5 Die Revolution und ihre Meister
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Im Februar 1917 begann die russische Revolution als eine spontane Volks- und Massenbewegung und setzte sich als solche während der nächsten acht Monate fort. Im Oktober desselben Jahres wurde sie von einer aus Berufsrevolutionären bestehenden Partei aufgefangen; ihr Fortgang wurde durch Bürgerkrieg und Wirtschaftskatastrophe autoritär eingedämmt, bis sie schließlich in der von Lenin erfundenen Zwangsjacke des sogenannten Sowjetstaats erstickte. Im März 1922 bekundete Lenin:
«Jahrhundertelang sind die Staaten nach dem bürgerlichen Typus gebaut worden, und zum erstenmal ist die Form eines nichtbürgerlichen Staates gefunden worden. Vielleicht ist unser Apparat schlecht, aber man sagt, daß die erste Dampfmaschine, die erfunden wurde, auch schlecht war... Doch nicht darauf kommt es an, sondern darauf, daß die Erfindung gemacht worden ist.» (53)
Im Gegensatz zu dieser Denkweise lehrt das Marxsche materialistische Geschichtsverständnis, daß Staatsformen und Staatsapparate niemals «erfunden» werden, sondern als politische Instrumente herrschender Klassen und Eliten aus den gesellschaftlichen Klassen-Antagonismen herauswachsen; ihre Aufgabe ist es, als verselbständigte Machtinstitutionen die Interessen der wenigen zum Schaden der vielen zu wahren und zu fördern.
Im System der Sowjets, den selbsttätigen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten, entdeckte Lenin den archimedischen Stützpunkt für seinen Partei- und Staatshebel, mit dem er nicht Rußland aus den Angeln hob, sondern die schöpferische revolutionäre Kraft der russischen Volksmassen aus ihrer selbstgewählten Bahn warf und sie dem Partei-Ego machtgieriger Politiker und Bürokraten zuspielte.
Stalins Aufstieg im Machtapparat vollzog sich seit der Februar-Revolution in mehreren Etappen. Zwischen seinem Eintreffen in St. Petersburg und Lenins Rückkehr verstrichen kaum drei Wochen, aber sie genügten ihm, sich sowohl der Redaktionsleitung der bolschewistischen «Prawda» wie auch der bolschewistischen Parteiführung zu bemächtigen. Gegen die linksgerichteten Bolschewiki (Molotow, Schljapnikow u.a.), die der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft das Wort redeten, verfocht er mit dem gleichzeitig aus dem Exil eingetroffenen Leo B. Kamenew die These eines Burgfriedens mit der Provisorischen Regierung, ja selbst einer bedingten Unterstützung derselben.
Stalin war trotzdem der erste Bolschewik, der unabhängig von Lenins April-Thesen die revolutionäre Bedeutung der Sowjets erkannte und ihre Verwandlung in ein Staatsorgan für möglich und notwendig hielt: Ein solches Organ kann einzig und allein der Allrussische Rat der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten sein. Das ist die erste Bedingung für den Sieg der russischen Revolution.54
Hier war, wie Oskar Anweiler treffend bemerkt, eine «Brücke zu den Leninschen April-Thesen» geschlagen, «denen sich Stalin – im Unterschied zu Kamenew – rasch anschloß»55. Dies dürfte ihm jedoch nicht so leicht gefallen sein, denn vorher hatte er es gewagt, Lenins «Briefe aus der Ferne» teils verstümmelt abzudrucken, teils zu unterschlagen.
Die Forderung des Parteiführers, sich jeder Unterstützung der Provisorischen Regierung zu enthalten und von jeder Allianz mit anderen sozialistischen Parteien und Gruppierungen abzusehen, erschien allen ebenso ketzerisch wie unpolitisch. Wie die große Mehrzahl der Parteifunktionäre fand Stalin Lenins Revolutionskonzept überstürzt; das Kleinbürgertum durfte nicht vor den Kopf gestoßen werden; es galt, Zeit zu gewinnen, da die Provisorische Regierung auf die Sympathie bedeutender Gesellschaftsschichten rechnen konnte.
