Start    Weiter

  Spurensuche 1  

 

 

 

41-61

Inzwischen geht das Leben »draußen« weiter. Wer wird mein Verschwinden entdecken und wann? Welche Schlüsse wird man ziehen? Meine Eltern, was werden sie denken, wenn sie gar nichts von mir hören, kein Telefonanruf, keine Post — nichts? Ich sehe das sorgenvolle Gesicht meiner Mutter vor mir. Was wird mein kleiner Bub sagen? 

Meine Tante Molly, Cousine meiner Mutter, eine liebe, fürsorgliche Freundin, kam einmal in der Woche zum Frühstück zu mir, ich nannte sie deshalb meine »Frühstückstante«. Bepackt mit frischen Brötchen, Wurst und Käse stand sie vor meiner Tür, und es wurde meistens ein langer Vormittag, denn wir sprachen alles durch, was uns beschäftigte. Ich musste von meiner Arbeit berichten, von der DEFA erzählen, von meinen Plänen, und sie nahm regen Anteil, war an allem interessiert. 

Sie ist alteingesessene Berlinerin, sehr resolut, und schaut allen Vorkommnissen nüchtern entgegen. Sie wird etwas unternehmen, dessen bin ich mir sicher — aber wie sollte sie ahnen, dass ich hier im Kellergefängnis in Karlshorst als Gefangene der Sowjets sitze? So weit reicht wohl auch bei ihr die Phantasie nicht. Gewiss wird sie Erkundigungen einholen, bei den Nachbarn klingeln und den Hausmeister aufsuchen, im Lebensmittelgeschäft um die Ecke nach mir fragen. Und sie wird zur Polizei gehen, mich als vermisst melden, aber große Hoffnungen wird man ihr auch dort nicht machen können. 

Sie schrieb an meine Eltern, hier ein Auszug aus ihrem Brief: 

»20. Oktober 1952.
Ihr Lieben! 
Wir sind hier in Alarmzustand, Ula ist verschwunden! Ihr werdet Euch gewiss auch schon gewundert haben, von Ula nichts zu hören. Es ist zwar schon öfter vorgekommen, dass sie lange nichts von sich hören lässt, wenn sie sich in die Arbeit stürzt, aber unseren Frühstückstag hat sie noch nie ohne Abmeldung gelassen. Ich stand vor ihrer Tür, klingelte, aber sie machte nicht auf. Ich telefonierte viele Male und bekam nie einen Anschluss.

Und nun nehmt bitte Herz und Nerven zusammen, denn die werdet Ihr in der nächsten Zeit noch brauchen. Bernhard und ich meldeten uns bei Ulas Hausmeister, und der sagte uns nach Zögern: <Vielleicht ist sie geflüchtet, es fand auch schon eine Wohnungsdurchsuchung der Kriminalpolizei statt.>

Wir gingen zur deutschen Kriminalpolizei, die aber von nichts wusste, man wollte sich im Präsidium und auch bei der amerikanischen Kripo erkundigen. Dann gingen wir zur englischen Kripo, wo wir erst nach allerhand Formalitäten vorgelassen wurden. Hier hörten wir, dass Ula am 25.9. in den Ostsektor gefahren sei und nicht zurückgekommen ist. Die Hausdurchsuchung sei von ihnen durchgeführt worden, es war alles in Ordnung. Wir gingen daraufhin nochmals zur deutschen Polizeistelle, aber die sagten uns, wir können nur abwarten. Alle Behördenstellen sagten das Gleiche. Wir können im Ostsektor von Berlin keine Nachforschungen anstellen, das ist zu gefährlich.

Das ist der Tatbestand unserer Ermittlungen, und wir bedauern zutiefst, dass wir Euch keine andere Nachricht geben können. Wir können uns Eure Sorgen und Angst um Ula vorstellen, wenn man nur wüsste, wo sie steckt. Sie war am 24.9. abends noch bei uns und erzählte, dass sie am nächsten Tag eine Besprechung bei der DEFA hat und danach noch Besorgungen im Osten machen wollte. Wir hoffen immer noch, dass sie bald zurückkommt. Es muss doch drüben irgendetwas passiert sein, was denen nicht passte, oder Ula war nicht bereit, irgendwelche Sachen zu übernehmen, die sie nicht machen wollte, aber das sind nur Vermutungen. ...«

Und hier aus ihrem zweiten Brief vom 22. Oktober 1952: 

»Gestern waren wir auf der Beratungsstelle für Ostflüchtlinge auf dem Kudamm, um uns die Adresse von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit zu besorgen. Dort hat man die Daten von Ula aufgenommen und sich dann in der Hauptgeschäftsstelle in Nikolassee (West) telefonisch informieren lassen, ob dort schon etwas vorliegt. Da wurde uns gesagt, dass Ula schon verschiedentlich da gewesen ist und mit Dr. Linse gesprochen hat (natürlich vor ihrem Verschwinden), um sich Rat zu holen. 

Es war bekannt, dass Ula mit Sonderausweisen der DEFA mehrere Jugendheime in der Ostzone besucht hat, um für einen neuen Film zu recherchieren, und man vermutet, dass dies vielleicht der Grund ist, sie zurückzuhalten. Vielleicht hat man ihr auch irgend welche andere Aufgaben gestellt, und man unterzieht sie jetzt wochenlangen Verhören.

