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1. "Einmal geschädigt ....."

 

  Im Leben geht es nicht darum, gute Karten zu haben, sondern schlechte Karten gut auszuspielen.  
 Robert Louis Stevenson   wikipedia  Stevenson 

 

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Rachel nimmt mit anderen Arbeitskollegen mittlerer Ebene an einem Schulungskurs teil; ein Sozialarbeiter hält einen Vortrag über Betriebsangehörige aus gestörten Familien. Er zählt eine Liste ihrer Merkmale auf: sie sind entweder arbeitssüchtig oder völlig unzuverlässig; sie sind vielfach suchtmittelabhängig; sie haben Probleme mit Autoritätspersonen, sehen in jedem Vorgesetzten ihre Mutter oder ihren Vater; da sie als Kinder häufig gelogen haben, um zu überleben, sind sie häufig unehrlich. Eine positive Eigenschaft besitzen sie allerdings: sie sind ihrer Firma in unerschütterlicher Treue ergeben.

Er predigt vor Bekehrten, denkt Rachel bei sich. Da sie mit Eltern auf gewachsen war, die sich gegenseitig sowie Rachel und ihre beiden Schwestern körperlich mißbrauchten, kennt sie das schmerzhafte Erbe, das gestörte Familien hinterlassen. Was ihr jedoch mißfällt, ist die Anschauung des Redners, wonach die Situation von Überlebenden einer traumatischen Kindheit hoffnungslos sei.

Rachel fragt sich, wieso ihre Therapeutin sie nie darauf hingewiesen hat, Rachel könne möglicherweise ihre Adoptivkinder, einen Sohn und eine Tochter, körperlich mißbrauchen. Warum die Therapeutin sich auf Rachels Fähigkeit fixierte, ein liebevoller, stabiler und optimistischer Mensch zu sein. »Habe ich in der Therapie etwas vernachlässigt oder verdrängt?« fragte Rachel sich. Vielleicht habe ich mich und alle anderen belogen, dachte sie beunruhigt.

Im Verlauf des Nachmittags kann Rachel den nicht enden wollenden negativen Vortrag des Redners nicht mehr ertragen. Sie hebt die Hand, steht auf und ergreift mit zitternder Stimme das Wort:

»Heute morgen haben Sie uns gesagt, daß statistisch gesehen nahezu die Hälfte aller erwachsenen Amerikaner Gewaltmißbrauch in der Familie erlitten haben, daß diese Menschen heute wieder­um ihre Kinder schlagen oder heroinsüchtig sind, zur Freßsucht neigen oder andere Störungen aufweisen. Zunächst einmal sitzen einige Vertreter dieser statistischen Hälfte hier in diesem Raum. Zweitens weiß ich, daß es einen Weg aus diesem Dilemma gibt. Aus schlechten Familien können gute Menschen hervorgehen. Das sehe ich bei unseren Mitarbeitern und ich sehe es an uns selbst. Wir sind überall.«

Rachel setzt sich, einige Zuhörer klatschen Beifall. Der Redner verteidigt seine Position: »Ich kann nur über statistisches Zahlenmaterial berichten und die uns bekannten Ergebnisse anführen. Es ist bedauerlich, wenn Sie damit Probleme haben.«

 

Kenneth kann eines Nachts im Sommer schlecht schlafen. Am Morgen wacht er mit allen Anzeichen einer Erkältung auf und geht nicht zur Arbeit. Er verbringt den Tag im Bett. Irgendwann sieht er sich eine Talkshow an, in der männliche Inzesttäter zu Wort kommen. Einer nach dem anderen berichten die Männer der Runde über ihren eigenen sexuellen Mißbrauch in der Kindheit, der, wie sie betonen, die Ursache ihrer späteren Störungen und Straftaten ist. »Damals habe ich das gelernt.« »Wenn mir das nicht angetan worden wäre, säße ich heute nicht im Gefängnis.« »Es erschien mir normal.«

Kenneth sah sich diese Talkshow nicht nur zum Zeitvertreib an. Er kam aus einem Elternhaus, in dem der Vater gewohnheitsmäßig täglich Marihuana rauchte und die Mutter Amphetamine nahm, um ihr Gewicht zu kontrollieren. Kenneth wurde häufig der Obhut eines Babysitters überlassen, der ihn sexuell mißbrauchte.

Unter den Studiogästen der Talkshow befanden sich viele weibliche Sexualopfer, die das Verhalten und die Rationalisierungen der Sexualtäter wütend verurteilten. »Wo sind weibliche Täter oder männliche Opfer?« fragt Kenneth sich.

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Er stimmt mit einigen der Frauen überein, wünscht sich allerdings, männliche Opfer würden ebenfalls zu Wort kommen. Der Talkmaster, die Täter und ihr Gruppentherapeut betonen immer wieder, daß sexuell mißbrauchte kleine Jungen sich zu erwachsenen Sexualtätern entwickeln. Kenneths Frau Darlene wuchs in einer suchtmittelabhängigen Familie auf. Als die beiden sich kennenlernten, machte Kenneth sich Sorgen darüber, ob er ein guter Vater sein könne. — »Ich hatte nicht die besten Vorbilder.« Er berichtete ihr von seinem sexuellen Mißbrauch. Er und Darlene waren zehn Jahre verheiratet, ehe sie sich entschlossen, Kinder zu haben. Jetzt haben sie einen Sohn, David, und Kenneth fragt sich, ob die Gefahr besteht, daß er als Vater seinen Sohn eines Tages sexuell belästigen wird.