Als Stalins Biograph zieht es Trotzki vor, ein abfälliges Urteil über seinen «plebejischen Demokraten» zu fällen, statt auf die Zusammenhänge einzugehen.56 Im Licht des eigenen Schicksals hätte der Exilierte diese durch seine Ermordung unterbrochene Kritik revidieren müssen. Wie kein anderer wußte er, daß Stalin im «Morast des Opportunismus» versank, sobald er spürte, daß die Allianz mit Lenin ihn nicht unbedingt zu seinem gesteckten Ziel, der «Einzige» im Apparat zu werden, führen würde.
So verschwand Stalin einfach von der historischen Bühne in den entscheidenden Momenten des unkalkulierbaren revolutionären Prozesses: dies war seine Art, sich unbehelligt für die «Zukunft» zu reservieren und seine Machtchancen intakt zu bewahren.
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Aus einem Brief Stalins vom 5. Mai 1922: über die Gründung der «Prawda» im Jahre 1912
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Nach seiner Wahl ins ZK im April 1917, und selbst nachdem er ins Politbüro des ZK und ins Zentralexekutivkomitee der Sowjets (Mai bis Juni 1917) aufgenommen wurde, zeigte er sich nur selten auf dem revolutionären Schauplatz. Der bedeutendste Chronist jener Periode, Nikolaj N. Suchanow, konnte demnach von ihm schreiben: «Während der Zeit seiner bescheidenen Tätigkeit... machte er – und nicht nur auf mich allein – den Eindruck eines grauen Flecks, der gelegentlich auftaucht und dann wieder verschwindet. Mehr ist wirklich nicht über ihn zu sagen.»57
Und doch verstand es der unauffällige und unscheinbare Apparatschik, sich auf zwei Gebieten zunächst rein «theoretisch» zu verhalten: dem der nationalen Angelegenheiten und dem der Machtergreifung. Was Stalin anstrebte konnte er nur durch stetiges Sichanpassen und auf berechneten Umwegen erreichen.
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Seine Reden und Referate auf der VII. Allrussischen Konferenz der Partei zeugen aber ebensosehr von sachlichen Kenntnissen wie von politischer Duplizität — Qualitäten, die ihm Lenin bestimmt hoch anrechnete, als er ihm nach dem «Großen Oktober» das Volkskommissariat für nationale Angelegenheiten anvertraute.
Bevor es soweit war, vertrat Stalin in einem Referat über die nationale Frage den Standpunkt: ....je demokratischer ein Land ist, desto schwächer ist die nationale Unterdrückung, und umgekehrt, eine Formulierung, die der Partei dienlich war, ebenso wie die folgende subtile Unterscheidung: Die Frage des Rechts der Nationen auf freie Lostrennung darf nicht mit der Frage verwechselt werden, ob sich eine Nation zu diesem oder jedem Zeitpunkt unbedingt lostrennen muß, denn diese Frage muß von der Partei des Proletariats in jedem einzelnen Fall vollkommen selbständig, je nach der gegebenen Situation entschieden werden.
Als Beispiel führte der kaukasische, ehemals patriotische Referent die mögliche Lostrennung Transkaukasiens an. Persönlich sei er zwar dagegen, wenn aber die Völker Transkaukasiens die Lostrennung dennoch verlangen, so würden sie sich natürlich lostrennen und von unserer Seite nicht auf Widerstand stoßen58). Ahnte der künftige Volkskommissar für nationale Angelegenheiten, daß er einst jenen nach Unabhängigkeit ringenden Völkern seinen persönlichen Willen sowie den Entschluß des gesamten Politbüros aufzwingen würde?
Sowohl Lenin wie auch Trotzki, als Teil der «kollektiven» Parteiführung, verhalfen dem talentierten Organisator zu seinem Triumph, doch war die eigentliche Volksmacht, nämlich die Sowjetbewegung, daran völlig unbeteiligt. Von dieser hatte sich Stalin genau wie Lenin losgesagt, als er merkte, daß die Arbeiter- und Soldatenräte in den Hauptzentren des Landes sich nicht zu gefügigen Werkzeugen der bolschewistischen Funktionärspartei erniedrigen lassen wollten.
