Zellenleben 1
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Wir haben eine Art Tagesordnung aufgestellt: Nach dem Wecken und Kübeln führen wir die »Kosmetikstunde« ein; das klingt absurd, aber sie wurde durchgeführt mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln.
Wir haben zwar weder Zahnbürste noch Seife, nur den Rest eines alten Kamms und auch keine Hautcreme. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal ohne diese Dinge auskommen würde.
Als ich meine Periode habe, klopfe ich nach dem Posten. Auf meine Bitte um ein paar Binden oder Watte bringt er mir Krepppapier. Alle Frauen machen die gleiche Erfahrung.
Wir haben eine Methode entwickelt, wie wir an etwas »Creme« kommen: Wir schöpfen die wenigen Fettaugen, die auf unserer täglichen Krautsuppe schwimmen, ab und bereiten daraus eine Art Creme. Das Fett wird mehrmals in unserem Teebecher gewässert, um ihm das Salz zu entziehen.
Aus dem nassen, klebrigen Schwarzbrot, wovon wir täglich etwa 300 Gramm bekommen, formen wir ein kleines Näpfchen, lassen es ein paar Tage trocknen und können es dann als Cremebehälter benutzen. Mit dieser Schönheitscreme nun massieren wir uns sehr sparsam Gesicht und Hände.
Eine tägliche Massage der Beine ist ebenfalls notwendig, allerdings ohne Fett. Die meisten Frauen haben schon Wasser in den Beinen, dagegen gibt es kein anderes Mittel als tägliche Massage.
Wir bekommen einen Neuzugang: Gerda Hoppe, etwa 29 Jahre alt, ebenso blass wie wir, also keine Neueinlieferung. Sie ist mir — und auch Sylvia — vom ersten Augenblick an unsympathisch. Sylvia flüstert: »Vorsicht mit Äußerungen!« Wir rechnen damit, dass sie ein Spitzel ist, und wollen sie auf die Probe stellen. Ich erzähle also eine Geschichte von einem Herrn Lehmann aus Weimar und umreiße mit scherzenden Worten sein Leben, sage: »Wer weiß, ob er heute noch dort ist. Wahrscheinlich ist er schon nach Westdeutschland geflohen, denn er war ein alter Nazi.«
Zelle 51: Monate des Leidens
Bei der nächster Vernehmung schon fordert mich der Untersuchungsrichter auf, von Weimar zu erzählen, wann ich dort war und was ich dort gemacht habe.
Ich kann ein Lächeln nur schwer unterdrücken und sage: »Ich kenne Weimar nicht, war niemals dort. Es soll eine schöne Stadt sein.« Der Untersuchungsrichter blättert irritiert in seinen Akten, fragt: »So, Sie kennen niemanden in Weimar? Auch nicht Herrn Lehmann?« Ich zögere die Antwort hinaus, dann zeige ich auf das Bild an der Wand hinter ihm: »Das ist Herr Lehmann, Bäckermeister Lehmann aus Weimar. Von diesem Bild her kenne ich ihn. Leider hatte ich nicht das Vergnügen, ihn persönlich kennen zu lernen. Das Bild ist mindestens 50 Jahre alt.« Er schnappt nach Luft, seine Halsader tritt stark hervor, er sagt drohend:
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»Sie! Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, Herr Untersuchungsrichter, dass ich mithilfe des Bäckermeisters Lehmann Frau Hoppe in meiner Zelle als Spitzel entlarvt habe, ich misstraute ihr vom ersten Augenblick an.« Mit schnellem Griff hat er den Telefonhörer in der Hand und führt ein kurzes Gespräch.
Gleich darauf ist die Vernehmung beendet. Als ich in die Zelle zurückkehre, ist nur Sylvia da. »Soeben wurde Frau Hoppe abgeholt, mit ihren Sachen. Was hat das zu bedeuten?«
»Das bedeutet, dass sie ein Spitzel ist!«
An einem Morgen, Sylvia macht gerade eine besonders attraktive Turnübung, donnert es an unserer Zellentür, der Posten ruft: »Eto neljsja! Saditje! — Das ist verboten! Setzen Sie sich!« Er hat Sylvia durch den Spion beobachtet. Sie lässt sich jedoch nicht stören, dreht nur den Kopf in seine Richtung und streckt ihm die Zunge heraus. Das Auge verschwindet, und sie wird nicht mehr gestört.
Unser Brot, mit etwas Spucke vermischt und gut durchgeknetet, ergibt eine modellierfähige Masse. Ich forme daraus Figuren und Köpfe, da ich mich noch immer nicht an das nasse Brot gewöhnt habe und es nie ganz aufesse. Eine Figur gelingt mir besonders gut: Es ist eine kleine Madonna, ähnlich jenen, die man häufig aus Holz geschnitzt sieht, mit gefalteten Händen, geneigtem Kopf und einem faltenreichen Mantel. Ich lasse sie einige Tage trocknen und nehme sie von da an mit zu den Verhören, als Talisman, versteckt in meiner linken Hand.
Diese kleine Madonna sollte ich durch sämtliche Kontrollen und Leibesvisitationen bis nach Workuta und wieder zurück nach Berlin bringen. Vielleicht hat sie mich beschützt. Inzwischen ist sie steinhart und glänzt wie poliertes Holz.
Ich beklaue meinen Untersuchungsrichter! Es sind einzelne, abgebrannte Streichhölzer, die ich in unbeobachteten Augenblicken aus seinem Aschenbecher fische und schnell verschwinden lasse. Wir benutzen sie zum Zähneputzen, zum Säubern der Zwischenräume sowie zur Pflege der Fingernägel. Für die Nägel selbst gibt es nichts anderes als die Zähne, sie werden abgebissen; darin kann man eine erstaunliche Fertigkeit entwickeln!
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Sylvia bringt von einem Spaziergang im Hof ein kleines Stückchen Ziegelstein mit, das dient uns als Nagelfeile. Der Winter ist da, zeitig dieses Jahr, Ende November. Die lauwarme Zentralheizung in der Zelle kommt gegen die Kälte nicht an. In weißer Seidenbluse und dünner Jacke, so, wie man mich vor Wochen verhaftet hat, gehe ich nun täglich 15 Minuten im Hof spazieren. Die bloßen Füße stecken in leichten Sommerschuhen. Die anderen Frauen sind nicht besser dran.
Im Tageslicht der Spazierzelle stelle ich fest, dass sich über meine Hände und Arme kleine, braune Flecken ausgebreitet haben und meine Haut gelb ist wie eine Zitrone — wohl eine Folge des Sauerstoffmangels in der Zelle und des fehlenden Tageslichts.
Neuerdings versucht man, mich mit der Eiszelle mürbe zu machen. Ich habe den Eindruck, dass jeder Untersuchungsrichter eines Tages Strenge, also Karzer, einsetzt, um die gewünschte Aussage aus dem Häftling herauszupressen. Das bedeutet entweder drei Tage normalen Karzer, Wasser-Karzer, Eis-Karzer oder, wie ich es kennen lernen musste, Zirkus. Von meinem jetzigen Untersuchungsrichter habe ich das zwar nicht erwartet, weil er mir ruhiger, gütiger vorkam als sein Vorgänger, aber da habe ich mich wohl getäuscht.
