Aus "telegraph" 11/12 1995 Copyright by W. Rüddenklau, www.belfalas.de
Wolfgang Rüddenklau (1995)
»Nur krank darfst Du nicht werden!«
Erinnerungen an Ostberliner Knäste
Man sollte denken, daß die Bundesrepublik Deutschland sich gern als das menschlichere System präsentiert und dementsprechend freudig die Stasi- und Justizfolterhöhlen aus der DDR-Zeit all denjenigen vorführt, die sie sehen wollen oder nicht. Karawanen von Schülern, sollte man glauben, werden durch diese Stätten der Unmenschlichkeit geführt und mehr oder freiwillig mit den Opfern des SED-Regimes konfrontiert. Dem ist nicht so.
Stattdessen haben es diejenigen, die ihre Erinnerungen an DDR-Knäste verifizieren wollen, gar nicht leicht, die Mauern ihrer ehemaligen Gefängnisse zu überwinden. Zwar erklärte mir die Pressestelle der Berliner Justizverwaltung vollmundig, die Ostberliner-Haftanstalten seien am 3. Oktober 1990 wegen unwürdiger Haftbedingungen geschlossen worden. Aber dieses Datum stimmt nicht, wahrscheinlich nicht einmal die Begründung. Die Zentrale Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Hohenschönhausen zum Beispiel, noch im Jahre 1990 vom letzten DDR-Innenminister Diestel zur Strafvollzugsanstalt umgerüstet, wurde zwar im November 1990 nach heftigen Protesten der Opferverbände geschlossen. Dennoch tauchten immer wieder Pläne des Berliner Senats auf, neben der Einrichtung einer Gedenkstätte in Hohenschönhausen den Rest zu einer Strafvollzugsanstalt umzubauen. Nach kontinuierlich wiederkehrenden Protestwellen wurde der Umbau schließlich aufgegeben, aber nun bestand auch keine besondere Notwendigkeit mehr für die Einrichtung einer Gedenkstätte.
Trotz vieler und langer good-will-Erklärungen von Senat, Bundesregierung und Enquete-Kommission des Bundestages wurde erst 1994 ein ABM-Projekt mit dem Einrichten einer provisorischen Gedenkstätte betraut. Im Unterschied zu vielen anderen dieser Arbeitslosen-Beschäftigungsprojekte in Ostdeutschland sind die Leute von der Gedenkstätte Hohenschönhausen im Rahmen der Möglichkeiten motiviert und fleißig. Dennoch wurden ihnen in diesem Jahr Stellen und Mittel gekürzt. Die Herausgabe einer Broschüre wurde verhindert, Forschung und Dokumentation ist Privat- und Glückssache und ständig wird mit der Schließung gedroht.
Ansonsten befinden sich die alten DDR-Haftanstalten in Berlin im Umbau, entweder, um tatsächlich die "unwürdigen Haftbedingungen" zu ändern oder, wie ich eher glauben möchte, um sie an westdeutsche Sicherheitsstandards anzupassen. Die Berliner Justizverwaltung baut die Stasigefängnisse Pankow und Lichtenberg zu Haftanstalten nach Weststandard um. Das Köpenicker Frauengefängnis in der Grünauer Straße wurde von der Landespolizei übernommen und bis Anfang Dezember diesen Jahres zum Abschiebegewahrsam völlig umgebaut. Ebenfalls im Besitz der Landespolizei ist der Knast im Inneren des alten Ostberliner Polizeipräsidiums in der Keibelstraße. Über eine weitere Nutzung gibt es nach Angaben der Pressestelle und des Baureferats der Polizei noch keine Überlegungen. Nur zwischenzeitlich sei eine Etage in der Mitte der DDR-U-Haft für "Verwahrräume" des Landeskriminalamtes umgebaut worden, bis die Polizeigefangenen im neuen Landeskriminalamt in Westberlin Platz finden könnten.
Der Rummelsburger Knast wurde 1991 zum Zwecke des Abrisses dem Liegenschaftsamt übergeben. 1993 sprach der Justizsprecher plötzlich von einem "Justizgarten", der mit den alten Häusern geschaffen werden sollte. Der Plan verschwand dann offenbar zusammen mit der Olympiaplanung wieder in der Schublade.
Am leichtesten schien mir ein Auffrischen alter Erinnerungen also im Stasiknast Hohenschönhausen, einer wachturmumgebenen Zwingburg aus Beton, von der Außenwelt ehemals durch eine weitere Mauer um das umliegende Viertel von Stasiverwaltungsgebäuden und -Werkstätten doppelt abgeschottet. Die Fiktion eines "Lager X", wie der bis 1975 dort ebenfalls ansässige Strafvollzug der Staatssicherheit hieß, wurde bis zum Ende des Regimes auch für die U-Haft aufrechterhalten. Nach Hohenschönhausen kam man nie direkt. Von einem anderen Einlieferungsort, "Rummeline" (Rummelsburg) oder der "Magdalene" (Stasihauptquartier in der Magdalenstraße) wurde man im geschlossenen "Barkas", einem DDR-Kleinlastwagen, mit einem Container auf dem Rücken, in die U-Haft gefahren und dort erst in einer weiteren "Schleuse" innerhalb des Gebäudes ausgeladen. Auch eventuelle Kontakte mit der Außenwelt und die Entlassung war nur über Zwischentransporte nach außen möglich.
Nie hatte damals ein Gefangener die Chance, den Komplex von außen zu sehen. Die Fenster waren mit Glasziegeln vermauert, der "Freihof" eine ummauerte Zelle, die nach oben nur durch Gitter und Stacheldraht einen Blick in den Himmel freiließ. Auch Kontakt zu den Mitgefangenen war nur soweit vorgesehen, wie das die Staatssicherheit bestimmte. Wer nicht über Monate in Einzelhaft saß, bekam einen sorgfältig ausgewählten Zellengenossen zugeteilt. Oft genug war das ein sogenannter "ZI" (Zelleninformant), entweder ein Gefangener, der für fleißige Berichte Hafterleichterungen bekam oder sogar ein Angestellter der "Firma" (wie der DDR-Geheimdienst nicht nur intern genannt wurde), der für seine Tätigkeit bezahlt wurde. Dafür, daß man während der Transporte zum Vernehmer, zum Arzt oder zum Duschen nie einem anderen Gefangenen begegnete und soziale Kontakte höchstens mit den Stasi-Leuten unterhalten konnten, sorgte ein ausgeklügeltes Warnsystem. Wenn die rote Lampe leuchtete, mußte man sich mit dem Gesicht zur Wand stellen. "Desorientierung", sagt Herr Noack, der uns durch die schon erschlossenen Teile der Gebäude führt, "war eine Folter. Und die war genauso wirksam war wie die Wasserzellen im U-Boot" (dem 1964 still gelegten unterirdischen KGB-Gefängnis).
