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7. Zweite Chancen: Freunde, Geliebte und Kinder

Leakey bei detopia

Ein Schimpanse ist kein Schimpanse. (Richard Leakey)

 

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Rob erinnert die meisten Menschen an einen <sanften Riesen>, nicht nur wegen seiner Körpergröße und seiner gewichtigen Erscheinung. Er hat ein breites Lächeln, einen bemerkenswerten Verstand, ein unge­wöhnlich großes Verständnis für komplizierte medizinische und psychologische Zusammenhänge, und er bringt in seinen Beruf als Sozialarbeiter tiefes Verständnis für <hoffnungslose Fälle> ein, wofür seine Kollegen ihn bewundern. 

Nur wenige Eingeweihte wissen, daß Rob als Kind Opfer der fünf in diesem Buch thematisierten Traumen war. Noch weniger Menschen wissen, daß er ein jugendlicher Krimineller war. Damals wurde er selbst häufig als <hoffnungsloser Fall> bezeichnet. Eine Menge von Robs heutiger menschlicher Größe ist eine Umsetzung seiner <Kleinheit> angesichts unbeschreiblicher Mißhandlungen.

Robs Vater Douglas lernte Mary Lou kennen, nachdem er als Soldat aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt war. Drei Monate später heirateten die beiden, ohne einander wirklich zu kennen und ohne zu wissen, daß der jeweils andere aus einem traumatisierten Elternhaus kam. 

In Douglas' Familie war es an der Tagesordnung, daß die Eltern sich gegenseitig und die Kinder verprügelten. Seine Mutter beging Selbstmord, als er fünfzehn Jahre alt war. Mary Lou wurde von ihrer Mutter vernachlässigt und ständig verspottet, von ihrem Vater sexuell mißbraucht und später verlassen. Niemand bemerkte, daß Mary Lou aufgrund eines biochemischen Ungleichgewichts manisch-depressiv war. Sie war einfach >anders<. Mary Lou war glücklich, daß Douglas sie heiraten wollte. Douglas sehnte sich nach einer besseren Familie als seine eigene. Keiner der beiden stellte viele Fragen.

Zunächst sah es so aus, als hätten Douglas und Mary Lou die Normalität gefunden, die sich beide ersehnten. Ihr erstes Kind Vicky kam acht Monate nach der Hochzeit zur Welt. Rob — >Bobby< — wurde drei Jahre später geboren. Die Familie wohnte in der Nähe von Mary Lous Mutter und man verbrachte jeden Sonntag mit ihr. Douglas arbeitete in einer Fleischwarenfabrik und sang am Sonntag im Kirchenchor.

Bald dehnten Douglas' Trinkabende mit seinen Arbeitskollegen am Zahltag sich bis ins Wochenende hinein aus. Und wenn er nach Hause kam, suchte er Streit. Irgendwie schaffte er es jedoch immer, am Sonntag zur Messe im Chor zu singen. Rob erinnert sich an die schöne Baritonstimme seines Vaters, der häufig einen Solopart sang: »Ich war wahnsinnig stolz auf ihn. Das war mein Vater, der da in der Kirche sang!«

Mary Lou, die mit den kleinen Kindern zu Hause festsaß, begann heimlich zu trinken, sie beruhigte ihre Nerven mit Wodka. Nach Streitereien mit Douglas, die sich häufig die halbe Nacht hinzogen und die Vicky und Rob wachhielten, kam es immer öfter vor, daß Mary Lou ihre Tochter am Sonntagmorgen ohrfeigte, weil sie »zu lang herumtrödelte, um rechtzeitig zur Kirche zu kommen«.

Mary Lou trank immer mehr, um ihre drastischen Stimmungsschwankungen zu kontrollieren, ohne zu erkennen, daß sich ihr Stimmungskarussell um so schneller drehte, je mehr sie trank. In ihrer manischen Phase redete sie entweder pausenlos oder ließ Rob und Vicky stundenlang allein, wenn sie einen Einkaufs­bummel machte. Manchmal stellte sie sich nackt ans Wohnzimmerfenster. In ihrer depressiven Phase kam sie tagelang nicht aus dem Bett, weigerte sich zu essen und sagte nichts weiter als »Ich möchte sterben«. Wenn sie schlief, gerieten Rob und Vicky in Panik, weil sie dachten, sie sei tot. Ihre Mutter hatte Mary Lou dreimal in eine Nervenklinik einweisen lassen. »Sie kam jedesmal verwirrter als vorher nach Hause«, erinnert Rob sich.

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Auch Douglas war von Zeit zu Zeit von zu Hause fort, manchmal holte ihn die Polizei ab, wenn er Mary Lou verprügelt hatte. Rob erinnert sich: »In einer meiner schlimmsten Erinnerungen war ich höchstens vier Jahre alt. Ich sehe noch heute die Häschenohren an den Füßen meines Pyjamas. Ich schaue nach unten, und zu meinen Füßen liegt meine Mutter, ohne sich zu rühren. Blut kommt aus ihren Ohren und ihrer Nase. Ich habe gerade zugesehen, wie mein Vater eine Wodkaflasche auf ihrem Kopf zerbrochen hat. Er steht drohend neben mir. Er sagt nur: <Das ist alles bloß Theater.> Ich stand wie gelähmt da.«

Mary Lou war so oft von zu Hause fort, daß Rob sich ihr nie sonderlich nahe fühlte: »Ich machte mir große Sorgen um sie, aber ich konnte mich nicht besonders auf sie verlassen.« Douglas war in seinem Verhalten unvorhersehbar. »Er ließ Vicky und mich jeden Abend ins Bett marschieren, wie >kleine Soldaten< Dann sagten wir zu dritt unser Nachtgebet. Das war ein feststehendes Ritual, wenn er zu Hause war, und ich freute mich darauf. Komisch, ich bete noch heute jeden Abend.«

Aber es gab noch ein Ritual, auf das Rob sich nicht freute. »Ich mußte mich über die Badewanne beugen und er inspizierte und betastete meinen After, um >Ungeziefer< zu suchen, wie er sagte. Das war mir schon als kleiner Junge sehr unangenehm. Manchmal machte er mir einen Einlauf und das tat sehr weh.«

Douglas geriet durch seine Trinkerei in berufliche Schwierigkeiten. Je öfter er gefeuert wurde, desto mehr trank er und schlug seine Frau. Als Rob sechs war, bekam Mary Lou einen zweiten Sohn, der den Namen ihres Vaters Roy erhielt. Die Mühen mit einem dritten Kind waren zu viel für die bereits zerrüttete Ehe. Mary Lou verlor rasch jeden Bezug zur Realität, war sich ihres Elends aber soweit bewußt, daß sie etwas dagegen unternahm. »Eines Abends, als mein Vater wieder mal auf Sauftour war, packte meine Mutter ein paar Sachen ein und wir flohen alle zu ihrer Cousine. Wir gingen nie wieder zu meinem Vater zurück.«

Nach sechs Monaten und häufigem Wohnungswechsel, um Douglas zu entgehen, zog Mary Lou mit den drei Kindern »in eine Siedlung im verrufensten Viertel der Stadt. Bei uns zu Hause ging es schon schlimm genug zu, aber hier gab es an jeder Straßenecke Raufereien. Man war nirgendwo sicher.«

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Nach der Scheidung der Eltern wurde alles noch schlimmer. Sein Vater »war ständig mit den Unterhalts­zahlungen im Rückstand, mit der Begründung, meine Mutter würde das ganze Geld vertrinken. Durch seine Weigerung zu bezahlen, lebten wir in völliger Armut. Und meine Mutter fragte mich nach jedem Besuch bei ihm: >Was gibt es Neues von dem Geizkragen?< 

Am schlimmsten war für mich sein körperlicher Verfall durch die Huntingtonkrankheit. Früher war er toller Marinesoldat. Durch die Krankheit muße er eine Stütze tragen und zitterte unentwegt. Ich betete jeden Abend zu Gott: >Bitte nimm mich an seiner Stelle. Bitte mach meinen Vater wieder gesund.< Und dann lag ich nächtelang wach und fürchtete, Gott könnte mich beim Wort nehmen. Ab neun weigerte ich mich, ihn zu besuchen — es war zu schmerzhaft. Meine Mutter beauftragte ihre Trinkkumpane, mich zu verprügeln. Ich machte, was jeder normale achtjährige Junge gemacht hätte: Ich sprang aus dem Fenster im ersten Stock. Zur Strafe wurde ich ausgesperrt. Also schlug ich ein Kellerfenster in der Nachbarschaft ein und suchte mir dort einen Platz zum Schlafen.«

 

Vicky wurde mit elf Jahren in die psychiatrische Klinik eingeliefert. Sie hatte sich tiefe Schnitte in den Unterarmen zugefügt. Keiner der Ärzte, die Vicky betreuten, stellte fest, daß Mary Lou unfähig war, Rob und Roy zu erziehen.

»In der Wohnung gab es nur zwei Schlafzimmer. Meine Mutter schlief normalerweise mit Vicky im Zimmer, außer wenn sie mit einem Mann schlief, der mit Schnaps bezahlte. Das machte sie im Wohnzimmer und wir Kinder konnten alles mithören. Nachdem Vicky weg war, nahm sie Roy zu sich ins Bett. Einerseits machte ich mir Sorgen darüber, was sie mit ihm anstellte. Und andererseits fühlte ich mich von ihm im Stich gelassen.«

Rob kümmerte sich so gut er konnte um Roy. »Ich machte ihm jeden Tag belegte Brötchen. Am Morgen tappte er durch die Wohnung und fand meine Mutter mit einem Fremden halbnackt auf der Couch liegen. Er weckte mich und fragte, was mit Mami los sei.« Rob zog sich zurück, hörte Radio und schrieb Gedichte. »Ich zog mich selbst an den Haaren und schlug mir auf den Kopf und wiederholte ständig: <Mach, daß das aufhört.

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Robs Lehrer in der vierten Klasse, Mr. Kaminsky, war >wie eine Insel< für ihn. »Ich hatte diesen Mann sehr gern und wünschte, ich könnte ihn wiedersehen. Eines Tages in der Schule fiel mir mitten im Unterricht ein, daß an diesem Tag die Müllabfuhr fällig war und ich vergessen hatte, den Müll rauszubringen. Ich wußte, meine Mutter würde einen Tobsuchtsanfall bekommen. Ich stürmte aus dem Klassenzimmer, rannte heim, brachte den Müll runter und lief zurück in die Schule. Ich war völlig fertig und fing an zu heulen - hauptsächlich vor Erleichterung, weil die Müllabfuhr noch nicht in unserer Straße war. Mr. Kaminsky kam zu mir, legte seinen Arm um mich und sagte: »Es wird wieder gut, was es auch ist, es wird wieder gut.«

Damals wurde Rob von allen >Bobby< genannt. »Kurz nach der Sache mit dem Müll wandte Mr. Kaminsky sich im Unterricht an mich und sagte: >Bobby, von heute an heißt du Rob. Ja Rob, der Name paßt viel besser zu dir.< Als Rob konnte ich ein wenig von der Schmach und dem Entsetzen, die Bobby aushalten mußte, hinter mich bringen, bis ich als Erwachsener besser damit umgehen konnte.«

Doch Rob agierte auch die Schmach und das Entsetzen aus, die Bobby durchgemacht hatte. Mit elf trank er täglich Alkohol und wurde häufig wegen Raufereien und Streunen von der Polizei aufgegriffen. »Mit sechzehn versetzte ich einem Lehrer einen Faustschlag, der versuchte, an mir ein Exempel zu statuieren. Damit hatte ich den Bogen überspannt. Ich kam vor Gericht und sollte in ein Heim gesteckt werden. Ein entfernter Verwandter meines Vaters arbeitete dort und verständigte meinen Vater. In einem ziemlich dramatischen Auftritt erschien mein Vater im Rollstuhl vor Gericht und beanspruchte das Sorgerecht für mich. Und er bekam es.«