Die Eiszelle, in die der Posten mich führt, liegt im dritten Stock; ein Eisengestell mit einem dünnen Strohsack ist alles, was ich darin entdecken kann. Das Fenster hat keine Scheiben, die Heizung arbeitet nicht. Ich friere entsetzlich in meiner dünnen Kleidung, da hilft auch keine alte Männerunterhose. Womit soll ich mich beim Schlafen zudecken? Ich versuche, mich in den Strohsack zu wickeln, aber das klappt nicht. Dann lege ich mich auf das eiserne Bettgestell und ziehe den Strohsack über mich. Ergebnis gleich Null.
Als ich hierher kam, war ich auf Schläge gefasst, die hätte ich ertragen können, so meine ich, eher als diese dumpfen Schmerzen im ganzen Körper. Jeder Knochen tut mir inzwischen weh vom Liegen auf der harten Pritsche, die Kälte, die durch den Körper kriecht, dazu dieses ungeheure Schlafbedürfnis und der ständige Hunger. Ich bin inzwischen total unterernährt, habe geschwollene Beine, einen aufgeblähten Bauch und ein bleiches, eingefallenes Gesicht.
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Das Essen, an das ich mich gewöhnt habe, enthält außer dem Soda, das den Sexualtrieb dämpfen soll, Kümmel, um den Mangel an Bewegung auszugleichen, der die Verdauung der Gefangenen beeinträchtigt. Ich höre in meiner Eiszelle, dass die Häftlinge in den anderen Zellen zum Kübeln, also zur Toilette geführt werden, dass sie Frühstück erhalten — bei mir tut sich nichts. Ich sitze und warte, starre die Wand an, habe nur ein Dröhnen im Kopf. Der Hintern tut mir weh, ich weiß schon nicht mehr, wie ich sitzen soll.
Irgendwann am Vormittag schiebt mir ein Posten einen Blechtopf mit kaltem Wasser und eine dünne Scheibe Brot herein — das ist alles für den ganzen Tag. Kein Mittag- und kein Abendessen, nichts Warmes. Da in meiner Zelle kein Kübel steht und der Posten mich nicht zur Toilette lässt, pinkele ich schließlich in die Ecke.
Als mich ein großes Bedürfnis drückt, lässt der Posten sich erweichen und begleitet mich in den Toilettenraum. Ich hocke mich hin, der Posten steht in der geöffneten Tür und schaut interessiert zu. Als ich nach Papier verlange, schüttelt er den Kopf, grinst und sagt: »Nimm Finger.«
Was mir die Wirklichkeit vorenthält, ersetzt mir die Erinnerung. Wie froh kann ich sein, eine glückliche und friedliche Kindheit erlebt zu haben. Ich erkannte, wie wichtig schöne Erlebnisse sind, die einem niemand nehmen kann und von denen man in extremen Situationen zu profitieren vermag.
Meine erste Begegnung mit Russen in Berlin kam durch den Besuch des Ost-Sektors. Damals, es war im Oktober 1949, war ich wieder einmal hinübergefahren, um die Schwester einer befreundeten alten Dame aus Detmold zu besuchen, die in ärmlichen Verhältnissen im Osten Berlins lebte. Ich brachte ihr ab und zu ein paar Lebensmittel. Am Bahnhof Friedrichstraße gerate ich ein eine Kontrolle. Zwei Volkspolizisten stehen vor mir und verlangen meinen Personalausweis. Ich hole ihn heraus, die beiden blicken mich streng an und zeigen auf meinen Einkaufsbeutel. Der eine fragt: »Was haben Sie denn da drin?« Ich sage wahrheitsgemäß: »Ein paar Lebensmittel.« Der Vopo will wissen: »Was wollen Sie denn damit im demokratischen Sektor? Etwa verkaufen?«
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»Nein, gewiss nicht«, versichere ich schnell, »ich besuche nur eine kranke Frau und will ihr eine kleine Freude damit machen.« »Damit können Sie ihr keine Freude machen«, meint der Schlawiner, »im demokratischen Sektor von Berlin kann sie alles kaufen, was sie braucht.«
Als der Zug anhält, fordern mich die beiden auf, auszusteigen und ihnen zu folgen. »Wir müssen ihre Personalien feststellen«, sagen sie. »Aber die stehen doch in meinem Ausweis«, widerspreche ich. Es nutzt nichts, sie nehmen mich in ihre Mitte und bringen mich in eine Wachstube auf dem Bahnsteig.
Sie verschwinden mit meinem westdeutschen Personalausweis, ein junger Vopo bleibt bei mir zurück. Die Zeit vergeht, nichts geschieht. Langsam beginne ich unruhig zu werden; stehe ich bei ihnen vielleicht schon auf der schwarzen Liste? Ich weiß, dass sie mit Leuten, die sie auf dem Kieker haben, kurzen Prozess machen, und ich weiß, dass die Angst des Betreffenden ihr stärkster Verbündeter ist. Ich beschließe, keine Angst zu zeigen und ihnen frech entgegenzutreten. Da kommen die beiden zurück, und ich sage: »Wie lange soll ich denn hier noch warten?« »So lange, bis Sie abgeholt werden«, ist die Antwort. »Was denn«, sage ich forsch, »von wem und wohin?« Ich ernte nur ein stummes Schulterzucken.
Gleich darauf betritt ein weiterer Uniformierter den Raum, offenbar ein Offizier der Volkspolizei, denn er hat Lametta auf den Schultern. »Kommen Sie«, sagt er, und zieht mich am Ärmel hoch. »Was ist los«, frage ich und zeige nicht, dass ich Angst habe. »Was wollen Sie von mir?«
»Das werden Sie ja sehen. Nun kommen Sie!« Was bleibt mir anderes übrig, ich muss der Einladung gehorchen. Eine schwarze Limousine bringt uns in schneller Fahrt durch die Stadt. Wohin wir fahren, ist mir unklar, denn so gut kenne ich mich im Ostsektor nicht aus. Das Auto stoppt vor einer Barriere, ich sehe zwei russische Soldaten, die sie öffnen. Mir klopft das Herz bis in den Hals! Was hat das zu bedeuten?
Im Haus werde ich einem Zivilisten übergeben, er telefoniert, auf Russisch.
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20 Minuten später sitze ich drei Russen in Zivil gegenüber. Sie haben mir meine Handtasche abgenommen und auf dem Tisch ausgekippt. Zum ersten Mal bedauere ich, dass ich immer so viel mit mir herumschleppe; ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, was alles in eine kleine Handtasche hineingeht.
