sich gerne zuschreiben ließ. Nichts war damals natürlicher für einen im Russenhaß aufgewachsenen jungen Georgier, als seinem Nationalgefühl in seiner Muttersprache lyrischen Ausdruck zu verleihen:

Und wisse, daß jene, die einst
Von den Unterdrückten gefällt wurden,
Sich wieder erheben werden und von Hoffnung beschwingt,
Hoch über dem heiligen Berge schweben.
36) 

Die reiche kaukasische Mythologie hat stärker auf den Knaben gewirkt als die verfälschte Bibelsprache der Orthodoxie. Er träumte von künftigem Heldentum und ließ sich «Koba» nennen, nach der mythenhaften Gestalt einer georgischen Romanze. Diesen Namen verleugnete er nicht, als er Sozialist wurde.

 

Eine intime Episode aus seiner frühen kaukasischen Lebensperiode wurde von Stalin nie öffentlich erwähnt: seine erste Ehe mit der aus Didi-Lilo, dem Geburtsort seiner Eltern, stammenden Jekaterina Swanidse. Als einziger hat sein Seminar- und Jugendfreund Iossif Iremaschwili über diese Ehe berichtet. Als Jekaterina (Keke) 1907 frühzeitig starb, wurde sie nach dem orthodoxen Ritus begraben. «Sosso», der menschewistische Namensvetter Stalins, wohnte dem Begräbnis bei, obwohl er bereits mit dem Bolschewiken gebrochen hatte. Er traf einen niedergeschlagenen Witwer, der seinen tiefen Schmerz kaum verbergen konnte. Beim Verlassen des Friedhofs drückte Koba dem einstigen Kameraden die Hand, zeigte auf den Sarg und sagte:  

Sosso, dieses Geschöpf hat mein steinernes Herz erweichen können. Nun ist sie tot, und mit ihr sind meine letzten warmen Gefühle für alle menschlichen Wesen gestorben.

Auf seine Brust weisend, soll Koba noch hinzugefügt haben: Hier drinnen ist es leer geworden, so unsagbar leer! Iremaschwili erzählt auch von dem Haß, den Kobas grausamer Vater seinem Kind einflößte, und beschließt diese Episode mit den Worten: «Rücksichtslos gegen sich selber, wurde er rücksichtslos gegen alle Menschen.»37)

 

Vielleicht bietet Kobas tragisches Bekenntnis auch eine Erklärung für sein gleichgültiges Verhalten dem Kind gegenüber, das ihm «Keke» geschenkt hatte. Keinesfalls übertrug er die Liebe, die er für seine Frau hegte, auf den Sohn Jascha, sondern schien für ihn nur Gleichgültigkeit, ja Abneigung empfunden zu haben.

Swetlana Allilujewa, Stalins Tochter aus zweiter Ehe, hat ihrem Halbbruder ein literarisches Denkmal gesetzt, das einem vernichtenden Urteil über den Vater gleichkommt. «Dem Vater glich er gerade nur im mandelförmigen kaukasischen Schnitt der Augen; das war alles.» Dagegen gab es eine auffallende Ähnlichkeit zwischen ihm und der Mutter: «... er war weder ehrgeizig noch herrschsüchtig, weder grob noch schroff ... er war bescheiden, schlicht, sehr fleißig und tüchtig und von einer bezaubernden Ruhe.»

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Stalins erste Frau:

Jekaterina Swanidse

 

Im «Großen Vaterländischen Krieg» geriet Jascha als Offizier in deutsche Gefangenschaft, wo er später (1943?) umkam. Nach Swetlana Allilujewas Aussage hätte Stalin seinen Sohn durch Austausch befreien können. 

«Im Winter 1943/44, also nach dem Sieg in Stalingrad, sagte mir Vater gelegentlich einer unserer schon so seltenen Begegnungen: Die Deutschen haben den Vorschlag gemacht, Jascha gegen irgendeinen der Ihren auszutauschen ... Soll ich mich auf einen solchen Handel mit ihnen einlassen? Nein — Krieg ist Krieg.» 38)

 

Krieg ist Krieg durch diese Rechtfertigung seines herzlosen Verhaltens enthüllte Stalin die Partei- und Revolutionsmoral, von der er sich als Instrument seines Meisters Lenin bei Terror- und Enteignungs­operationen im Dienste der bolschewistischen Partei leiten ließ. «Revolution ist Revolution» war wohl auch die Maxime, die ihm in der kaukasischen Hochburg des Menschewismus als Richtschnur diente, wo er kein Mittel der Intrige, ja selbst der Denunziation scheute, um seine politischen Gegner zu schwächen oder aus dem Wege zu räumen.