Douglas und seine neue Frau wohnten »in einer besseren Wohngegend. Ich hatte es näher zur Schule und schaute gelegentlich nach Roy. Das Jahr bei meinem Vater war okay.« Douglas schlug Rob vor, zum Militär zu gehen, und das tat er auch. »Für ihn war nie etwas gut genug. Ich schloß die Grundausbildung in Parris Island unter den besten 2 Prozent ab. Der einzige Kommentar, den er hierzu abgab, war <zu meiner Zeit war die Ausbildung wesentlich härter.>«

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Nach seinen vier Jahren Militärdienst machte Rob »dort weiter, wo ich als Junge aufgehört hatte. Ich war ein Motorradfan, liebte Harley-Davidson-Maschinen und fuhr mit Banden herum. Schon damals wußte ein Teil von mir, daß ich trank, um meinen Eltern ähnlicher zu sein. Aber ich wußte auch, daß es falsch war. Es liegt in meiner Natur, alles was ich tue, bis zur Erschöpfung zu treiben. Irgendwann stellte ich fest, daß mein tägliches Quantum Whisky und die Drogen mir nichts mehr gaben — sie wirkten nicht mehr. Und eines Tages hörte ich einfach damit auf und schrieb mich in einem städtischen College ein.«

Dort lernte Rob Judith kennen, die dem ersten Anschein nach aus einer perfekten Familie kam. »In ihrer Familie gab es keinen körperlichen oder sexuellen Mißbrauch, keine Abhängigkeiten und keine Geistes­krankheit. Das waren damals meine Kriterien über Gesundheit. Ich war mehr daran interessiert, in Judiths Familie einzuheiraten, als Judith zu heiraten.«

Rob stellte bald fest, daß die Nähe in Judiths Familie mehr eine Verschmelzung war. In den Anfängen seiner Bindung — zu Judith und ihrer Familie — war diese Unterscheidung unwichtig. »Lange Zeit waren Judith und ich >die Kinden in der Familie, und das behagte mir. Wir machten alles gemeinsam, wir führten die Sätze des anderen zu Ende, wir aßen von einem Teller. Wir verbrachten unsere ganze Freizeit mit ihren Eltern und ihren Brüdern.«

Mit dem Sicherheitsnetz der Akzeptanz durch Judiths Familie begann Rob »überwältigende und anscheinend alte Gefühle der Einsamkeit und Leere zu spüren. Das konnte Judith einfach nicht verstehen. Wenn sie ein Problem hatte, lag ihre Lösung darin, zu ihren Eltern zum Essen zu gehen. >Wenn du was Richtiges im Magen hast, geht es dir gleich besser.<«

Judith wurde schwanger und Rob »wollte mit ihr allein sein, nicht jedes Wochenende im Haus ihrer Eltern verbringen. In der Schwangerschaft war ihr der Trost und Rat ihrer Eltern wichtiger, als meiner.« Die Unfähigkeit, sich von ihren Eltern trennen zu können, machte ihn verrückt.

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»>Du mußt dich entscheiden, zu wem du gehörst<, verlangte er immer wieder von ihr. >Du kannst auch nicht gleichzeitig zwei Staatsbürgerschaften haben.< Nach der Geburt von Megan stritten wir uns, weil Judith ständig bei ihren Eltern über Säuglingspflege Rat suchte. Als unsere zweite Tochter zur Welt kam, warf ich ihr vor, der Grund meiner inneren Leere, mein tiefes Gefühl der Einsamkeit liege an unserer Ehe. Davon wollte Judith nichts hören. Ich verließ sie, und wir sprachen beide mit Scheidungsanwälten.«

Wieder einmal konnte Rob nicht bleiben und konnte nicht zurückkehren. »Ich konnte nicht nur wegen meiner Kinder in einer zerrütteten Ehe bleiben. Ich konnte aber auch nicht gehen und den Kindern zu verstehen geben, du kannst der Liebe den Rücken kehren, geh einfach weg. Es gab Momente, da wollte ich sie wirklich schlagen, aber ich wußte, ich würde mich eher umbringen, bevor ich mich dazu hinreißen ließe. Bei meinen Eltern herrschte offener Krieg. Judith und ich führten einen kalten Krieg.«

Diesmal gab es keinen Keller in einem Nachbarhaus, in den er sich verkriechen konnte. Rob hatte Selbst­mord­gedanken. Dann beschloß er, sich der Verzweiflung, die er in sich trug, zu stellen. Er suchte einen Therapeuten auf, mit dem er reden konnte.

Judith ihrerseits begriff, daß sie »sich von der falschen Person scheiden ließ«. Sie begann, sich von ihrer Familie zu trennen, verbrachte weniger Zeit mit ihren Eltern und begann Freunde an ihrem Leben teilnehmen zu lassen und sich auf ihr eigenes Urteil zu verlassen statt auf das Urteil ihrer Mutter.

Eine Ehetherapie erleichterte Rob und Judith die Versöhnung — oder besser gesagt, eine neue Annäherung zu finden. »Erst in den letzten zwei Jahren kommen wir klar, sind wir richtig glücklich miteinander. Es gibt noch eine Menge, was ich an Judith nicht mag und sie nicht an mir. Es ist immer noch sehr schwer, wenn einer von uns etwas braucht, das der andere nicht geben kann. Ich bin noch nicht ganz davon überzeugt, daß meine Bedürfnisse ernstgenommen werden. Aber wir haben beide gelernt, uns auch an andere zu wenden. Ich liebe Judith und habe mit ihr und durch sie gelernt, mich selbst und andere zu bejahen, was ich früher nicht konnte.«

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Rob erlebt Teile seiner Kindheit durch seine Töchter wieder: »Ich weiß bis heute nicht, wie ich mit meinen Kindern über meine Eltern reden soll. Die vierjährige Megan fragt mich: >Wo ist dein Papa? Ist er im Himmel< Ich sage: >Ja.< Oder sie fragt Sachen wie: >Hat dein Papi dir gesagt, daß man vor Wölfen Angst haben muß? Was hat er gesagt?< Ich antworte: >Also, laß mich mal nachdenken^ suche nach Ausreden, während ich denke, er war viel zu betrunken, um mit uns zu reden, und dann gingen wir von ihm fort. Während ich überlege, redet sie weiter und erzählt mir, was er gesagt haben müßte und ich sage ihr: >Genau das hat mein Papi auch gesagt.< Aber es tut weh.«

Robs Schmerz steht im richtigen Verhältnis. »Ich habe immer noch einen Rest aus meiner Kindheit zurück­behalten. Gerade jetzt versuche ich sexuell offener mit Judith zu sein. Und mir ist noch immer nicht ganz wohl zumute, Freunde zu Besuch zu haben. Erst letzte Woche wurde ich bei einem Abendessen mit Freunden plötzlich ganz unsicher. Ich mußte aufstehen, mich bewegen. Meine Freunde sind harmlos, sie sind nicht wie die Freunde meiner Mutter, aber ich fühle mich in diesen Situationen nicht so sicher, wie ich es gerne wäre. Trotzdem habe ich ein sehr gutes Leben. Es fällt mir immer schwerer zu leugnen, daß es mir gut geht. Vielleicht bin ich wirklich nicht mehr >ausgeschlossen< und ganz allein.«

 

    Willkommen zur Party    

 

In eine Familie hineingeboren zu werden ist, wie zu vorgerückter Stunde zu einer Party zu kommen, wo alle Anwesenden bereits seit Stunden essen, trinken, sich unterhalten und tanzen. Wird ein Kind im ersten Lebensjahr herzlich aufgenommen, denkt es: »Diese Party gefällt mir. Es ist richtig, daß ich da bin. Ich muß nicht meinen Wert unter Beweis stellen oder meine Existenz rechtfertigen.« Wird es im ersten Jahr nicht herzlich aufgenommen, so denkt das Kind: »Etwas ist völlig schief gelaufen. Meine Existenz macht andere Menschen unglücklich. Ich sollte nicht auf der Welt sein. Ich muß meinen Wert unter Beweis stellen. Ich muß meine Existenz rechtfertigen.«

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Lange bevor ein Säugling das gesprochene Wort versteht, registriert er deutliche Botschaften über die Art, wie er von der Mutter im Arm gehalten wird. Ein verhätscheltes Kind lernt, daß es nur als Verlängerung eines anderen Menschen existiert, ohne eine eigenständige Daseinsberechtigung zu haben. Ein Kind, das zaghaft oder von unsicheren Armen gehalten wird, lernt, daß es eine Last für andere ist, es fühlt sich allein wohler, weil es dann keine Belastung für andere ist. Ein Kind, das nicht ausreichend im Arm gehalten wird, lernt, seine eigenen Bedürfnisse nicht wahrzunehmen, da nicht >genug< für es da ist. Ein Kind, das körperlich oder sexuell mißbraucht wird, lernt, daß es nur als Empfänger der Bedürfnisse und Zornaus­brüche anderer Menschen da ist. Ein Kind, das zärtlich gehalten wird, lernt Wohlbehagen und Sicherheit in seiner eigenen Existenz und Sicherheit in Beziehung zu anderen.

Einige der Befragten meiner Studie machten mit dem weniger gestörten Elternteil >genügend gute< Erfahrungen. Joan weiß, daß sie in ihrem ersten Jahr »der Mittelpunkt des Universums für meine beiden Eltern« war. Lange nachdem fünf weitere Kinder zur Welt kamen, nachdem die Alkoholprobleme ihres Vaters sich verschlimmert hatten, nachdem ihre Mutter gestorben war, lebte die frühe Erfahrung der Zugehörigkeit in Joans Herz weiter. Das erleichterte ihr die Bindung an ihr eigenes Söhnchen von Geburt an erheblich. »Ich war zwar erst neunzehn Jahre alt und hatte wahnsinnige Angst, aber ich wußte irgendwie, wie ich Robert halten und ihn umsorgen mußte. Es war wie eine gute Erinnerung.«

Die meisten hatten weniger Glück. Viele fanden sich mit der abwechselnden zärtlichen Zuwendung und dem Mißbrauch oder der Vernachlässigung ab. Esther sagt: »Wenn du geschlagen wirst, bis du zusammen­brichst, und dir gesagt wird, du hättest Schuld am ganzen Elend, dann bist du ein sehr wichtiger Mensch. Meine Mutter sagte mir an einem Tag, sie könne nicht ohne mich leben, ich sei die Mitte ihres Universums. Am nächsten Tag band sie mich fest und schlug mich, weil ich ihre Wünsche nicht >erfüllt< habe. Ich hoffte immer wieder, in ihrer Gunst zu stehen, aber selbst ihre negative Aufmerksamkeit schien mir besser als ihre Gleichgültigkeit.«

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Manche gingen Bindungen ein mit anderen Erwachsenen — Babysittern, Großeltern, älteren Geschwistern, Krankenschwestern etc. —, weil der gestörte Elternteil körperlich nicht verfügbar war. Ritas Mutter war verzweifelt darüber, daß Rita kein Junge war: »Sie gab mich zu einem Bruder meines Vaters und ich verbrachte mein erstes Lebensjahr bei meinem Onkel und meiner Tante. Mein Vater stritt dieses erste Jahr mit meißner Mutter, um mich zurückzubekommen. Nachdem mein Bruder zur Welt kam, holte mein Vater mich zurück. Meine Eltern versuchten, meine Tante und meinen Onkel von der Familie fernzuhalten. Ich bin sicher, daß sie sehr gut zu mir waren. Ich habe sie sehr lieb, auch wenn ich mich kaum an sie erinnern kann.«

 

Andere Überlebende sagten, sie hatten keine Bindung mit ihrem gestörten oder zerstörerischen Elternteil. Lauras Denkweisen sind typisch: »Manchmal glaube ich, mit mir ist etwas wirklich nicht in Ordnung, weil ich mich nie nach der Liebe meiner Mutter sehnte. Vielleicht lag das daran, weil meine Großmutter zwei Tage in der Woche da war und das reichte. Meine erste bewußte Erinnerung an meine Mutter ist voller Angst. Ich mochte sie nicht. Ich wollte nicht in ihrer Nähe sein. Ich weiß, daß mein Verhalten auf sie wie eine Zurückweisung wirken mußte und das verstärkte ihren körperlichen Mißbrauch an mir. Für mich war es Selbstverteidigung.«

 

Die fehlende Bindung — die trotz allem einen enormen Verlust darstellt — half den Überlebenden, weniger den gestörten Elternteil zu verinnerlichen, und machte sie freier, um andere Formen der Bindung und Liebe zu suchen.