Die drei staunen offenbar ebenfalls, sie schmunzeln, als sie den Inhalt sortieren. Sie machen zwei Häufchen; auf das eine kommen die für sie uninteressanten Sachen wie Taschentuch, Kamm, Spiegel und Lippenstift. Auf das zweite Häufchen legen sie die Wohnungsschlüssel und ein paar Fotos. Das für sie wichtigste und interessanteste aber ist mein Taschenkalender. Ich lasse rasch die Telefonnummern passieren, die darin stehen, und frage noch einmal höflich: »Meine Herren, wollen Sie mir nicht verraten, was Sie mir vorwerfen? Was habe ich getan, dass Sie mich hier festhalten und wie eine Gefangene behandeln?« Ich blicke sie treuherzig an und dann auf meine Uhr, sage: »Es ist jetzt 20.30 Uhr, in einer halben Stunde muss ich zu Hause sein.« »Sie haben Lebensmittel von Westberlin in den demokratischen Sektor gebracht. Warum?«
»Warum?« echoe ich, »weil ich einer alten, armen Frau eine Freude machen wollte.«
»Bei uns gibt es keine armen Frauen«, hakt der Dolmetscher sofort ein. »Wer ist diese Frau?«
Ich erkläre es ihnen. Sie wollen die Adresse, und ich nenne sie, sage ihnen auch gleich, woher ich die Frau kenne.
»Sie kommen also öfter in den demokratischen Sektor, nicht wahr?« »Nur einmal in der Woche, zu Frau Schmidt.« »Und worüber unterhalten Sie sich mit Frau Schmidt?« »Worüber? Nun, worüber alte Frauen gerne sprechen: über ihre Kindheit, ihre Familie, ihre Krankheiten.« »Das ist alles?«
»Ja«, antworte ich, »das ist alles.«
Sie unterhalten sich eine Weile in Russisch, der eine blättert in meinem Taschenkalender. Dann deutet er auf einige Adressen und Telefonnummern in meinem Notizbuch und will wissen, was das für Leute sind. Ich sage es mit ruhigem Gewissen, denn diese Leute sind harmlos.
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Dann deutet er auf eine Eintragung, ein Zeichen, das alle drei Wochen wiederkehrt. Ich sehe, er wird richtig nervös, meint wohl, geheime Zeichen oder Treffen entdeckt zu haben.
Der Dolmetscher fährt mich an: »Was sind das für geheime Aufzeichnungen in jedem Monat? Gestehen Sie, dass Sie für den amerikanischen Geheimdienst arbeiten!«
Das klingt so sicher wie das Amen in der Kirche, und es tut mir fast Leid, dass ich sie jetzt enttäuschen muss. Ich lasse mir erst noch einmal genau zeigen, welche geheimen Zeichen er meint. Der Dolmetscher sagt: »Hier, alle vier Wochen!«
»Nein«, widerspreche ich, so sanft ich kann, »alle drei Wochen«. »Nun gut, alle drei Wochen«, räumt er ein, »also, was haben diese Zeichen zu bedeuten?«
Die drei starren mich erwartungsvoll an. Ich lächle und sage langsam: »Solche Aufzeichnungen macht jede vernünftige Frau, die etwas auf sich hält. Es sind die Tage meiner Periode.« Sie sehen mich überrascht an, und ich merke, es ist ihnen peinlich, dass sie sich sozusagen selber hereingelegt haben.
Sie erheben sich, ich tue es auch, denn ich denke, dass die Sitzung nun zu Ende ist und ich nach Hause kann.
»Wir wollen eine Kleinigkeit essen, Sie werden hungrig sein.« Nanu, denke ich, die machen sich Gedanken um mein leibliches Wohl. Mir wäre es lieber, sie ließen mich laufen.
Ich folge ihnen ins Nebenzimmer und sehe, der Tisch ist reichlich gedeckt. Dann esse ich Kaviar zu Weißbrot und Speck und trinke zum ersten Mal in meinem Leben Wodka. Ich schüttele mich. Die drei sehen mich amüsiert an, und der Dolmetscher fragt zufrieden: »Na, gutt?« Ich nicke, was er deuten mag, wie er will. Aber nicht nur ich bin hungrig, auch die Herren greifen tüchtig zu, und dass es ihnen schmeckt, höre ich.
Das Essen zieht sich über eine Stunde hin, und ich muss immer wieder das Wasserglas mit dem Wodka heben.
Ein Russe räumt sich geräuschvoll seine Zähne aus, ein zweiter spricht, der Dolmetscher übersetzt: »Sie gefallen uns, Fräulein, wir glauben, dass Sie ehrlich zu uns sind, und fragen Sie, ob Sie uns helfen wollen?«
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Ich verstehe nicht, was er mit »helfen« meint, und sage es ihm. Er soll deutlicher werden, ich habe keine Lust, Rätsel zu raten. Er wird deutlich, deutlicher, als mir lieb ist. »Wir möchten, dass Sie für uns arbeiten.«
»Was kann ich schon für Sie arbeiten?« frage ich, »ich bin doch nur ein unerfahrenes Mädchen.« »Das genügt«, sagt er lächelnd.
»Wenn Sie meinen«, antworte ich schwach und überlege fieberhaft, wie ich mich aus dieser Schlinge ziehen kann. Diese Wendung habe ich nicht erwartet, und sie gefällt mir ganz und gar nicht. »Was haben Sie dazu zu sagen?«
»Geben Sie mir etwas Zeit, ich werde es mir überlegen«, bitte ich. »Gut«, sagt der Dolmetscher und unterhält sich mit den anderen, sie beachten mich nicht weiter. Mir wird klar, dass meine Bitte umgehend erfüllt wird und ich nicht eher hier weg komme, bis ich >ja< gesagt habe. »So habe ich es nicht gemeint, meine Herren«, schalte ich mich wieder ein, »ich möchte etwas mehr Zeit haben, um darüber nachdenken zu können. Vielleicht eine Woche.«
Der Dolmetscher schüttelt den Kopf. »Das ist zu lange, Sie müssen sich jetzt entscheiden, noch heute Abend.«
»Ja, aber —« ich fange an zu stottern, denn das ist Erpressung! »Ich kann das nicht so schnell. Ich habe so etwas noch nie gemacht, woher wollen Sie wissen, dass ich mich dazu eigne?«
»Wir werden Ihnen helfen«, das sagt er so, dass ich den doppelten Sinn sehr gut heraus höre. Jetzt glaube ich allerdings auch, dass sie mir helfen werden, wenn ich nicht so spure, wie sie wollen! »Und wenn ich das heute Abend nicht entscheiden kann?« »Dann bleiben Sie so lange hier, bis Sie sich entschieden haben. Wir haben Zeit.«
Nun, das ist deutlich, und es gibt eigentlich nichts weiter zu sagen. Ich kapituliere, denn ich sehe, dass ich in der Falle sitze und auf jeden Fall den Kürzeren ziehen werde. Je eher ich zusage, desto schneller bin ich wieder zu Hause.
»Also gut«, sage ich ergeben, »Sie haben mich in der Hand, ich gebe mich geschlagen.«
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Da sagt doch dieser scheinheilige Kerl ganz erstaunt und beleidigt: »Aber nein, Fräulein, wir wollen Sie nicht zwingen, das müssen Sie nicht denken. Sie sollen ganz allein entscheiden.«
Ich unterschreibe ein Schriftstück, von dem ich nicht weiß, was es für einen Inhalt hat, es ist in russischer Sprache abgefasst. Dann geben sie mir meine Handtasche mit den beiden Häufchen zurück.