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Nur so läßt es sich erklären, daß manche Menschewiki den Verdacht hegten, Koba sei Agent der zaristischen Geheimpolizei (Ochrana). Er wurde sogar von seinen eigenen Genossen verdächtigt. Doch schon allein die Tatsache, daß er mehr als acht Jahre, also fast die Hälfte seiner revolutionären Lehrzeit, im Gefängnis und in der Verbannung verbrachte, macht diese Hypothese zweifelhaft.(39) Wahrscheinlicher ist, daß er als Mitglied einer Verschwörerpartei, die nach einem von Lenin festgelegten Aktionskonzept handeln mußte, sich zum besoldeten Handlanger des bolschewistischen Geheimzentrums hergab.

«Es versteht sich, daß diese Konspirateurs sich nicht darauf beschränken, das revolutionäre Proletariat überhaupt zu organisieren», schrieb Marx im Jahre 1850, als er die vor 1848 in Frankreich agierenden «Verschwörer von Profession» so meisterhaft zeichnete, daß seine Beschreibung noch ein halbes Jahrhundert später auf die russischen Verhältnisse anwendbar war:

«Ihr Geschäft besteht gerade darin, dem revolutionären Entwicklungsprozeß vorzugreifen, ihn künstlich zur Krise zu treiben, eine Revolution aus dem Stegreif, ohne die Bedingungen einer Revolution, zu machen. Die einzige Bedingung der Revolution ist für sie die hinreichende Organisation ihrer Verschwörung ... Der Hauptcharakterzug im Leben der Konspirateurs ist ihr Kampf mit der Polizei, zu der sie grade dasselbe Verhältnis haben wie die Diebe und die Prostituierten. Die Polizei toleriert die Verschwörungen ... als leicht zu überwachende Zentren, in denen sich die gewaltsamen revolutionären Elemente der Gesellschaft zusammenfinden, als Werkstätten der Emeute ... und endlich als Rekrutierungsplatz für ihre eigenen politischen Mouchards.» 40) 

 

Daß die russische «marxistische» Sozialdemokratie mit Agenten der Ochrana durchsetzt war, ist genug bekannt, wenn auch dieses Faktum selten ins Licht der von Marx selbst entwickelten Revolutionstheorie gestellt wird. Je mehr Lenin bestrebt war, seine Fraktion von den «versöhnlerischen» Menschewiki und den anderen russischen Sozialdemokraten zu trennen, desto schwerer fiel es ihm, für seinen streng disziplinierten Geheimbund verläßliches und geschultes Menschenmaterial anzuwerben.

Die Ochrana erkannte diesen Mangel, und es gelang ihr das erstaunliche Wagnis, einen ihrer geschicktesten Agenten in Lenins unmittelbare Nähe zu bringen, um dadurch über jede Entscheidung des Zentralkomitees der «Partei neuen Typus» informiert zu sein. Roman W. Malinowski, wegen verbrecherischer Taten der Ochrana ausgeliefert, wurde als ihr Agent für das neue Zentralkomitee bereitgestellt und als Delegierter der Moskauer Gewerkschaften zur Prager Parteikonferenz (1912) geschickt. Dank seinem «Revolutions­verständnis» wurde Malinowski von Lenin als «Arbeiterführer» bewundert und als Kandidat für die Duma-Wahlen aufgestellt. Er spielte fortan die leitende Rolle in der bolschewistischen Duma-Fraktion.

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Jakob (Jascha) Dschugasdiwili, 
Stalins erster Sohn,
nach seiner Gefangennahme, 
mit deutschen Offizieren, 
1941

 

 

Jakobs Tod?

Angeblich aus den Archiven des US-Außenministeriums stammt dieses Bild,
das die Leiche Jakobs im Stacheldraht des Konzentrationslagers Sachsenhausen zeigt. 

Im Frühjahr 1943 soll Stalins Sohn bei einem Fluchtversuch
im äußeren Absperrungsraum von den Wachtposten erschossen worden sein.