Tagelang mußte Kenneth an die TV-Sendung mit den Sexualtätern denken. Konnte auch er diesem Teufels­kreis nicht entrinnen? Nach einigen Tagen sprach er mit Darlene über seine Ängste. Sie versicherte ihm, er sei kein Sexualtäter. Seit Jahren, betonte sie, sei er mit Kindern zusammen und habe nicht im entferntesten sexuelles Interesse an ihnen gezeigt. Darlene fügte hinzu, daß sie in einem Buch über Kinderpsychologie gelesen habe, daß Kinder bei beiden Eltern sexuelle Gefühle erwecken. »Wenn das geschieht«, erklärte sie, »müssen wir miteinander darüber sprechen, um diese normalen Gefühle in Zärtlichkeiten oder Bewunderung umzusetzen. Es wird gar nicht so schwierig sein. Du wirst sehen.«

Doch Kenneths Zweifel bleiben bestehen und er fühlt sich isoliert. Ist er der einzige mißbrauchte Mann auf der Welt, der sich nicht in einen Täter verwandelt?

Kenneth besucht seit drei Jahren Treffen von erwachsenen Kindern von Alkoholikern. Er hat dort Freunde gefunden und festgestellt, daß diese Freunde gute Eltern sind. Bei der nächsten Zusammenkunft erzählt Kenneth, wie sehr ihn die Talkshow aufgewühlt habe. Sein Freund Bill berichtet, daß auch er als Kind sexuell mißbraucht wurde. Er gesteht, daß auch er sich von der Unterstellung, er müsse Täter sein, unter Druck gesetzt fühlt. Andy, ein Neuer in den Meetings, erklärt: »Auch ich bin ein Sexualopfer. Ich weiß nicht, ob das bei euch in diesen Meetings üblich ist, aber ich würde gerne wissen, wer von den anwesenden Männern in der Kindheit mißbraucht wurde. Würdet ihr bitte die Hand heben?« Das war in der Gruppe zwar nicht üblich, aber zögernd heben acht der zweiundzwanzig Männer die Hand. Kenneth und zwei andere Männer beginnen zu weinen.

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Rachel und Kenneth sind normale Erwachsene mit nicht normaler Kindheit. Sie strafen den bösartigen Mythos Lügen, daß alle Opfer eines Kindheitstraumas dazu verdammt sind, das Trauma später auf andere oder die eigene Person zu übertragen, indem sie kriminell, süchtig oder mißbrauchende Eltern werden, da sie die Muster von Selbstzerstörung oder Geisteskrankheit wiederholen. Rachel und Kenneth zögern nicht, einzugestehen, daß sie als Kinder verletzt wurden, doch sie haben die Gewalt nicht auf die nächste Generation übertragen.

Als ich erklärte, das Buch, an dem ich schreibe, beruhe auf Interviews mit gesunden Erwachsenen aus mißbrauchenden und vernachlässigenden Familien, fragten viele: »Gibt es die?« und drückten mir ihr Mitgefühl aus wegen der Mühen, die ich gehabt haben müsse, Interviewpartner zu finden. In Wahrheit standen mir mehr geeignete Freiwillige zur Verfügung, als ich gebrauchen konnte. Wie Rachel sagte, sind sie überall. Und sie sind allesamt überzeugt von der Wichtigkeit, andere wissen zu lassen, daß die Hoffnung besteht, auch nach einer schweren Kindheit ein normales Erwachsenenleben zu führen.

Bis heute erfaßte die Mehrheit der Untersuchungen der Psychopathologie von Mißbrauchsopfern die Fälle, die dem Forscher über die Strafjustiz, Psychiatrie, Behandlung von Suchtmittelabhängigkeit oder über staatliche Sozialeinrichtungen zugänglich gemacht wurden.

Mißbrauchsopfer, die von solchen Einrichtungen nicht erfaßt wurden oder sie nicht brauchten, gingen nicht in die Untersuchungen ein. Mißbrauchte, die über entsprechende finanzielle Mittel verfügten, um als Privat­patienten psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen zu können, wurden gleichfalls nicht erfaßt. Folglich beruhen die herkömmlichen Meinungen über Opfer von Kindsmißbrauch auf sehr einseitigen, unaus­geglichenen Stichproben.

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Bisherige Untersuchungen haben überdies versäumt, die Rollen von Zeitpunkt und Motivation der Bemühungen um Hilfe der Opfer zu analysieren. Nahezu alle Mißbrauchsopfer, die ich interviewt habe, zogen Nutzen aus der Psychotherapie und ihrer Teilnahme an Selbsthilfegruppen. Alle haben als Zwanzig- bis Dreißigjährige schwierige Phasen durchgemacht. Zu dieser Zeit wären vermutlich vorsichtige Prognosen für ihr späteres Leben angebracht gewesen, doch bis zur Lebensmitte hatten sich diese Mißbrauchsopfer zu gesunden Erwachsenen entwickelt. Die eigenen Probleme zu identifizieren und um Hilfe nachzusuchen scheint mir eher ein Zeichen von Gesundheit statt von Krankheit zu sein.

 

Dieses Buch beruht auf dem salutogenen Ansatz, das heißt, ich ging der Frage nach: »Wo liegt der Grund, warum Opfer von Gewalt in der Familie gesund überleben?« 

Die meisten von mir interviewten Opfer befanden sich in einem bestimmten Zeitraum ihres Lebens näher auf der <kranken> Seite des Kontinuums. Auf welche Weise gelang es ihnen, sich allmählich zur <gesunden> Seite der Skala zu bewegen und dort einen sicheren Platz zu behaupten? Was war im Leben dieser Überlebenden richtig, und was hatten sie selbst richtig gemacht?

Meine Überzeugung, daß viele Erwachsene Mißbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit bewältigen, beruht auf mehr Fakten, als in der Studie der von mir befragten Opfer angegeben sind. Die Psychologin Sarah Moskovitz hat mit vierundzwanzig Erwachsenen Tiefeninterviews durchgeführt, die als Kinder in Nazi-Konzen­trationslagern interniert waren oder sich während des Zweiten Weltkriegs verstecken mußten, um zu überleben. Sie stellte fest, daß zweiundzwanzig dieser Opfer, ein in allen Bereichen gut funktionier­endes Leben führten. Dies ist eine Herausforderung an »das Konzept, daß frühe Deprivation unweigerlich den Verlauf eines Lebens bestimmt«.