Die Gefangenen wurden nicht mit Namen, sondern mit Nummern angeredet (Ich selbst, damals in einer Zweierzelle, mit der Zellennummer und dem Zusatz "links"). Ein U-Häftling, der wochenlang in einer wasser- und toilettenlosen Dunkelzelle verbracht hatte, wurde vom Vernehmer mit den Worten empfangen: "Wo waren sie denn? Ich habe sie seit Wochen gesucht! Wie Sie aussehen, waren Sie in der Sommerfrische!" Der Häftling teilte verzagt mit, er habe in Dunkelhaft gesessen. "Dunkelhaft", sagte der Vernehmer, "haben wir hier nicht. Für mich waren Sie in der Sommerfrische!" Eine besondere Finesse der Entpersönlichung des Gefangenen war auch die Tatsache, daß niemand in die Zelle einen Stift und Papier bekam. Briefe, Eingaben oder Formulare durften nur im Zimmer des Vernehmers geschrieben werden, Prozeßunterlagen nur dort eingesehen werden. Persönliche Aufzeichnungen durften nicht angefertigt werden
Darüber hinaus gab es in Hohenschönhausen die unterschiedlichsten Haftbedingungen, von Leuten, die über Monate und Jahre keinerlei Kontakte hatten und das Sprechen verlernten, bis zu besonders privilegierten Gefangenen, zu denen in den achtziger Jahren auch wir im Westen bekannte und von den Westmedien thematisierte Bürgerrechtler zählten. "Da hat doch", erzählt mir der Gedenkstättenführer Novack giftig, "die Bürgerrechtlerin Wera Wollenberger damals ihre vegetarische Phase gehabt und schon bekam sie vegetarische Nahrung. Und dann hatte sie natürlich auch psychische Probleme. Da hat sie für den Tisch ein Deckchen und dazu noch eine Kerze für Stunden der Besinnlichkeit bekommen!"
Ich selbst entdecke auch peinlich berührt, daß ich wohl etwas privilegiertere Haftbedingungen hatte. Der Häftling saß nämlich nicht, wie ich als selbstverständlich akzeptierte, hinter einem Tisch gegenüber dem Vernehmer, sondern auf einem Holzschemel hinter der Tür. Einkauf war nicht für alle möglich und schon gar nicht wurden, wie bei mir, der ich im November 1987 in der Tagesschau gemeldet wurde, schon am nächsten Tag unbürokratisch mehrere Schachteln der DDR-Outsider-Zigarette Karo ohne Geld durch die Zellentür gereicht. Das "Hotel Hilton", wie Hohenschönhausen im Unterschied zur Stasi-U-Haft Pankow unter DDR-Oppositionellen genannt wurde, war eben nur für uns unter den besonderen Bedingungen der achtziger Jahre verhältnismäßig komfortabel.
Gar nicht nur sprichwörtlich übel wurde mir, als der Museumsführer für einen Moment hinter uns die Tür einer mit schwerem Gummi ausgeschlagenen Zelle, einer wahrhaftigen Gummizelle, im Keller schloß und das Licht löschte. Ein Wachsoldat der Stasi, der vor Monaten hier war, um seinen Kindern seine frühere Arbeitsstätte zu zeigen, behauptete, das sei gar nicht so schlimm gewesen, denn die meisten hätten sich in dieser Zelle schon nach kurzer Zeit beruhigt und seien wieder herausgeholt worden.
Im Unterschied zum Stasigefängnis Hohenschönhausen ist der ehemalige Strafvollzug und die U-Haft-Anstalt in Rummelsburg, völlig unerschlossen. Im Verwaltungsgebäude des ehemaligen DDR-Knasts sind, ähnlich wie unweit des Stasigefängnisses in Hohenschönhausen, AsylbewerberInnen untergebracht, vermutlich, um ihnen gleich von vorherein die mehr düstere Seite Deutschlands zu zeigen.
Die Schleuse, ein doppeltes Torsystem, das in allen Gefängnissen der Welt, den Zu- und Abgang kontrolliert, ist in Rummelsburg heute verriegelt und verrostet. Ein Wachbulle in einem Materiallager der Polizei nebenan teilte mir mit, der Zugang zum alten Knast sei nur mit Erlaubnis der Justizverwaltung möglich. Da ich mich allerdings mit solchem bürokratischem Krams schwer tue, und überdies von einem Freund erfahren hatte, daß die allgegenwärtigen Bauarbeiter von der Spreeseite in die alte Knastmauer ein Loch gebrochen hätten, drang ich ohne behördliche Erlaubnis und umso größerem Vergnügen ein.
Ich ging an der Knastmauer entlang und fotografierte den Hunde-Laufgang und die Wachtürme. Ich lief durch eine verlassene dunkle Großküche, fand in verstaubten Büroräumen noch die alten DDR-Telefone auf Sprelakat-Schreibtischen und gelangte endlich, endlich auf den Hof der U-Haftanstalt, auf dem ich einst vier Monate lang im Verein mit anderen Häftlingen im Kreise gehend, meine Freistunde genießen durfte. Die alten Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert hatten nichts von ihrer düsteren Häßlichkeit verloren. Leider waren sie verrammelt und verriegelt, so daß ich meine alte Zelle nicht sehen konnte.
Die Stasi-U-Haft mit der normalen Untersuchungshaft in der DDR zu vergleichen und die U-Haft mit den Strafvollzügen, wird wahrscheinlich schwierig bleiben. Zu erinnern wäre vielleicht, daß Untersuchungshäftlinge zumindestens formal noch unschuldig sind. Zu unterscheiden wäre zwischen bewußter Verschärfung von Haftbedingungen zur Erpressung von Aussagen in Stasihaft und den schweren Haftbedingungen in der normalen U-Haft, die der allgemeinen Dumpfheit und Gleichgültigkeit von Beamten gegenüber Menschen entspringen.