Der Dolmetscher übersetzt: »Wir werden uns einmal in der Woche treffen, das erste Mal nächste Woche, am Freitag, um 15 Uhr. Merken Sie sich folgenden Treffpunkt: Hinter dem Bahnhof Alexanderplatz gibt es eine kleine Straße. Dieser Herr«, und er weist auf den Schwarzhaarigen, »wird mit einer kleinen Dame kommen. Wenn Sie die beiden sehen, folgen Sie ihnen unauffällig in einigem Abstand. Sie werden Sie in eine Wohnung führen, wo Sie allein sind und sich unterhalten können. Alles klar?« Ich nicke benommen, denn große Müdigkeit überfällt mich, jetzt, da die Anspannung vorüber ist.
Die Herren erheben sich. Der Schwarze reicht mir sogar die Hand und radebrecht: »Ich Alexander, verstehn?«
Dann füllt er wieder die Gläser. Der Dolmetscher sagt: »Wir möchten mit Ihnen anstoßen, auf gute Zusammenarbeit.« Was bleibt mir anderes übrig, ich trinke das scheußliche Zeug und wünsche die drei zur Hölle.
Bald danach lassen sie mich in ihrem Auto bis an den Westsektor fahren, ich bin mit dem Chauffeur allein. Ehe ich aussteige, drückt er mir einen Briefumschlag in die Hand. »Fürr Sie!«, sagt er und lässt mich quittieren.
Ich öffne den Umschlag: 200 Ostmark fallen heraus. Schmerzensgeld? Wie auch immer, es ist eine miese Gabe. Seit wir im Juni die Währungsreform hatten, kennen wir wieder solides Geld, für das man Gutes kaufen kann.
Es ist 3.00 Uhr, als ich von meinem Ausflug in meine Wohnung zurückkehre. Ich zittere, als hätte ich hohes Fieber.
Wir haben einen Neuzugang — Irene Holberg, auch schon drei Monate hier im Gefängnis.
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Da fällt mir sofort der Zeitungsartikel ein, den ich kurz vor meinem Verschwinden las: Der Menschenraub an der Mode-Fotografin Irene Holberg wurde darin beschrieben.
Irene ist erstaunt, dass ihr Verschwinden so schnell bemerkt wurde. Sie sagt: »Aber das war noch nicht alles, es konnte nur keiner wissen, wie es weiterging. Ich wurde auf der Straße angesprochen: Mein Mann habe einen Unfall am Innsbrucker Platz, ich solle schnell zu ihm kommen. Der Unfall war fingiert, das Auto, das mir zur Verfügung stand, brachte mich direkt nach Karlshorst. Und mein Mann ist auch hier, ich hatte schon eine erste Gegenüberstellung mit ihm. Er sah schrecklich aus, hatte eine Beule an der Stirn, seine Lippen waren geschwollen, dazu lange Bartstoppeln!«
Ich will wissen: »Und was kam bei der Gegenüberstellung heraus? Was warf man Ihnen und Ihrem Mann vor?«
»Nun ja, natürlich waren es Spionagevorwürfe, wie nicht anders zu erwarten. Mein Mann ist politischer Redakteur beim Tagesspiegel, da gibt's für die Leute hier nur eins: Spionage!«
Sylvia fragt: »Konnten Sie mit Ihrem Mann sprechen, ihn vielleicht umarmen?«
Irene lächelt bitter: »Daran war nicht zu denken, ich habe es zwar versucht, wurde aber vom Posten sofort zurückgerissen. Er rief böse: >Sie dürfen nicht sprechen, außer, was Sie gefragt werden. Ansehen und Zeichen machen ist verboten!< Wie absurd war unsere Situation! Natürlich beachteten wir das Verbot nicht und warfen uns zärtliche Blicke zu. Die Fragen, die sie uns stellten, wichen nicht von den üblichen Vernehmungsfragen ab. Leider war dieses Wiedersehen viel zu schnell zu Ende. Frank ging an mir vorbei zur Tür. Ehe es der Posten verhindern konnte, war ich bei ihm und umarmte ihn. Wir berührten uns nur Sekunden, dann wurde ich heftig zurückgerissen, der Dolmetscher schrie: >Lassen Sie das! Sie wissen, dass es verboten ist! Sie wollen wohl in den Karzer?< Da habe ich ganz ruhig gesagt: >Das war es mir wert!< Lächelnd ließ Frank sich abführen. Der Untersuchungsrichter telefonierte. Der Dolmetscher verließ das Zimmer. Ich saß auf meinem Holzstuhl und spürte noch die Berührung mit Frank. Wenn ich ihn nur hätte festhalten können!«
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Sylvia: »War es das einzige Mal, dass Sie Ihren Mann sehen konnten?« »Zunächst ja, denn einen Tag daraufkam ich in den Karzer.« »In den Wasserkarzer?« rufe ich entsetzt, in Erinnerung an meine eigene Tortur.
»Nein, in den Schlammkarzer, es war entsetzlich! Die Zelle war ein dunkles Loch im Keller, nichts drin. Dann merkte ich, dass etwas Nasses, Klebriges an mir emporstieg.« Irene schüttelt sich jetzt noch bei der Erinnerung. »Ich spürte es dick und eklig, und der Gestank nahm mir fast den Atem. Ich hatte Angst, der Morast könnte mir bis zum Hals steigen. Als er meine Waden erreicht hatte, stieg er nicht weiter. Nach einiger Zeit sank die Schlammflut wieder. Das wiederholte sich Stunde um Stunde. Zwischendurch leuchtete immer mal kurz das Licht auf. Als ich herausgeholt wurde, führte mich der Posten in den Duschraum, da bekam ich frische Unterwäsche. Ich werde das nie im Leben vergessen!« Irene Holberg ist uns sympathisch, im Gegensatz zu Gerda Hoppe, dem Spitzel.
Sympathien oder Antipathien spielen bei dem engen Beieinander eine wichtige Rolle, ist man doch Tag und Nacht — außer bei den Verhören —einander ausgeliefert, es gibt keine Tabus.
Wir haben uns im eintönigen Tagesablauf eine Abwechslung verschafft: Mit dem Gummiabsatz eines unserer Schuhe haben wir das Muster eines Mühlespiels auf die Pritsche gezeichnet. Aus Brot formen wir die notwendigen Figuren, lassen sie zwei Tage trocknen und verbringen nun viel Zeit mit Mühlespielen.
Als ich eines Tages aus der Zelle geholt werde, denke ich zunächst, es sei wieder eine Vernehmung fällig. Aber »Bubi«, der Posten, führt mich in den linken Flügel, mit den Aufenthaltsräumen für Untersuchungsrichter und Gefängnisdirektor.
Der Gefängnisdirektor ist verantwortlich für die Durchführung aller Schweinereien in diesem Gefängnis, die bei den Verhören über die Gefangenen verhängt werden. Er empfängt mich mit einem »Poshalujsta« und fordert mich auf, Platz zu nehmen.
»Rauchen Sie?« Er schiebt mir eine Schachtel papirossy herüber, von jener Sorte, die nur die Prominenten rauchen. »Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich? Haben Sie genug zu essen?«
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Dann kommt er auf das Wetter zu sprechen, und ich frage mich, was er eigentlich von mir will. Nachdem er noch eine Weile von belanglosen Dingen geredet hat, rückt er schließlich mit seinen Absichten heraus: »Sie können Ihre Lage sehr verbessern.« Er will mich als Spitzel anwerben!