Im Gegensatz zu früheren Annahmen erkennen wir mit aller Deutlichkeit aus diesen Lebensläufen, daß Kindheitstraumen — selbst so erschütternde, prägende, wie die der Fallbeispiele — nicht zwangsläufig lebenslange emotionale Störungen zur Folge haben. Spätere Geschehnisse sind offenbar von enormer Wichtigkeit.

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Ob es das Vertrauen eines Lehrers, die Erregung erwachender sexueller Triebe, neue berufliche Interessen, oder ein verändertes soziales Milieu ist, die Interaktion kann neues Wachstum bringen. Immer wieder stellen wir mit Staunen und Respekt fest, wie unermüdlich Kinder ihre Fähigkeiten, ihre Kräfte, ihren Charme einsetzen, um die liebevolle Zuneigung ihrer Umgebung zu erhalten. Und wir schätzen um so mehr, wie einzigartig jeder Mensch in seinem Kampf um Tüchtigkeit, seiner Suche nach Liebe und der Eroberung eines Platzes im Leben ist.1

Der Psychologe J. Kirk Felsman und der Psychiater George Vaillant an der Dartmouth Medical School fanden in einer 40 Jahre dauernden Langzeitstudie bei 456 Jugendlichen mit hohen Risikofaktoren für soziale und geistige Störungen »Beweise, daß Dinge, die in unserem Leben positiv verlaufen, auf künftige Erfolge schließen lassen und die Vorfälle, die in unserem Leben schiefgehen, uns nicht auf immer und ewig verdammen«.2)

 

    Projizierte Schwäche    

 

Wer die düsteren Prognosen der Medien und das Geschwätz der Menschen in helfenden Berufen kennt, hat es schwer, sich ein optimistisches Zukunftsbild eines Opfers zu machen. Dieses Fehlen von Perspektive und Optimismus hat sich zu einem soziologischen und psychologischen Zustand gesteigert, den ich als >projizierte Schwäche< bezeichne, ein Leiden, das an sich bereits die Lebensqualität eines Kindopfers beeinträchtigen kann.

Projizierte Schwäche beginnt in der Herkunftsfamilie. Mißbrauchende und vernachlässigende Eltern greifen zur psychologischen Abwehr der Projektion: »nicht akzeptierbare Impulse, Einstellungen oder Gefühle werden anderen statt der eigenen Person zugeschrieben«.3 Der Elternteil behandelt das Kind unbewußt als weiße Leinwand, auf die er alle seine Unzulänglichkeiten und Unzufriedenheiten projiziert, im Versuch, sie loszuwerden.

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»Wenn dieses Kind nicht so wäre, wäre ich vermutlich völlig in Ordnung.« »Dieses Kind — nicht ich — ist aufbrausend, leer, abstoßend, dumm, nicht gut genug.« Das Kind ist hilflos und zu klein, um solch eine verdrehte, machtvolle Dynamik zu verstehen.

Bedauerlicherweise bestärken die Medien und die Menschen in helfenden Berufen ständig diese Projektion, indem sie den Mythos des <einmal geschädigten, immer geschädigten Opfers> weiter verbreiten. Wenn wir hören, wie einschneidend und schmerzhaft Kindesmißbrauch und Vernachlässigung sind, empfinden wir häufig große Verwirrung, Trauer, Hilflosigkeit und in erster Linie Unzulänglichkeit, etwas dagegen unternehmen zu können. Genau das sind die Gefühle, die das kindliche Opfer empfindet. Wenn wir diese Gefühle nicht konstruktiv ausdrücken können, projizieren wir sie meist auf Opfer und Überlebende: »Solche Menschen müssen doch zu aufbrausenden, verwirrten, traurigen, hilflosen und unzulänglichen Erwachsenen heranwachsen. Was können wir sonst von ihnen erwarten?« Wir haben uns von Gefühlen abgespalten, die uns zu unangenehm sind.

Wie einer der Befragten meiner Studie sich ausdrückte: »Es genügte wohl nicht, daß ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens von meiner Familie zu hören bekam, was für ein schreckliches, krankes, gestörtes Wesen ich sei. Heute lebe ich nicht mehr bei meiner Familie, aber wohin ich auch komme, höre ich, daß Menschen mit meinem Hintergrund eine Geißel unserer Gesellschaft sind, für immer geschädigt, menschliche Zeitbomben, die jeden Moment hochgehen können. Dem kann ich einfach nicht entrinnen.«

Mit solchen überwältigenden Botschaften von Familie und Gesellschaft verinnerlichen viele Opfer die Überzeugung, daß sie gestörte und wertlose Menschen seien. Wenn genügend Leute einen einen Esel nennen, fängt man irgendwann einmal zu wiehern an. Wie Kenneth und Rachel <projizieren> viele einstige Opfer ihre Schwäche in die Zukunft. »Jetzt bin ich in Ordnung, aber wann geht es bei mir los? Werde ich mit vierzig süchtig? Wenn ich Kinder habe, werde ich sie früher oder später schlagen? Eigentlich erstaunlich, daß ich bisher in keine Anstalt eingewiesen wurde — es wird wohl eine Frage der Zeit sein, bis es so weit ist.«

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Die düsteren Prognosen eines drohenden Schicksals machen es einstigen Opfern schwer, sich ein positives Selbst­wertgefühl aufzubauen und zu bewahren. Vielleicht können sie auf ihrem Sterbebett in der Rückschau auf ihr Leben sagen: »Ich habe den Mißbrauch nicht auf die nächste Generation übertragen — also war ich doch kein schlechter Mensch.« Der Forschungswissenschaftler David Finkelhor gibt uns deutlich zu verstehen:

Im Bestreben, die Öffentlichkeit auf die Ernsthaftigkeit des Problems von Kindes­mißbrauch zu lenken, neigen wir dazu, die Unausweichlichkeit seiner traumatischen Folgen übermäßig zu betonen. Menschen, die in der Kindheit mißbraucht wurden, müssen aber auch die Versicherung erhalten, daß sie nicht für immer verstümmelt sind, daß viele ihrer Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen und abzuschließen, sie zu starken und fähigen Individuen gemacht haben.5)

Wir neigen jedoch zu vereinfachenden Erklärungen, suchen nach einer Formel, um das Unfaßbare zu zähmen, das uns zu überwältigen droht, einer Formel, um uns von dem Abscheulichen zu distanzieren. Wenn wir von kriminellen, süchtigen oder mißbrauchenden Eltern geschädigt wurden, sagen wir zum Beispiel: »Hätte ich diese schreckliche Kindheit nicht ertragen müssen, würde ich heute nicht so handeln.« Leider können solche Formeln zu lebenslangen Verurteilungen werden. Sie lassen keinen Raum für freien Willen, billigen uns kein Recht und keine Verantwortung für unser eigenes Verhalten zu. Wenn wir Mißbrauchs­verhalten bei Menschen entschuldigen, die mißbraucht worden sind (einschließlich der eigenen Person), nehmen wir ihnen die Hoffnung auf Heilung.

Projizierte Schwäche und deren zwangsläufige Folgeerscheinung, der Mythos des >einmal geschädigt, immer geschädigte werden durch die falsche Anwendung dreier psychologischer Theorien bestärkt. Wir wollen uns diese Theorien im einzelnen betrachten.

 

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Gewaltübertragung zwischen den Generationen

 

Die erste und bekannteste der drei Theorien behauptet, daß „Kinder, die Opfer von Mißbrauch oder Vernach­lässigung der Eltern waren, unweigerlich in die Fußstapfen der Eltern treten.

Kenneth, dem die Talkshow so zu denken gab, wußte nicht, daß die häufig publizierte statistische Aussage »80 % der Sexualtäter sind als kleine Buben sexuell mißbraucht worden«, ausschließlich aus Befragungen von inhaftierten Tätern stammt.5) Drei Gruppen von Männern waren in dieser Studie nicht berücksichtigt: verurteilte Sexualtäter, die nicht im Gefängnis saßen, Sexualtäter, die nicht verurteilt und nicht inhaftiert wurden; sowie männliche Sexualopfer, die nie zu Sexualtätern wurden. Ausgehend von der Unterstellung, je gewalttätiger und rückfälliger der Täter, desto wahrscheinlicher seine Verurteilung, hatte die Studie eine größtenteils selbstselektive Auswahlgruppe untersucht. Die Gruppe wies tatsächlich eine drastisch höhere Anzahl vieler traumatischer Kindheitsumstände auf, von Bettnässern bis zu häufigem Ortswechsel. Möglicherweise trägt jedes Problem getrennt dazu bei, oder aber die Konstellation der Probleme erhöht die Gefahren eines Betroffenen, zum verurteilten Sexualtäter zu werden.

Abgesehen von fehlender Information legen wir auch häufig Statistiken falsch aus. Viele Menschen werfen Zahlen durcheinander und glauben, daß »80 Prozent der kleinen Buben, die Opfer von Sexualvergehen waren, zu Sexualtätern heranwachsen«. Diese Fehldeutung höre ich häufig von Eltern kleiner Jungen, die von Fremdtätern, also nicht zur Familie gehörenden Personen, sexuell mißbraucht wurden. Die Kenntnis dieser <Tatsache> bezieht sich auf das unmittelbare Trauma, mit dessen Bewältigung die Eltern kämpfen.

Studien bei erwachsenen Sexualtätern, die ambulant mit einem Minimalrisiko für die Allgemeinheit behandelt werden können, weisen Zahlen von 0 bis 50 Prozent sexuell Mißbrauchter auf.6) In meinen Psychotherapie-Gruppen berichten viele Täter, daß sie durch Beobachten von sexuellem Mißbrauch, durch Gewaltbilder und Pornographie oder durch Einflüsse Gleichaltriger zu Mißbrauchsverhalten verleitet wurden.

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Als ein Familienrichter dem Psychologieprofessor Edward Zigler von einer Mutter berichtete, »der das Sorgerecht für ihre Kinder in einem Scheidungsprozeß nicht zugesprochen wurde, weil sie als Kind mißbraucht worden war«, kam Zigler gemeinsam mit einer seiner Studentinnen, Joan Kaufman, in Yale zur Überzeugung, daß »für Erwachsene, die in der Kindheit mißhandelt wurden, die häufig gehörte Aussage, auch sie werden ihre Kinder mißhandeln, zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird«. Sie überprüften die Methodologie und die Ergebnisse von mehr als vierzig Studien.

»Die Studien wiesen sehr unterschiedliche Zahlen der mißbrauchten Kinder auf, die zu mißbrauchenden Eltern wurden — sie reichten von 18 Prozent bis mindestens 90 Prozent.« Ihre eigenen Ergebnisse stellen fest, daß »zwischen 25 Prozent und 35 Prozent der mißbrauchten Kinder ihre eigenen Kinder mißbrauchen. Eltern, die den Kreislauf des Mißbrauchs nicht wiederholten, hatten ein höheres Maß an Rückhalt aus der Familie und dem Freundeskreis und waren deutlich wütender über den Mißbrauch, den sie als Kinder erlitten hatten.«7