Seinem durch die Juli-Ereignisse verärgerten Lehrmeister nachsprechend, argumentierte er wie folgt: Dürfen wir bei der alten Losung bleiben: «Alle Macht den Sowjets»? Selbstverständlich nicht. Den Sowjets, die in Wirklichkeit Hand in Hand mit der Bourgeoisie gehen, die Macht übergeben, hieße den Feinden in die Hände arbeiten. 59)
Im Oktober hatten sich die Bolschewiki wieder mit den Sowjets versöhnt, so daß Stalin geschickt die alte Losung mit Lenins Zauberformel ergänzen konnte: Die Macht den Sowjets — das bedeutet die Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauernschaft. 60)
Dem Machtanspruch der Partei gemäß modifizierten sie die «veraltete» ehemalige Losung: Wir sind unbedingt für die Sowjets, in denen wir die Mehrheit haben, und wir werden bestrebt sein, solche Sowjets zu schaffen. Aber die Macht an diejenigen Sowjets auszuliefern, die ein Bündnis mit der Konterrevolution schließen — das dürfen wir nicht.61)
Das Geheimnis der Parteitaktik konnte der hintergründig agierende Parteikader nicht deutlicher aussprechen.
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Stalin 1917
«Es
gibt einen dogmatischen und einen schöpferischen Marxismus. Aus Stalins Rede auf dem VI. Parteitag der SDAPR am 3. August 1917 |
«Stalin ist von Natur aus faul. Wenn nicht seine persönlichen Interessen direkt im Spiel sind, ist er unfähig, mit Volldampf zu arbeiten. Er zieht es dann vor, seine Pfeife zu rauchen und seine Zeit abzuwarten.»62) Gleichzeitig bezeichnet Trotzki seinen Gegner als einen «Empiriker», der es verstand, «im Apparat» eine Arbeit von schwerster Verantwortung zu leisten, womit der rührig-effekthaschende Volkstribun gesteht, daß Stalins «Faulheit» wohl auch auf «Berechnung» beruhen konnte.
Seine Abwesenheit von wichtigen Sitzungen des ZK — so zum Beispiel am entscheidenden 24. Oktober im Smolny, dem Hauptquartier des revolutionären Militärkomitees — beweist eben, daß Stalin von der Machthysterie des Führers nicht angesteckt war. Am Vorabend des Oktober-Aufstands hoffte Stalin eher auf eine «friedliche» Machtübernahme durch das vereinigte und energische Vorgehen der Sowjets als Repräsentanten des «Volkswillens».63)
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Die Oktoberrevolution 1918: Lenin und Stalin. Gemälde von E. Kibrik |
6 Ein multiplizierter Kommissar
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«Eine Sowjetrepublik? Leere Worte. In Wahrheit ist es eine oligarchische Republik, eine Republik einiger Volkskommissare. Worin haben sich die lokalen Sowjets verwandelt? In unfreie, untätige Anhängsel der bolschewistischen <Kriegsrevolutionskomitees> oder von oben ernannter Kommissare.» 64)
Was hier bei Gorki vernichtende Anklage war, empfanden Lenin und der gesamte Rat der Volkskommissare als historischen Auftrag zur Beglückung der arbeitenden Volksklassen.
Ähnlich dachte Trotzki, «daß die Diktatur der Sowjets nur möglich geworden ist mittels der Diktatur der Partei»65. Nach Lenins marxistischem Partei-, Staats- und Revolutionsverständnis wurde nun der Sozialismus als Sache einer Manager-Elite aufgefaßt. Als erster Schritt der neuen Macht ergab sich der schonungslose Kampf «gegen die Reichen und ihre Kostgänger, die bürgerlichen Intellektuellen, gegen die Gauner, Rowdys und Müßiggänger»66. Zur Schaffung der «sozialistischen» Gesellschaftsform bedurfte es vor allem einer disziplinierten, fleißigen, gut ausgebildeten und in erster Linie gehorsamen Arbeitermasse.