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Auf derselben Prager Konferenz wurde Stalin, der damals als Verbannter in Wologda lebte, ins Zentral­komitee kooptiert, nicht, wie es in der offiziellen Chronik heißt, «in seiner Abwesenheit <gewählt>».41) Zum erstenmal kam er also ins ZK «durch ein Hintertürchen», wie Trotzki meint, was jedoch nichts an der Tatsache ändert, daß der Vorschlag von Lenin ausging, der Koba sich einschleichen ließ, weil seine Kandidatur auf Opposition gestoßen war.

Trotzki erklärt diese Entscheidung Lenins durch die Notwendigkeit, Agitatoren für das geplante «Russische Büro» des ZK der Partei zu rekrutieren. Eigentlich aber erkannte Lenin besser als die übrigen Bolschewiki Kobas praktische Talente auf einem Gebiet, das dem damals notorischen «Versöhnler» Trotzki durchaus fremd war: nämlich auf dem Gebiet der «Expropriationen» (oder «Exes»).

Diese banditenartigen Überfälle auf Banken und Geldtransporte nahmen gewissermaßen die künftigen revolutionären Enteignungen vorweg. In den schwersten finanziellen Nöten der bolschewistischen Funktionärs­partei hatte Koba bei solchen Geldbeschaffungs­operationen eine wichtige Rolle gespielt, wenn auch über die Natur dieser Teilnahme bis heute noch nicht volle Klarheit herrscht.

Wir wissen zum Beispiel nicht, welche Funktion Koba in einem der berühmtesten «Exes», dem Tifliser Geld­trans­portüberfall vom 12. Juni 1907, erfüllte. Bei dieser Aktion kamen mehrere unschuldige Passanten ums Leben und über fünfzig Personen wurden schwer verletzt. 

Angesichts solcher Operationen verstieg sich Trotzki zur dialektischen Belehrung, daß «der historische Prozeß viel verwickelter [ist], als ein oberflächlicher Rationalist glauben möchte». 42)

33

 

*

    

 

4   Lenin an der Wiege Stalins 

 

 

Im Jahre 1910 ist Lenin von einer einzigen Idee besessen: die Partei und ihre sämtlichen Fraktionen von allen ihm «ideologisch» feindlichen Elementen zu säubern. Um sich einen völlig neuen Parteiapparat zu schaffen, sagte er sich von seinen engsten Mitarbeitern los.

«Entweder – wenn's gutgeht – öffnen wir das Geschwür und lassen den Eiter heraus, wir kurieren das Kind und ziehen es groß. Oder – wenn's schlecht endet – stirbt das Kind. Dann bleiben wir eine Zeitlang kinderlos (das heißt, wir stellen die bolschewistische Fraktion wieder her) und bringen danach ein gesünderes Kind zur Welt.»43

Mit diesen Worten teilte Lenin dem Dichter Maxim Gorki seine Niederlage mit, als ihn die sozialistischen Einheits­fanatiker im Januar 1910 im ZK überstimmten. Eine zweite Niederlage erlitt er im folgenden Jahr, als der Mensche­wisten­führer L. Martow in einem offenen Pamphlet Lenins Mitverantwortung an anrüchigen Geldbeschaffungen wie Raubüberfällen, Erbschafts­erschleichung, Falschmünzerei und eigenmächtiger Beschlagnahme geraubter Gelder ans Licht brachte.44

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Nun war es offensichtlich, daß das Kind zu sterben verdammt war und daß Lenin es für seine persönliche Aufgabe hielt, dem kräftigeren neuen Sprößling zur Geburt zu verhelfen. Bei dieser Operation war angesichts seiner früheren Leistungen ein Mann wie Koba unentbehrlich. Als überzeugter Bolschewik im Kampf gegen die Übermacht der Menschewiki in seiner georgischen Heimat hatte Koba eine gewisse journalistisch-propagandistische Geschicklichkeit gezeigt, wenn auch sein brutales Vorgehen offenkundig war.

Andererseits war er als Vermittlungsmann zwischen dem geheimen Zentralbüro und den eigentlichen Agenten bei «Enteignungen» kein einziges Mal von der Polizei gefaßt worden.