Die Hälfte der von mir für dieses Buch in Tiefeninterviews befragten Opfer haben Kinder; keiner der Befragten hat seine Kinder körperlich oder sexuell mißbraucht. Wie wir später sehen werden, haben sämtliche Befragten sich bewußt Mühe gegeben, ihre schwierige Kindheit und deren Folgen zu verarbeiten und zu verstehen. Sie haben aus ihren Traumen Lehren gezogen, Sensibilitäten und Fähigkeiten entwickelt, die nicht traumatisierte Eltern vermutlich nicht aufweisen. Erwachsene mit Kindern zeigten ein höheres Maß an Verständnis für ihre eigenen Verwundbarkeiten und die ihrer Kinder und waren sich des Einflusses auf ihre Kinder deutlich bewußt. Alle waren in bemerkenswerter Weise erfolgreich darin, dem schlechten Beispiel ihrer Eltern nicht zu folgen. Rob, Vater zweier Töchter, drückte sich folgendermaßen aus: »Es ist wie ein schlechter Film. Ich weiß, wie er endet. Und ich werde ihn mir kein zweites Mal ansehen.«

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Mißbrauch und Vernachlässigung sind keine ansteckende oder tödliche Krankheit, sondern erlerntes Verhalten. Selbstverständlich sind Eltern starke Rollenmodelle, die den Kindern das vermitteln, woraus >normales< Familienleben besteht: Disziplin, Problemlösung und Ausdruck von Gefühlen. Und nicht alle Kinder folgen ihren Eltern blind auf dem Pfad der Zerstörung. Mißbrauchendes und vernachlässigendes Verhalten kann verlernt und durch nichtmißbrauchendes Verhalten ersetzt werden.

Wir bringen unseren Kindern bei, nicht zu fluchen, zu rauchen oder ihre Geschwister zu quälen. Trotz unserer besten Bemühungen mißachten oder verlernen sie diese Normen und Regeln. Das gleiche trifft aber auch bei mißbrauchendem und vernachlässigendem elterlichen Verhalten zu.

 

Erlernte Hilflosigkeit

 

Zwischen 1965 und 1969 führte der Psychologe Martin Seligman mit etwa 150 Hunden Experimente durch.8 Diese Hunde wurden jeglicher Bewegungsfreiheit beraubt und Elektroschocks mittlerer Stärke ausgesetzt. Die Hunde befanden sich in einer ausweglosen Situation — hatten also keine Möglichkeit, den Elektroschocks auszuweichen, und wußten nicht, wann sie diese zu erwarten haben.

Vierundzwanzig Stunden später brachte Seligman jeden Hund in einen Raum, der durch eine schulterhohe Barriere abgeteilt war. Eine Seite des Raumes wurde den Elektroschocks ausgesetzt; die Hunde konnten den Schocks ausweichen, wenn sie über die Barriere sprangen. Jeder Hund wurde in zehn Sitzungen getestet.

66 Prozent der Hunde ertrugen wiederholte Male die schmerzhaften Schocks, ohne den Versuch zu machen, über die Barriere zu springen und dem Schock zu entrinnen. Aber »33 Prozent der Hunde lernten rasch, dem Schmerz zu entfliehen und machten wiederholt davon Gebrauch« [Hervorhebung durch die Autorin].9

Psychologische Theoretiker und Therapeuten haben diese Studie auf menschliches Verhalten — vorwiegend auf weibliches Verhalten — extrapoliert und die Theorie aufgestellt, daß die Erfahrung wiederholter Mißhandlung ohne Fluchtmöglichkeit Hilflosigkeit vermittelt.

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Das Opfer nimmt die Möglichkeiten, sich der Mißhandlung zu entziehen, nicht wahr, sondern ergibt sich in sein >Schicksal<, Opfer zu sein. Der Soziologe und Forscher familiärer Gewalt, Edward Gondolf, zieht daraus den Schluß, daß »mißhandelte Frauen der Theorie entsprechend typischerweise konditioniert sind, den Mißbrauch zu ertragen, aufgrund der wiederholten und periodisch auftretenden Mißhandlung durch den Täter. Da die Gemeinschaft nicht auf die Mißhandlung reagiert und die Frau häufig beschuldigt wird, sie trage an der Mißhandlung Schuld, wird die Hilflosigkeit der Betroffenen verstärkt. Die Käfigtür ist sozusagen versperrt und die Frauen haben keinen erkennbaren Ausweg«.10 Darüber hinaus führt frühe Mißhandlung zu einer sogenannten Mißhandeltenkarriere: mißhandelte kleine Mädchen werden als erwachsene Frauen verprügelt, vergewaltigt, verstümmeln sich selbst, werden Drogensüchtige und Prostituierte.

Seligmans Schlußfolgerung läßt allerdings die erhebliche Anzahl von Hunden außer acht — immerhin ein Drittel —, die den Stromstößen entflohen und sich widersetzten, in den Käfig zurückzukehren. Gondolf und seine Kollegin Ellen Fisher sind der Anschauung, daß geprügelten Frauen in einem weitaus überschätzten Maße <erlernte Hilflosigkeit> zugeschrieben wird. In ihrer umfassenden Breitenuntersuchung bei mehr als 6000 Frauen in fünfzig texanischen Frauenhäusern stellten sie fest, daß

»die geprügelten Frauen eher als >Überlebende< denn als Opfer von <erlernter Hilflosigkeit> zu bezeichnen sind. Sie haben sich aktiv darum bemüht, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen, sie haben sich durchschnittlich an fünf verschiedene Stellen um Hilfe gewandt. Über die Hälfte der Frauen haben sich an die Polizei gewandt und 20 Prozent haben Rechtsbeistand aufgesucht, bevor sie in ein Frauenhaus einzogen. Nahezu ein Drittel der Frauen hatten zu irgendeinem Zeitpunkt die Notaufnahme einer Klinik aufgesucht. Je schlimmer die Formen der Mißhandlung und des antisozialen Verhaltens (Suchtmittelmißbrauch, Gefängnisstrafen und allgemeine Gewalt­aus­schreitungen) seitens des Schlägers, desto unterschiedlichere Hilfseinrichtungen wurden kontaktiert. Die Mißhandlungen, denen Frauen in der Kindheit ausgesetzt waren, und andere Herkunfts­variablen scheinen ihre Bemühungen um Hilfe von außen nicht signifikant zu beeinflussen.«
[Hervorhebung durch die Autorin].11

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Leider prägt die Überzeugung, erlernte Hilflosigkeit sei unausweichlich, die Einstellung einer zu großen Anzahl von Menschen in helfenden Berufen. Ihr Mangel an Zuversicht und Vertrauen in ihre Patienten kann psychologisch ansteckend wirken, da dieser Mangel den Glauben der Opfer an ihre eigene Kraft unterminiert. Kurzum, die Einstellung der Helfer kann <die Käfigtür versperren>.