Einige Überlebende berichteten, daß sie ohne ihre Haustiere nicht überlebt hätten. Tiere geben Kindern häufig tröstende Zärtlichkeit, uneigennützige Liebe und spiegeln die Emotionen eines Kindes wider.

Bindungsfähigkeit, die ein ganzes Leben glückhaft sein kann, geht nicht nur von Menschen aus.

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    Wo ich aufhöre und du anfängst    

 

Es dauert nicht lang und die seligmachende Mutterbindung weicht der Abenteuerlust. Etwa im fünften Lebensmonat beginnt ein Baby zu begreifen, daß es ein >Du< gibt, das sich vom >Ich< unterscheidet und getrennt ist. Solange >du< einfühlsam auf seine Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Sauberkeit, Schlaf und Zärtlichkeit reagierst, bleibt die Harmonie bestehen.

Dann übernimmt die Biologie. Die Psychologin Louise Kaplan erläutert in Abschied von der Kindheit:

Niemand mußte uns sagen, wann wir das glückselige Königreich des Mutterschoßes verlassen sollen. Der Drang, uns zu trennen, war in uns — in unserem Körper verstand, in der Vitalität unserer Wachstumsenergien, in der Kraft unserer sich festigenden Muskeln, in unseren sehenden Augen, unseren hörenden Ohren, unseren sich reckenden Armen und Händen.1

 

Mit etwa neun Monaten kann ein Baby alleine stehen und sieht die Welt aus einer neuen Perspektive. Mit vierzehn Monaten kann es gehen, dann laufen, dann erobern. Diese Fähigkeit, die Welt auf zwei Beinen zu erobern, gibt der Trennung eine neue Bedeutung. Das Baby bleibt nicht länger passiv liegen, wenn die Mutter es verläßt; jetzt ist es das Kind, das verläßt, wenn es losläuft, um zu entdecken, welches Abenteuer um die Ecke wartet.

Jetzt ist es die Zeit, in der Kinder sich in die Welt verlieben. Sie treffen eine Vereinbarung. Sie geben den grandiosen Gedanken auf, daß die Welt da ist, um ihnen zu dienen; jetzt sind sie von dem gleichermaßen grandiosen Gedanken beseelt, daß sie die Welt erobern können.

Wenn Kinder nein sagen, kleiden sie ihren Drang nach Trennung in Worte. Eltern bringen Kindern das Nein bei, wenn sie Sicherheitsgrenzen festlegen (»Scharf!« »Heiß!« »Faß das nicht an!«), Grenzen der Körper­integrität (»Spiel nicht an meinem Penis herum — du kannst deinen eigenen anfassen, aber

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das ist meiner und der geht dich nichts an«); Grenzen, die lebenswichtig sind (»Nein, du mußt jetzt schlafen, sonst fühlst du dich morgen schlecht - glaube mir«); psychologische zwischenmenschliche Grenzen (»Das ist meine private Zeit, die ich für mich haben will«). >Nein< hilft dem Kind, Grenzen zu begreifen und zu verinnerlichen, die sein Leben bereichern. Wenn einige der >Nein<-Aussagen des Kindes beachtet werden, erfährt es sich als machtvoll und tüchtig. Es erfährt eine neue Dimension der Freude: »Das Leben ist schön, weil ich es in der Hand habe.«

In Problemfamilien tauchen zwei mögliche Störfaktoren bei der Ablösung auf. Erstens, wenn die Eltern zu selten >nein< gesagt haben, um dem Kind den Gedanken der Trennung nahezubringen. Sätze wie »Ja, du kannst alles anfassen, was du willst - was macht es schon, wenn du dir dabei wehtust?«, »Ja, du kannst meinen Penis berühren« oder »Ja, du kannst so lange aufbleiben und spielen, solange du willst« hemmen die Entwicklung des Kindes. Manchmal ist das >Ja< lediglich Vernachlässigung und Gleichgültigkeit: »Tu was du willst, es interessiert mich nicht.« Das Kind, dessen Neinsagen nie beachtet wird, hat gleichermaßen Schwierigkeiten, den Prozeß der Ablösung zu lernen. Eine Mutter, die Angst hat, verlassen und nicht geliebt zu werden, mag das >Nein< als persönliche Zurückweisung auffassen, als Weigerung des Kindes, der Mutter in ihrem Unglück beizustehen, selbst wenn diese Aufgabe vom Kind unmöglich zu erfüllen ist. Manchmal erinnert das >Nein< eines Kindes die Problemeltern an die häufigen Male, in denen ihre eigenen Eltern sie zurückgewiesen oder bestraft haben. Aus welchem Grund auch immer, wenn Kinder nicht den Freiraum haben, sich von ihren Eltern zu trennen, wird die Bindung zur ungesunden Verschmelzung.

>Aneinanderklammern< oder >wie die Fliegen am Fliegenpapier kleben< waren häufige Bezeichnungen der >Familien­zusammengehörigkeit< bei den Befragten meiner Studie. »Mein Vater hatte Kopfschmerzen und die ganze Familie nahm Aspirin.«

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Der wechselvolle und komplizierte Tanz von Bindung und Trennung wird verzerrt, wenn Sucht oder Gewalt das Familienleben stören. Dann wird Trennung gleichbedeutend mit Verlassenheit. Zugehörigkeit oder Bindung bedeutet in manchen traumatisierten Familien lediglich das Fehlen von Verlassenheit. Besonders in Familien, in denen es eine wirkliche Verlassenheit gab, regiert die Angst vor Verlassenheit und alle Familienmitglieder »müssen ihre Pflicht tun«, wie Glen sich ausdrückt.

 

     Der Trick mit der Wiederannäherung     

 

Auch in einer >genügend guten< Familie kostet der berauschende Gedanke, ein kindlicher Eroberer zu sein, seinen Preis. Am Strand läuft ein kleines dreijähriges Mädchen ihrem Vater voraus zum Wasser. Wenn die Gischt ihre Füße benetzt, läuft die Kleine glucksend zu ihm zurück. Sie erfährt sich als getrennt vom Vater, hat die Macht und die Fähigkeit, die Welt zu entdecken und gleichzeitig die Gewißheit, in die Geborgenheit der väterlichen Liebe zurückzukehren, wenn ihr danach zumute ist. Das nennen wir Wiederannäherung, eine sanfte Vereinigung. Der kleine Eroberer ist stets willkommen daheim.

In traumatisierten Familien vollziehen sich die Vereinigungen nach einer Trennung selten harmonisch und sanft. Thelma spielte mit ihrem Vater Verstecken (ein Spiel der Wiederannäherung), und dieses Spiel ist ihr in schlimmerer Erinnerung geblieben als aller körperliche und sexuelle Mißbrauch, dem sie ausgesetzt war. »Mein Vater sagte mir, ich solle meine Hände vor die Augen legen, dann würde er sich verstecken. Die meisten Eltern verstecken sich nicht sonderlich gut und das Kind findet sie bald. Mein Vater versteckte sich wirklich, weit weg. Ich lief mit wachsendem Entsetzen von Baum zu Baum. Nach fünf Minuten oder so fing ich an hysterisch zu schluchzen, weil ich überzeugt davon war, er habe mich allein im Park gelassen. Dann kam er aus irgendeinem Versteck hervor und lachte mich fürchterlich aus.«

Wiedervereinigung bringt das >Ja< der Zugehörigkeit und das >Nein< der Trennung zusammen. > Vielleicht wird tolerierbar, sogar wünschenswert, wie in »Vielleicht versuche ich das allein« oder »Vielleicht frage ich, ob mir jemand dabei hilft.«

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Das Kind verharrt nicht auf einem Standpunkt des >absoluten Ja< oder des >absoluten Nein< im Leben. Wiederholte positive Erfahrungen des Alleinseins und wieder in der Geborgenheit aufgenommen zu werden, ohne zu einem Zeitpunkt einen Verlust am Selbst einzubüßen, fördern einen Selbstsinn, der sowohl Nähe und Loslösung duldet. Was in der Vergangenheit Bruchstücke des Lebens zu sein schienen — wir, du, ich, ich allein, du bist nicht für mich da — beginnt sich zu einem Ganzen zusammenzufügen und hört auf, widersprüchliche Aspekte des Selbst zu sein. Diese Integration wird als Objektbeständigkeit bezeichnet. Das Kind muß nicht mehr in Schwarz-und-Weiß-Begriffen denken, wie Judith Viorst erläutert: 

Die verhaßte Mutter, die uns verläßt, und die geliebte und liebende Mutter, die uns an sich drückt, werden jetzt als eine und nicht mehr als zwei verschiedene Mütter gesehen. Das böse, unwürdige Kind und das gute, verdienst­volle und liebenswerte Kind werden zu einem einzigen Bild des Du vereint. Anstelle der einzelnen Eigenschaften des Gegenübers beginnen wir jetzt, die Gesamtheit zu sehen — das zwar nur Menschliche, aber doch phantastisch Menschliche. Und wir lernen ein Ich kennen, in dem sich Gefühle des Hasses mit Gefühlen der Liebe vermengen können.2

Beständigkeit wird von einem Kind in einer >genügend gutem Familie als ein >Bild< im Kopf von einer guten Mutter erfahren, ein >Photoalbum< von Zeiten, in denen seine Bedürfnisse erfüllt wurden. Wenn es sich schlecht fühlt, denkt es an das Bild und die Empfindung der Bindung, des Wohlgefühls, um das schlechte Gefühl ertragen zu können. Das Kind lernt: »Ich kann es hinnehmen, wenn ich mich wütend und frustriert fühle und dennoch ein gutes und liebenswertes Kind sein. Meine Mutter kann mich enttäuschen und wütend machen und trotzdem gut und liebenswert sein.«

In traumatisierten Familien gibt es gewöhnlich nicht genügend >Bilder< von guten Eltern, um die >Bilder< der bedrohlichen oder abwesenden Eltern zu ersetzen. 