Lenin glaubte, mit dem «jungen Kaukasier» einen guten Fang gemacht zu haben. Auf dem IV. Parteitag, dem sogenannten «Vereinigungs­kongreß» in Stockholm (April 1906), hatte «Iwanowitsch» – Dschugaschwilis damaliger Deckname – für die Aufteilung des enteigneten Grundbesitzes in der Agrarfrage zugunsten der Bauern plädiert, während die Menschewiki für ein Programm der Munizipalisierung und Lenin für die Verstaatlichung eintraten. Bei der Abstimmung entschied sich Lenin für das «kleinere Übel», die Bodenaufteilung, was seinem Schüler eine gewisse Genugtuung verschaffte.

Auf dem nächsten Parteitag in London (Frühjahr 1907) wurde Koba auf Lenins Vorschlag eine beratende Stimme zuerkannt, obwohl sein Mandat als Delegierter angezweifelt worden war. Kurz davor – und wahrscheinlich auch etwas später – trafen sich Lenin und sein Schützling in Berlin. Diese Begegnung wird zwar in keiner biographischen Quelle erwähnt, doch hat Stalin bei mehreren Gelegenheiten darauf angespielt. Trotzki findet für sie nur eine Erklärung: «Die Zusammenkunft ... betraf sicherlich die bevorstehende Expropriation [in Tiflis], die Mittel und Wege, das Geld zu transportieren und ähnliche Dinge.» 45)  

Schließlich gelang es Lenin in Prag (1912), das neue Zentralkomitee durch eine eigenmächtige Entscheidung ins Leben zu rufen und so den Grundstein für seine «Partei neuen Typus» zu legen. Damit bahnte er einem zukunftsträchtigen bolschewistischen Jünger den Weg. Für die Behandlung der Nationalitätenfrage, einer der schwierigsten Probleme des russischen Sozialismus, suchte er sich denselben Georgier aus, der sich allgemein als ein eifriger und disziplinierter Parteimann erwiesen hatte. Er ließ ihn zu sich nach Krakau kommen und schickte ihn von dort nach Wien, wo dieser die Abhandlung Nationale Frage und Sozial­demokratie schreiben sollte.

Da er anscheinend auch vorher mit ihm über das Thema diskutiert hatte, konnte es keinen Grund geben, mit der Arbeit des «prächtigen Georgiers» – so in seinem Brief an Gorki – unzufrieden zu sein. Der Aufsatz war eine fleißige Zusammenstellung von Thesen und Zitaten aus der umfangreichen österreichisch-ungarischen Literatur zur nationalen Frage, wobei der Verfasser den Leninschen Unmut gegen den jüdischen «Bund» übernahm. Die Losung hieß: nationale Selbstbestimmung und regionale Autonomie gegen kulturelle Nationalautonomie ohne territoriale Abgeschlossenheit.

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Als Stalin vertraulich an seinen Freund Roman Malinowski, den von der Ochrana ins ZK eingeschleusten Spitzel, schrieb, leitete er seinen Bericht über dieses Arbeitspensum mit folgenden Worten ein: Lieber Freund! Ich sitze noch in Wien und .... schreibe allerhand Quatsch. 46) 

Nach St. Petersburg zurückgekehrt, wurde Stalin bald von der Polizei gefaßt, ohne zu wissen, daß es derselbe Malinowski war, der ihn verraten hatte. Für vier lange Jahre aus der Gesellschaft ausgestoßen, hat er sich in der Einsamkeit der Polarlandschaft über seine vergangene Laufbahn besinnen können, während sich tausend Meilen weg das Drama des Ersten Weltkriegs und der zweiten, der großen russischen Revolution abspielte. Angesichts der spärlich überlieferten Zeugnisse über die Lebensweise des Verbannten, der zu fast totalem Nichtstun verurteilt war, stößt man auf das fast unfaßbare Problem einer zwar unwillkürlichen, aber auch zum Teil gewollten und selbstverschuldeten Einsamkeit.

Was äußere Umstände allein nicht bewirken konnten, vollzog sich durch Stalins Veranlagung zur Introvertiert­heit. Achtung und Beliebtheit hat er weder als freier Parteikämpfer noch als politischer Häftling in den Kreisen der russischen Sozialdemokratie zu gewinnen vermocht. Während seiner langen Trennung vom Hauptstrom der menschlichen Zivilisation scheint er weniger am Mangel humaner Beziehungen als am Anblick einer farb- und seelenlosen Landschaft gelitten zu haben. 