Durch irgendwelche Repressalien kann es durchaus sein, dass sie unsere Adresse angibt, oder sie schnüffeln in Ulas Notizbuch und finden Westberliner Adressen. Auf keinen Fall sollen wir nach Ostberlin fahren, wurde uns geraten. Ich sehe jetzt überall Spitzel und war doch nie ängstlich!«

42-43


  Weinen verboten 

 

Lisa Bauer wird aus der Zelle geholt. »Wir werden uns wieder sehen«, sagt sie zum Abschied, »in Lichtenberg oder in einem Arbeitslager.« Während der nächsten Tage bleibe ich allein, ich wandere in der Zelle auf und ab, zwei Mal vier Schritte hin, zwei Mal vier Schritte her. Die Stunden schleichen träge dahin. Lisa Bauer fehlt mir. Niemand, der mir beim Essen gut zuspricht, mich von meinen Gedanken ablenkt, mich tröstet und mir gute Ratschläge gibt. Wie wichtig doch eine erfahrene Freundin in einer solchen Situation ist.  

Die Aussichtslosigkeit meiner Lage treibt mich fast zur Verzweiflung. Ich weine viel. Als ich wieder einmal schluchzend auf der Pritsche hocke, wird leise die Zellentür aufgeschlossen. Der Posten kommt herein, legt mir tröstend die Hand auf die Schulter, sagt: »Potschemu plakatje? Plakatj nelsja! — Warum weinen Sie? Weinen ist verboten!« Erstaunt blicke ich zu ihm auf. »Weinen nix gutt«, sagt er leise in Deutsch. »Du ein paar Jahre sitzen, dann wieder nach Hause zu Kinderchen!«

Ich muss lächeln, trotz allem. Welch tröstliche Entdeckung, dass es bei diesen Robotern in Uniform menschliche Regungen gibt. Kein Tag und keine Nacht vergehen ohne Verhöre. Langohr versucht es jetzt auf die moralische Tour. Er fragt nach meiner Herkunft — die ihm bestimmt bekannt ist —, nach meiner Familie, meinem Kind. Er hält mir vor, was ich doch für eine schlechte Mutter sei, meinen kleinen Sohn weit weg bei meinen Eltern aufwachsen zu lassen. »Das Kind braucht doch seine Mutter! Und was machen Sie? Sie arbeiten für den amerikanischen Geheimdienst, vernachlässigen Ihr Kind, erfüllen Ihre Mutterpflichten nicht. Sie sind eine ganz herzlose Person!« Er nutzt jedes Mittel, um mich zu demoralisieren.

44


Oft verbringe ich die ganze Nacht auf dem Holzstuhl im Vernehmungszimmer im ersten Stock. Das Verhör zieht sich hin, der Vernehmungsrichter wird müde — ich auch. Er ruft einen Posten, der mich bewachen soll, und verlässt das Zimmer. Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen, stundenlang.

Der Soldat kümmert sich nicht weiter um mich, er liest in einer Broschüre, raucht und wirft ab und zu einen kurzen Blick zu mir herüber. Seine Aufgabe besteht nur darin, mich am Davonlaufen und am Einschlafen zu hindern.

Ich blicke zum Fenster, langsam beginnt die Nacht zu weichen, die Dunkelheit lichtet sich und geht in ein Farbenspiel über, wie ich es so noch nicht sah. Die Nacht verkriecht sich hinter den Büschen, wird lilafarben, dann blau. Weiße Schwaden, Chiffontüchern gleich, steigen aus dem Gras empor und nehmen die Farben der Dämmerung an, die immer mehr an Licht gewinnt. Der Himmel wird hellblau und rosa, eine Farbe, die mich an Babywolle denken lässt, so weich und schmusig. 

Irgendwann ein erster Vogellaut, eine Amsel, eine zweite antwortet. Danach ist es wieder still. Der Soldat blickt auf und schnauzt sich mit lautem Trompetengeräusch. Dann liest er weiter, beide Ellenbogen aufgestützt, den Kopf in den Händen. Sicher ist auch er müde und verflucht seinen langweiligen Dienst. Ich schaue wieder nach draußen. Die Dunkelheit ist inzwischen dem Tag gewichen. Die Amsel scheppert und lockt. Irgendwo schlägt eine Uhr, ich zähle fünf Schläge.

Der Untersuchungsrichter kommt zurück, er macht einen ausgeruhten Eindruck. Ich werde weggeführt, zurück in meine Zelle. Das Duschen der Gefangenen findet einmal in der Woche statt; mich hat man bisher übergangen. Nun holt mich die gleiche Russin, die mich am ersten Tag kontrolliert hat.

Die Duschräume befinden sich im Keller, eine Zelle dient als Kleiderablage. Ehe die Wärterin die Tür verschließt, teilt sie an Stelle von Seife etwas Waschpulver aus — es brennt auf der Haut wie Feuer. Nach etwa zehn Minuten, während derer die Russin mich ununterbrochen durch den Spion beobachtet, führt sie mich, nass und nackend, in einen dritten Raum, in dem meine Kleider liegen; sie sind inzwischen durchsucht und desinfiziert worden. Als die Russin mir Gefängnisunterwäsche reicht, die ich anziehen soll, kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen: In den Händen halte ich ein überdimensionales Unterhemd und eine langbeinige, abgetragene Männerunterhose.