Andererseits ist Gefängnis in keinem Land der Welt eine angenehme Sache. "Knast ist", sagte mir ein Mithäftling, "wenn Du mit Leuten, mit denen Du nie in Leben etwas zu tun haben wolltest, in eine Zelle gesperrt wirst und mit denen leben mußt." Das ist schon unter normalen Bedingungen schwierig, und noch komplizierter, wenn die Zellen überbelegt sind (sechs bis acht Gefangene in einem fünf mal sechs Meter großen Raum) und fast ausweglos, wenn, wie in Rummelsburg ein ganzes Haus der U-Haft, die sogenannte "Nichtarbeiterstation", den ganzen Tag nichts tun darf, die Zelle außer zur "Freistunde" nicht verläßt und nur herumsitzt. Zur "Strafe" dafür durften die "Nichtarbeiter" auch kein Fernsehen sehen.
Das führte fast automatisch dazu, daß "Spiele gespielt", nämlich Mithäftlinge erniedrigt und gequält wurden. Schon um die unangenehmen Aufgaben wie Zellenreinigung abzudelegieren, wurde ein Mithäftling zur "Votze" ernannt und mußte gelegentlich den anderen auch sexuell zu Diensten sein. Wenn die Schließer von solchen sogenannten "Drangsalierungen" über Beschwerden erfuhren, wurde mit einer Verwarnung oder Arrest bestraft. Allerdings war nur allzu deutlich, daß es dem Strafvollzugspersonal nur um die eigene Ruhe ging. Wenn nichts aus der Zelle (im Osten wie im Westen offiziell als "Verwahrraum" bezeichnet) herausdrang, krähte auch kein Hahn danach.
Ein 16-jähriger U-Häftling aus der sogenannten Jugendzelle berichtete eines Tages im Rechtsanwalts-Warteraum uns Älteren, daß sich die "Votze" ihrer Zelle beim Stationsleiter über Drangsalierungen beschwert hätte. Heute abend, meinte er beifallsheischend, werde er die "Votze" zur Strafe zusammentreten. Andere stimmten ihm bei und gaben ihm Ratschläge, wie man aufsehenerregende blaue Flecken vermeidet. Ich schwieg. Der junge Mann hatte wegen Brandstiftung mehrere Jahre schweren Knast vor sich. Er war sehr hübsch, zu hübsch. Wenn er nicht möglichst schnell genauso gemein und unangenehm würde wie die anderen, würde er im Knast entweder häufig vergewaltigt oder gezwungen, als "Miez" die höheren Häftlingsränge zu betreuen. Was soll man unter solchen unmenschlichen Umständen raten, welche Moral kann es da geben?
Unter den sparsamen "Vergünstigungen", die auch denjenigen zuteil wurden, die nicht arbeiteten, war einmal in der Woche der Einkauf in einem kleinen Laden auf dem Hof. Von den fünfzig Mark, die dem U-Häftling im Monat von Verwandten oder Freunden zugeschickt werden durften, konnte man Tabak, und eine winzige Auswahl von Obst und Gemüse, sprich: Äpfel und Zwiebeln, kaufen. Der schwarze Tee, von dem man eine Blechkanne voll erwerben durfte, führte unter der Bedingung der fast völligen Abwesenheit von Außenreizen zu rauschähnlichen Zuständen, insbesondere wenn die "Kalfs", die als Hausarbeiter dienenden Strafgefangenen, die Teeblätter sehr lange in der Kanne ließen oder sogar mit dem Wasser gekocht hatten.
Das Essen, das in Rummelsburg für alle Berliner Knäste gekocht wurde, war herzlich schlecht, wenig vitaminreich und geschmacklich eine Zumutung. Besonders die Krautsuppe, die es jeden Montag gab, war allerseits unbeliebt. Der Geschmack erinnerte an einen längere Zeit feucht gelagerten Abwaschlappen. Unerfreulich war auch "tote Oma", Blutwurst, die mit größeren Mengen Wasser zu einer spinatähnlichen Soße verrührt war. Aber Großküchenessen ist immer unbeliebt und das Essen, das wir in den achtziger Jahren bekamen, hält keinen Vergleich mit dem aus, was DDR-Häftlinge in den sechziger oder gar fünfziger Jahren ertragen mußten. Es gab in den Achtzigern keine verfaulten Lebensmittel und man wurde jedenfalls satt.
Die Arrestzellen in Rummelsburg, in der Häftlingssprache "Mumpe" genannt, habe ich Gottseidank damals nicht gesehen und heute leider auch nicht sehen können. In der Ostberliner LDPD-Zeitung "Morgen" vom 19.9.1990 fand ich folgenden Bericht: "... ein dunkles Kellerloch, allein durch ein paar schmutzige Glasbausteine dringt etwas Licht; es riecht muffig, denn zur Belüftung sind nur winzige Löcher vorhanden. Diese lächerlichen drei Quadratmeter sind zudem noch durch ein Gitter unterteilt, das Klo und Pritsche voneinander trennt. Das herunterklappbare Bett kann nur vom Gang aus betätigt werden, so daß der Gefangene allein dann schlafen kann, wenn der Wärter es ihm ermöglicht."
Dazu muß gesagt werden, daß es nicht nur eine Arrestzelle gab und andere womöglich nicht besser, aber anders aussahen. Aus den Berichten, die ich erhalten habe, weiß ich darüber hinaus, daß nicht geheizt wurde und die Gefangenen teilweise nachts keine Decke erhielten. Als Zusatzspezialität des Hauses gab es Ratten, die nachts aus den Toiletten kamen. Es wurde von U-Häftlingen berichtet, die sich solche Tiere abgerichtet und nach dem Ende des Arrests heimlich in ihre Zelle mitgenommen hatten. Überflüssig zu sagen, daß Haustiere in jeder Form verboten waren.
Ein Haus des Elends, diese U-Haft in Rummelsburg. Am Ausdrucksvollsten war dies während Unwettern zu hören. Dann brüllte der gesamte Knast in Hoffnung auf eine Katastrophe und ich fühlte mich lebhaft an die Worte des Piratenhäuptlings aus Hauf's Gespensterschiff erinnert: "Und mit toller Lust segeln wir jedes Mal in der Sturm, in der Hoffnung, daß das Schiff endlich einmal untergeht!"