Und «da der Russe ein schlechter Arbeiter [ist] im Vergleich mit den fortgeschrittenen Nationen», so empfahl es sich zum Zwecke der Produktivitätssteigerung die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften, «alle Fortschritte» des Kapitalismus, sich zu eigen zu machen. Das Taylorsystem wurde dem Sowjetproletariat dringend empfohlen und den «sozialistischen» Verhältnissen «angepaßt», wozu noch die Pflichten des Arbeitsdiensts, der Rechnungsführung und der Produktionskontrolle hinzukamen. Es ging darum, den Kampf des «sozialistischen Bewußtseins gegen die bürgerlich-anarchistische Spontaneität» zu organisieren.67)
Je schwerer das nötige Parteipersonal für einen so ehrgeizigen Aufbauplan zu beschaffen war, desto unumgänglicher wurde es für Lenin, einen Parteifunktionär vom Kaliber eines Stalin in Funktionen zu verwenden, wo es weniger auf Fachkenntnisse als auf sturen Autoritätssinn ankam. Zum Volkskommissar für das Nationalitätenwesen von Lenin auserkoren, wurde Stalin, diese «Gestalt zweiten Ranges», vom gesamten Zentralkomitee zu anderen wichtigen Funktionen verwendet. Denn hinter ihm stand Lenin, der «seine Entschlossenheit, seinen Mut, seine Hartnäckigkeit, ja, bis zu einem gewissen Grade seine Verschlagenheit als für den Kampf notwendige Eigenschaften schätzte».68) Lenins Menschenkenntnis wird hier von Trotzki bezeugt, der damit ahnungslos seine eigene Einschätzung von Stalins Talenten vermittelt.
Die einfache Aufzählung der von Stalin während der ersten Jahre der Sowjetmacht erworbenen und ausgeübten Funktionen verdeutlicht in einer Person die von Lenin gerühmte Konzentration der Parteimacht: Im Oktober 1917 zum Mitglied des Allrussischen Zentralexekutivkomitees (ZEK) gewählt und vom II. Sowjetkongreß als Volkskommissar für nationale Angelegenheiten bestätigt, erscheint Stalin im November neben Lenin, Trotzki und Swerdlow im sogenannten Viererkomitee, ein vom ZK gebildetes Büro zur Regelung außerordentlicher Angelegenheiten.
Im Dezember, während Lenin im Urlaub ist, agiert er als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Im Januar 1918 wird er Mitglied der Kommission für Ernährungspolitik, im Februar Mitglied des Exekutivkomitees der Regierung neben Lenin und Trotzki. Im April wird er vom ZEK in die Kommission zur Ausarbeitung eines Entwurfs der ersten Verfassung der Russischen Sowjetrepublik gewählt. Im Mai ernennt ihn der Rat der Volkskommissare zum Leiter der Lebensmittelbeschaffung in Südrußland mit außerordentlichen Vollmachten.
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Stalin als Kommissar, 1919
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Im Juli an der Spitze des Nordkaukasischen Militärbezirks, im September Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrats an der Südfront, wird er im Oktober sowohl Mitglied des Revolutionären Kriegsrats der Republik wie auch des ZK der KP(B) der Ukraine. Im März 1919 nimmt er als Delegierter der KPR(B) an den Arbeiten des I. Kongresses der Kommunistischen Internationale (Komintern) teil. Im selben Monat ernennt ihn der VIII. Parteitag zum Mitglied der Kommission für die Abfassung des Parteiprogramms, während er vom ZK als Mitglied des Politbüros und des Orgbüros bestätigt wird.
Dadurch erhält er Zugang zu den beiden Machtinstanzen der Partei, die praktisch über das Schicksal des Landes auf sämtlichen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens zu entscheiden haben. In diesem März häufen sich die Machtbefugnisse des an fast allen Fronten des Bürgerkriegs entsandten Volkskommissars. Nun wird ihm auch die Leitung eines Amts mit dem vielsagenden Namen «Staatliche Kontrolle» anvertraut, was die steigende Hierarchiekurve des «Unentbehrlichen» ausreichend dokumentiert.