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Das Versagen, das Gute und das Böse zu integrieren - bei sich selber und bei anderen - wird als Abspaltung bezeichnet. Die Psychologin Louise Kaplan erläutert Beständigkeit und Abspaltung:

Beständigkeit ist die Kraft, die aus den verschiedenen, häufig widersprüchlichen Bildern des Selbst und des anderen eine Einheit bildet. Der Teil des Selbst, der sich nach verschmelzender Einheit sehnt, bleibt mit dem Teil des Selbst, der allein steht, verbunden und nimmt sein Recht in Anspruch, seinen eigenen Verstand, Körper, seine Gedanken, Geheimnisse, Phantasien und Illusionen zu besitzen. In der Abspaltung gibt es weder die Ekstase der Einheit noch die berauschende Lebendigkeit der Ablösung, die realistische Menschen in einer Partnerschaft der Hingabe, Treue, Verspieltheit, Freundschaft, wütender Enttäuschung und Trauer verbindet. Abspaltung schließt die Möglichkeiten einer ganzen menschlichen Existenz aus.3

Der Psychotherapeut James Ritchie ist allerdings davon überzeugt, daß auch fehlende Beständigkeit der mißbrauchenden Eltern, etwa die mangelhafte Bindung, dem Überlebenden helfen kann. Das Bild von gleichbleibend nicht verfügbaren, bedrohlichen oder vernachlässigenden Eltern wirkt auf das Kind nicht stark genug ein, um den Eltern Einfluß auf das Leben des Kindes zu geben.4) 

So grausam mißbraucht Laura auch war, sie sagt: »Meine Mutter hat mir einen Gefallen damit getan, nie von ihrem offenen Haß gegen mich abzuweichen. Ich mußte mir nie die Frage stellen, ob sie mich gern hat oder nicht. Sie hatte mich nicht gern. Das war völlig klar. Die Menschen, die mich mochten, zeigten das eindeutig und die, die mich nicht mochten, zeigten das ebenfalls eindeutig. Für mich gibt es wenig Verwirrung zwischen Liebe und Haß. Natürlich mußte ich als Erwachsene sowohl meine liebenden wie meine hassenden Seiten akzeptieren und weiterhin akzeptieren, daß die Menschen, die mich lieben, mich zu bestimmten Zeiten lieber mögen als zu anderen - und umgekehrt - und daß die Beziehung nicht enden muß, weil wir gerade eine >schlechte< Zeit durchmachen.«

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Dennoch werden Kinder durch nicht beständige, mißbrauchende oder vernachlässigende Behandlung psychologisch und emotional verletzt. Es ist ein kleiner Schritt von dem Gedanken »Das fühlt sich schlecht an« bis »Ich bin schlecht«. Laura hat richtige Ansichten als Erwachsene, aber als Kind gab sie sich die Schuld am gewalttätigen Verhalten ihrer Mutter. Warum? Laura konnte ihre Mutter nicht beständig verändern oder kontrollieren. Sie konnte lediglich sich selbst verändern: mehr oder weniger weinen; mehr oder weniger schlafen; mehr oder weniger brauchen; und so weiter.

Wenn diese Veränderungen extrem sind und das wahre Selbst des Kindes verraten (z. B. lächeln, wenn man Angst hat, statt zu weinen, weil Lächeln der Mutter gefällt), so lernt das Kind, daß sein wahres Selbst schlecht und sein falsches Selbst gut ist, und es lernt, daß die Beziehungen zu anderen Menschen eine Farce sind.5

Die Fachliteratur beschäftigt sich viel mit dem Hang Überlebender zum Perfektionismus, mit ihrer Unfähigkeit, Gutes und Schlechtes in ihrer Meinung über sich und andere zu integrieren. In der Kindheit wurde von ihnen absolute Perfektion verlangt, Fehlerhaftigkeit wurde sogleich und schwer bestraft -wie können sie also wissen, daß Gutes und Böses nebeneinander existieren? Ihr >Perfektionismus< gleicht mehr einer Reflexion über die enorme Größe ihrer Aufgabe als einem Charaktermangel.

In einer >genügend gutem Familie können Kinder nicht ganz so ideale Aspekte anderer integrieren - »Die Füße meines Vaters stinken« oder »Meine Mutter ist am Todestag meiner Großmutter immer traurig«. Die Unvollkommenheiten der Eltern mögen lästig sein, aber sie sind nicht lebensbedrohend.

Die >schlechten< Aspekte von mißbrauchenden und nichtbeschützenden Eltern fügen dem Kind mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit Schaden zu: »Sie schlägt mich ohne jeden Grund«; »Sie sperren mich aus dem Haus, wenn sie wütend werden«; »Ich muß mir die ganze Nacht ihre Probleme anhören«; oder »Er glaubt mir nicht, wenn ich ihm sage, wie weh mir das tut.« 

Ist es ein Wunder, daß es einem Kind schwerfällt, das alles unter einen Hut zu bekommen?

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     Die Lehrzeit der Liebe     

 

Etwa im Alter von vier Jahren beginnen die Kinder zu beobachten, wie Erwachsene sich verhalten, wenn sie andere Erwachsene mögen und lieben. In >genügend gutem Familien sehen sie, daß ihre Eltern freundlich mit anderen Leuten umgehen und mit ihnen über die Freuden und Leiden in ihrem Leben sprechen können. Konflikte werden zufriedenstellend und gewaltlos bereinigt.

In einer >genügend schlechtem Familie hat ein Kind vielleicht einen verschlossenen Vater, der seiner Familie wenig emotionalen Rückhalt bietet, und eine Mutter, deren Emotionen für zwei reichen. Mit solchen Verhaltensmodellen wird das Kind als Erwachsener die Menschen seiner Umgebung entweder mit seiner Zuwendung ersticken oder menschenscheu sein. Wenn eine Mutter sich ausgenutzt und als Märtyrerin vorkommt, auf deren Bedürfnisse keine Rücksicht genommen wird, erhält das Kind kein Vorbild dafür, wie man sich an andere um Unterstützung oder Geselligkeit wendet. 

Vielleicht ist das Modell aber auch ein Mensch mit vielen Beziehungen: der Elternteil wechselt häufig Freunde oder Geliebte, um Verletzung oder zu große Nähe zu verhindern. Das Kind lernt, immer auf der Suche zu sein, fühlt sich zu berauschenden Leidenschaften hingezogen, hat aber wenig Durchhaltevermögen, um auch Alltagsaspekte einer intimen Beziehung zu ertragen. Oder vielleicht ist der Elternteil deprimiert, zurückgezogen, vielleicht sogar paranoid. In diesem Fall lernt das Kind, sich bis zur Selbstverleugnung auf sich selbst zu verlassen, weil ihm nicht beigebracht wird, daß eine der besten Formen der Selbstfürsorge darin besteht, gesunde Beziehungen mit anderen Menschen zu haben. Und schließlich lernt das Kind durch das Vorbild seiner gewalttätigen Eltern, daß Intimität entweder in Unterwürfigkeit oder Dominanz besteht.

Im Normalfall beobachten Kinder die Beziehungen ihrer Eltern von außerhalb des Kreises, der die Erwachsenen in ihrer Intimität umgibt. Wenn sie in diesen Kreis einbezogen werden, nehmen Kinder Schaden. Die meisten Befragten meiner Studie hatten eine Dreiecksbeziehung mit ihren Eltern. Sie standen als >kleine Ehemänner< und >kleine Ehefrauen< in Beziehung zu ihren Eltern oder als >die andere Frau< oder >der andere Mann<.

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In einer >genügend guten< Familie beginnen Kinder etwa im Alter von vier bis fünf Jahren mit dem andersgeschlechtlichen Elternteil zu kokettieren. Damit setzt die sogenannte Ödipalphase ein. Die Kinder reden davon, Manu oder Papi heiraten zu wollen. In dieser normalen Entwicklungsstufe ahmen Kinder die Erwachsenen nach und erforschen die Geheimnisse der Erotik. Manche Psychologen behaupten, dieser Prozeß habe weniger mit sexuellem Begehren und mehr damit zu tun, die mächtigste Person in der Familie für sich zu gewinnen.6 Wie dem auch sei, das Kind versucht, sich an den andersgeschlechtlichen Elternteil anzuschmiegen oder ihm zu gefallen.

Im Idealfall haben Eltern Verständnis für die gesunden Intimitätsbestrebungen des Kindes und setzen zugleich klare Grenzen, wobei sie die Fundamente für spätere Beziehungen des Kindes legen. Das Kind lernt, daß Ehe und sexuelle Intimität Menschen gleicher Körpergröße vorbehalten sind und nicht zwischen großen und kleinen Leuten stattfinden können. Diese Erkenntnis bedroht aber nicht das Bild des Kindes von sich selbst als liebenswert und attraktiv, das zu einem späteren Zeitpunkt gesunde, sexuelle Intimität erfahren darf. Das Kind gewinnt die Einsicht, daß es Verhaltensweisen nachahmen kann, die ihm die Zuneigung der Eltern garantieren.

In traumatisierten Familien artikulieren oder fördern die Eltern keine Grenzen zwischen den Generationen. Ein bedürftiger Erwachsener sieht im empfänglichen und neugierigen Kind ein leichtes Objekt für Intimität. Daraus entsteht zumindest emotionaler oder versteckter Inzest. Eine solche Pseudo-Ehe kann beim anderen Elternteil oder Lebenspartner Eifersucht und Zorn hervorrufen, der die Sehnsucht des Kindes nach Nähe entweder verspottet oder das Kind körperlich mißhandelt. Die >Günstlingsposition< des Kindes gerät ihm zum Nachteil. Der eifersüchtige Partner macht das Kind zum Sündenbock oder er fördert möglicherweise das Bündnis insgeheim, um den Problemen in der Ehe aus dem Weg gehen zu können. Der ausbeuterische Elternteil hat weiterhin ein persönliches Interesse daran, die Dreiecksbeziehung aufrechtzuerhalten. Eltern sagen nur selten zueinander: »Es sind die Dinge zwischen uns, das, was wir beide tun, hat unsere Ehe kaputt gemacht. Es ist nicht die Schuld des Kindes.«

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Triangulation, d. h. Dreiecksbeziehungen, erschwert eine normale sexuelle Entwicklung. Ist ein Kind Zielscheibe der eifersüchtigen Wut des gleichgeschlechtlichen Elternteils, wird es daran gehindert, sich mit diesem Elternteil zu identifizieren. Und wenn es sich zu Gleichaltrigen hingezogen fühlt, mag dies wie emotionaler Ehebruch erscheinen. Zwei Jahre nach dem Tod seiner Mutter verlobte Vinnie sich mit Gayle, mit der er seit Jahren befreundet war. »Gayle und ich brachten den Ehering meiner Mutter zum Juwelier, um ihn für Gayles Finger passend machen zu lassen. Vor dem Geschäft bekam ich einen Weinkrampf, hatte Atembeschwerden und weiche Knie. Ich kam mir gemein vor, so als würde ich meine Mutter betrügen.«

Kinder in solchen Dreiecksbeziehungen kommen zur - irrtümlichen - Überzeugung, daß sie in Beziehungsbereichen mehr Macht haben als ihrem Alter gemäß. Sie versuchen, diese Pseudomacht einzusetzen, um das Familienleben zu verbessern. Gelingt ihnen das nicht, fühlen sie sich abwechselnd verantwortlich für das Glück anderer und machtlos, dieses Glück herbeizuführen. Kein Wunder, daß sie sich als Erwachsene häufig der Liebe nicht würdig fühlen.

 

    Grenzen: die Schwierigkeit der Nähe    

 

Nach den ersten fünf Lebensjahren in einer >genügend gutem Familie nehmen Kinder vertrauensvoll und sicher Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen auf. Sie suchen die >ge-nügend gute< Liebe, die sie in ihrem Leben bisher erfahren haben. Sie wissen sich auch vor >genügend schlechten Behandlung in Beziehungen zu schützen. Ein Psychoanalytiker bezeichnet das als einen >eingebauten Lügendetektors Im Grundschulalter haben sie bereits einen Sinn für notwendige persönliche Grenzen in gesunden Beziehungen entwickelt. In ihrem Buch Emotional Healing beschreiben die Psychotherapeuten Terry Hunt und Karen Paine-Gernee Grenzen als einer Membran vergleichbar, die eine Amöbe umgibt. Die Membran ist durchlässig für Nahrungspartikel und für >schädliche< Partikel undurchlässig.7

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Ich vergleiche gesunde Grenzen gern mit grünen Hecken, die fest im Erdreich verwurzelt sind. Sie wachsen und verändern sich ständig und bringen sogar Blüten hervor. Man kann durch sie hindurch sehen, man kann mit dem Nachbarn über sie hinweg plaudern, ihm die Hand reichen oder ihm in die Augen sehen. Noch wichtiger ist ihre Beweglichkeit. Man kann sie teilen, um den Nachbarn durchzulassen, ohne die Hecke zu beschädigen, sie kann weiterwachsen und uns beschützen.