Als Untersuchungshaftanstalt II (UHA II) diente, wie gesagt, das Gefängnis im Inneren des Ostberliner Polizeipräsidiums in der Keibelstraße. Die Keibelstraße war ein Knast nach amerikanischer Bauart. Um einen bis zum Glasdach reichenden Innenschacht liefen in 6 Etagen Gänge, von denen aus die Zellen begehbar waren. Immerhin gab es in der Keibelstraße eine überwiegende Reihe von Zwei-Mann-Zellen, die allerdings sehr zugig und nur schwer beheizbar waren. In jeder Etage waren je zwei größere Zellen, vielleicht 10 mal 5 Meter groß, die gewöhnlich mit 12 Gefangenen belegt waren. Im 6. Stock war die Untersuchungshaft für Frauen, von den Männeretagen streng abgeschottet. Vielleicht im 3. Stock gab es den sogenannten Hochsicherheitsbereich, durch zusätzliche Gitter abgeschottet, in dem besonders gefährliche oder aus anderen Gründen für kürzere oder längere Zeit zu isolierende Gefangene in Einzelhaft saßen. Wahrscheinlich ebenfalls im 3. Stock gab es eine Verbindung zum Polizeipräsidium und dort die Zellen des Polizeigewahrsams, von den Gefangenen aus sicher nicht beliebigen Gründen als "Grüne Hölle" bezeichnet.
Die Etagen wurden durch Treppen aus Beton und Stahl verbunden, auf denen tagsüber beständig Leben herrschte, weil immer neue Gefangenenströme aufs Dach gelotst wurden, wo man in einem mauerumgebenen Dachgarten seine "Freistunde" verleben durfte. Im Unterschied zu den "Freizellen" in Hohenschönhausen lief man hier immerhin mit anderen Gefangenen zu zweien im Kreis und konnte die oberen Etagen des Interhotels am Alex sehen, gelegentlich auch sehnsuchtsvoll nach einem Flugzeug gucken, das den Knast überflog. Zwischen den Betonplatten wuchs hin und wieder ein wenig Moos, das man nach monatelanger Haft immer liebevoller betrachtete.
Und manchmal ereignete sich auch das Unerhörte, das Glückliche, natürlich aus bloßer Schlamperei . Wir stiegen, begleitet von den Schließern, die Treppe zum Freistundenhof empor. Da passierte plötzlich das, was auf keinen Fall passieren sollte: Eine Gruppe Frauen begegnete uns beim Heruntersteigen. "Fritz!", schrie eine Frau und sprang über eine halbe Treppe ihrem Freund in die Arme. Die Schließer hatten sich in Furcht vor einem Tumult oder Schlimmeren sofort mit Stuhlbeinen bewaffnet, aber da nichts Schlimmeres passierte als dieses einzige liebkosende Paar, begannen sie schließlich sogar zu lächeln und ließen die beiden für eine halbe Minute gewähren, bevor sie für weitere Monate oder Jahre getrennt wurden.
Die sonstigen Verhältnisse waren ähnlich trist wie auf den Nichtarbeiterstationen in der Rummelburger U-Haft. Abgesehen von den Hausarbeitern durfte in der Keibelstraße niemand arbeiten und alle saßen den lieben langen Tag in der Zelle, denn aufs Bett legen durfte man sich tagsüber nicht oder jedenfalls durfte man sich nicht dabei erwischen lassen. Fernsehen war wie in Rummelsburg für "Nichtarbeiter" nicht möglich. Es gab für jeden jede Woche zwei Bücher zum Lesen, nämlich irgendwelche, die von den Kalfs hereingereicht wurde. Das war in großen Zellen erträglicher, weil hier immerhin die Bücher der anderen zum Austausch zur Verfügung standen. Wer clever war, konnte beim Vorbeigehen zur Freistunde Beziehungen zum Funktionshäftling anknüpfen, der für die Bücher zuständig war. Dann bekam die ganze Zelle Dostojewski, Bulgakow und Böll, und die anderen schimpften über die "Russenliteratur".
Aber in den großen Zellen gab es auch die schon angedeuteten "Spiele", die unter Menschen, die unter drangvoller Enge untergebracht sind, offenbar normal sind. Gefangene, die von den anderen verachtet und unterdrückt waren, mußten die schmutzigen Arbeiten machen und wurden außerdem nachts mit "Schüttungen", Schüsseln voll Wasser, ins Bett überrascht. Wie quälend dieses Regime war, hing nicht so sehr von den Schließern, sondern den von ihnen ernannten "Verwahrraumältesten" ab. Meine Beobachtung war, daß diese "Ältesten" besonders unheilvoll wirkten, wenn sie noch jung waren und sich ständig bestätigen mußten. Ältere Männer, die allerdings seltener waren, schienen sich auf die Macht, die darin lag, "daß den Anordnungen der Verwahrraumältesten unbedingt Folge zu leisten ist", nicht allzu viel einzubilden, sondern versuchten nur das Leben in der Zelle so zu regeln, daß es nicht allzviel Streß für sie und die anderen gab.