Die Säuberung der Partei und der Staatsbürokratie von parasitären Elementen lag Lenin ebenso sehr am Herzen wie die Steigerung der Arbeitsproduktivität in der durch den Bürgerkrieg völlig zerrütteten Wirtschaftsordnung. Deshalb zögerte er nicht, auf der Suche nach einem mit magischer Allgegenwart begabten Mitarbeiter Stalin Fähigkeiten zuzutrauen, die sonst keiner aus seinem unmittelbaren Kreis aufzuweisen hatte. Mit der Umtaufung der Staatlichen Kontrolle in «Arbeiter- und Bauerninspektion» wurde das Wirkungsgebiet des Doppelkommissars deutlich umrissen.
Es versteht sich, daß er in der Gewerkschaftsfrage ein gewichtiges Wort mitzureden hatte. Die Machtbefugnis der Arbeiterkontrolle stieg in direktem Verhältnis zur Abnahme der Kontrolle der Arbeiter in den Industriebetrieben an.
Was das militärische Talent Stalins betrifft, so genügt ein Vergleich zwischen den Einschätzungen, wie sie von ihm selbst der Historiographie eingeredet wurden, und den Berichtigungen aus der nachstalinschen Periode, um zum Schluß zu kommen, daß Trotzkis abwertende Beurteilung jener Gaben im großen und ganzen stimmen.69) Dennoch muß bestritten werden, daß ihm die Auszeichnung mit dem Orden des «Roten Banners» — nach dem Muster des entwickelteren Bürgertums — nicht gebührt hat. Allerdings lagen seine Verdienste weniger auf dem eigentlichen Gebiet der Kriegführung als im Bereich der schonungslosen Maßregelung undisziplinierter Waffenträger jeden Rangs. Lenin, der Stalins Mängel kannte, bildete sein Gesamturteil im Hinblick auf das größere Ziel, das er sich und seiner Partei gesteckt hatte:
«Stalin organisierte die Massen der Parteimitglieder und der Arbeiter, nahm die Führung in seine festen Hände; auf die Massen gestützt, brach er schonungslos die Sabotage, unterdrückte mit eiserner Hand die Verschwörungen der Verräter und Spione im Hinterland und an der Front.»70
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Stalins Leistungen als Volkskommissar für das Nationalitätenwesen kann man in der paradoxen Formel zusammenfassen, daß es ihm gelang, beinahe jede verfassungsmäßig garantierte Lostrennung der Völker Rußlands zu unterbinden, indem er sie zwang, sich im Rahmen des Sowjetstaats als «unabhängige» Nationen zu konstituieren. War «auf diesem Gebiet... Stalin für Lenin ein unersetzlicher Helfer», wie Trotzki meint,71) so darf man nicht übersehen, daß sich der Parteiführer oft über den «großrussischen Chauvinismus» seines Helfers zu beklagen hatte.
Stalin, dessen Kommissariat für die Nationalitäten die zaristische Tradition der Russifizierung hochhielt, glaubte stärker als Lenin an die revolutionäre Sendung der Orientvölker innerhalb des Sowjet-Imperiums und jenseits seiner Grenzen. Vergeßt den Osten nicht ! hieß ein Artikel, in dem Stalin behauptet, daß ohne revolutionäre Bewegung im Osten an einen Sieg des Sozialismus unmöglich zu denken sei, eine das Marxsche Postulat der Priorität des Westens negierende These.72) Sein geheimes Sinnen hatte der «Asiate» — als solcher wird er sich später offen bezeichnen — noch vor dem Oktober verraten, als er die Möglichkeit erwog, daß gerade Rußland das Land sein wird, das den Weg zum Sozialismus bahnt ... Man muß die überlebte Vorstellung fallenlassen, daß nur Europa uns den Weg weisen könne. 73)
Dabei vergaß Stalin nicht, seine ketzerisch anmutende These mit dem Geständnis zu verteidigen, daß er auf dem Boden des schöpferischen Marxismus stehe und den dogmatischen Marxismus ablehne.