Vermutlich hat ihn die Aversion gegen wahre menschliche Kontakte vor dem Wahnsinn bewahrt, dem so manche andere Exilierte im fernsten Sibirien zum Opfer fielen, obwohl sie imstande waren, eine unbarmherzige Natur zu ertragen. An diesem Fall wird die Typenpsychologie so lange rätseln, wie sie die sozialen und geschichtlichen Zusammenhänge dieses Lebens unerforscht läßt.

Stalin brauchte Mitmenschen, um sie zu quälen. Was er jetzt in der arktischen Einsamkeit anderen Menschen­wesen nicht antun konnte, mußte die Tierwelt erdulden, und dort mangelte es nicht an Wild und Fisch. Wer aber wie Stalin aus einem der landschaftlich schönsten Gebiete der Erde stammte, mußte das Gefühl haben, in einer ihm von der Natur gestellten Falle zu stecken. Die Bestätigung dafür finden wir in seinem einzigen persönlich gehaltenen Brief aus jener Periode. Das Schreiben ist an Olga Allilujewa, die in St. Petersburg lebende Mutter seiner künftigen Frau, gerichtet:

Vielen, vielen Dank, meine teuere Olga Jewejewna, für die gütigen und aufrichtigen Gefühle mir gegenüber. Ich werde Ihre Aufmerksamkeit nie vergessen. Ich erwarte den Augenblick, wo ich wieder frei sein werde, und sobald ich in Petersburg bin, werde ich Ihnen und Sergej (Olgas Mann) für alles danken, was Sie getan haben. Aber ich muß mich noch zwei weitere Jahre gedulden. Ich habe das Paket erhalten und weiß es zu würdigen. Ich habe nur eines erbeten. Bitte geben Sie nichts mehr für mich aus — Sie brauchen das Geld selber. Ich werde glücklich sein, wenn Sie mir ab und zu eine Ansichtskarte mit einer Landschaft senden.

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Die Natur in diesem verfluchten Land ist häßlich und karg — im Sommer der Fluß, im Winter der Schnee — das ist alles an Naturschönheit. Ich bin ganz krank vor Sehnsucht nach einer Landschaft, und wenn sie nur auf dem Papier ist ... Ich lebe wie bisher und fühle mich wohl. Meine Gesundheit ist in Ordnung. Allmählich gewöhne ich mich an den Ort. Die Natur ist streng hier — vor drei Wochen hatten wir 45 Grad Kälte.... 47)  

Diese Klage zeigt, wie Stalin seine Überlebenschancen in der sibirischen Öde einschätzte und daß er ausschließlich auf seine physische Selbsterhaltung bedacht war. Er hatte übrigens reichlichen Grund, an seinen guten Stern zu glauben, denn er war das jüngste, einzig überlebende von vier Kindern seiner Eltern. Mit knapp elf Jahren geriet der Junge in Todesgefahr, als er sich infolge einer Verletzung eine Blutvergiftung zuzog. Resultat dieses Unfalls war ein verkrümmter linker Ellbogen. Ich weiß nicht, erzählte er später, was mir das Leben rettete ... Entweder mein gesunder Organismus oder die Salbe, die mir der Dorfbader darauf schmierte, aber jedenfalls wurde ich wieder gesund. 48) 

Dank dieser Verkrüppelung wurde er Ende 1916, als die russische Armee angesichts der schweren Verluste an den Fronten nach frischem Kanonenfutter Umschau hielt, vom Kriegsdienst befreit. Ein anderer, an Lenin gerichteter Brief aus der Verbannungszeit spiegelt Stalins bissig-aggressive Überheblichkeit wieder, wie folgender Auszug zeigt:

Ich lebe wie zuvor, kaue mein Brot, die Hälfte meiner Zeit ist herum. Es ist langweilig hier, aber da kann man nichts machen. Wie stehen die Dinge bei Ihnen? Da, wo Sie sind, muß es abwechslungsreicher sein ... Ich habe vor kurzem Kropotkins Artikel gelesen – der alte Narr hat vollständig den Verstand verloren. Ich habe auch den kurzen Artikel von Plechanow in «Rjetsch» gelesen – ein unverbesserlicher alter Schwätzer. O je!