Ebenso wie in der UHA I gab es einmal in der Woche die Möglichkeit zum Einkauf von Kleinigkeiten. Hier erhielt man, anders als in Rummelsburg, keinen Tee, sondern je eine große Tasse Bohnenkaffee, der allerdings zu ganz ähnlichen Rauschzuständen wie der Tee führte. Wer auf irgendeine legale oder illegale Weise Tee bekommen hatte, mußte ihn sich heimlich selbst zubereiten. Man konnte versuchen, Wasser in einer blechernen Kanne auf einem Feuer aus einem Gemisch von Bohnerwachs, Schweineschmalz und Toilettenpapier auf der Kehrschaufel heiß zu machen. Oder man verfertigte - was in der Keibelstraße für Normalgefangene nicht möglich war - aus Rasierklingen einen Tauchsieder, den man über irgendwoher besorgtes Kabel mit Strom aus der Lampe versorgte. Beliebte Beschäftigungen waren auch das Basteln von Lampen aus einer Kremdose, die mit Schweineschmalz gefüllt war oder das Herstellen von Wein aus Brot, Wasser und Marmelade. All das war natürlich streng verboten, ebenso wie die Kontaktaufnahme zu den Nachbarzellen über Klopfen oder über die Wassertoilette, die sich in jeder Zelle befand. Letztere Institution war als Kommunikationsmittel so beliebt, daß sie einen eigenen Häftlingsnamen hatte. Die Toilette hieß "Leo" und die Toilettenbürste, mit der man nach einiger Übung, das im Rohr stehende Wasser auspumpen konnte, hieß "Lizzy". Zu den Frauen, die im obersten Stock saßen und die nie jemand zu Gesicht bekommen hatte oder zu Gesicht bekommen würde, entspannen sich über den Leo die merkwürdigsten Liebesbeziehungen. Wenn man es wagte, zu "pendeln", nämlich mit aus den Wolldecken angefertigten Stricken Briefe auszutauschen, gab es noch bizarrere Entwicklungen. Ich habe selbst erlebt, daß ein Mithäftling mit einer ihm nur von Briefen her bekannten Frau Schamhaare austauschte - bei U-Haftzeiten von drei Monaten bis eineinhalb Jahren sind solche Erscheinungen durchaus normal.
Unter den Schließern konnte man zu meiner Zeit die verschiedensten Typen der Menschheit wiederfinden. Da die Namen aus Sicherheitsgründen den Gefangenen nicht genannt wurden, erhielt das Wachpersonal charakteristische Spitznamen. Da war "Pferdekopf", dumpf und brutal, mit einer scheußlichen Variante des Magdeburger Dialekts. Von ihm habe ich erstmals diese merkwürdige Begründung für den Befehl gehört, sich mit dem Gesicht gegen die Wand zu stellen: "Gesicht an die Wand! Die Wand beißt nicht!" Der als "Schön" bezeichnete Schließer war ein gut erhaltener Vierziger mit glatter Haut, der eine gefährlich wirkende freundliche Sachlichkeit zeigte.. Zusammen mit Boxer, einem athletischen Sportlehrertyp, sagte das Gerücht, pflegte er renitente Gefangene aus ihren Zellen zu holen und in einer weitab liegenden Zelle oder im Arrest zusammenzuschlagen. Aber es gab auch gutartige Schließer: "Ängstlich" war bekannt für seinen Diensteifer und für seine gute Nase. Er roch durch den halben Knast, wenn verbotenerweise Lämpchen gebaut worden waren. Aber "Ängstlich" war gelegentlich gefällig, ließ beispielsweise die Gefangenen auch ab und zu außer der Reihe Kaffee holen. Allerseits beliebt war "Assi", ein Schließer, dem das Arbeiten angeblich keinen Spaß machte, der aber jedenfalls aus Bequemlichkeit und Freundlichkeit Regeln gern zugunsten der Gefangenen auslegte. "Ihr werdet schon machen", pflegte er mit einer halb gewährenden, halb resignierenden Handbewegung zu sagen und ließ uns damit das Unerhörte ahnen: daß wir für ihn eigenständige Menschen mit einem eigenen Willen wären, nicht Pakete, die irgendwo abgestellt oder irgendwohin transportiert werden.
"Pferdekopf" soll, wie ich kürzlich von einem früheren Mitgefangenen gehört habe, in den Westberliner Strafvollzugsdienst übernommen worden sein. Ich kenne seinen Namen nicht und habe auch keine Fakten, mit denen ich ihm die weitere Karriere versalzen könnte.
Streng verboten war es in der Keibelstraße, wie in jedem anderen DDR-Knast auch, zu singen, insbesondere aber aus dem Fenster heraus zu singen. Aber genau das taten jeden Abend nach dem Lichtlöschen Gefangene, oft jählings durch einen Schließer unterbrochen, der die Zelle stürmte und sie in die "Mumpe" brachte. Durch einen erstaunlichen und vom Konstrukteur gewiß nicht beabsichtigten Zufall hatte der Innenhof nämlich eine ausgezeichnete Akustik. Unter den Gefangenen waren wirklich gute Sänger und sie hatten den anderen etwas zu sagen. Oder vielleicht lag es daran, daß es keine andere Möglichkeit zum Musik hören gab, kein Radio, kein Fernsehen? Ich lag jedenfalls abends oft andächtig im Bett und wußte, daß sich hier in diesem Moment und gänzlich gegen alle Absichten sämtlicher offizieller Stellen Kunst ereignet. Umso quälender war es, daß das Knastpersonal während der Weihnachtszeit durch permanentes Abspielen von Weihnachtslieder aus einem zentralen Lautsprecher die Stimmung unter den Häftlingen zu heben versuchte, vermutlich um die Selbstmordrate zu senken. Denn das war eine ihrer Hauptsorgen: den freiwilligen Abgang von Häftlingen zu verhindern. Die "Bretter" (Häftlingsdeutsch für Knasttür) trugen von außen verschieden farbige Schilder - eins davon in rot stand für "Selbstmordgefährdet". "Sieh mal", sagte mir ein Mithäftling, " eine Tür hat innen eine Klinke und ein Schloß und draußen eine Klingel, im Knast ist es umgekehrt. Das ist der Unterschied zwischen einem Brett und einer Tür."
Von den Transportfahrzeugen für Häftlinge war schon die Rede. Für kurze Wege zwischen Knast und Knast oder zu Gerichten wurden die von den Häftlingen so bezeichnete "Minnas" benutzt. Die "kleine Minna" war der schon erwähnte Barkas-Transporter mit einem Container auf dem Rücken, in dem sich vier Zellen befanden, worunter man sich eine fensterlose Kabine vorstellen muß, die hinter dem Rücken des Sitzenden begann und vor seinen Knien endete. Zur Linken war eine glatte Sprelakart-Wand, zur Rechten eine Tür mit dem Spion, dem Guckloch, durch den die Schließer den Gefangenen beobachten konnten. Damit das besser geschehen konnte, gab es über dem Kopf noch eine Lampe. Die "große Minna" war ein W50-Lastwagen mit einem wesentlich größeren Container auf dem Rücken. Dafür gab es dort acht oder zehn Zellen von wesentlich dem gleichen Aufbau. In einer anderen Variante der "großen Minna" gab es zwei oder drei durch Gitter und Draht getrennte Verschläge, in denen Gefangene ohne Trennung voneinander zusammen saßen. Von außen waren diese Gefangenentransporter für Zivilisten kaum erkennbar. Oft trugen sie einen irreführenden Aufdruck, waren beispielsweise als Brot- oder Wäschetransporter gekennzeichnet.