Die Möglichkeit der Lostrennung für die russischen Völker ist Phrase geblieben und wird um so sinnloser werden, als Stalins Beglückungspolitik die Form des reinen Sowjetimperialismus Westeuropa gegenüber annimmt. Inzwischen war sein Hauptinteresse der Osten: Eine Zitadelle der Sowjetmacht im Osten zu bauen, einen sozialistischen Leuchtturm in Kasan und Ufa, in Samarkand und Taschkent zu errichten, der den Weg zur Befreiung der gepeinigten Völker des Ostens erhellt — das ist die Aufgabe. 74)
In seinen Zeitungsaufsätzen war die latente Brutalität des allgegenwärtigen Kommissars zu erraten, besonders dort, wo der einstige Seminarist, jetzt sendungsbewußter Befreier der Ost- und Westvölker, sich zu Phrasen wie diesen verstieg:
Rußland könnte, die bekannten Worte Luthers abwandelnd, sagen: «Hier stehe ich an der Grenze zwischen der alten, kapitalistischen und der neuen, sozialistischen Welt, hier an dieser Grenze vereinige ich die Anstrengungen der Proletarier des Westens mit den Anstrengungen der Bauernschaft des Ostens, um die alte Welt zu zerschlagen. Der Gott der Geschichte möge mir helfen.» 75)
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7 Die letzte Metamorphose
In der Debatte über die «Militarisierung der Wirtschaft», die die Probleme der Organisierung wie auch die Gewerkschaftsfrage aufs Tapet brachte, spielte der als Volkskommissar für Transportwesen fungierende Trotzki die Hauptrolle. Getreu seiner Kulissentaktik blieb Stalin der Tribüne fern, obwohl ihn die Thesen der Opposition direkt betrafen. Denn wie wir aus dem Mund einer leitenden Gestalt der Arbeiteropposition, Alexandra M. Kollontaj, vernehmen, «... der Streit geht im Grunde genommen darum, ob wir den Kommunismus von den Arbeitern oder über ihre Köpfe hinweg von den Sowjetbeamten verwirklichen lassen».76)
Die innerparteiliche Opposition tauchte bereits im Frühjahr 1918 auf, aus Protest gegen einen Kurs auf zentralisierte Industrieverwaltung; 1920 und 1921 kam noch der Widerstand gegen die Verschmelzung der Gewerkschaften mit dem Apparat der allgemeinen Verwaltung hinzu. Damals war der Opposition volle Freiheit der Kritik gestattet, und so wandte sich der Metallarbeiter Timofej W. Sapronow an den «Genossen Lenin» mit folgender Frage:
«Wer wird denn das Zentralkomitee nominieren? Übrigens herrscht auch hier die Ein-Mann-Leitung. Auch hat man einen einzelnen zum Führer ernannt. Offensichtlich wird es bei uns nicht soweit kommen, aber wenn es soweit kommt, dann ist die Revolution verloren.»77)
Obwohl Lenins Autorität vielfach bestritten wurde, hüllte sich Stalin vorsichtig in ein mysteriöses Schweigen, veröffentlichte jedoch zu Lenins 50. Geburtstag einen gewollt zweideutigen Aufsatz, ohne das zentrale Problem jener Periode, das der Beziehungen zwischen der russischen Arbeiterschaft und der sogenannten proletarischen Diktatur, zu berühren. Es war ein politisches Meisterstück und offensichtlich als ein Plädoyer pro domo gedacht, als der Gratulant auf Lenins Hauptverdienste um die russische Revolution hinwies: ... daß er die Hohlheit der historischen Parallelen der Menschewiki und die ganze Gefährlichkeit des menschewistischen «Revolutionsschemas», das die Sache der Arbeiter bedingungslos der Bourgeoisie preisgibt, bis auf den Grund bloßgelegt hat.
Kurz berührt er das Thema der Anforderungen, die das Proletariat an seinen Führer stellt, läßt die Namen Lassalle, Blanqui, Plechanow und Kautsky Revue passieren, die entweder Männer der Praxis oder Männer der Theorie waren, jedoch nicht beide Tugenden verbanden. Dies war nur Lenin vergönnt, von dem Axelrod, als er noch Marxist war, wußte, daß er die Erfahrung eines guten Praktikers mit theoretischer Bildung und weitem politischen Gesichtskreis in sich vereint.