Manche Überlebende von Kindheitstraumen haben keine Grenzen, da sie in ihren Familien nur Verschmelzung kennengelernt haben. Es fällt ihnen oft schwer, >nein< zu sagen und von anderen ein >Nein< zu hören.

Aber die meisten Befragten meiner Studie litten darunter, zu feste Grenzen, emotionale Mauern aus Stein errichtet zu haben. In dem Maße, wie die Familie ihr Selbst bedroht und ausgebeutet hatte, strebten sie nach Autonomie und Individuation. Judith Viorst erläutert:

Gewiß kann eine Vereinigung, die eine Auslöschung des Ichs mit sich bringt, auch Ängste bezüglich dieser Ich-Auflösung auslösen. Uns aufzugeben, uns zu ergeben -in der Liebe oder in anderen Formen der Leidenschaft - kann uns wie ein Verlust und nicht wie ein Gewinn erscheinen. Wie können wir so passiv sein, so besessen, so unbeherrscht, so... bringt uns das nicht um den Verstand? Und wie sollen wir uns selbst je wiederfinden? Verzehrt von solchen Ängsten, können wir Barrieren errichten, nicht Grenzen ziehen. Uns gegen jede Bedrohung unserer unbeugsamen Autonomie verschließen. Uns gegen jede Erfahrung emotionaler Hingabe verschließen.8

Laura spricht für viele einstige Opfer von Mißbrauch und Vernachlässigung, wenn sie sagt, sie habe als Fünfjährige bereits »ein Herz voller Schwielen gehabt«.

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Wenn wir uns außerhalb der Familie zunächst Freunden zuwenden, später Geliebten und schließlich vielleicht Kindern, haben wir es leichter, wenn wir die ersten fünf Lebensjahre >erfüllt< gelebt haben. Wenn wir genügend Liebe erhalten haben, und wenn die Liebe, die wir so unschuldig angeboten haben, ohne Beschämung oder Ausbeutung angenommen wurde, sind wir besser gerüstet, uns Beziehungen optimistisch und gelassen zu nähern.

In Problemfamilien wurde das Kind durch die Forderungen der Eltern in den ersten fünf Lebensjahren dazu gebracht, zuviel von seinem Selbst wegzugeben. Das Kind fühlt sich überfordert, hoffnungslos und voller Zweifel, ob es je genug Liebe bekommen wird, um es ganz auszufüllen.

Doch dieses Zweifeln ist keine tödliche Krankheit. Die von mir interviewten einstigen Opfer bezeichneten zwar ihren Glauben an die eigene Liebenswürdigkeit und ihr Vertrauen in die Intimität als ihre >Achillesferse< oder als einen ihrer >wunden Punkte<, dennoch hatten alle Befragten gesunde Beziehungen zu Freunden aufgebaut; manche zu Geliebten; und die, die selbst Kinder hatten, waren >genügend gute< Eltern. Schließlich ist Intimität häufig eine >Achillesferse< auch für Erwachsene, die in ihrer Kindheit nicht traumatisiert wurden. Aus den Mißbrauchsopfern, mit denen ich sprach, wurden Erwachsene mit der Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden. Sie überstanden die Ausbeutung ihrer Zugehörigkeit durch den mißbrauchenden Elternteil und das Verlassensein durch den nichtschützenden passiven Elternteil. Manche beschlossen tatsächlich, ihren Weg allein zu gehen, um nie wieder solche Schmerzen zu riskieren. Andere hatten ihr Familiendrama in früheren Beziehungen wiederholt. Sie lernten aber schließlich mit Hilfe anderer Menschen, gesund und erfüllt zu lieben und geliebt zu werden. Wenn ihre Eltern ihnen in der Kindheit keine zwischenmenschliche Brücke bauen konnten, so fanden sie diese Brücke anderswo.

 

Viele entdeckten, daß nicht nur ihre Verletzungen bis in die Kindheit zurück verfolgt werden können, sondern auch ihre Fähigkeit, Heilung in Beziehungen zu finden. Sie hatten gelernt, den Hilfsmaßnahmen ebensoviel Aufmerksamkeit zu schenken wie ihren Verletzungen. Viele einstige Opfer klagen: »Mir hat niemand geholfen, als ich ein verletztes Kind war!«

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Doch diese Opfer begehen einen Denkfehler. Hätte es keine Hilfe gegeben — und sei es eine im Vergleich zu den Schrecken des Mißbrauchs nur geringe oder unzulängliche Hilfe —, hätte es kein Überleben gegeben.

Mr. Kaminsky, der Lehrer, den Rob ein Jahr in der Schule hatte, war >genügend gut<, um ihn auf den rechten Weg zu bringen. Ein einziger Lehrer schaffte es, eine Riesensumme auf Robs seelisches Sparkonto einzubezahlen. Dort lag es, brachte Zinsen, und Rob zieht heute daraus noch erheblichen Nutzen.

Wir bauen Brücken mit Geschwistern, Freunden, nicht zur Familie gehörenden Erwachsenen, Verwandten, Geliebten und mit unseren eigenen Kindern. All diese Brücken führen an den gleichen Ort: zu Frieden, Gelassenheit, Selbstachtung und Intimität.

 

      Brüder und Schwestern    

 

In ihrem Buch Children in Recovery erläutert die klinische Psychologin Rosalie Cruise Jesse ihre Arbeit mit Geschwistern im Grundschulalter aus gestörten Familien:

In den meisten normalen Familien, in denen es Geschwister in der Latenzperiode gibt, zeigen diese Kinder eine typische, natürliche Neigung zu Heimlichkeiten zu bestimmten Zeiten. Geheimnisse werden ausgetauscht und gehütet. Versuche, die Eltern in manchem auszuschalten, festigen die Geschwisterbande. Kleine Kinder aus Alkoholiker- oder Suchtfamilien bilden eine eingeschworene Gruppe Gefangener im Familienkrieg. Sie geben Namen und Rang preis, aber sie sprechen nicht über das furchtbare Familiengeheimnis.9

Erstaunlicherweise festigen viele Kinder in diesem Chaos ihre Zuneigung zueinander. Thelma war die Jüngste von sechs Geschwistern: »Wir waren wie ein Wurf junger Hunde in einem Korb.« Ihre tuberkulosekranke Mutter mußte häufig ins Krankenhaus und ihr Vater war zu betrunken, um sich um die Kinder zu kümmern. »Als man sie zum Notarztwagen trug, ermahnte sie uns sechs Kinder: >Paßt gut auf euch auf — ihr habt nur euch.<«

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Rita erkannte »als ganz kleines Kind, daß niemand für mich da war außer meinem Bruder Harold. An einem Weihnachts-morgen, ich war sechs und er war fünf, wachte ich vor ihm auf und lief die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer lagen meine Eltern beide betrunken unter dem Weihnachtsbaum. Die Geschenke für uns waren nicht eingepackt und das Dreirad, das ich bekommen sollte, war nur halb zusammengebaut. Bis zu diesem Augenblick hatte ich an das Christkind geglaubt. Meine erste Sorge galt Harold. Ich ging nach oben, setzte mich ans Fußende seines Bettes und wartete, bis er aufwachte. Ich sagte ihm: >Mami und Papi sind wieder betrunken und das Christkind gibt es nicht.< Wir umarmten uns und er weinte ein bißchen. Dann gingen wir nach unten und irgendwie schafften wir es, das Dreirad zusammenzubauen. Harold sagt immer, wir haben einander erzogen, und ich glaube, er hat recht.«

Elaine war das mittlere Kind von vier Schwestern. »Das Schlimmste war für mich, meine Fühler ausgestreckt zu halten, um aufzupassen, wann meine Mutter wieder ihre Wutanfälle bekam und sie auf mich zu lenken, damit meine Schwestern verschont blieben. Es war für mich viel schlimmer, wenn sie meine Schwestern verprügelte; ich litt weniger darunter, was sie mir antat.« Heute sagt Elaine: »Ich habe ausgezeichnete Beziehungen mit Gleichaltrigen, wegen der Freundschaft, die zwischen meinen Schwestern und mir bestand. Zu Autoritätspersonen habe ich nach wie vor eine sehr kritische Haltung.«

Neun der Befragten meiner Studie waren erstgeborene Kinder. Drei weitere waren de facto die ältesten, weil ein älteres Geschwister durch psychiatrische Störungen behindert war.

Jenny, die Älteste von drei Geschwistern, die alle unter ihrem Vater litten, der sie körperlich mißhandelte, sagte mir: »Wenn er meinen Bruder und meine Schwester verprügelte, verringerte sich meine Überzeugung, ich verdiene Prügel. Ich konnte zusehen, und mir wurde klar, daß mein Vater gewalttätig und verrückt war. Schließlich eignete ich mir diese Einstellung auch an, wenn er mich schlug. Ich tröstete meine Geschwister so gut ich konnte. Wenn ich sie tröstete, erlebte ich mich

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als einfühlsam und liebevoll. Ich glaubte auch, etwas gegen ihre Mißhandlung tun zu müssen, wenn ich schon so wenig gegen meine eigene tun konnte. Es fällt mir schwer, nicht ständig verletzte Vögelchen zu retten, sondern auch andere zu lieben, die nicht traumatisiert sind.«

Jüngere Geschwister kümmern sich ihrerseits so gut sie können um ältere Geschwister. Laura erinnert sich: »Als Älteste fühlte ich mich verantwortlich für meine zwei jüngeren Brüder und schuldbewußt, wenn sie leiden mußten. Und es war für mich überwältigend zu sehen, wie sehr sie mich brauchten. Ich erinnere mich, ich war fünf, als ich Phil mit Waschpulver badete. Meine Mutter war zu weggetreten und ich wußte nicht, was ich tat. Gleichzeitig habe ich wunderschöne Erinnerungen daran, Phil meine alten Kleider anzuziehen, wie einer lebendigen Puppe. Er ließ alles mit sich machen und war so süß. Wir drei versteckten uns unter dem Tisch und bellten wie die Hunde, um die haßerfüllten Streitereien unserer Eltern zu übertönen. Das war irgendwie auch lustig, es ist eben alles relativ. Als wir alle Teenager waren, rebellierten meine jüngeren Geschwister gegen mich. Ich war wütend auf sie und sehr verletzt. Abwechselnd klammerte ich mich an sie und wies sie zurück. Es war lange Zeit ziemlich mühsam. Erst als Dreißigjährige fing ich wieder an, ihre Zuneigung, die sie mir als Kinder entgegengebracht hatten, zu erwidern.«

Manchen älteren Geschwistern fällt es jedoch schwer, uneigennützig zu lieben, weil sie ihrerseits nicht ohne Eigennutz geliebt wurden.