45


»Das soll ich anziehen?« rufe ich laut, »da passe ich ja drei Mal rein!« »Ziehen Sie an«, sagt sie knapp, seufzend gehorche ich. Ich schlage die langen Beine der Unterhose hoch, dadurch werde ich zwar etwas dicker, aber das spielt ja hier keine Rolle. Meine Nylonunterwäsche wickele ich zu einem kleinen Bündel.

Etwas später werde ich vom Posten abgeholt, und wieder geht es in den Keller. In einer kleinen Zelle ist ein Fotoatelier; der Fotograf ist ein Soldat mit einem weißen Kittel über der Uniform. Er schreibt meine Personalien mit Kreide auf eine schwarze Holztafel, die hält er mir vor die Brust. Ich begreife, worum es geht, und sage: »Wohl für die Verbrecherkartei?«

Er bleibt mir die Antwort schuldig. Die Leica klickt zwei Mal: Profil und en face. Danach werden die Fingerabdrücke genommen, von jedem Finger einzeln, dann Abdrücke vom Daumenballen und schließlich von der ganzen Hand. Das MGB ist gründlich!

In den folgenden Tagen holt man mich nicht mehr zum Verhör. Was bedeutet das? Hat man mich vergessen?

Solche Ungewissheit setzt dem politischen Häftling gewaltig zu, sie zerrt an seinen Nerven, nicht weniger als die Verhöre selbst. Weder die Gründe für die Verhaftung noch die Anschuldigungen zu kennen, ist eine harte Belastung. Wartenlassen gehört zu den Foltermethoden des MGB. 

Ich nutze mein Wissen über autogenes Training. Ein Bekannter meiner Familie brachte es mir bei. Er hatte früher als Arzt in Schweden gelebt und war dort mit der Theosophischen Lehre bekannt geworden, die im Hitler-Deutschland verboten war. 

Dieses autogene Training befähigt mich jetzt, völlig abzuschalten. Ich sitze bewegungslos wie eine Statue auf dem Pritschenrand und nehme meine Umgebung nicht mehr wahr, ich bin völlig weggetreten, fühle mich leicht und warm, in mir ist Ruhe. So kann ich manchmal stundenlang hocken und die Wand vor mir anstarren. Sie ist hellgrün getüncht, mit Flecken und Unebenheiten gesprenkelt, teilweise ist die Farbe abgeblättert oder hat sich verfärbt. Ich sitze davor und sehe die schönsten Bilder. Es ist, als schaute ich durch ein Fenster auf eine wunderschöne Landschaft, die mein Herz erfreut, und ich vergesse alles um mich herum.

46


Allerdings erschreckt mich ein immer wiederkehrendes Bild: Ich sehe einen Hügel an der Wand, darauf drei unterschiedlich große Kreuze — sonst nichts. Ähnliche Abbildungen gibt es von der Kreuzigung Christi und der beiden Schächer auf Golgatha. In mir regt sich Angst, meinen Eltern und meinem Ingo sei etwas passiert oder sie wären in Gefahr.

Ein weiteres Mittel, sich vor dem Verrücktwerden zu schützen, ist das Singen. Also singe ich.

Manchmal höre ich auch Musik und lausche angestrengt, um sie nicht zu verlieren. Einmal sind es Kinderlieder, ein andermal Etüden, die ich einst im Klavier­unterricht spielen musste. Mozarts Kleine Nachtmusik höre ich am häufigsten, wohl auch, weil ich sie gut kannte und selber oft und gern gespielt hatte, nicht gerade meisterhaft, aber doch so wie eine brave, fleißige Klavierschülerin.

Meine Mutter hatte eine raffinierte Methode entwickelt, mich zum täglichen Üben ans Klavier zu bekommen: Sie legte sich nach dem Mittagessen, nachdem mein Vater wieder zum Dienst gegangen war, gern ein wenig aufs Ohr, um ein kleines Schläfchen zu halten, wie sie sagte. Und sie sagte auch, besonders gut sei ihre Mittagsruhe, wenn sie mich Klavier spielen höre. Das hat mir, der damals Neun- bis Zehnjährigen, sehr geschmeichelt. Ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass meine geliebte Mutter ihren Schlaf meinem nicht gerade vollendeten Spiel opferte.

Erinnerungen können schön sein, ob sie aber immer ermunternd wirken, ist eine andere Frage. Der Rückblick auf unsere Vertreibung aus der Heimat Schlesien ist nicht dazu angetan, Euphorie hervorzurufen. So wenig wie die Geschichte meines jüngeren Bruders Horst, der erst 1947 aus französischer Gefangenschaft heimkehrte und eines Tages bei uns in Detmold eintraf, abgemagert und völlig verstört. 

Er hatte sich 1942, erst 17 Jahre alt, als Soldat zur Waffen-SS gemeldet, von der Schulbank weg, er war begeisterter Hitlerjunge gewesen. Nach der ersten infanteristischen Grundausbildung im Elsass und anschließender Panzerausbildung kam er 1943 zum Einsatz bei Cicina in Italien.