Der Schluß des Artikels ist ein Wink mit dem Zaunpfahl: Wir... die wir Lenin aus nächster Nähe kennen und die Sache objektiv zu betrachten vermögen, zweifeln nicht daran, daß Lenin diese seine alte Eigenschaft vollkommen bewahrt hat. Darin ist, unter anderem, die Erklärung der Tatsache zu suchen, daß Lenin, und gerade er, heute der Führer der stärksten und gestähltesten proletarischen Partei der Welt ist — der von Stalin gestählten Kommunistischen Partei Rußlands! 78)
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Der Bürgerkrieg war für Stalin die vierte, entscheidende Feuertaufe gewesen, bei der er das Handwerk erlernte, das er später als Generalsekretär zur Vollkommenheit entwickeln sollte. Inzwischen brauchte er noch einige Jahre stiller Maulwurfsarbeit, um im rechten Augenblick an der rechten Stelle zu erscheinen und die Leninsche Führerposition als einzig legitimer Erbe zu beanspruchen. Während der Schulzeit des Bürgerkriegs hat er in enger Zusammenarbeit mit dem Chef der politischen Geheimpolizei (Tscheka), Felix E. Dserschinski, alle erforderlichen Techniken erlernt, um zuerst als Volkskommissar für Arbeiter- und Bauerninspektion, später als Parteisekretär die gesamte Sowjetgesellschaft mittels des von Lenin erfundenen Parteiapparats in den Griff zu bekommen. Auch an Schauprozessen fehlte es damals nicht, deren erzieherische Wirksamkeit bereits erkennbar war, obgleich nur Stalin den potentiellen Nutzwert falscher Geständnisse und monströser Selbstbezichtigungen zu ermessen vermochte. 79)
Es ging Stalin darum, die Autorität seines im Bürgerkrieg zum Weltruhm aufgestiegenen Rivalen Trotzki zu untergraben. Dieser bestrebte sich, seine Militarisierungsstrategie einschließlich der Methoden streng hierarchischer Leitung und Planung auf den Bereich des wirtschaftlichen Aufbaus zu übertragen. Um sich provisorische Verbündete innerhalb der antitrotzkistischen Opposition zu verschaffen, verstand es Stalin, sich als Anhänger von Guerillataktiken und als unentwegter Beschützer der Arbeiter und Bauern aufzuspielen. Wie er ehemals Trotzki eine schöne Überflüssigkeit80) genannt hatte, so spottete er über das unnötige Wortgeprassel des nun als Leiter des Transportwesens fungierenden Kriegskommissars:
Trotzkis Fehler besteht darin, daß er den Unterschied zwischen Armee und Arbeiterklasse unterschätzt, die militärische Organisation und die Gewerkschaften auf die gleiche Stufe stellt und — wohl aus Gewohnheit — versucht, die militärischen Methoden aus der Armee auf die Gewerkschaften, auf die Arbeiterklasse zu übertragen.
Nachdem die Mehrheit des ZK, mit Lenin an der Spitze, Trotzkis Plan der systematischen Anwendung von «Kriegsmethoden» in der Wirtschaft abgelehnt hatte, konnte Stalin nachträglich seiner Demagogie freien Lauf lassen und die Methoden des Zwangs und der «Durchrüttelung» der Gewerkschaften von oben verwerfen. Nachdem Trotzki für den Einschluß der Gewerkschaften in den staatlichen Verwaltungsapparat eintrat, argumentierte Stalin in der Pose des Kulturträgers:
Die RSFSR und die mit ihr verbündeten Republiken haben jetzt eine Bevölkerung von etwa 140 Millionen. Davon sind 80 Prozent Bauern. Um ein solches Land regieren zu können ... ist es notwendig, die Bewußtheit, die Selbsttätigkeit und die Initiative der Arbeiterklasse systematisch zu entwickeln, ist es notwendig, die Arbeiterklasse systematisch im Geiste des Kommunismus zu erziehen, sie dazu in Gewerkschaften zu organisieren und zum Aufbau der kommunistischen Wirtschaft heranzuziehen.81)
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Das Jahr 1921 ist ein bedeutender — wenn nicht der bedeutendste — Wendepunkt im Entwicklungsprozeß des nun vierjährigen Sowjetstaats. Es ist das Jahr, in dem sich fast sämtliche Versprechen und Vorsätze, die Lenin in «Staat und Revolution» kundgegeben hatte, als mystifizierende Ideologie erwiesen. Zwar konnte Lenin der hungernden Sowjetgesellschaft weiterhin Sozialismus versprechen, aber um ihr Brot zu verschaffen, sah er sich genötigt, dort wieder anzuknüpfen, wo er angeblich den Faden der Entwicklung durchbrochen hatte — an die wohlerprobte kapitalistische Produktionsweise, an das von Marx so meisterhaft analysierte «Kapitalverhältnis»!