Und manche Befragten, die jüngere Geschwister waren, berichten von unbeständiger Zuwendung — und gelegentlicher Mißhandlung — von älteren Geschwistern. Hier kommt noch einmal Rosalie Cruise Jesse zu Wort: 

Die Qualität der ehelichen Beziehung bildet das einflußreichste Modell für geschwisterliche Interaktionen. Wenn die Eltern Krieg führen, greifen auch Geschwister zu den Waffen und beginnen sich gegenseitig zu bekämpfen, oft ohne den genauen Grund ihrer kriegerischen Aktionen zu kennen.10

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Als Erwachsene haben mehrere einstige Opfer ihren Geschwistern Geheimnisse anvertraut. Vielen hat dies geholfen, ihre Erinnerungen und Gefühle zum Vorschein zu bringen und ihre Isolation zu verringern. Laura spricht einen anderen Punkt an: »Der einzige in meiner Familie, mit dem ich noch Kontakt habe, ist mein jüngster Bruder Phil. Wir haben ein paar Mal über die Vergangenheit gesprochen, besonders weil sie die Kinder unseres Bruders Chris betrifft. Ich mußte allerdings einsehen, daß einige unserer Wahrnehmungen als Kinder unterschiedlich waren. Unser älterer Halbbruder John wollte kein Schwesterchen haben. Er haßte mich, weil ich das einzige Mädchen war und angeblich von meinem Vater bevorzugt wurde, und behandelte mich unglaublich grausam. Aber er war nett zu Phil, deshalb hat Phil andere Erinnerungen an ihn. Ich hatte Chris besonders gern und paßte gern auf ihn auf, aber er mißhandelte Phil, deshalb ist Phil zorniger auf ihn, als ich es bin.« Der Soziologe Robert Ackerman nennt dieses Phänomen »unter einem Dach in verschiedenen Heimen leben«.11

 

    Freunde   

 

Kinder im Vorschulalter sehen ihre Familien als Mittelpunkt des Universums, als Quelle unerschöpflicher Fürsorge und Liebe. Während der Grundschuljahre beginnen die Kinder außerhalb der Familie Anschluß an gleichgeschlechtliche, gleichaltrige Kinder zu suchen.

Dieses Hinauswagen stellt für Kinder aus verschmolzenen Familien ein Problem dar. Außenseiter werden als Konkurrenten um die seltenen emotionalen Äußerungen des Kindes verstanden. Den Kindern wird eingeredet, die Welt sei ein kalter, grausamer, gefährlicher Ort, über den man keine Kontrolle ausüben kann; sie werden ermahnt, menschliche Kontakte zu meiden, vor allem, wenn es ein Familiengeheimnis — Alkoholismus, Inzest, Geisteskrankheit — zu wahren gilt. Dennoch suchen Kinder Freundschaften. Esther erinnert sich: »Egal, wie sehr meine Eltern mich warnten, wie böse andere Menschen sind, ich konnte mir nicht denken, daß sie schlimmer sind als die, mit denen ich daheim lebte.«

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Eine ihrer schlimmsten Erinnerungen gilt einem Ausflug in der ersten Klasse: »Meine Mutter war die einzige, die ihre schriftliche Einwilligung nicht gab. Also saß ich den ganzen Tag im leeren Klassenzimmer. Ich kam mir vor, als hätte ich etwas ausgefressen und keiner beachtete mich. Ein anderes Mal durfte ich nicht zur Geburtstagsparty einer Mitschülerin: Am nächsten Tag brachten sie mir zum Trost ein Stück von der Geburtstagstorte. Statt mich darüber zu freuen, fühlte ich mich gedemütigt. Ich erinnere mich deutlich, daß ich gedacht habe, mit mir müsse etwas nicht in Ordnung sein, weil ich immer ausgeschlossen wurde.«

 

Manche Eltern dringen gewaltsam in die Welt der Freundschaft ihres Kindes ein. Janet hat eine schlimme Erinnerung daran, als sie »im Alter von sechs Jahren im Haus einer Freundin war. Mein Vater nahm an, daß wir unten am Fluß gespielt hätten, denn das war verboten. Wir hatten nicht am Fluß gespielt, aber das war egal. Er verprügelte mich vor meinen Freundinnen mit seinem Gummiknüppel, den er als Gefängniswärter benutzte. Schlimmer als der körperliche Schmerz war meine Sorge um meine Freundinnen, die ich schützen wollte. Sie standen vollkommen entsetzt daneben.«

Janets Mutter war auf andere Weise ebenso aufdringlich: »Meine schönste Kindheitserinnerung habe ich daran, mit meinen Freundinnen und meiner Mutter auswärts Essen zu gehen. Sie benahm sich wie wir und redete wie wir. Meine Freundinnen mochten sie. Später, als ich ein Teenager war, brachte mich ihr Verhalten in Verlegenheit.«

Viele Befragte schilderten ihren nichtbeschützenden Elternteil als >mehr wie ein Kumpel< oder >meine beste Freundin<. Janet hatte viele Gelegenheiten in ihrem Leben, Freundinnen zu haben, aber sie hat nur eine Mutter. Ihre Mutter bemühte sich darum, Janets beste Freundin zu sein, versagte aber, ihre Tochter vor körperlichem Mißbrauch und verschleiertem Inzest zu schützen.

Einige Überlebende trösteten sich damit, eine unersetzliche Rolle für ihre Gleichaltrigen zu spielen. Sam, der unter Lernschwäche litt, sagt: »Ich wurde zum Klassenclown und amüsierte die ganze Klasse, wenn ich etwas nicht begriff. Die Kinder wußten, mit mir gab es immer Spaß und etwas zu lachen. Das gab mir ein besseres Selbstwertgefühl.«

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>Beliebt< zu sein half Janet, ihre Überzeugung, ein liebenswerter Mensch zu sein, wiederherzustellen: »Doch die ständige körperliche Mißhandlung zu Hause machte mich so mutlos, daß ich zwei Tage, nachdem ich zur >beliebtesten Mitschülerin< in meiner Klasse gewählt worden war, versuchte, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Ich war todmüde und wußte nicht mehr weiter.« Janet hatte noch mit dreißig nicht die psychologische Kraft, um den positiven Eindruck, den sie auf andere machte, richtig zu bewerten. Erst später konnte sie, wie sie sagt, »endlich auf andere Leute hören und die >Fakten< in meinem Leben annehmen«.

Wie Janet waren manche Überlebende als Teenager sehr aktiv und beliebt. Andere waren weniger beliebt, hatten aber zumindest einen echten Freund oder eine echte Freundin. Ihre Leistungen in der Schule waren das Aushängeschild ihrer Familie: »Seht her, bei uns ist alles in Ordnung — sonst würde unser Kind nicht so gute Noten nach Hause bringen.«

 

Daryls schönste Kindheitserinnerung ist die an seinen Freund Josiah, der sehr hellhäutig war, weil seine Mutter eine Weiße war. »Er half mir, wenn die anderen Kinder mich verspotteten. Und eines Tages behandelte ich ihn so, wie die anderen mich behandelten. Ich glaube, ich beleidigte seine Mutter mit einer rassistischen Bemerkung. Daraufhin redete er nicht mehr mit mir. Das war furchtbar. Ich weiß noch, wie ich ihn zu Hause besuchte und mich bei ihm entschuldigte und dabei furchtbar heulte. Er hat mir verziehen. Das hat mein Selbstwertgefühl gestärkt. Seine Freundschaft hielt den Gedanken in mir aufrecht, ^daß ich vielleicht - aber nur vielleicht - in Ordnung war.« Heute hat Daryl etwas von dieser Tiefe und Zuwendung in seine Beziehung mit seinem besten Freund, Geschäftspartner und Mitbewohner Ron übertragen.

Manchmal hört Daryl, was aus den Kindern geworden ist, mit denen er in der Siedlung aufgewachsen ist: »Wenn die Gleichaltrigen auf der Straße gegen dich waren, konntest du das ertragen, wenn deine Familie dich liebte. Wenn deine Familie dich nicht liebte, konntest du das ertragen, wenn du in deiner Peergruppe beliebt warst. Wenn du aber von beiden nicht geliebt und anerkannt warst, dann warst du verloren.«

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    Rollenmodelle    

 

In Übereinstimmung mit anderen Untersuchungen über Kindesmißbrauch berichteten die meisten Befragten meiner Studie von Bindungen zu einem gesunden Erwachsenen außerhalb der nahen Familie, zu Lehrern, Sport­trainern, Jugendgruppenleitern und anderen. Diese Erwachsenen wußten oft nichts über den Mißbrauch im Elternhaus des Kindes; sie hatten das Kind einfach ins Herz geschlossen.

Fürsorgliche Erwachsene dienen kleinen Kindern als Rollenmodelle. Von ihren Eltern ausgenutzt, mißbraucht oder verlassen, wissen Überlebende meist, wie sie nicht sein wollen (also nicht wie der mißbrauchende oder nichtbeschützende Elternteil), nicht aber, wie sie gern sein möchten. Aber sie können das >Bild< eines fremden Erwachsenen internalisieren. Rob denkt an seine Beziehung zu Mr. Kaminsky: »Das Gefühl von Geborgenheit, wenigstens einmal geliebt zu sein, daß jemand mich tröstete, statt mich ohrfeigte, daran denke ich immer wieder, wenn ich mit meinen zwei Töchtern zusammen bin.«

Lauras neuntes Lebensjahr war besonders schwierig. Die Schule war für sie ein sicherer Hafen - bis zur fünften Klasse. »Im Rückblick weiß ich heute, daß meine neue Lehrerin ernsthaft geistesgestört war. Sie haßte mich und rief ständig meine Mutter an und erzählte ihr Lügen über mich. Natürlich bezog ich jedesmal Prügel. Eines Tages nahm sie mich beiseite und sagte: >Hoffentlich nimmst du es mir nicht übel, daß ich über dich Lügen verbreite, aber ich hasse dich so sehr, daß ich nicht anders kann.< Doch im gleichen Jahr hatte ich das Glück, daß Wanda in mein Leben kam. Sie war eine junge Schwarze, die einmal in der Woche zu uns zum Putzen kam. Meine Brüder und ich wurden regelmäßig an diesem Tag >krank<, um bei ihr sein zu können. Wenn wir sie anschwindelten und sagten, wir hätten keine Kekse gegessen, obwohl wir uns den Bauch damit vollgeschlagen hatten, lächelte Wanda und sagte: >Hmm, mm, so ist das also?< Das >hmm< klang wie ja und das >mm< klang

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wie nein. Sie war sanft, schön, lustig, klug — ich vergötterte sie. Nach einem Jahr warf meine Mutter sie hinaus. Sie erzählte uns Kindern, Wanda sei Epileptikerin und habe einen Anfall gehabt mit einem Eisenrohr in der Hand, und das sei zu gefährlich für uns Kinder. Fünfundzwanzig Jahre später stöberte ich Wanda wieder auf. Was für ein Wiedersehen! Sie ist keine Epileptikerin. Meine Mutter hatte ihr gesagt: >Die Kinder mögen Sie zu gern. Ich möchte, daß Sie gehen.< Ich habe noch heute die Gewohnheit, zu meinen Pflegekindern zu sagen: >Hmm, mm, so ist das also?<«

>Genügend gute< Familien wirken wie eine Schutzmembran, die den Einfluß gefährlicher Menschen auf das Kind fernhält. In Problemfamilien, wie in Lauras Fall, geschieht oft das Gegenteil. Ihre Mutter fand in ihrer Lehrerin eine Verbündete, und sie schickte Wanda fort, die einzige Person in Lauras Leben, die es gut mit ihr meinte. Andere Eltern sind nicht so direkt: sie werden >krank< oder bringen >verletzte Gefühle< zum Ausdruck, wenn das Kind seine Zuneigung einem anderen entgegenbringt.

 

   Ausbruch   

 

Ablösung und Individuation von den Eltern findet in der Jugend als Rebellion statt. Mit zunehmender Körper­größe, Lebenserfahrung, Sprachgewandtheit und größeren kognitiven Fähigkeiten finden Jugendliche >bessere< Wege, ihren Eltern nein zu sagen. »Ich bin von dir, aber ich bin nicht du«, erklärt der Jugendliche.

Jugendrevolte war für viele der Befragten der Wendepunkt zur Heilung. Sie nahmen entschieden Gegen­positionen zu ihren Eltern ein und wurden dadurch zu ganzen Menschen — zärtlich, liebevoll, einfühlsam. Um sich von der Passivität eines vernachlässigenden Elternteils zu unterscheiden, übernahmen sie Initiativen, lernten Standpunkte einzunehmen und zu verteidigen. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, welchen Einfluß diese Dynamik auf die Berufswahl der Befragten nahm.