47


Mein Bruder Horst nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft im Oktober 1947 

Sein Panzer wurde abgeschossen, er selber schwer verwundet. Nach Genesung wieder Einsatz an der russischen Front nördlich des Schwarzen Meeres. Es fanden schwere Kämpfe statt mit großen Verlusten. Anfang 1945 wurde er bei Klagenfurt von jugoslawischen Partisanen in Gefangenschaft genommen, misshandelt, er sollte sogar erschossen werden. Es gelang ihm die Flucht, doch er landete in englischer Gefangenschaft. Er wurde im Juni 1945 an die Amerikaner übergeben, dort streng und schikanös behandelt. Er galt wegen seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS nun als politischer Gefangener. Tägliche Verhöre und Misshandlungen. Er wurde gezwungen, vor einem Hitlerbild nieder zu knien und zu sagen: »Ich bin ein deutsches Schwein.« Als er das nicht tat, verurteilte man ihn zu 28 Tagen Dunkelarrest bei schlechtem Essen und kahl rasiertem Kopf. Dieses Erlebnis hinterließ ihm ein Trauma bis zum heutigen Tag.

48


Nach weiteren Verlegungen landete er bei den Franzosen in mehreren Gefangenenlagern. Nach sechs misslungenen Fluchtversuchen gelang ihm der Ausbruch aus dem Lager Mutzig bei Strassburg. Über vermintes Gelände auf den Spicherer Höhen, mit geklauten Fahrrädern, im Kohlezug, zu Fuß, ohne etwas zu essen, ging sein Fluchtweg sieben Tage lang in Richtung Detmold, wo er seine Eltern wusste. 

Hier sahen wir uns wieder, er war erbärmlich dran, und er brauchte lange, bis er sich einigermaßen erholt hatte. Da er aber keine Entlassungspapiere der Franzosen besaß und auch keinen Personalausweis, bekam er keine Arbeit. In dieser Zeit nach dem Krieg war es schwer, Arbeit zu finden. Horst hatte noch nichts gelernt, er war ja erst 17 Jahre alt, als er sich freiwillig gemeldet hatte. Jetzt war er 22. 

Die englischen Besatzer setzten ihn unter Druck, sie wollten ihn zu Spionagezwecken einsetzen, was er zunächst ablehnte, bis sie drohten, ihn den Franzosen zu melden und auszuliefern.

Er vertraute sich mir an — was sollte, was konnte er tun? Er war hilflos und verzweifelt, sah so ein Neuanfang aus? Zur Spionage wollte er sich nicht hergeben, außerdem lag ihm »so etwas« nicht. Er äußerte Selbstmordabsichten.

Ich fasste einen unwahrscheinlichen Entschluss, der mir damals der einzige Ausweg schien. Es war im März 1948. Ich suchte die britische Dienststelle in Detmold auf, bei der sich Horst immer melden musste, und verlangte den Dienstleiter zu sprechen. Man reichte mich herum, und als ich endlich vor dem britischen Offizier saß und die Verfassung meines Bruders schilderte, erntete ich nur ungläubige Blicke. Was wollte ich mit meinem Besuch erreichen?

Ich bat, meinen Bruder in Ruhe zu lassen, ihn nicht solchen Konflikten auszusetzen, er hatte genug damit zu tun, seine schwere Gefangenschaft bei den Franzosen zu verarbeiten. Außerdem sei er für eine Spitzeltätigkeit äußerst ungeeignet. Ich bat den Briten, ihm Ausweispapiere auszustellen.

Der Offizier, durchaus nicht unsympathisch, vertröstete mich auf einen nächsten Besuch. Als ich nach einigen Tagen wieder erschien, empfingen mich zwei andere Offiziere, sie speisten mich ziemlich kurz ab mit den Worten: »Wir können Ihren Wünschen nicht entsprechen.« Ich war enttäuscht und sehr erregt und sagte impulsiv: »Dann nehmen Sie doch mich und lassen meinen Bruder in Ruhe. Bitte, hier bin ich!«  

Nun, sie nahmen mich, verpflichteten mich zur Mitarbeit und zum Schweigen, und nach einigen »Probeaufträgen« in der Umgebung der Stadt wurde ich nach Berlin geschickt. 

Meinen Bruder ließen sie fortan in Ruhe und er bekam seinen Personalausweis.

49


Wieder Nachtverhöre. Langohr ist friedlich gestimmt, er beginnt in ruhigem Ton: »Warum haben Sie kein Vertrauen zu uns? Wir wollen doch nur Ihr Bestes, glauben Sie mir. Wann werden Sie endlich vernünftig und sagen uns alles, was Sie wissen. Ihre Verbindungen, ihre Kontaktleute, ihre Treffpunkte. Ihr Schweigen hat doch keinen Zweck, eines Tages werden Sie uns alles erzählen. Die Zeit arbeitet für uns — nicht für Sie!«

 

Ich bin richtig stolz darauf, dem Untersuchungsrichter zu widerstehen und nicht zu bekennen, ich sei eine Spionin, wie er es gerne hätte. Aber ich bin auch erschöpft, kann sein Gerede schon nicht mehr hören. Ich antworte ihm: »Warum sagen Sie mir nicht genau, was Sie eigentlich wirklich von mir wollen, wir können ja darüber verhandeln.« Erstaunt blickt er mich an, seine Augenbrauen rutschen in die Höhe. »Vielleicht sind wir bis jetzt zu gut zu Ihnen gewesen, aber das kann sich ändern«, sagt er mit schmalen Lippen, engen Augen, kaltem Blick. Stunde um Stunde verbringe ich diese Nacht auf dem Holzstuhl, ich weiß schon nicht mehr, wie ich sitzen soll, alles tut mir weh. Und die dünne Krautsuppe macht sich bemerkbar. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und bitte, auf die Toilette gehen zu dürfen. Langohr sieht mich spöttisch an, dann greift er zum Telefon, eine Dolmetscherin kommt und begleitet mich. Selbst auf diesem Ort darf ich nicht allein sein. 