Die ehemaligen Opfer meiner Befragung hatten Hilfsbereitschaft gelernt. Als Kinder kümmerten sich die meisten um Geschwister und bemühten sich um das Wohlwollen der Eltern, in der Hoffnung, dadurch Mißhandlungen zu entgehen. Ihre Fürsorge brachte ihnen die Achtung der Menschen außerhalb der Familie. Natürlich hat jede Bewältigungsstrategie ihre Stärken und Schwächen. Viele von ihnen bestätigten, daß ihre fürsorglichen Bemühungen um andere zuweilen auf Kosten der Entwicklung eigener Persönlichkeits­merkmale gingen. Doch im Rückblick auf eine schwierige Kindheit haben sie »nicht aufgegeben, nachgegeben oder zu wenig gegeben«.12

 

Identifikation mit dem Aggressor

 

Schließlich gibt es die weit verbreitete Theorie, wonach die Opfer aufgrund ihrer Unfähigkeit, ihre Hilflosig­keit und Machtlosigkeit zu ertragen, das Mißbrauchsverhalten des Täters nachahmen, um ihr Trauma zu bewältigen. Im Weltbild des Kindopfers gibt es nur zwei Sorten von Menschen: Opfer und Täter. Wenn das Opfer seine Opferrolle nicht länger ertragen kann, bleibt ihm nur eine Wahl: selbst zum Täter zu werden.

Klischees über die Geschlechtsrollen verzerren unser Verständnis dieser machtvollen Dynamik. Wir neigen dazu, die Täterrolle nahezu ausschließlich Männern zuzuschreiben, und übersehen Frauen, die durch die Identifikation mit ihren Aggressoren körperliches oder sexuelles Mißbrauchsverhalten annehmen. Wir übersehen aber auch Männer, die nie aufhörten, sich mit dem Opfer zu identifizieren, und fortfahren, sich selbst zu verletzen oder nur Beziehungen mit Menschen einzugehen, die sie verletzen.

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Die ehemaligen Opfer, die ich interviewt habe, sind sich sowohl des Opfers als auch des Aggressors in sich bewußt. Sie kämpfen darum, beide zu akzeptieren, aber sie identifizieren sich mit keiner dieser Rollen. Sie haben gelernt, daß die meisten Erwachsenen weder Opfer noch Täter sind; einige haben ihre Erfahrungen als Opfer in sinnvolle Arbeit umgesetzt. Jenny, eine seelsorgerische Beraterin ihrer Kirchen­gemeinde, sagt: »Ich kann mit den psychologischen Dynamiken von Gewalt von innen heraus umgehen. Da ich den Terror, die Demütigung und den Ekel vor mir selbst durchlebt habe und daraus mit Selbstachtung hervorgegangen bin, kann ich anderen mehr Anteilnahme und Verständnis entgegenbringen. Gleichzeitig kann ich, da ich das alles überlebt habe, objektiver sein. Ich weiß, daß Menschen den Mißbrauch, den sie in der Kindheit durchlitten haben, besiegen können.«

 

Die Zukunft vorhersagen  

 

Diese drei Theorien — Gewaltübertragung zwischen den Generationen, erlernte Hilflosigkeit und Ident­ifikation mit dem Aggressor — sind für psychologische Untersuchungen oder nachträgliche Analysen nützlich. Sie helfen uns, den Wurzeln von Problem verhalten auf die Spur zu kommen. Für einstige Opfer, die vorübergehendes oder auch chronisches Opferverhalten (auf sich oder andere bezogen) an den Tag legen, können diese Theorien erläuternd, richtig und nützlich sein.

Sie sind jedoch nicht geeignet, um die Nachwirkungen oder die Dynamiken für die Mehrheit der Opfer und Überlebenden vorherzusagen. Basierend auf einigen der alternativen, oben erwähnten Untersuchungen und auf meinen fünfzehn Jahren klinischer Berufserfahrung schätze ich, daß sie auf 25 Prozent bis 50 Prozent der Kinder zutreffen, die in mißbrauchenden und vernachlässigenden Elternhäusern aufgewachsen sind. Theorien sind bestenfalls eine Hilfe, um potentielle psychologische Störungen zu erkennen, die in der Behandlung von Kindopfern angesprochen werden müssen.

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Menschen, die vergleichbare Erfahrungen gemacht haben, reagieren darauf nicht unbedingt in gleicher Weise. Wenn wir aber nur die negativen Ergebnisse untersuchen und diskutieren, sehen wir keine alternativen Lösungsmöglichkeiten. Ein altes jüdisches Sprichwort faßt das sinnreich zusammen: »Wenn du ein Wurm in einem Meerrettich bist, ist die ganze Welt ein Meerrettich.«

 

     Die <genügend schlechte> Kindheit   

 

Sämtliche Theorien und Schlußfolgerungen sind möglichen Fehldeutungen unterworfen und es ist sehr wichtig, daß meine Leser das Material dieses Buches mit Sorgfalt aufnehmen. Es ist insbesonders wichtig, sich vor Augen zu führen, daß die Kindheitserfahrungen der von mir interviewten Überlebenden in einem hohen — wenn auch nicht ungewöhnlichen — Maß von Mißbrauch gekennzeichnet waren. Darüber hinaus haben alle einstigen Opfer im Verlauf ihres Heilungsprozesses gelernt, sich deutlicher an diese Erfahrungen zu erinnern und ihnen Ausdruck zu verleihen. Wenn Sie wissen, daß Sie in Ihrer Kindheit mißhandelt wurden, diese Erfahrung aber bagatellisieren oder verdrängen, sollten Sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Sie sich so verhalten, weil Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch das Bedürfnis haben, sich zu schützen.