Natürlich vergehen Jahre, bevor aus der Rebellion ein echter Heilungsprozeß entsteht. Den meisten fiel es schwer, das Elternhaus zu verlassen. Nach annähernd zwei Jahrzehnten, die bis zu einem gewissen Grad von traumat­ischer Bindung getragen waren, wurde auch die Trennung traumatisch.

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Die Trennung von einer gesunden Familie beinhaltet die Möglichkeit einer Rückkehr. »Du bist immer zu Hause willkommen.« Aber viele Überlebende konnten das Elternhaus nur unter traumatischen Bedingungen verlassen. Sie entkamen der Familie schließlich, weil sie verstoßen wurden, ins Gefängnis kamen, weil sie schwanger wurden oder heirateten, weil sie den Mißbrauch anzeigten und den Eltern das Sorgerecht entzogen wurde, weil sie einen Selbstmordversuch unternahmen oder einen emotionalen Zusammenbruch erlitten hatten. Janet verließ ihr Elternhaus in ihrem letzten Highschool-Jahr um zwei Uhr nachts, nachdem ihre Mutter sie zum ersten Mal geschlagen hatte: »Ich drängte sie, etwas gegen meinen Vater zu unternehmen — gegen seine Trunksucht, seinen Spielsalon im Keller, seine körperliche Mißhandlung gegen sie und mich. Sie fing an, mich mit Fausthieben zu traktieren und ich hatte die Nase voll. Es gab kein Zurück mehr.«

Manche Überlebende sagten, sie seien länger geblieben, als nötig gewesen wäre, um ein jüngeres Geschwister zu beschützen oder weil sie den Bitten eines Elternteils nachgaben oder sich Gegen­beschuld­igungen beugten, wenn sie versuchten, nein zur >genügend schlechten< Familie und ja zu einem eigenständigen Leben zu sagen.

 

   Das Drama der Liebe   

 

Einer meiner Kollegen erzählt die Geschichte von zwei Anstreichern in ihrer Mittagspause. Einer der beiden schaut sich sein Lunchpaket an und sagt: »Erdnußbutter, ständig Erdnußbutter! Das halte ich nicht mehr aus!« Sein Kollege sagt: »Sag deiner Frau doch, sie soll dir was anderes einpacken!« »Ich bin nicht verheiratet«, sagt der erste. »Ich mach' mir meine Lunchpakete selber.«  

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In unserer Auswahl von Freunden und Geliebten machen wir gleichsam unsere eigenen Lunchpakete und wiederholen in ihnen die Dramen unserer Kindheit — gute wie schlechte. Wir fühlen uns zu dem hingezogen, was uns >vertraut< ist. Yolandas Stiefgroßmutter Isabelle schlug Yolanda so lange, bis sie etwas eingestand, von dem sie beide wußten, daß sie es nicht getan hatte: »Ich biß solange die Zähne zusammen, bis ich den Schmerz nicht mehr ertragen konnte, dann legte ich ein Geständnis ab. Ich habe erst kürzlich eine sieben­jährige engagierte Beziehung beendet, weil ich als Reaktion auf das Kontrollverhalten meines Liebhabers >mein Selbst auflöse<. Im Zusammensein mit Freunden und Kollegen fühle ich mich gleich­berechtigt. Ich bleibe ich selbst und kann meine Standpunkte vertreten. Aber wenn ich verliebt bin, glaube ich noch heute tief im Innern, die Liebe eines anderen nicht zu verdienen. Also verrate ich mein wahres Selbst, um meinem jeweiligen Geliebten einen Gefallen zu tun.«

Georges Drama ist die Wiederannäherung. Er sehnt sich nach Nähe, fürchtet aber, wenn diese Nähe da ist, kann er sich nie wieder trennen. Wird er sich je wieder aus der Umarmung seiner Geliebten befreien können? Wird die mächtige Frau ihn dafür bestrafen, wenn er den Wunsch hat zu gehen? Daran zweifelt er und behandelt seine Geliebten so, als wollten sie von ihm Besitz ergreifen. Sie fühlen sich mißverstanden und klammern sich um so hartnäckiger an ihn, um ihm ihre Liebe zu beweisen. George befreit sich schließlich und ergreift die Flucht.

Laura hat sich einige gute Züge von Wanda angeeignet und die schlechtesten von ihrem Vater. Von Wanda lernte sie dankbar zu sein für das, was sie hat, nie zu erwarten, daß das Schöne ewig dauert und mit dem wenigen lange auszukommen. Von ihrem Vater lernte sie, sich nach unerreichbaren Männern zu sehnen, besonders nach solchen, die von gestörten Frauen (oder von sich selbst) besessen sind. Ihre Beziehungen zu Männern sind kurzfristig und von Frustration und Unaufrichtigkeit geprägt.

In Glens Familie »war man entweder wütend aufeinander oder man bedeutete einander nichts. Ich ging davon aus, daß Streitereien ebenso wichtigen Kontakt schaffen wie der Liebesakt; deshalb stellte jede Beziehung für mich eine Kampf Situation dar, bis ich eines anderen belehrt wurde.«

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Für Glen und seine Frau war Trennung nicht sonderlich schwierig: »Wir trennten uns, um uns zu versöhnen. Durch dieses Hin und Her waren wir nach siebzehn Jahren völlig ausgebrannt.« Glen hielt seine >Art< für Leidenschaft, bis er unterscheiden konnte zwischen >Gestern< (seine Wut auf seine Eltern) und >Heute< (seine Angst, ohne die Nähe zu Frauen nicht leben zu können).

Amy schrie ihre Brüder und ihren Vater häufig an: »Laßt mich in Ruhe!« Mehr wollte sie nicht - sie wollte frei sein von ihrem Mißbrauch. Heute hat sie, was sie möchte. Sie sehnt sich noch immer nach der liebevollen Aufmerksamkeit eines Mannes, aber sie fürchtet die negativen Konsequenzen einer solchen Zugehörigkeit. Sie geht eine Beziehung ein, gerät in Angst, schutzlos zu sein, und hat dann den verzweifelten Wunsch, alleine zu sein.

Gegen Mitte ihres Lebens hatten alle Befragten meiner Studie gelernt, sich in ihren Beziehungen neu zu orientieren oder es war ihnen gelungen, ihre existierenden Beziehungen zu verbessern. Alle hatten sich darum bemüht, eine überbrückende Beziehung< einzugehen, mit deren Hilfe sie sich aus zornigen, ängstlichen, mißbrauchenden oder vernachlässigenden Bindungen lösen konnten. Auf der anderen Seite der Brücke fanden sie >genügend gute< Beziehungen und lernten wieder zu lieben.

Viele vermochten über Freundschaften ihre einstigen Anschauungen über die Liebe zu revidieren. Laura sagte, es falle ihr schwer zu glauben, daß jemand ihr Verhalten kritisiert, ohne ihr gleichzeitig seine Liebe zu entziehen. Es ist wenig erstaunlich, daß sie dieses Verhalten auch auf ihre Freunde übertrug. »Katie ist eine gute Freundin, die ich in dem Büro kennenlernte, in dem wir gemeinsam arbeiteten. Nachdem ich die Stellung wechselte, erzählte sie mir ständig all den dummen Klatsch, den man über mich an meinem alten Arbeitsplatz verbreitete. Das verletzte mich sehr, aber ich war nicht fähig, ihr zu sagen, daß ich davon nichts hören will. Ich dachte, wenn ihr etwas an mir liegt, würde sie mir das nicht erzählen.

Schließlich beschloß ich, die Beziehung zu beenden. Aber so sehr ich versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, sie kam immer wieder auf mich zu — war besonders nett zu mir, und ich konnte mir andererseits keinen Reim darauf machen, wieso sie mir

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immer diese kränkenden Klatschgeschichten auftischen mußte. Schließlich sagte ich ihr, ich wolle nicht länger mit ihr befreundet sein, weil ich so tief verletzt sei. Sie hörte aufmerksam zu und sah ein, einen Fehler gemacht zu haben, sagte aber, sie habe keine Ahnung gehabt, daß sie mich damit verletzte. Sie hatte geglaubt, ich würde mich für den Klatsch interessieren — und vermutlich habe ich auch den Eindruck erweckt, weil ich meine Verwundbarkeit nicht zeigen wollte. Dann sagte sie, sie könne verstehen, wenn ich die Beziehung abbrechen wolle, fragte aber, ob es keinen Weg gäbe, die Sache zu bereinigen.

Irgendwie war ich in der richtigen Verfassung, um sie zu verstehen. Mir ging ein Licht auf. Natürlich verletzen wir alle einander. Und wenn wir uns bessern und versuchen, daraus zu lernen, muß das nicht das Ende einer Freundschaft sein. Seitdem schaffe ich es, mich früher zur Wehr zu setzen, gebe nicht so schnell auf und nehme das Gute und das Böse in meinen Freundschaften leichter; all das hat sich drastisch geändert. Katie hat mir unwahrscheinlich viel gegeben und ich bin sehr froh, daß wir immer noch befreundet sind.«

Alle Befragten meiner Studie hatten gesunde, langfristige, gegenseitig zufriedenstellende Freundschaften. Die sieben, die zur Zeit meiner Interviews Singles waren, hatten eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich das zu schaffen, was die Therapeutin Sharon Wegscheider-Cruse >eine Wahlfamilie< nennt. Diese >Familie< gibt ihnen, was eine >genügend gute< Familie zu bieten hat: ein Gefühl der Zugehörigkeit, eine gemeinsame Geschichte, einen sicheren Hafen, einen Ort, wo sie lieben und geliebt werden und sich als zärtliche und mitfühlende Menschen erfahren können.

Einige der Befragten hatten jung geheiratet und waren mit ihren Ehepartnern gewachsen, verwandelten die Gemeinschaft in eine gesündere Beziehung. Manche sprachen davon, die Familie ihres Partners geheiratet zu haben; die uneigennützige Liebe der Schwiegereltern hatte den einstigen Opfern geholfen, frühe Ansichten über die Liebe zu verlernen.

In anderen Ehen halfen die Partner einander, ihre jeweiligen gestörten Familien zu verstehen und sich davon zu erholen. Zu Beginn seiner Beziehung packte Vinnie einmal seine Freundin

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Gayie und schüttelte sie, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Er berichtet: »Sie sagte mir: >Was du tust, ist Mißbrauch. Wenn du das noch mal machst, siehst du mich nie wieder. < Ich versuchte ihr zu erklären: >Aber das ist gar nichts, verglichen mit dem, was ich gesehen und erlebt habe.< Sie ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie hätte mich verlassen, deshalb habe ich aufgehört, mich so zu verhalten.« Jahre später gingen Vinnie und Gayle zur Partnerschaftsberatung. »Der Therapeut sagte, er habe noch kein Ehepaar erlebt, das sich mit Worten so fertig zu machen verstand. Wir benutzten unsere Worte als scharfe Waffen, um uns gegenseitig zu verletzen. Das erschien uns normal. Nun bemühen wir uns, dieses Verhalten zu verlernen, uns gegenseitig größere Achtung entgegenzubringen.«

Nicht alle Beziehungen bringen größeres Wachstum. Acht der Befragten waren geschieden oder hatten sich aus wichtigen Beziehungen gelöst. In diesen Fällen war das Nein zur >nicht genügend guten< Beziehung ein Zeichen ihrer Gesundheit und versetzte die Überlebenden in die Lage, ihren Brückenbau durch Freundschaften fortzuführen; und für einige bedeutete es den Neubeginn mit einem anderen Liebespartner.