Zum Abschluss jedes Verhörs wird ein Protokoll geschrieben, das der Untersuchungsrichter schon während der Vernehmungen aufgesetzt hat. Oft sind es bis zu zehn Seiten, DIN A4, in russischer Sprache. Jedes Blatt muss einzeln vom Gefangenen unterschrieben werden, aber was er da unterschreibt, weiß er nicht, es sei denn, er versteht die Sprache und kann die kyrillische Schrift. Niemand weiß, ob er nicht mit seiner Unterschrift die Taten eingesteht, die man ihm zur Last legt. 

Die Vernehmer wenden mannigfache Verhörmethoden an, ich lerne sie nach und nach alle kennen. Am hinterhältigsten ist es, wenn sie die Psyche des Gefangenen angreifen. Inzwischen aber weiß ich damit umzugehen, ich kann parieren, weil ich erkannt habe, worauf sie dabei aus sind.

50


Sie wollen den Gefangenen »weich kochen«, ihn fertig machen, seine Nerven ruinieren, damit er alles und »nichts als die Wahrheit« sagt. Das heißt, er soll das sagen, was sie von ihm hören wollen. So versucht es Langohr bei mir mit der Drohung: »Was würden Sie sagen, wenn wir mit Ihnen in den Wald fahren und ohne Sie zurückkommen?«

Ich muss lächeln über diese primitive Masche und sage knapp: »Dann bin ich vermutlich tot, von Ihnen im Wald erschossen worden.« Ohne ein weiteres Wort setzt er sich wieder auf seinen Stuhl. Einige Zeit schweigt er, sagt dann: »Sie glauben vielleicht, dass es Ihnen schlecht bei uns geht, aber es wird schlechter für Sie, wenn Sie die Zusammenarbeit mit uns länger verweigern. Hier ist sowieso alles drin«, und er schlägt mit der Hand auf die Akten, die vor ihm liegen.

Mein Untersuchungsrichter ist vermutlich ein Elitekommunist, sein ganzes Leben lang auf Parteidisziplin gedrillt, ein Schäferhund, der die Herde der Sowjet­menschen zusammenhält.

Ich bin nicht erstaunt, als er versucht, mich zum Kommunismus zu bekehren. »Sie müssen die Lehren des dialektischen Materialismus studieren; nehmen Sie dieses Buch mit in die Zelle und lesen Sie!« Er legt das Buch vor mich hin, der Titel lautet: Geschichte der kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), kurzer Lehrgang. »Lernen Sie besonders das Kapitel über den dialektischen und historischen Materialismus, er ist das Kernstück unserer Lehre!«

Aus reiner Langeweile beginne ich zu lesen. Ich studiere, was dort über die Revolution von 1905 steht, und finde, dass damals noch idyllische Zeiten in Russland herrschten.

Wenn das Auge des Postens im Spion erscheint, stelle ich mich in Positur und sage laut und pathetisch in Richtung Guckloch: »Der dialektische Materialismus ist die Weltanschauung der marxistisch-leninistischen Partei!« Oder ich rufe: »Es lebe Stalin und die große sozialistische Oktoberrevolution!«

Ich höre, wie ein Posten vor der Zellentür zum anderen sagt: »Jetzt ist die auch verrückt geworden!«

Beim nächsten Verhör beginnt Langohr wieder mit der moralischen Tour, mit meinen Mutterpflichten meinem Sohn gegenüber. Da ich auf diesem Ohr besonders empfindlich bin, reagiere ich heftig und rufe: »Lassen Sie endlich meinen Sohn aus dem Spiel!« 

»Das ist kein Spiel«, sagt er, »und das wissen Sie ganz genau!«
»Das ist noch mehr als ein Spiel«, schreie ich nun, »das ist ja der reinste
Zirkus!«
Sein Gesicht wird zur starren Maske, als er antwortet: »So so, Zirkus
sagen Sie? Nun, den sollen Sie kennen lernen!«
Das Verhör wird sofort beendet, ich komme in meine Zelle zurück, der
Posten schließt mich ein.

51-52


  Karzer  

 

Kurz darauf werde ich wieder aus der Zelle geholt, der Posten bringt mich nicht auf üblichem Weg zum Verhör, sondern in den Keller. Vor einer wuchtigen Tür macht er Halt, öffnet sie und schiebt mich in ein dunkles Loch. Eine Russin erscheint und fordert mich auf, mich zu entkleiden; Hemd und Unterhose darf ich anbehalten. Dann gibt sie mir einen Stoß, und ich stolpere über mehrere Stufen nach unten. 

Soviel ich erkennen kann, befinde ich mich in einem leeren Raum, einem Verlies, darin nichts als ein eiserner, rostiger Ring hoch an der Wand. Der Steinfußboden ist kalt, und ich trete von einem Fuß auf den anderen. Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich kauere an der Wand nieder und schlinge die Arme um die Knie.