Für weitere Transporte von Strafgefangenen, die nicht irgendwelchen Isolierungs- oder Sonderbestimmungen unterlagen, wurden Eisenbahntransporter benutzt, die nach dem unglückseligen ersten DDR-Ministerpräsidenten im Volksmund den Namen "Grotowohl-Expreß" trugen. Offenbar waren sie die genaue Übertragung von entsprechenden russischen Eisenbahnwaggons, die seit Alters her nach einem berüchtigten zaristischen Innenminister den Namen "Stolypin-Waggons" hatten. Ich selbst "durfte" einen solchen Waggon Gott-sei-Dank nicht erleben, kann also nur aus dem Gedächtnis die Schilderungen von Mitgefangenen wiedergeben. Demnach waren sie von außen als Postwagen deklariert. Die Fenster waren mit Brettern sehr nachlässig verschlossen, sodaß es beständig zog. In den einzelnen Zellen entlang eines Seitengangs saßen, ähnlich wie in Abteilen der älteren D-Züge auf zwei gegenüberliegenden Holzbänken je sechs Personen, allerdings so eng, daß sich die Knie berührten. Zum Gang hin waren diese "Abteile" mit Draht und Gittern abgeschlossen.
Der Grotowohl-Expreß wurde an Bummelzüge angehängt, blieb allerdings dem Vernehmen nach oft auf der Strecke liegen, weil die DDR-Eisenbahner passiven Widerstand gegen diese Transporte leisteten, behaupteten, sie könnten die Verantwortung nicht übernehmen, hätten derzeit keine Kapazität oder ähnliche Ausreden. Das verlängerte für die Gefangenen nur die quälend langsame Fahrt und oft war der Grotowohl-Expreß von Süden nach Norden tage- und wochenlang unterwegs. Hinzu kam, daß die Fahrt durch die Republik ein Rundkurs gewesen sein soll (an die genaue Strecke kann ich mich nicht erinnern) und darum eine Fahrt von Dresden nach Meiningen unter Umständen über Rostock ging. Verrufen waren die Zwischenquartiere, in denen übernachtet wurde, besonders die "Cottbuser Kasematten", in denen es von Ratten gewimmelt haben soll. Aber diese Dinge kenne ich nur von Erzählungen und kann sie nicht bezeugen. Wenn jemand von unseren LeserInnen genauere Kenntnis haben sollte oder einiges an Akten über den Grotowohl-Expreß gefunden hat, wäre ich für eine Information dankbar.
Über solche Transporte gelangte man nach der Untersuchungshaft in den Strafvollzug. Lebendige Anschauungen habe ich nur über die StVE Rüdersdorf in der Nähe von Berlin. Das auf dem Gelände eines Zwangsarbeiterlagers liegende Gefängnis wurde im November 1992 geschlossen und verfällt derzeit. Zementwerk und Potsdamer Finanzministerium streiten sich um das Gelände. Aber auch im Falle der Rückübertragung an das Land ist, wie man mir versicherte, nicht an die Wiederinbetriebnahme gedacht.
"Rüdersdorf", sagten die Gefangenen gern und oft, "ist ein Kindergarten." Sie wollten damit zur Kenntnis geben, daß es im übrigen DDR-Knast andere und härtere Bedingungen gebe und daß sie dem gewachsen seien. Tatsächlich figurierte die StVE Rüdersdorf, Belegungsnorm: 700 Gefangene, als modernster Strafvollzug der DDR. Worauf sich das bezieht, weiß ich nicht. Wahrscheinlich war die Überfüllung nicht ganz so groß wie in den übrigen Gefängnissen, wahrscheinlich war das Essen besser, die Arbeit und das Regime weniger hart. Die Gefangenen waren in riesigen Baracken untergebracht. In den neueren Baracken gab es etwa 7 mal 10 Meter große Zellen, in denen jeweils etwa 18 Gefangene lebten. Jeder Zelle stand ein Wasch- und Toilettenraum zur Verfügung, der gern zum Quälen und Vergewaltigen von Mithäftlingen verwendet wurde.
Kennzeichnend für die leichteren Strafvollzugsanstalten in der DDR war die "Selbstverwaltung" der Gefangenen durch eine Hierarchie von Funktionshäftlingen, ein Kaposystem. Formal bedurften wohl Neuernennungen der Bestätigung durch das Strafvollzugspersonal. In der Praxis schoben brutale und durchsetzungsfähige Gefangenen sich und ihre Günstlinge in immer bessere Positionen, um untereinander einen Austausch von Mangelwaren und seltenen Dienstleistungen zu organisieren, eine Rangordnung der Gemeinheit. "Wenn Du am Sonntag mit Deinen Freunden zusammen Kaffee trinkst und Kuchen ißt", sagte mir ein Mitgefangener, "dann ist Dir eben bekannt, daß der Kuchen irgendeinem armen Schwein aus dem Paket weggenommen worden ist, das ihm seine Mutti geschickt hat." Als einfacher Häftling war man diesem Begünstigungssystem, das von den Bullen toleriert wurde, solange es in ihrem Sinn funktionierte, hilflos ausgeliefert. Man bekam keinen undurchlöcherten Strumpf, kein einigermaßen warmes Hemd und keinen für die Arbeit geeigneten Schuh, ohne sich auf die Kriminellenmafia einzulassen, die, vom "Verwahrraumältesten" aufwärts, diese Güter verwaltete. Immerhin aber war es nicht ganz aussichtslos, selbst in die Hierarchie einzusteigen und in sogenannter "Spannerschaft" zusammen mit einigen Leuten, die anständig bleiben wollten, ein kleines Gegenregime zu errichten, das eine einigermaßen gerechte Verteilung von Macht und Gütern besorgte.