Der Psychoanalytiker D. W. Winnicott entwickelte einen wichtigen Begriff im psychologischen Denken: die >genügend gute< Mutter.13 Frühe psychoanalytische Theorien gingen davon aus, daß Eltern ihre Kinder durch jede Art subtiler, häufig unmerklicher Fehler zu Neurotikern machen können. Winnicott behauptet, daß Kinder nur eine >genügend gute< Mutter brauchen — wobei wir natürlich auch einen >genügend guten< Vater einbeziehen. Solchen Eltern liegen die Interessen des Kindes am Herzen, sie dulden die Ablösung des Kindes und lieben das Kind, ohne es zu beschämen, zu vernachlässigen oder zu mißhandeln. Alle Eltern machen Fehler, wenn aber die Eltern-Kind-Beziehung im Grunde genommen gesund und uneigen­nützig ist, nimmt das Kind die Fehler und Unzulänglichkeiten der Eltern hin, ohne Schaden daran zu nehmen.

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In Anbetracht des enormen Ausmaßes an Kindesmißbrauch und Vernachlässigung bin ich der Anschauung, daß wir uns den entsprechend folgenden Gedanken zu eigen machen sollten: den >genügend schlechtem Elternteil, der ständig seine eigenen Bedürfnisse über die Bedürfnisse des Kindes stellt und vom Kind verlangt, diese Bedürfnisse auf Kosten seines eigenen Wachstums zu erfüllen. >Genügend schlechte< Eltern beschämen das Kind, machen es lächerlich, und geben ihm häufig für eigene Unzulänglichkeiten die Schuld. Die Liebe >genügend schlechter< Eltern stellt Bedingungen und gibt dem Kind unzureichenden Schutz. >Genügend schlechte< Eltern verletzen das Kind nicht immer auf dramatische oder offensichtliche Weise. Die Verhängung eines der fünf Traumen (körperliche Mißhandlung, sexueller Mißbrauch, elterliche Suchtmittelabhängigkeit, extreme Vernachlässigung und das Miterleben von Gewalt) sind die deutlichsten Anzeichen.

Wie wir gesehen haben, läßt sich die belegte Gesundheit und Zufriedenheit Überlebender von Kindheitstraumen nicht in ein simples Schema von >Wenn... dann< pressen. Daher dürfen wir nicht unterstellen, die >Ausnahmen< seien darauf zurückzuführen, weil das Trauma >nicht so schlimm< war. Bedauerlicherweise denken viele Überlebende, die heute in privaten und beruflichen Bereichen gut funktionieren, genau das, statt sich selbst das Verdienst an ihrer Heilung zuzuschreiben. Andere glauben, keinen Anspruch auf Heilung zu haben, in der Annahme, ihr Leiden sei nicht groß genug gewesen.

 

In seinem Klassiker Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn berichtet der Philosoph und Psychiater Viktor Frankl von seiner Gefangenschaft in einem Nazi-Konzentrationslager. Seiner Anschauung nach schmälert das Grauen dieser furchtbaren Erfahrung keineswegs das Leiden anderer Menschen, die die Qualen der Konzentrationslager nicht erlebt haben: »Das menschliche Leiden läßt sich mit dem physikalischen Verhalten von Gas vergleichen. Wenn eine bestimmte Menge Gas in einen leeren Raum strömt, füllt es diesen Raum vollständig und gleichmäßig, wie groß dieser Raum auch sein mag. Das Leiden füllt die menschliche Seele und das Bewußtsein gleichermaßen vollständig, ob das Leiden nun groß oder klein ist. Das <Ausmaß> menschlichen Leiden ist also absolut relativ.«14) 

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Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Keine Familie kann ein Schild vor die Tür hängen mit der Aufschrift <Hier ist nichts los>.«

Wenn Sie Leid erlitten haben, zählt dieses Leid. Ich habe die Hoffnung, daß Sie, wenn Sie dieses Buch lesen, Kräfte in sich entdecken, von denen Sie nichts ahnten, egal wie groß oder klein das Problem auch sein mag, das Sie zu bewältigen suchen.

Es erscheint mir angebracht, hier zu betonen, daß ich keineswegs die Absicht habe zu unterstellen, Mißhandlung sei für Kinder gut. Ein Sozialforscher zog aus seiner Untersuchung bei Kindern schizophrener Eltern den Schluß: »Man hat beinahe den Eindruck, daß der Schmerz und das Leiden eine stählende — eine festigende — Wirkung auf einige Kinder hat.«15) Damit wird unterstellt, es sei wünschenswert, hart wie Stahl zu sein. Die einstigen Opfer, mit denen ich gesprochen habe, sagten, hart wie Stahl zu sein, brächte viele Schwierigkeiten mit sich, zumal in ihren intimen Beziehungen. Damit wir uns nicht mißverstehen: diese Menschen haben ihr Leben gemeistert, trotz ihrer schwierigen Kindheit, nicht wegen ihrer Leiden.

In jüngster Zeit haben zahlreiche Prominente in der Öffentlichkeit bekanntgegeben, daß sie in ihrer Kindheit mißbraucht wurden. Sie haben damit Mut bewiesen und erreicht, daß wir die Begriffe Kindesmißbrauch und Vernachlässigung eher wahrnehmen, doch wir sollten uns davor hüten, die Mißbrauchsfolgen durch solche Beispiele herunterzuspielen: »So schlimm kann es ja nicht sein, wenn so kreative und erfolgreiche Menschen daraus hervorgehen.« Möglicherweise denken wir, diese Menschen wären weniger erfolgreich, wenn sie nicht mißbraucht worden wären.