Da spüre ich es nass an meinen Füßen; ich taste mit der Hand über den Boden. Wasser! Will man mich ertränken wie ein Stück Vieh? Tiefe Resignation überkommt mich. Das Wasser steigt rasch; ich stehe auf und lehne mich an die Wand, über mir weiß ich den eisernen Ring, an dem ich mich fest halten kann, sollte das Wasser weiter steigen.

Langsam fühle ich es eiskalt an meinem Körper emporklettern. Jetzt reicht es schon bis zur Hüfte, und es steigt weiter. Meine Zähne schlagen aufeinander, aus Angst und vor Kälte. Da drängen sich mir Worte auf die Lippen, ich will beten — Vater unser —, aber ich komme über die ersten Worte nicht hinweg. Ich habe das Gebet vergessen. Wie lange ist es her, dass ich gebetet habe? Ich versuche wieder, das Vaterunser zu sprechen, aber es gelingt mir nicht. 

Nun finde ich eigene Worte, ich rede mit Gott, dem ich in den letzten Jahren so fern gewesen bin. Ich spüre, jetzt ist er mir nahe, ich bin ihm nahe, er hört mich, er wird mich nicht verlassen in der Stunde meiner größten Not; er wird auch mein Stammeln, mein Flehen erhören. 

Plötzlich geht das Licht an, geblendet schließe ich die Augen. Wahrscheinlich will man sehen, ob ich noch lebe. Aber so schnell gebe ich nicht auf! Ein Lebenswille überkommt mich, wie ich ihn niemals zuvor gekannt habe.

53


Ich spüre, dass das Wasser rasch sinkt, nur mit Mühe kann ich mich von dem Eisenring lösen, meine Hände haben sich verkrampft. In meinem Körper ist kaum noch Leben. Ich versuche, ein paar Bewegungen auf dem glitschigen Boden. Ich friere entsetzlich in der nassen Kleidung, entschlossen ziehe ich die Unterhose aus, das Hemd ist lang genug. Wo ist mein Schutzengel? Warum lässt er das alles passieren? Mir fällt ein Ereignis ein: Ich war gerade fünf oder sechs Jahre alt, da brach ich beim Schlittschuhlaufen ins Eis, man konnte mich gerade noch rechtzeitig herausholen. Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, nahm meine Mutter mich in den Arm und sagte: »Da hast du aber Glück gehabt, mein Sternchen, und kannst dich bei deinem Schutzengel bedanken.«

»Wieso Schutzengel«, erwiderte ich böse, »wenn er nicht richtig auf mich aufpasst!«

»Nun, er hat schon auf dich aufgepasst, sonst wärst du sicher ertrunken. Vielleicht hat er sich nur gerade mal umgedreht, als dir das passierte.« »Ja, vielleicht hast du Recht — danke, mein Schutzengel«, habe ich gesagt. Das Wasser steigt abermals; ich beiße die Zähne zusammen ... Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, als diese Qualen ein Ende nehmen. Irgendwann taumele ich in meine Zelle zurück und sacke zusammen.

Nur langsam erhole ich mich. Während der nächsten Tage finden keine Verhöre statt.

Dann werde ich wieder abgeholt, zu ungewohnter Zeit. Fast versagen mir die Knie; war der Zirkus noch nicht vorbei?

Dieses Mal schiebt mich der Posten in einen hell erleuchteten Raum. Erstaunt sehe ich mich um: An der Schmalseite der Zelle steht eine große, weiße Holztafel, von starken Lampen angestrahlt. Daneben vier Offiziere, eine Russin und ein Feldwebel.

Ehe ich begreife, was das Ganze zu bedeuten hat, tritt die Russin zu mir und fordert mich auf, mich auszuziehen. Ich bin entsetzt, denn fünf Männer sind im Raum. Als die Russin mein Zögern sieht, beginnt sie, mich zu entkleiden. Resigniert lasse ich es geschehen.

54


Ich weiß, dass es keinen Zweck haben würde, mich zu wehren. Aber als sie mir auch Hemd und Hose abnehmen will, protestiere ich heftig. Die Russin ruft den Offizieren etwas zu, woraufhin sich einer von ihnen zu mir umdreht und ruft: »Ziehen Sie nur alles aus, wir sind nackte Frauen gewöhnt. Wir werden Ihnen nun zeigen, was Zirkus ist!« Er bricht in ein gemeines Lachen aus, in das die anderen einfallen. Als ich nackt bin, packt mich die Russin und schiebt mich vor die Holzwand ins Lampenlicht. Ich weiß nicht, wohin ich blicken soll, ich schäme mich entsetzlich. Einer der Männer sagt: »Stellen Sie sich ganz an die Wand und halten Sie sich ruhig!«

Mechanisch folge ich diesem Befehl. Um nicht in diese widerlich-grinsenden Visagen sehen zu müssen, schließe ich die Augen. Sofort donnert eine Stimme: »Machen Sie die Augen auf! Nun beginnt der Zirkus!« Wieder lachen sie.