Ich frage interessiert: »Werde ich entlassen, wenn ich für Sie arbeite?« »Auch das kann sein«, sagt er, »aber nicht sofort, erst wenn wir ein wenig Vertrauen zu Ihnen haben.«
Er zerdrückt seine Zigarette im Aschenbecher, ich tue es ihm gleich. »Sie können für uns wertvolle Arbeit leisten. Verschaffen Sie uns gewisse Informationen, die für uns von großer Wichtigkeit sind.« »Und was kriege ich dafür?«
»Sprechen wir konkret«, fährt er fort. »In Ihrer Zelle befindet sich Frau Holberg, Irene Holberg. Sie hat bei den Vernehmungen nicht alles erzählt, was sie weiß. Manchmal erzählen Gefangene anderen Gefangenen mehr als dem Untersuchungsrichter.«
»Und was bekomme ich für diese Informationen?« frage ich, denn ich will wissen, was sie ihnen wert sind.
»Nun, Sie brauchten nicht mehr zu hungern. Sie würden zu rauchen bekommen, eine bessere Matratze, eine Decke.« Das alles sagt er sachlich und geschäftsmäßig.
Es ärgert mich maßlos, dass er mich für fähig hält, für sie als Spitzel zu arbeiten! Ich überlege nur kurz und sage scharf: »Sparen Sie sich Ihre Rede, meine Antwort ist >Nein<! Geben Sie mir noch eine papirossal« Er sieht mich einen Augenblick sprachlos an, sagt kein Wort mehr und schiebt mir die Schachtel mit den Zigaretten zu. Das alles geschieht unter den Bildern von Stalin, der auf seinen Schlaganfall wartet, und von Berija, der seinen Genickschuss noch nicht weg hat.
Insgeheim wundere ich mich, meine Peiniger sprechen bei den Verhören nur immer von den Amerikanern, für die ich gearbeitet haben soll, von den Engländern ist nie die Rede. Die beziehen sie höchstens mit ein, wenn sie ganz allgemein vom »westlichen Geheimdienst« sprechen. Sie tappen also offensichtlich völlig im Dunkeln, was meine Zusammenarbeit mit den Engländern angeht, und das kann mir nur recht sein.
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Hätten sie es gewusst, würden sie mich gewiss sofort darauf festnageln. Auch die Zusammenkünfte mit Alexander bleiben unerwähnt, obwohl sie darüber bestimmt Kenntnis haben. Aber das hätte ja vielleicht zu meinen Gunsten sprechen können und passt deshalb nicht in ihr Konzept. Also wird es ignoriert.
Am Abend, zu einer ruhigen Zeit, wird leise unsere Zellentür geöffnet. Das allein ist schon merkwürdig. Ein Posten, ein Kerlchen von vielleicht 17 Jahren, schlüpft in unsere Zelle. Wir kennen ihn gut, denn er verteilt oft das Mittag- oder Abendessen an die Gefangenen. Sylvia lässt selten eine Gelegenheit vorübergehen, ohne ein wenig mit ihm zu flirten. Dafür taucht er dann stets seine Kelle etwas tiefer in den Suppenbottich, und unsere Schüsseln füllen sich mit mehr Kraut anstatt mit Wasser.
Als er jetzt vor uns steht, legt er den Finger auf seine Lippen. Wir verstehen. Dann tritt er vor Sylvia, macht eine vollendete Verbeugung und fasst sie um die Taille. Ehe sie recht begreift, was er vorhat, walzt er mit ihr durch die Zelle, dazu summt er eine Melodie. Ein zweiter Wachposten steckt seinen Kopf durch die geöffnete Tür und grinst, der Kleine ist sein Freund.
Nach ein paar Runden hält Sylvia inne und fragt: »Sag mal, Piwo, weshalb bist du eigentlich hier?«
Erst will er nicht recht mit der Sprache heraus, setzt sich zwischen uns auf den Rand der Pritsche und kratzt seinen glatt rasierten Schädel. Dann sagt er flüsternd: »Ich schönes Mädchen lieben. Mädchen lieben mich auch. Aber Mädchen wohnen in Westberlin. Ich sie besuchen, das für mich verboten!«
Wir begreifen, er ist Gefangener wie wir. Sylvia fragt weiter: »Und wie viel Jahre haben sie dir gegeben?«
Er zuckt die Schultern. »Ich nix wissen, kein Gericht. Aber wenn ich frei, dann wieder zu Mädchen gehen und nix wieder kommen!« Nach diesen Worten legt er die Hand auf Sylvias Mund und sagt beschwörend: »Bitte, mich nix verraten!«
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Bei der nächsten Vernehmung wartet eine Überraschung auf mich. Die Vernehmung selbst verläuft wie immer. Ich habe den Eindruck, dass ihnen nichts mehr einfällt. Inzwischen sitzt schon der dritte Untersuchungsrichter vor mir, ein dunkler, brutaler, mieser Typ, der Freude daran hat, den Häftling zu quälen.
Heute hält er mir einen Taschenspiegel vor das Gesicht und sagt höhnisch: »Nun, wollen Sie sehen? Gutt sehen Sie aus, sehrr gutt!« Dabei lacht er meckernd wie über einen guten Witz. Denn ein Witz sind seine Worte, ich weiß sehr gut, wie ich aussehe, das Spiegelbild in meinem Teetopf sagt mir genug.
Ich wende den Kopf ab, den Triumph über mein Erschrecken gönne ich ihm nicht.
Doch er will seinen Spaß haben, er hält mir den Kopf fest und sagt: »Nun, sehen Sie! Ihr Kind, niemand wird Sie mehr erkennen!« Ich schließe die Augen; bei der Erwähnung meines Kindes kommen mir die Tränen, es ist mein verwundbarster Punkt, und das weiß er genau. Er geht zu seinem Schreibtisch zurück und telefoniert. Der Dolmetscher verlässt das Zimmer.
Er kommt bald wieder, in seinen Händen balanciert er ein großes Tablett. Vorsichtig stellt er es auf den Tisch. Ich mache große Augen, als ich gewahre, was darauf steht — wie lange habe ich so etwas schon entbehren müssen: Weißbrot, Butter, Schinken, Kaviar, Käse, Obst, Wodka — ich kann mich nicht satt sehen!
Derweil nehmen Untersuchungsrichter und Dolmetscher am Tisch Platz, mich beachten sie nicht. Laut schmatzend beginnen sie zu essen und unterhalten sich dabei angeregt. Dass ich ihnen zuschaue, scheint die beiden nicht zu stören, der eine fragt mit vollem Munde: »Nun, Frau, haben Sie Hunger?« So ein Kotzbrocken! Ich antworte kühl: »Nein, ich habe gar keinen Hunger. Das Essen hier ist ja so gut und reichlich!« Einen Moment blicken sie mich erstaunt an, kauen aber weiter. Dann verlässt der Untersuchungsrichter wortlos das Zimmer, der Dolmetscher pult sich die Zähne aus.