Aber es war eben nicht ganz leicht, auf anständig Gebliebene zu stoßen. "Der Knast", wurde immer wieder gesagt, "hat sein eigenes Gesetz". Das hieß vor allem, daß unter solchen Bedingungen Unterdrückung legitim sein sollte, ja, daß es richtig und geil war, Schwächere zu quälen, denen damit recht geschieht. "Der braucht das!", war die Formel mit der etwaige Bedenken aus dem früheren Zivilleben beiseite geräumt wurden. "Quälen!", schrie mich ein Funktionshäftling an, "nennst Du das Quälen?!" "Ich glaube", sagte ich verzagt, "daß es keine Amnestie für Moral gibt." Natürlich war das ein fauler Kompromiß, denn ich wußte, daß er nicht verstand, was ich damit meinte und sich mit der Feststellung zufrieden gab, daß ich eben ein Spinner sei.
In einem Gespräch mit anderen DDR-Häftlingen, das ich 1985 schriftlich fixiert habe, erzählte ich: "Vom Nachbarkommando kam eine Miez (Red. Strichjunge im Knast) , der war wegen Drangsalierung verlegt worden. Dieser Junge, etwa 18 Jahre alt, sehr klein und zart, wurde zuerst allgemein gescheut. Es gibt dort neben vielen furchtbaren Sachen für manche Jungen (aber auch nur für manche) so etwas Gutes wie ein Kindertabu. Der lief bei uns unter diesem Tabu und wurde nicht angerührt. Nun bot ein anderer, Meier, ein etwa Zwanzigjähriger und nicht sehr klug im Kopf, der Miez Tabak für einen kleinen Liebesdienst an und die beiden verkrochen sich auf der Baustelle im Elektrikerraum. Sie hatten das Pech, daß jemand kam, an der Tür rüttelte und zusammen mit anderen die Tür aufbrach. Die beiden saßen bibbernd da. Das war nun etwas für die Herren Funktionshäftlinge! Eine Auswertung fand statt. Die beiden wurden drei Stunden lang verhört. Hier konnten die Funktionshäftlinge endlich einmal den Spieß rumdrehen: aus Strafgefangenen wurden sie plötzlich zu Vernehmern. Für die beiden war das in der Folgezeit ziemlich schlimm. Für Meier so schlimm, daß er sich nach einiger Zeit ins Krankenrevier rettete. Ich hatte zwar Mitleid, konnte mich aber beim besten Willen nicht mehr mit ihm abgeben. Er war einfach zu verbrannt. Er hing mir vor der Angelegenheit ständig an den Rockschößen und ich habe ihn zum Teil aus Mitleid geduldet. Aber dann war es für mich einfach eine Frage des Selbsterhaltungstriebes, ihn nicht mehr zu beachten. Wenn jemand bis zu einem gewissen Grade verbrannt ist, geht das noch. Aber wenn jemand so total abgebrannt ist, kann man nichts mehr tun. Das ist einfach Selbsterhaltungstrieb. Und übrigens hätte ihm mein Eintreten auch nicht viel nützen können. Aber das ist eben die Schwierigkeit mit der Solidarität. Gut, ich habe es in ein paar Fällen durchhalten können, in anderen mindestens so lange als möglich versucht. Aber dann gibt es Fälle, wo Du Dir nur sagen kannst: `Mein Gott, was bin ich für ein Scheißkerl!´"
Ein unter ahnungslosen Mitbürgern weit verbreiteter Irrtum ist die Auffassung, am besten hätten es im Strafvollzug die Schwulen, weil dort schließlich lauter Männer wären. Aber Knasthomosexualität hat eben gar nichts mit Liebe zu tun. Ein langgedienter DDR-Knaster sagte mir mit verlogener Sentimentalität in der Stimme: "Wenn man länger im Knast ist, sucht man sich eben Jungen, die ein bißchen wie ein Mädchen aussehen und eine zarte Haut und ein anschmiegsames Wesen haben - man braucht doch einen Ersatz." Schwule und hübsche Jungen galten für ranghohe Häftlinge als Ersatz für Frauen, unter der Bedingung, daß sie keine gleichrangigen Partner waren, sondern verachtete, wenn auch benötigte Objekte blieben. Sie wurden entweder vergewaltigt oder für ihre Dienste bezahlt, waren aber auch im letzteren Fall Freiwild, wenn ihr Liebhaber ihnen den Laufpaß gab. Ein Bekannter erzählte mir von einer absurden Situation, in der ein sozialer Gefangenen gerade "seine" Miez von hinten bummste und dabei auf die "Scheißschwulen" schimpfte. Antihomosexualität und Knasthomosexualität sind kein Widerspruch und Schwule hatten im DDR-Knast erst recht kein leichtes Leben.
Kein Zweifel, man konnte sich, wenn man wollte, beschweren. Aber das hatte keinen Sinn, weil die sogenannten "Erzieher" bei den Funktionshäftlingen nachfragten, ob die Beschwerde denn richtig sei und dann der Gefangene von den Bütteln der Häftlingsmafia zusammengeschlagen wurde. Noch weniger Sinn hatte es, sich über das Verhalten des Strafvollzugspersonals zu beschweren. Solche Papiere wurden nicht nach oben weitergeleitet, sondern führten nur zu einer Verschlechterung der Situation. Direkt konnte man nur zum Verbindungsoffizier der Staatssicherheit vordringen, dem OKS, im Häftlingsdeutsch "Offizier für Konfekt und Süßigkeiten" genannt. Aber das war Verrat. Nein, das Wichtigste war, nicht aufzufallen. Wenn es gar zu schlimm wurde, konnte man versuchen, sich einige Zeit ins Krankenrevier zu retten. Nur wirklich krank durfte man nicht werden - da hatte man bei den zur Verfügung stehenden Roßärzten sehr schlechte Karten. "Im Knast kannst Du alles machen", hieß die entsprechende Redewendung, "nur krank darfst Du nicht werden." Das war in Untersuchungshaft noch schlimmer, wo die Trägheit der Schließer und des Apparats gelegentlich dafür sorgten, daß ein akut Erkrankter zu spät behandelt wurde und starb.