Einer der Offiziere ist inzwischen an einen kleinen Tisch getreten, der am anderen Ende der Zelle steht. Er nimmt einige spitze Messer in die Hand, Messer, wie sie Cowboys im Zirkus fürs Scheibenwerfen benutzen. Mit Entsetzen sehe ich ein Messer nach dem anderen auf mich zufliegen. Mit klatschendem Geräusch bohren sie sich neben meinem Körper in die Holzwand. Ich spüre den leichten Luftzug an meiner Haut. Nichts weiter ist zu hören als dieses Geräusch. Diese Attacke halte ich nicht länger durch. Die Knie versagen mir, ich stoße einen Schrei aus, mir wird schwarz vor Augen, und ich breche zusammen.

Als ich wieder zu mir komme, sehe ich ein besorgtes, liebes Mädchengesicht über mich geneigt. »Hallo, da sind wir ja wieder«, sagt das Gesicht und lächelt mich an. Ich bin ins Leben zurückgekehrt und in einer anderen Zelle. »Was haben sie denn mit Ihnen gemacht, dass Sie so völlig weggetreten sind?«

Als sie merkt, dass ich noch nicht in der Lage bin, große Reden zu halten, meint sie: »Na, erholen Sie sich erst mal, erzählen können Sie ja später. Ich bin Sylvia Martens, und das ist Karin Brandt«, dabei zeigt sie auf eine neben ihr stehende Frau. »Sie sind in der Zelle 31 auf dem kleinen Gang.« Sylvia Martens, das Klopfmädchen aus der Nebenzelle.

55


Als ich nach dem Zirkus wieder zum Verhör geholt werde, bringt mich der Posten in ein mir unbekanntes Zimmer, auch der Untersuchungsrichter ist ein anderer, ein ruhiger, älterer Offizier, der gut deutsch spricht und auf mich einen sympathischen Eindruck macht. Einen Dolmetscher braucht er nicht. Seine Fragen kommen kurz und präzise, doch es sind noch immer die gleichen Fragen. Offensichtlich fällt ihnen nichts Neues ein. Vom Zirkus wird nicht gesprochen, es ist, als hätte er nicht stattgefunden.

Das Zittern meiner Hände und Knie während der Verhöre hat aufgehört. Ich habe keine Angst mehr. Als Frau Brandt an einem Donnerstag mit ihren Sachen abgeholt wird, wissen wir, was das bedeutet: Das Tribunal in Lichtenberg steht ihr bevor. Nun bin ich mit Sylvia allein, und da die Verhöre nicht mehr so häufig stattfinden, haben wir mehr Zeit als sonst. Sie erzählt mir aus ihrem Leben:

»Ich komme aus Ostpreußen, wurde in Allenstein geboren. Bis 1945 lebte ich da mit meiner Mutter, Vater war schon 1942 gefallen, Geschwister habe ich nicht. Als die Russen in Ostpreußen einfielen, verschlug es uns beide nach Leipzig, bald darauf starb meine Mutter an Lungenentzündung, sie konnte sich von der Flucht nicht erholen.« 

Ihre Schilderung wird jäh unterbrochen durch einen langen schrecklichen Schrei eines Gefangenen. Wir halten die Luft an und lauschen. Er konnte nur ein paar Zellen weiter sitzen, denn wir verstehen seine Worte. Seiner hellen Stimme nach ist er noch jung: »Mach mir die Hände los, Kamerad, ich muss auf den Kübel! Ich möchte trinken! Bitte!« — »Sauf doch, du Schwein, sauf!«

Sylvia empört sich: »Damit macht das MGB den stärksten Mann fertig! Hören Sie sich das nur an, oh, ich könnte ihn umbringen.« Die gequälte Stimme fleht: »Kettet mir die Hände los, ich will essen, ich habe Hunger!«

56


Vor einer Stunde schon war das Essen ausgeteilt worden. Sylvia empört sich weiter: »Da stellen sie ihm das Essen vor die Nase und lassen ihm die Hände gefesselt.« — Der Mann fällt in ein weinerliches Klagen: »Mama, so hilf mir doch! Mama, hörst du mich denn nicht? Ich hab' doch nichts getan! Warum sperrt man mich hier ein? Ich bin unschuldig! Lasst mich raus hier! Aufmachen! Aufmachen!«

Wir hören, wie er mit gefesselten Händen gegen die Zellentür trommelt. Dabei schreit er weiter: »Ich will essen und trinken! Macht meine Hände los! Was macht Ihr mit mir?« — Seine Worte gehen in Schluchzen über, das uns das Herz zerreißt. Der Posten hat nur ein gemeines Lachen: »Gefällt dir nicht bei uns, was? Immer schrei, deine Mama hört dich nicht!«

Ich halte mir die Ohren zu, diese Quälerei kann ich nicht länger ertragen. Dem jungen Mann versagen die Nerven, er schreit gellend, und es ist bestimmt im ganzen Gefängnis zu hören: »Mama! Mama, so hilf mir doch! O Gott, mein Gott!!« — Der Posten schlägt mit seinem großen Schlüssel dröhnend gegen die Zellentür und ruft: »Bis du jetzt endlich still! Ich schlage dir den Schädel ein!« Danach hören wir nichts mehr.

 

Die Leidensfähigkeit der Gefangenen ist unterschiedlich, und man kann feststellen, dass die Frauen bessere Nerven haben, die psychischen Attacken länger ertragen. Allerdings werden sie nur in wenigen Fällen — zum Beispiel im Karzer — misshandelt, bei den Männern dagegen ist dergleichen an der Tages­ordnung.