Ich bin mir selbst überlassen und denke an meine Tätigkeit in der Bar, die ich kurz vor der Verhaftung aufgenommen habe, um meinen Verdienst aufzubessern. Als Barfrau bin ich zwar ungeübt, aber es lässt sich alles erlernen, nur, dass die Nacht für mich zum Tage wird, fällt mir anfangs schwer, ich bin dauernd müde. Aber auch daran gewöhnt man sich. Die Bar liegt in der Meineckestraße in Wilmersdorf, ich lerne dort eine Menge netter Leute kennen. Ob man mich jetzt vermissen wird?
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Ich muss auch an das erste Treffen mit Alexander denken, zu dem er mich in eine kleine Straße hinter dem Alexanderplatz in Ostberlin bestellt hatte. Eigentlich wollte ich, nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, nie mehr in den Ostsektor fahren, aber dann hätte ich meine Arbeit für die DEFA und den damit verbundenen Verdienst aufgeben müssen. Außerdem zeigte sich mein englischer Verbindungsoffizier, als ich ihm von der ungewollten Bekanntschaft mit Alexander berichtete, hellauf begeistert und sehr neugierig.
Mit zwiespältigen Gefühlen fuhr ich also zu dem Treffen mit Alexander. Als ich in die genannte Straße einbog, sah ich ihn mit einer kleinen Frau am Arm. Sie kamen mir entgegen und verschwanden in einem Hauseingang. Ich folgte ihnen, es ging in den ersten Stock, an der Tür stand der Name Krause.
Ich betrat eine kleine Wohnung, sie war kalt, unpersönlich und nur mit dem Notwendigsten möbliert. Vor dem Fenster hingen Stores, man konnte kaum das gegenüberliegende Haus erkennen. Die Frau stellte sich vor: »Ich bin Tanja, die Dolmetscherin von Herrn Alexander. Ich werde ihn immer begleiten.«
Tanja war schlank, ihr Gesicht nett, sympathisch. Nur ihre Aufmachung kam mir etwas komisch vor: ein dunkelgrauer Regenmantel, dazu ein roter Hut, in den Ohrläppchen hingen lange, unmoderne Ohrringe. Alexander bot mir eine papirossa an, wir rauchten. Tanja sagte: »Wir freuen uns, dass Sie gekommen sind, und hoffen auf gute Zusammenarbeit. Was haben Sie uns mitgebracht?« Ich tat erstaunt: »Wieso mitgebracht? Was sollte ich Ihnen denn mitbringen?«
»Nun, zum Beispiel Namen einiger Besucher in der Bar.« »Aber die kenne ich doch selbst nicht. Es ist nicht üblich, dass sich die Gäste der Bardame vorstellen.«
»Nein, natürlich nicht, das wissen wir. Aber Sie kommen doch gewiss mit diesem oder jenem Herrn, der an Ihrer Bar sitzt, ins Gespräch, tanzen mal mit ihm oder gehen vielleicht am nächsten Tag mit ihm zum Essen?« »Ja«, sagte ich, »das kommt vor.«
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»Und dieser Herr sagt dann doch bestimmt seinen Namen.« »Ja, das tut er.«
»Nun liegt es doch an Ihnen, mit welchem Herrn Sie ausgehen, vielleicht zum Tanzen — könnten wir uns denken. Wenn Ihnen nun ein Gast besonders gefällt, werden Sie ihm doch signalisieren, dass Sie ihn näher kennen lernen möchten. Oder nicht?« »Ja«, sagte ich zögernd und stellte mich weiter naiv. Tanja fuhr fort: »Man sagt den Barfrauen eine gute Menschenkenntnis nach. Wir wissen nicht, ob das auch auf Sie zutrifft. Aber wir können uns denken, dass Sie sehr schnell heraus haben werden, wer für uns interessant sein könnte.«
Ich sagte vorsichtig: »Das weiß ich nicht, ich habe es noch nicht probiert. Aber ich kann ja mal den Versuch machen.«
»Eben«, sagte Tanja, »darum wollen wir Sie bitten. Es wird Ihnen sicher gelingen, in Erfahrung zu bringen, welchen Beruf der betreffende Herr hat und auch, wo er wohnt. Besonders Amerikanern und Engländern gilt unser Interesse.«
O weh, dachte ich, ihr geht aber ran, und sagte: »Auch das könnte ich versuchen, aber ich weiß nicht, ob es mir gelingt.« »Nun, machen Sie den Versuch, wir werden sehen.« Die beiden mussten mich für bekloppt halten, und genau das wollte ich erreichen, vielleicht gaben sie mich dann als aussichtslos auf. Tanja sprach weiter: »Wir möchten Sie bitten, dass Sie uns diese Meldungen immer schriftlich mitbringen, damit wir etwas in Händen haben, das werden Sie verstehen, ja?«
Ich nickte und sagte: »Ja, das kann ich machen, aber ich bin keine gute Schreiberin, ich habe oft in der Schule gefehlt.«
Auch das schluckten sie, und um vom Thema abzulenken, sagte ich: »Eine Hand wäscht die andere. Sie werden doch sicher nicht erwarten, dass ich das umsonst mache. Ich werde Ausgaben haben.« Tanja übersetzte Alexanders Antwort: »Ja, natürlich, auch daran haben wir gedacht. Sie sollen es nicht umsonst machen. Wir werden Ihnen beim nächsten Treff etwas Geld geben, in Ostmark.« »Was soll ich mit Ostmark?« fragte ich erstaunt, »dafür bekomme ich doch nichts!«
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»Im demokratischen Sektor schon.«
»Da darf ich als Westberlinerin nicht einkaufen, das sollten Sie eigentlich wissen. Ich möchte Westgeld.«
»Nun gut, wir werden Ihnen im Monat 200 Mark West geben.« »Oh«, sagte ich.
Tanja: »Sie sind überrascht über den hohen Betrag?« »Nein, über den geringen Betrag. Sie dürfen das Risiko nicht vergessen, das ich eingehe, wenn ich jede Woche nach Ostberlin fahre. Das könnte auffallen.«
»Nun gut, wir werden Ihnen Spesen bezahlen«, schloss sie, und das schien wirklich das Äußerste zu sein.
»In Ordnung«, sagte ich, »lassen wir es erst mal dabei. Wenn Sie mit mir zufrieden sind, werden Sie gewiss erhöhen, nicht wahr?« Daraufblieb sie mir die Antwort schuldig.
Nach etwa einer Stunde trennten wir uns. Als wir im Hausflur standen, sagte Tanja: »Heute in einer Woche, um die gleiche Zeit.« Sie ließ mich aus der Tür treten, und ich entfernte mich schnell. Diesem Treffen folgten noch zwei weitere, die auf die gleiche Art verliefen. Alexander und Tanja haben jedoch nicht viel von mir erfahren, die Namen einiger harmloser Barbesucher aus Westdeutschland.
Sylvia hat eine reiche Gefängniserfahrung, ich staune, wie unbekümmert sie ihre Lage und die Umgebung erträgt.