Der Psychologe J. Kirk Felsman und der Psychiater George Vaillant greifen das Etikett <unverletzbar> auf, mit dem häufig Überlebende wie die von mir interviewten beschrieben werden:

Immer wieder liest und hört man irreführende Berichte von >Superkindern< und Hinweise auf deren Unverletzbarkeit. Der Begriff >Unverletzbarkeit< ist unvereinbar mit der menschlichen Befindlichkeit. Kierkegaard hatte recht, als er sagte, »Angst und Vernichtung befinden sich in nächster Nachbarschaft eines jeden Menschen«.

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Es ist vielleicht dieses innere Wissen, das unseren starken, ja sogar blinden Hang zur Übertreibung und Fehldeutung verstärkt. Unsere uneingeschränkte Sicht wird kurzsichtig. Menschliche Verletzbarkeit wird mit Schwäche gleichgesetzt und Unverletzbarkeit mit Stärke. Im Hinblick auf das angepaßte Verhalten stark gefährdeter Kinder wäre es sinnvoller, die gemeinsamen menschlichen Wesenszüge, die hier am Werk sind, zu begreifen.16

Allen voran stellen die mit dem Thema <unverletzbare Kinder> beschäftigten Sozialforscher Lois Murphy und Alice Moriarty weiterhin fest:

Im Kontinuum der Verletzbarkeit können Kinder verschiedenen Gradierungen zugeteilt werden: nur sehr wenige sind sehr stark, weisen weder kleine noch mittlere oder große Schwächen auf, sind also völlig frei von jeglicher Form der Verletzbarkeit. Die meisten Kinder weisen ein Schachbrettmuster von Stärken und Schwächen auf, oder haben eine Achillesferse, oder bestimmte Neigungen, die so interagieren, daß ein erkennbares Muster von Verletzbarkeit und Stärke entsteht [Hervorhebung durch die Autorin].17) 

 

Alle Menschen, ob sie nun als Kinder traumatisiert wurden oder nicht, weisen >Schachbrettmuster von Stärken und Schwächen< auf. Möglicherweise sind beim traumatisierten Kind die Stärken ein wenig stärker und die Schwächen ein wenig schwächer.

Wir dürfen nicht vergessen, daß Überlebende zunächst gebrochen wurden, bevor sie stark werden konnten. Ständig machen mich die einstigen Opfer darauf aufmerksam, daß sie jetzt und in Zukunft damit beschäftigt sind, die zerbrochenen Stellen zu reparieren. Reparieren bedeutet Wachstum und Heilung — sie wollen gar nicht fertig werden damit.

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Diese Menschen >unverletzbar< zu nennen hieße, die gesunde und natürliche Verletzbarkeit eines Kindes zu leugnen. Sie >anpassungsfähig< zu nennen läßt an ein Gummiband denken, das sich bis zum Zerreißen dehnen läßt und das, wenn losgelassen, in seine ursprüngliche Form zurückschnellt. Was aber, wenn die ursprüngliche Form schmerzhaft war? Und das Anspannen noch schmerzhafter ist?

Ich denke an Rabbi Harold Kushner, dessen Sohn Aaron nach langer unheilbarer Krankheit als Vierzehn­jähriger starb:

Aarons Leben und Tod hat aus mir einen Menschen mit tieferer Empfindsamkeit, einen Priester mit größerer Reichweite, einen Berater mit mehr Einfühlungsvermögen gemacht; einen Menschen, der ich ohne diese Erfahrungen nie geworden wäre. Und ich würde all diese Gewinne, ohne eine Sekunde zu zögern, aufgeben, wenn mir mein Sohn wieder­gegeben würde. Hätte ich die Wahl, würde ich auf jedes spirituelle Wachstum und jede Vertiefung verzichten, die mir durch unsere Erfahrungen zuteil wurden, und der sein, der ich vor fünfzehn Jahren war, ein mittelmäßiger Rabbi, ein durchschnittlicher Berater, der manchen Menschen hilft und anderen nicht, und der Vater eines klugen, glücklichen Jungen. Diese Wahl ist mir nicht gegeben.18

Keiner von uns kann sich seine Eltern und seine Kindheit aussuchen. Und niemand von uns ist verant­wortlich für die gute oder schlechte Behandlung, die ihm in der Kindheit zuteil wurde. Wir sind allerdings verantwortlich dafür, was wir mit unserer Kindheit anfangen. Entscheiden wir uns dafür, unsere Erfahrungen der nächsten Generation aufzubürden? Oder wachsen wir daran, nehmen sowohl unsere Stärken als auch unsere Verletzlichkeiten hin und bekommen unser Leben in den Griff?

Es ist möglich, für ein Problem nicht verantwortlich zu sein und dennoch die Verantwortung für seine Lösung zu tragen. Überlebende, die ihr Leben trotz ihrer traumatischen Kindheit in den Griff bekommen haben, zeichnen sich vor allem durch ihr Gefühl persönlicher Verantwortung, ihre Selbstbejahung und ihren Glauben an die eigene Entscheidungsfähigkeit aus.

Esther, eine der am schwersten mißbrauchten Überlebenden, die ich interviewt habe, faßt diesen Punkt in besonders treffende Worte: 

»Ich bin stolz auf mich, weil ich nicht zugelassen habe, daß der Mißbrauch mich umbringt. Aus eigener Erfahrung und der anderer Überlebender bin ich sehr beeindruckt von dem Mut und dem Kampfgeist, der notwendig ist, eine solche Kindheit zu überstehen. Es geht nicht nur darum, daß wir gut funktionieren oder daß wir nicht alle in Anstalten eingesperrt sind. Wir haben es geschafft, uns ein kostbares und wundervolles Lebensgefühl aufzubauen und zu erhalten. Ich bin stolz auf mich.«

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