Und die Liquidatoren mit ihren Deputierten als Agenten der Freien Wirtschafts­gesellschaft! Und niemand da, um ihnen eins auf die Schnauze zu geben, zum Teufel damit! Ist es möglich, daß sie ungestraft davonkommen? Hoffentlich erleben wir bald die Freude, daß eine Zeitung erscheint, wo man diesen Leuten nach Herzenslust ins Gesicht schlägt, unaufhörlich ... 

PS. Timofej Spandarjan bittet, Guesde, Sembat und Vandervelde seine süßsaueren Glückwünsche zu übermitteln für ihre glorreichen — ha! ha! — Ministerposten. 49) 

Wir dürfen annehmen, daß der Einsame in seinem Verbannungsort auf seine Lehrlings- und Gesellenzeit im Dienste der Revolution Rückschau hielt und wahrscheinlich bedauerte, daß er es noch nicht zum Meister gebracht hatte. Von den zwölf Jahren, die er der Bewegung gewidmet hatte, wurde ihm, wie gesagt, fast die Hälfte durch Gefangenschaft und Verbannung geraubt. Nun war er wiederum behindert, seinem eigentlichen «Beruf» nachzugehen. Ob er in Sibirien eine Fortsetzung zu seiner Arbeit über die nationale Frage geschrieben hat, ist unbewiesen. 

Was ihn sicherlich wurmte war der Gedanke an das Los des im Inland agitierenden Parteifunktionärs, verglichen mit dem der Emigrations-Bolschewiki, Lenin inbegriffen.

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Wassilij Stalin, 
Sohn aus der zweiten Ehe.

Im Zweiten Weltkrieg 
Kommandeur des 
Moskauer Luftwaffenbezirks

 

Aus einer früheren Deportationszeit haben sich zwei Briefe erhalten, worin Koba eine wichtige Etappe seiner Lehrlingszeit überdachte, in dem Bewußtsein, an einem Wendepunkt seiner revolutionären Laufbahn zu stehen. Lenin hielt sich damals in fast totaler Isolierung in Paris auf, nachdem sich «in den Jahren der Reaktion» alle seine Bestrebungen, eine eigene Parteiorganisation vom «neuen Typus» zu schaffen, gescheitert waren. Zwischen ihm und Plechanow war es vorübergehend zu einer Verständigung gekommen.

Unter den eigenen Freunden vollzog Lenin eine Säuberung, die 1909 mit seinem Pamphlet «Materialismus und Empiriokritizismus» auf philosophisch-kritischer Ebene durchgeführt wurde und praktisch seine ganze Anhänger­schaft auf eine Ein-Mann-Sekte reduzierte. Koba-Stalin (er zeichnete damals mit den Initialen K.S.) hielt den Augenblick für günstig, Lenin seine Dienste anzubieten. Die Allianz zwischen Lenin und Plechanow, so ließ er einen dem Fraktionschef nahestehenden Bolschewiken wissen, entspreche den wirklichen Interessen der Arbeit in Rußland; dadurch seien die Liquidatoren (Martow und seine Freunde) tödlich getroffen und der Kampf sei schließlich eine wichtige Etappe auf dem Wege zur Wiedergeburt der Partei.

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Und nun eine unverhüllte Schmeichelei: In dem Plan des Blocks (Lenin-Plechanow) sieht man die Hand Lenins — er ist ein kluger Mann und weiß, wo Bartel den Most holt. Dagegen sei der trotzkistische Block — gemeint ist die Gruppe, die sich um Trotzkis in Wien gegründete Zeitung «Prawda» scharte — faule Prinzipienlosigkeit.

Nach dieser Abfertigung dessen, was er verächtlich das Ausland nannte, ging Koba zum eigentlichen Zweck seines Briefs über: Aber das ist nicht alles und nicht einmal die Hauptsache. Die Hauptsache ist die Organisierung der Arbeit in Rußland. Die Geschichte unserer Partei zeigt, daß die Fragen der Meinungs­verschiedenheiten nicht in Debatten, sondern hauptsächlich im Laufe der Arbeit, im Laufe der Anwendung der Prinzipien, gelöst werden. Deshalb ist es die Aufgabe des Tages, die Arbeit in Rußland um ein streng bestimmtes Prinzip zu organisieren. Während die Menschewiki mit ausgezeichnetem Spürsinn es verstehen, sich in den legalen Arbeiter­organisationen einzunisten, wozu ihnen ihr illegales Zentrum verhilft, verharren die Bolschewiki im Stadium der Vorbereitungen und der Proben.  