»Mich hat noch kein Russe geschlagen«, erzählt sie, »ich habe nicht einen Tag Karzer gehabt, aber nur, weil ich bei den Verhören mit meinem nackten Oberschenkel spiele oder der Ausschnitt meiner Bluse etwas verrutscht. Sonst wäre es mir sicher so schlecht ergangen wie den anderen Frauen.«
Dass die Russen bei den Verhören schlugen, war bekannt. Auch Sylvia weiß einiges zu berichten: »Ich morste, als ich allein war, jeden Tag mit meinen Nachbarn, bei ihnen war meist die Hölle los. Durch die Wand erzählten sie mir, dass sie mit der Faust geschlagen werden oder mit Knüppeln, manchmal mit Lederpeitschen oder auch Eisenstangen. Dazu müssen sich die Gefangenen auf den Boden legen.«
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Monatelang jede Nacht zum Verhör, wenig zu essen und keinen Schlaf, es war kein Spaß. Wer schwache Nerven hat, den machen sie schnell fertig. Selbstmordversuche sind an der Tagesordnung, aber die passen ihnen nicht ins Konzept, der Gefangene soll erzählen, nicht sterben. Er soll sagen, was er weiß und was sie von ihm zu hören erwarten. Alle paar Tage werden die Zellen nach Selbstmordinstrumenten untersucht, sie spähen in jeder Ritze nach einem Stückchen Glas oder nach einem Nagel, mit dem man sich die Pulsader aufschlitzen könnte. Und es ist klar, weshalb sie den neu Hinzukommenden alles abnehmen, was einen Strick ersetzten könnte. Tödliche Waffen an der Kleidung wie Knöpfe, Haken oder Reißverschlüsse, alles wird entfernt.
»Aufhängen ist beliebt«, berichtet Sylvia, »aber nicht so einfach. Mein Nachbar Peter sagte mir mal, um richtig tot zu sein, muss man wenigstens sieben Minuten hängen, sonst machen sie einen wieder lebendig. Da die Kontrolle durch den Spion in kurzen Abständen erfolgt, ist es schwierig, sich umzubringen. Die Lebensmüden kommen auf ausgefallene Ideen: Sie zupfen Fasern aus den Baumwolldecken und drehen davon dünne Schnüre, die sie zu einem Strick flechten. Peter sagte, man braucht nicht hoch zu hängen, es genügt, mit dem Hintern ein bisschen über dem Boden zu schweben, schon fliegt die Seele in den Himmel.« »Woher weiß er das?«, fragt Irene, »hat er schon selbst versucht sich aufzuhängen?«
»Ja«, sagt Sylvia, »einmal hat er es wohl versucht, am Anfang seiner Haft, aber es ist ihm nicht gelungen. Sie haben ihn rechtzeitig entdeckt.« »Dieser Peter scheint ein recht vielseitiger Bursche zu sein«, sage ich und Sylvia nickt zustimmend. »Das kann man wohl sagen. Was er mir alles über die verschiedenen Karzer erzählt hat, ist kaum zu glauben. Es soll auch Karzer ohne Gully geben, da begießen sie den Gefangenen von oben mit Wasser.«
Als wir am nächsten Morgen vom Kübeln in die Zelle zurückkehren, platzt Sylvia mit einer Neuigkeit heraus: »Irene, ich habe Post für Sie!« Wir sehen sie erstaunt an und denken, jetzt spinnt sie! Sylvia hält stolz einen kleinen Zettel hoch, sagt: »Den habe ich eben hinter dem Klobecken gefunden. Ihr Mann heißt doch Frank?« Irene reißt ihr das Stück Papier aus den Hand, »Ja!« Sie liest laut: »Von Frank an Irene. Ich denke an dich, behalte Mut!«
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Irene lacht und weint gleichzeitig und küsst das Stückchen Papier. Sylvia rät ihr: »Werfen Sie das Papier in den Kübel, Irene. Es braucht nur Kontrolle zu sein, dann findet man den Brief, und Ihnen sind mindestens drei Tage Karzer sicher. Außerdem ist dann das Versteck entdeckt.«
Zwei Tage später hat Sylvia ihren Abschluss. Aufgeregt kommt sie in die Zelle zurück. »Gott sei Dank«, ruft sie, »ich hab's geschafft!« Dabei schwenkt sie eine Schachtel Zigaretten. »Hier, die hat mir der Untersuchungsrichter verehrt. Wahrscheinlich ist er froh, dass er mich los ist!«
Wenn ich zu Beginn meiner Verhaftung wie gelähmt war, keinen vernünftigen Gedanken fassen konnte und alles sich nur um die Frage drehte, was geschieht mit mir, so hat sich das allmählich gelegt. Allerdings, inwieweit die DEFA an meiner Verhaftung beteiligt war, wer da seine Finger im Spiel hatte, beschäftigt mich weiter. Jemand musste da mitgewirkt haben, wenn man mich telefonisch zu einer Besprechung bestellt, die nicht stattfindet und in Karlshorst in einer Zelle endet. Nach einiger Zeit stelle ich auch fest, dass ich lockerer werde im Umgang mit den Frauen und in meiner Verhaltensweise. Die anfängliche Erstarrung löst sich langsam, ich werde zugänglicher.
War ich anfangs wie eine lebende Hülle, die alles mechanisch durchführte, was von ihr erwartet wurde, und in der kein anderer Gedanke Platz hatte als der an ihre Situation, so sehe ich jetzt vieles anders. Das Sprichwort: »Der Mensch gewöhnt sich an alles«, trifft auch auf mich zu. Nicht, dass ich mich aufgegeben hätte, im Gegenteil, die Hoffnung war gewachsen und war schließlich das, was mich alles ertragen ließ, dazu der Wille, alles zu überstehen, um eines Tages wieder frei zu sein, wieder nach Hause, zur Familie zurückzukehren.
Diese sinnlose pauschale Verurteilung musste man überstehen und bewältigen! Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, was es bedeuten kann, eine Tür hinter sich zu schließen, wenn man alleine sein möchte, oder ein Fenster zu öffnen, das Licht zu löschen. Erst jetzt habe ich erkannt, wie wertvoll es sein kann, einer eigenen Entscheidung zu folgen — und sei sie noch so profan.
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Meine Verhöre nähern sich nun ebenfalls dem Ende, sie fallen kürzer aus, der Untersuchungsrichter wird zugänglicher. Nachts kann ich schlafen. Er hat aber noch eine Überraschung für mich, eine der besonderen Art, als er fragt:
»Wissen Sie eigentlich, wem Sie Ihre Verhaftung zu verdanken haben?« Ich schüttele den Kopf. »Kennen Sie einen Erich P.? Dem haben Sie Ihre Verhaftung zu verdanken!«Ich bin wie vom Donner gerührt! Wieso Erich P.? Den hatte ich zwei oder drei Mal gesehen in einer Gesellschaft, war einmal bei ihm und seiner Frau am Südwestkorso in Friedenau zum Kaffee eingeladen, es war ein belangloser Nachmittag.
Der Vernehmer fährt fort: »Herr P. war unvorsichtig, wurde im Osten der Stadt festgenommen und kaufte sich frei, in dem er fünf Namen nannte, Namen von deutschen Spionen. Ihr Name war dabei.«
Erich P. also, ein Denunziant, der willkürlich einige ihm flüchtig bekannte Namen genannt hatte, um sich selbst von einem Verdacht zu befreien. Offenbar hatte P., indem er mich bei den sowjetischen Dienststellen als Spionin denunzierte, den letzten Beweis geliefert für die »Schuld«, auf Grund derer man mich verhaftete.