Sylvia, meine Zellengenossin, ist ein liebes, aufgewecktes und sympathisches Mädchen, das ihre Situation akzeptiert, so wie sie ist, sie macht sich nichts vor. »Pech gehabt«, sagt sie dazu, das ist alles. In ihrer Art tut sie mir gut; das Ernste sieht sie weniger ernst; die Vernehmungen sind für sie eine Möglichkeit, sich etwas auszuleben, ihrer Phantasie Freiheit zu geben, und in ihrer lockeren Art gelingt es ihr, mich etwas aufzumuntern und abzulenken.

Immer wenn sie von einer Vernehmung zurückkommt, hat sie eine Überraschung parat. Oft macht es ihr richtigen Spaß, ihren Untersuchungsrichter in Verlegenheit zu bringen, und das will schon etwas heißen. Als sie zum Verhör gerufen wird, prophezeit sie: »Heute werde ich meinen Untersuchungsrichter mal wieder außer Fassung bringen. Wenn ich ihm Antworten gebe, die in seinen Belehrungskursen nicht vorkamen, holt er sich oft telefonischen Rat.« 

57-58


Aufarbeitung

 

Im August 1994 stehe ich mit meinem Sohn und seiner 12-jährigen Tochter Sabine vor dem Gebäude in Berlin-Karlshorst, in dem ich 1952 als Gefangene der Sowjets mehrere Monate eingesperrt war und wo die nächtlichen Verhöre mich fast kaputt gemacht hatten. Mein Sohn war nach Berlin gekommen, um nach dem Mauerfall 1989 endlich die Gefängnisse in Ostberlin zu sehen, in denen seine Mutter als politischer Häftling saß. Und auch Sabine, ein aufgewecktes, ja neugieriges Mädchen, war sehr interessiert an dem Schicksal ihrer Großmutter.

 

Berlin-Lichtenberg: Hier fand das Tribunal statt

59


Das Gebäude steht leer, man hat wohl noch keine passende Verwendung dafür gefunden. Bis Kriegsende war es das Antonius-Krankenhaus, es liegt in einem großen Park in einer schönen Gegend von Berlin, rundherum stehen Einfamilienhäuser mit kleinen Gärten. Als die Sowjets diesen Stadtteil 1945 zu ihrem Hauptquartier machten, mussten die Bewohner ihre Häuser verlassen, und die Familien der Russen zogen ein. Das ganze Viertel wurde mit einem hohen Zaun umgeben, dessen Eisentor, das ohne Kontrolle nicht zu passieren war, rund um die Uhr von sowjetischen Soldaten bewacht wurde.

Nun liegt das Gebäude verlassen vor uns, der Putz ist abgebröckelt, die Fensterscheiben sind zerborsten, und hohes Unkraut hat sich überall breit gemacht.

Im Hinterhof kann man die ehemaligen Spazierzellen erkennen, einige Mauern stehen noch. Hier durften die Gefangenen 15 Minuten am Tag ihre Runden drehen.

Später besuche ich mit Ingo und Sabine auch das Gefängnis in Lichtenberg, in der Magdalenenstraße, in dem ich 1952 vor dem Militärtribunal stand und mein Urteil hörte: 15 Jahre Straflager. Ingo ist auch heute noch nicht alles klar, was damals geschah: »Wieso eigentlich Militärtribunal bei den Russen?«

»Bis 1957 hatten die Sowjets das Sagen, wenn sie ihre Belange berührt glaubten. Die Gefangenen, gegen die ein entsprechender Vorwurf erhoben wurde, kamen vor ein sowjetisches Militärgericht und wurden nach sowjetischem Militärrecht verurteilt. Es kam zwar vor, dass die Sowjets Häftlinge an die ostzonalen Behörden abgaben, wahrscheinlich Fälle, die für sie uninteressant waren. Diese Häftlinge erhielten dann ihr Urteil von der DDR-Gerichtsbarkeit, es fiel etwas niedriger aus als bei den Russen, und sie landeten in Gefängnissen in der DDR, in Bautzen, in Hohenschönhausen, in Potsdam oder Torgau.«

Wir versuchen, in das Gebäude zu kommen, es macht keinen verkommenen Eindruck, im Gegensatz zu Karlshorst. Es gibt eine Klingel neben der Eingangstür, wir drücken darauf, und nach einer kurzen Zeit öffnet sich die Tür. Ein Mann fragt, was wir wollen. Ich sage: »Ist es möglich, das Haus zu betreten?« —  »Nein, das ist nicht möglich. Was wollen Sie hier?«

Die Holzpritschen im Gefängnis Berlin-Karlshorst, dem ehemaligen Antonius-Krankenhaus

Ich sage: »Nun, ich habe 1953 als politischer Häftling hier gesessen und würde gern die Zellen sehen.« — »Die gibt es nicht mehr. Das Haus wird gerade umgebaut in ein Krankenhaus. Es tut mir Leid.« Sabine fragt: »Warum willst du denn die Zellen sehen, Omi?« 

Ich muss lächeln, denn das ist nur ein kleiner Grund meines Begehrens: »Die Pritsche in meiner Zelle hatte ein großes Astloch, und dahinein habe ich die Figuren gesteckt, die ich aus meinem Brot geformt hatte. Darunter war auch der segnende Christus á la Rio de Janeiro. Ich dachte, vielleicht finde ich ihn noch.«

60-61

#

 

  ^^^^

www.detopia.de