 

Soweit der ungeniert kritische Teil des Briefs. Was nun folgt ist ein trotz seiner Kürze vielsagendes Organisationsprojekt, das vermutlich Lenins weitere Parteipläne entscheidend bestimmt hat: Nach meiner Meinung ist unsere erste Aufgabe, die keine Verzögerung duldet, die Organisierung einer zentralen (russischen) Gruppe, die die illegale, halblegale und legale Arbeit koordiniert ... Nennen Sie diese Gruppe, wie Sie wollen – «russische Abteilung des Zentralkomitees» oder Hilfsgruppe des ZK – das ist einerlei, aber eine solche Gruppe ist notwendig wie die Luft oder das tägliche Brot ...  

Hier kommt «K.S.» auf sich selbst zu sprechen, ohne mit offenen Karten zu spielen: Mir bleiben noch sechs Monate abzusitzen. Dann kann ich den Dienst wieder aufnehmen. Wenn der Bedarf an Parteiarbeitern sehr dringend ist, kann ich hier auch sofort verschwinden.50 Zwischen den Zeilen kann man Kobas Absicht erraten, selber Kandidat für den neuen wichtigen Posten zu sein.

 

Viel offener als im vorigen Brief bringt Koba-Stalin seine Geringschätzung aller Emigrations­sozialisten in einem anderen Schreiben zum Ausdruck. K. S. lebt bereits in der Gewißheit, nach Ablauf der Verbannungs­frist in Solwytschegodsk in eine der beiden bolschewistischen Zentralen berufen zu werden. Nun kommt der Frontalangriff des Lehrlings auf das Ausland, ohne dem «Meister» besondere Achtung zu erweisen:

Von dem «Sturm im Wasserglas» im Ausland haben wir natürlich gehört. Auf der einen Seite der Block Lenin—Plechanow, auf der andern der Block Trotzki–Martow–Bogdanow. Die Haltung der Arbeiter dem ersten Block gegenüber ist günstig, soviel ich weiß. Aber im allgemeinen fangen die Arbeiter an, mit Verachtung auf die Emigranten herabzusehen, und sagen: «Sollen die doch die Wände hinaufklettern, wenn ihnen der Kopf danach steht; wir aber denken, wer sich die Interessen der Bewegung zu Herzen genommen hat, soll etwas tun; der Rest wird schon von selber kommen.» Und das, denke ich, ist auch das Beste. 51) 

Der spätere erste Präsident der Sowjetrepublik, Jakow M. Swerdlow, der kurze Zeit mit Stalin in der Turukanser Verbannung zusammen wohnte, schilderte seinen Exilgenossen als einen «guten Jungen», aber viel zu sehr «Individualist im Alltagsleben».52) Damit meinte er wohl Stalins unkameradschaftliches Verhalten. Swerdlow ahnte jedoch nicht, daß dieser krankhafte Hang zum Alleinsein Ausdruck einer seelisch-affektiven Verwaisung war.

Es ist überhaupt kein Anzeichen dafür vorhanden, daß der Verbannte selbst je über das Verhältnis zu seiner noch lebenden Mutter, zu seinem Sohn Jascha oder gar zu seinem verstorbenen Vater nachgedacht hat. Die seelische Leere, die er durch den Mangel an menschlichen Beziehungen empfinden mußte, hat er wohl nur dadurch überwinden können, indem er sie durch eine ambivalente Gefühlsbeziehung zur Person Lenins, seinem geistig-politischen Vater, ersetzte, eine Beziehung, die bis zu Lenins Lebensende im Zeichen der Haß-Liebe stand. Später sollte diese innerliche Leere zum Verhängnis des duldsamen Sowjetvolks werden, an dem sich der paranoide Diktator für seine schweren Frustrationen rächte. 

Als K. S. aus dem letzten sibirischen Exil zog, um dort anzuknüpfen, wo er aufhören mußte, beschritt er zwangsläufig einen Weg, der ihn durch die geistige Identifizierung mit dem Parteivater zu seiner eigenen Vaterrolle führen sollte.

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