"Das meistgelesenste Buch der Gefängnisbibliothek", sagte schon der Gedenkstättenführer im Stasiknast Hohenschönhausen, "war die Bibel." Das war in Rüdersdorf aufgrund der höheren Zahl von sozialen Gefangenen nicht unbedingt so. Aber in einem ostentativ atheistischen Staat und besonders in dessen Knast war es eine mutige Protesthaltung, sich als Christ zu bezeichnen und für das wöchentliche Bibellesen und den alle vier Wochen stattfindenden Gottesdienst anzumelden. Angeblich wurden Gefangene, die sich derart registrieren ließen, des öfteren von den Mitgefangenen drangsaliert. Aber zumindestens für mich erwies sich die Angelegenheit als echte Glückssträhne. Als Bibelleser wurde ich am Samstag und Sonntag zur Bibliothek "durchgeschlossen" und konnte im Unterschied zu den anderen aus der reichen Gefängnisbibliothek selbst das auswählen, was ich lesen wollte - zum wenigsten die Bibel. Und noch besser: Neben der Bibliothek war der Gefängnisladen und ich konnte, was sonst nur einmal in der Woche möglich war, für mich und für befreundete Mithäftlinge einkaufen. Und ich muß zugeben, daß ich, der ich ansonsten eher gottesdienstscheu bin, aus den Predigten, zu denen sich etwa 20 Leute aus dem Knast sammelten, wirkliche geistige und geistliche Anregungen bezog, besonders, weil wir Gottesdienstbesucher auf dem Rückweg ernsthaft über diese Predigten diskutierten. Man traut sich das heute kaum zu schreiben, aber die DDR-Kirche war eben keine Staatskirche, sondern wurde von vielen als Ort des Widerstands begriffen.
Nein, das Leben im DDR-Knast war keinesfalls immer jammervoll. Gelegentlich diskutierte und sang und lachte man gemeinsam, ich profilierte mich, indem ich staunenden sozialen Gefangenen, die in vieler Hinsicht Kinder geblieben waren, Märchen und Geschichten erzählte. Sogar Alfred Kubins "Andere Seite", wahrhaftig kein einfaches Buch und eine unbeabsichtigte Karrikatur auf die DDR, habe ich an mehreren Abenden nach dem Lichtlöschen erzählt. Man konnte diesen oder jenen interessanten Menschen kennenlernen, der einem sonst nie begegnet wäre. Man machte furchtbare, aber wichtige und tiefgründige Erfahrungen über die Mechanik von Menschen und Gesellschaft, die mich jedenfalls wahrscheinlich bis an mein Lebensende prägen werden. "Wenn man schon in den Knast muß, dann sollte man die Chance nutzen, mit ganzen Sinnen zu lernen und zu beobachten!", pflege ich Leuten zu sagen, denen eine solche Zeit bevorsteht. Aber man muß eine solche "Schule des Lebens" nicht notwendigerweise durchmachen, man kann sich auch ganz gut von solchen Erfahrungen berichten lassen.
Es ist schon scheußlich, was unter solchen Bedingungen in der DDR und sicher in anderer Form auch in den bundesdeutschen Knästen Menschen Menschen zufügen. Aber zumindestens im Falle des DDR-Strafvollzugs ist es klar, daß es dieser von der Polizei geschaffene und geförderter Selbstunterdrückungsapparat war, der dazu führte, daß Monster das Sagen hatten und die Mehrzahl der Gefangenen schwieg. Auch der Exzeß von Gewalt und Mord, der kürzlich bei der Revolte eines griechischen Gefängnisses ablief, dürfte Ausdruck ähnlicher Strukturen sein. Freie Selbstorganisation von Gefangenen, möchte ich glauben, hoffen, wünschen, bringt ganz anderen Leute nach Oben und führte dazu, daß vertierte Menschen an Einfluß verlieren.
Dennoch bin ich kein Anhänger der Theorie geworden, daß alle Gefangenen bedingungslos freigelassen werden müßten. Es wird so etwas wie Gefängnisse immer geben müssen, weil viele dort untergebrachten Zeitgenossen wirklich nicht auf die Menschheit losgelassen werden können. Eine andere Frage ist, ob andere Zeitgenossen, die sich das Ziel gesetzt haben, ihre Mitmenschen zu beherrschen oder zu bevormunden, wie etwa der Medienmonopolist Leo Kirch, nicht eigentlich von den übrigen Leuten isoliert werden müßten, statt durch ihre Wirtschaftsmacht ein wesentliches Mehr an Freiheit zu besitzen als ihre Landsleute. Wie dem auch sei - eine tatsächliche Resozialisierung müßte in Angriff genommen werden, nicht im Sinne der Erziehung zum gesetzestreuen Staatsbürger, sondern als nachträglicher Sozialisationsprozeß für ein Leben in gesellschaftlicher Freiheit, wo die Grenze der Freiheit der Individuen die Freiheit der anderen ist und Freiheit und Verantwortung zusammen gehören. Aber das ist schon wieder ein ganz anderes Thema.
Es fehlt nämlich noch der retardierende Punkt des Dramas. Aber leider habe ich über die Knastaufstände, die es 1989 und 1990 überall in der DDR gab, keine detaillierten Kenntnisse und möchte hier auch nicht eine gründlichere Recherche vorwegnehmen. Tatsache ist jedenfalls, daß sich die Gefangenen in vielen Knästen wesentlich bessere Haftbedingungen erstritten, und zudem noch eine erstaunliche Reihe von Mitbestimmungsmöglichkeiten. Deshalb weigerten sich viele Ostberliner Gefangene nach der Einigung im Oktober in die "viel schöneren Knäste" in Westberlin umzuziehen. Die Rummelsburger Gefangenen besetzten die Dächer ihres Knasts. "Wir haben uns unsere Bedingungen hier hart erkämpft", sagten Vertreter des Rummelsburger Gefangenenrats der Tageszeitung "Morgen". Ging es also vielleicht bei der Schließung der Ostberliner Knäste, möchte man ammehmen, nicht nur um die - gar nicht mehr bestehenden - unmenschlichen Haftbedingungen, sondern auch darum, durch die Verlegung der Gefangenen nach Westberlin ohne größere Komplikationen die erkämpften Freiheiten zurückzudrehen?
In den Westknast übernommen wurden in Berlin 1991 auch 237 von 619 Bediensteten des Ostberliner Strafvollzugs, selbstverständlich nach strenger Prüfung ihres Vorlebens. Gefangenenräte wurden allerdings nicht befragt, die gab es nicht mehr.
W. Rüddenklau
Aus "telegraph" 11/12 1995, Copyright by W. Rüddenklau, ruedden @ berlin.snafu.de