Mir scheint, dass Fakten gesammelt wurden, die meine Inhaftierung rechtfertigen sollten: Ich hatte eine angebotene Wohnung im Osten der Stadt abgelehnt, desgleichen einen Festanstellungsvertrag bei der DEFA; ich hatte das Drehbuch für einen hoch politischen Film nicht schreiben wollen und das damit begründet, dass ich mich dem Stoff nicht gewachsen fühlte; nach meinem Aufenthalt im Jugendwerkhof der Festung Königstein war einer der jugendlichen Gefangenen geflohen. Zu all dem gehörte gewiss auch der unangemeldete Besuch des politischen Beraters am DEFA-Drehbuch Frauenschicksale, der meine Wohnung spielerisch durchsuchte, desgleichen die Provokation Dudows: »Wenn Sie sich nicht für Politik interessieren, wird sich die Politik eines Tages für Sie interessieren.«
Und schließlich die Denunziation durch Erich P. Das alles zusammen reichte ihnen wohl, den Haftbefehl für mich auszufertigen.
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Wochen später komme ich in der Frauen-Sammelzelle mit Uschi Spitz ins Gespräch. Sie wurde, zusammen mit ihrem Mann, aus ihrer Wohnung in Ostberlin geholt und nach Karlshorst gebracht. Sie gehörten ebenfalls zu den fünf Personen, mit denen sich Erich P. freigekauft hatte. Auch sie erfuhr es von ihrem Untersuchungsrichter. Der Stern brachte 1954, als wir aus der Gefangenschaft zurückgekehrt waren, einen ausführlichen Bericht darüber. Unter der Überschrift »Wenn P. pfiff, kamen die Russen« hieß es darin:
»Der Abteilungsleiter Karl Sp. und seine Frau, beide bis zu ihrer Verhaftung im Außenministerium der Zone tätig, hatten sich in Ostberlin mit P. angefreundet und mit dem vermeintlich Gleichgesinnten über das kommunistische Regime räsoniert. Das Ehepaar erfüllte P.s Wunsch, ihm Material über den Zonen-Haushaltsplan zu verschaffen. P.s zugesicherte Gegenleistung: Wenn ihr in den Westen wollt, bringe ich euch rüber. Statt des Fluchtgehilfen P. standen am 11. September 1952 um Mitternacht jedoch sechs Sowjetmenschen im Schlafzimmer des Ehepaares, kommentierte ein Offizier dem Ehepaar die Verhaftung durch den sowjetischen Sicherheitsdienst wegen angeblicher Spionage: <UdSSR und DDR ist wie Vater und Sohn. Muss doch Vater auf Sohn aufpassen!>
Der vierte von P. Denunzierte war der Westberliner Autoverleiher Hainberg. Im Dezember 1952, einen Tag vor Weihnachten, bestellte P, der Hainbergs Dienste häufiger in Anspruch nahm, bei diesem einen Opel Olympia. Hainberg fuhr mit dem Auto am Südwest-Korso in Friedenau vor, trank in P.s Wohnung ein paar Liköre — und erwachte in einer Zelle im sowjetischen Sperrbezirk Karlshorst: P. hatte den mit einer Droge betäubten Hainberg der sowjetischen Geheimpolizei in die Hände gespielt. Ein Militärtribunal verurteilte den Autoverleiher wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Agent P. kutschierte den Mietwagen nach Westberlin zurück. Die Polizei nahm ihn aufgrund einer Anzeige der Hainberg-Ehefrau fest, musste ihn aber wieder laufen lassen. Die vernehmenden Kriminalbeamten konnten seine Aussage nicht widerlegen, dass nicht er, sondern Hainberg den Wagen in Richtung Ostberlin gesteuert hatte. Dort seien sie verhaftet worden, nur ihn, P, hätten die Sowjets wieder freigelassen! — Das war seine größte Lüge!«
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Als ich mit Uschi Spitz nach unserer Rückkehr diesen Fall an höchster Stelle aufklären wollte, bekamen wir den Bescheid, Erich P. habe sich gleich nach unserem Verschwinden mit seiner Familie in die USA abgesetzt. Wer der fünfte der von ihm Denunzierte war, haben wir nie erfahren.
Nun ist Sylvia an der Reihe, mit der »Grünen Minna« nach Lichtenberg zu fahren, um dort ihr Urteil zu bekommen. Sie ist guter Dinge, als sie sich von uns verabschiedet: »Das Urteil wird schon nicht so hoch ausfallen. Warum auch? Nur, weil ich einen Ami zum Freund hatte? Das ist doch kein Verbrechen.«
In den letzten Wochen hat Sylvia mir das Morsen beigebracht, und erst jetzt weiß ich, wie wertvoll das war. Morsen ist ungeheuer wichtig, die Kinder Europas sollten es in ihren Schulen lernen!
So denke ich, als der Oberleutnant eines Nachts zu mir sagt:
»Bald werden wir den Westen besitzen. In Paris werden unsere Panzer rollen, unsere Pferde werden wir in der Biskaya tränken!«
Nun, wenn sie das schaffen, wird halb Europa in ihren Gefängnissen hocken.
Was ist eine Zelle ohne Morsen? Der Gefangene sitzt in einem Betonloch und schmort im Saft seiner Erinnerungen. Nach drei Wochen hat er sich selber satt. Es gibt weder Zeitungen noch Radio. Niemand ist da, mit dem er sprechen kann.
Wie wunderbar, morsen zu können. Plötzlich beginnen die Mauern zu sprechen. Ich lege mein Ohr an die Wand und höre die Geschichte eines Menschen, den ich nie gesehen habe. Er sitzt in der Zelle neben mir, ebenso allein wie ich. Eine Mauer, die seine Signale in meine Zelle leitet, verbindet unsere Seelen. Ein Gespräch beginnt, und nach wenigen Tagen ist uns, als kennen wir uns seit unserer Kindheit.
Beim nächsten Besuch im Vernehmungszimmer ist außer dem Vernehmer ein weiterer Offizier anwesend. Der Untersuchungsrichter sagt: »Heute wollen wir Ihre Vernehmung abschließen. Das ist der Herr Staatsanwalt, der Ihre Verhandlung beim Tribunal leiten wird. Überlegen Sie noch einmal gut, ob Sie uns alles gesagt und nichts vergessen haben. Es ist noch nicht zu spät. Der Herr Staatsanwalt wird Ihre Aussage noch entgegennehmen.«
Ich beharre: »Ich habe meinen Aussagen nichts hinzuzufügen.« — »Nun, wie Sie wollen. Unterschreiben Sie hier.« Er hält mir ein Blatt Papier hin und drückt mir einen Federhalter in die Hand. »Ist das die letzte Unterschrift, die Sie von mir wollen?« frage ich. Der Untersuchungsrichter lächelt etwas gezwungen, »Nein, sicher nicht.«
Ich überlege, wie oft ich in den Wochen und Monaten meinen Namen auf jede einzelne Seite der Protokolle gesetzt habe; ich komme auf etwa 52 Vernehmungen mit Protokollen jeweils zwischen fünf und 40 Seiten!
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