«Nichts schlimmer, als wenn die Revolutionäre für Brot sorgen sollen», hatte Marx einst bemerkt.82 Ob er damit voraussah, daß in solch einer kritischen Situation Revolutionäre zu Reaktionären werden können, bleibe dahingestellt. Jedenfalls hat er in seinem Werk kein magisches Rezept für den «Aufbau des Sozialismus in einem Lande» geliefert, am wenigsten aber in einem Bauernland, dessen Menschen zu Millionen vor Hunger sterben und wo Hungernde zu Tausenden dem Kannibalismus frönten.83)
Seine Theorie will im Gegenteil den Nachweis erbringen, daß in ökonomisch unterentwickelten Ländern kein Sozialismus möglich ist, außer als Verhüllungsideologie der unvermeidlichen Kapitalakkumulation und Menschenausbeutung. Daß in Rußland die nun erforderliche Kapitalakkumulation für die Arbeiter und Bauern Konsequenzen zeitigen mußte, wie dies bei der Genese des «bürgerlichen» Kapitals im Westen zutraf, war im «Kapital» nachzulesen: «Wenn das Geld, nach Augier, <mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt>, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.» 84)
Der mehrwertschaffende Sowjetproletarier wurde gezwungen, für die Akkumulation des Staatskapitals, außer der miserablen Bezahlung, den «Sozialismus» als ideologischen Lohn mit in Kauf zu nehmen. Er mußte die «Neue Ökonomische Politik» (NEP) als ein provisorisches Übel akzeptieren, den kapitalistischen «Rückzug» auf Kommando antreten, dem vollständigen Abbau der Räte als Selbstverwaltungsorgane ohne Murren zustimmen.
1921 geschah ein Ereignis, das in sich den Keim einer sozialen Erneuerung barg, obwohl es zunächst als ein Alarmsignal ausgelöst wurde. Die Erhebung von Kronstadt ist nicht mit Unrecht von den Kämpfenden selbst als das Versprechen einer «dritten Revolution» empfunden worden. Die Rebellen träumten von einem «echten» Sowjetstaat, auf Grund freier Wahlen; ihre Losung hieß: «Alle Macht den Sowjets und nicht den Parteien.»85)
Da die bolschewistische Macht im Kronstadter Aufstand eine «kleinbürgerliche», eine «anarchistische» Konterrevolution sah, befahl der «Mörder Trotzki» seinen Truppen, den Aufstand im Blut zu ersticken.
Drohend rief Lenin dem Parteitag zu:
«Mit Worten wie <Freiheit der Kritik> wird man uns nicht hinters Licht führen ... Wir brauchen jetzt keine Opposition, Genossen, es ist nicht die Zeit danach! Entweder hier oder dort mit dem Gewehr, aber nicht mit einer Opposition. Das ergibt sich aus der objektiven Lage, ob es Ihnen paßt oder nicht ... Und ich denke, der Parteitag wird diese Schlußfolgerung ziehen müssen, daß es jetzt mit der Opposition zu Ende sein, ein für allemal aus sein muß, daß wir jetzt der Opposition müde sind!»86)
Kein Kongreßteilnehmer hat sich diesen Ausruf besser ins Gedächtnis geprägt als der scheinbar neutrale Stalin, weil er in der Leninschen Taktik ein Mittel entdeckte, um sich den ideologischen Überbau seiner Ein-Mann-Diktatur selbst zu konstruieren. Dies als «Leninismus» zu bezeichnen kam dem unausgesprochenen Entschluß gleich, die moralische Verantwortung für das von ihm mitverschuldete System auf den geistigen Vater abzuwälzen.
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