Das Trauma bewirkt häufig eine gefährliche Spaltung zwischen Intimität und Sexualität. Wie Esther sich ausdrückt: »Ich habe immer einen Unterschied gemacht zwischen Menschen, denen ich vertraut habe, und Menschen, mit denen ich Sex hatte.« Viele Befragte, die in anderen Aspekten einer Partnerbeziehung gut funktionieren, haben in diesem Bereich bis heute Schwierigkeiten.

Sexuelle Intimität ist für alle Erwachsenen - ob traumatisiert oder nicht - ein heikler Bereich. Die Verschmelzung, das Fehlen körperlicher und emotionaler Grenzen während des Liebesaktes ist eine Reise zurück in die ersten fünf Lebensjahre. Für manche Überlebende ist dies die einzige Form der Zugehörigkeit, die sie kennen, und deshalb sind sie sexuell aktiv, ob sie einem Sexualpartner vertrauen oder nicht. Andere meiden Sex, da es zu schmerzlich für sie wäre, wieder einmal die Kontrolle zu verlieren. Sexuelle Berührungen lösen möglicherweise Rückblenden aus, wodurch auch die Denkfähigkeit außer Kontrolle gerät. Wenn Trennung in der Vergangenheit Auslö-

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schung, Zurückweisung oder Verlassenheit bedeutete, wird die Trennung nach dem Liebesakt als bedrohend empfunden, und das Mißbrauchsopfer klammert sich entweder zu stark an den Partner oder weist die Bindung zurück, um den Schmerz einer Trennung nicht ertragen zu müssen.

Ehemalige Opfer sind damit vertraut, Ausbeutung und Schmerz zu besiegen, haben aber kaum Vertrauen und Erfahrung im Umgang mit Freude und Vergnügen. Rob dissoziiert noch immer, wenn er mit Judith schläft. »Der Sexualakt an sich macht mir Spaß, aber ich erlebe nicht die emotionale Nähe, wie andere das tun. Wenn ich Sex wirklich mit Gefühlen verbinde, wie >sie liebt mich wirklich< oder >ich fühle mich wundervoll< dann verliere ich mich. Ich glaube nicht, daß ich diese Emotionen verdiene. Ich kann nichts dafür, und es stört mich sehr.«

Für die Befragten meiner Studie, die augenblicklich keine Sexualpartner haben, war sexuelle Intimität wünschenswert, etwas, auf das sie bewußt hinarbeiteten. Auch sie sehen die Freundschaft mit einem Menschen als notwendige Vorstufe zur Liebesbeziehung. Janet sagte: »Mein Mann ist ein Freund, mit dem ich auch schlafe. Früher hatte ich Beziehungen, in denen ich wahnsinnig verliebt in einen Mann war - oder zumindest in die Vorstellung, die ich von diesem Mann hatte -, aber ich mochte ihn nicht. Ich habe nur die Form der Liebe angeboten, nach dem Motto: >Ich kümmere mich um dich, damit ich dich kontrollieren kann.< Mit zwanzig lernte ich Zuneigung und Vertrauen haben. Mit dreißig lerne ich lieben.«

 

   Elternschaft   

 

Elf der Befragten meiner Studie hatten eigene Kinder. Alle berichteten, Angst davor gehabt zu haben, Kinder groß zu ziehen, es aber leichter und schöner fanden, als sie erwartet hatten.

Nancy ist Adoptivmutter und betreut seit vielen Jahren emotional gestörte Kinder: »Ich wurde in keine gesunde Familie hineingeboren, aber ich verdiene eine gesunde Familie. Als junge Frau stellte ich mir die Aufgabe, eine solche Familie zu

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gründen.« Im College begann sie psychisch behinderte Kinder in einem Heim zu beaufsichtigen, während sie frühkindliche Entwicklungsstadien studierte. »In meiner Kindheit war ich die Geliebte meines Stiefvaters und führte außerdem den Haushalt. Als ich von zu Hause wegging, schrieb meine Mutter mir jeden Tag. Ich erinnere mich deutlich an einen Brief, in dem sie schrieb, sie habe die Wäsche gewaschen und plötzlich sei das Wäschepaket nicht mehr aufzufinden gewesen. Als sie später das Abendessen vorbereiten wollte, fand sie die zusammengefaltete Wäsche im Kühlschrank. Können Sie sich vorstellen, was im Kopf einer Frau vorgehen muß, die die Wäsche in den Kühlschrank legt? Ich wollte außerdem beweisen, daß ich Kinder besser erziehen konnte als meine Eltern.«

Nancy ist eine beispielhafte Mutter und berät andere Frauen in der Erziehung schwieriger Kinder. Dennoch sagt sie: »Mir bewußt zu machen, daß ich die Fehler meiner Eltern wiederhole, war für mich der erste wichtige Schritt. Ohne diese Bewußtmachung ist das ganze Bücherwissen bedeutungslos. Ein Beispiel: Eines Abends brachte ich meinen sechsjährigen Pflegesohn zu Bett. Er trug einen Pullover und ich sagte: >Nun ziehen wir dem Hasen das Fell über die Ohren !< Meine Eltern hatten mich immer mit diesen Worten ausgezogen. Als ich die Angst in den Augen des Kleinen sah, wurde mir klar, wie brutal dieses Bild war. Ich sagte diesen Satz nie wieder.«

Glen wuchs als Einzelkind in einer Dreiecksbeziehung mit seinen ständig streitenden Eltern auf. Jetzt erlebt seine siebzehnjährige Tochter die Scheidung ihrer Eltern: »Es ist so einfach, die Geschichte zu wiederholen. Ich gebe mir Mühe, sie nicht hineinzuziehen, aber es ist schwer abzuschätzen, welches Maß an Information zu viel ist und von ihr als Druckmittel empfunden wird, oder wann ich ihr etwas verheimliche. Ich muß viel darüber mit anderen sprechen.«

Rob stellt fest, daß die Vaterrolle ihn in die Lage versetzt hat, sich ein für allemal von dem Vater in seinem Innern zu trennen. »Als meine Töchter sich ihrer intimen Körperteile bewußt wurden, wollten sie wissen, wie intim sie wirklich sind. Sie spielten an ihrer Vagina herum und sagten: >Daddy, küß mich da.< Oder wenn ich sie zudeckte, schlang eine ihre Beine

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um meinen Hals. Sie stellten mich auf die Probe, als sie anfingen, ihren eigenen Körper zu erforschen. Durch wiederholte Interaktionen begriff ich, daß ich kein Täter war. Da gab es zunächst die Erkenntnis, daß ich sie belästigen könnte — es wäre ganz einfach — und im nächsten Augenblick die Erkenntnis, daß ich sie nicht belästigen werde. So bin ich nicht.«

Die Einzahlungen, die gesunde Erwachsene auf das seelische Sparkonto eines traumatisierten Kindes machten, kommen häufig der Elternschaft zugute. Justin erinnert sich an seine Nachbarin Marjorie, die ihm wiederholt sagte: »Gott hat einen Plan für unser Leben. Drückeberger gewinnen nie und Gewinner drücken sich nie.« Justins siebenjähriger Sohn Matthew stottert. »Ich bringe ihn jeden Morgen zur Schule und wir haben ein Ritual. Er steigt aus dem Wagen und kommt zu meiner Seite herüber. Ich kurble das Fenster herunter und sage: >Also Matthew, was ist heute wichtig?< Es dauert eine Weile, bevor er den Satz herausbringt: >Ich bin ein Gewinner.< Dann läuft er in die Schule.«

Joan sagt: »Mein Sohn ist die Entschädigung für alles, was passierte, nachdem meine Mutter starb. Er ist ein Schatz. Es war so leicht, ihn zu erziehen — eine wahre Freude.« Jetzt ist er zwanzig, macht seinen College-Abschluß und ist fest mit einer jungen Frau befreundet. »Das beste, was ich je getan habe, war, meinen Sohn großzuziehen. Jetzt geht er von zu Hause fort, und das fühlte sich zunächst an wie Verlassenheit, aber ich lerne, daß das nicht so ist. Unsere Beziehung wird anders sein — aber >gut< anders, hoffe ich.«

Jenny ist Mitte Vierzig und hat vier erwachsene Kinder. Mit großer Offenheit gesteht sie: 

»Ich war nicht sonderlich gern Mutter. Ich war wie ein Kind, das auf andere Kinder aufpassen muß. Ich habe heute ein gutes Verhältnis zu ihnen, aber ich verletze sie vor allem mit meinem Perfektionismus. Ich weiß zwar, daß ich es besser gemacht habe als meine Eltern — ich habe sie nie geschlagen und ich habe nie ihre sexuellen Grenzen überschritten. Aber ich hatte so viel zu tun, sie zu versorgen — mit Essen, Kleidung und Wohnung —, daß ich ihnen emotional nicht viel zu bieten hatte. Das habe ich ihnen gegenüber auch eingestanden, und ich versuchte mich zu bessern. Mein Sohn ist unfähig oder nicht bereit, mit mir darüber zu sprechen und das tut weh. Ich hoffe, daß er meine Entschuldigung eines Tages akzeptiert.« 

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Sie wuchs in großer Armut auf und es ist daher verständlich, daß ihrer Meinung nach materielle Versorgung und Sicherheit Vorrang vor emotionaler Zuwendung hatte. Ihr Reifeprozeß als Mutter setzt sich bis heute fort, sie schenkt ihren Kindern Zuwendung im Bewußtsein ihrer Unzulänglichkeiten.

Vier der Befragten meiner Studie hatten sich bewußt dafür entschieden, keine Eltern zu werden, ausschließlich aufgrund ihrer Biographien als mißbrauchte Kinder. Yolandas Empfindungen spiegeln die der anderen wider: »Ich beschloß bereits als Zwanzigjährige, keine Kinder in die Welt zu setzen. Ich wußte nicht, ob ich mich meinem Kind gegenüber ähnlich mißbrauchend verhalten würde, wie Erwachsene sich mir gegenüber verhalten hatten, als ich ein Kind war. Ich wollte das nicht auf Kosten eines anderen Menschen ausprobieren.«

Kein Mensch kann — ob traumatisiert oder nicht — ein >genügend guter< Elternteil in totaler Isolation sein. Gewissenhaftigkeit, das Bewußtsein eigener >Schwachstellen< und die Fähigkeit, sich um Rückhalt, Information und Hilfe nach außen zu wenden, waren die wichtigsten Kriterien dieser einstigen Opfer in ihren Elternrollen. Sie sind der lebende Beweis, daß nicht alle mißbrauchten Kinder sich zu mißbrauch­enden Eltern entwickeln.

 

    Liebe nehmen, Liebe geben   

 

Kindesmißbrauch und Vernachlässigung gibt den Kindern zu verstehen, daß ihre Liebe wertlos ist. »Wer will schon deine Liebe — sie taugt nichts. Würde sie etwas taugen, würde ich dir nicht weh tun«, lautet die Botschaft, die das Kind dem Verhalten der Eltern entnimmt. Manche Überlebende versuchen, diese Beschämung durch übersteigerte Protesthaltung zu überwinden, oder sie verteilen ihre Liebe kritiklos im Bemühen, ihren Wert unter Beweis zu stellen. Sie warten nur selten ab, bis sie Liebe von anderen zurück erhalten.

Andere Überlebende entpuppen sich als Geiselnehmer: »Gib mir verdammt noch mal deine Liebe, jetzt sofort! Mach alles wieder gut. Mach meine kaputte Kindheit durch deine Liebe ungeschehen.« Mit einer solchen Forderung erheben sich viele Probleme, da es keine Entschädigung für eine kaputte Kindheit gibt: Sie kann nicht ungeschehen gemacht werden. Die Menschen, deren Liebe man erzwingen will, trifft keine Verantwortung für die Vergangenheit. Dieser Ansatz der Liebe basiert auf Schwäche und Verletzung, nicht auf Stärke und Weisheit.

Die Befragten meiner Studie hatten gelernt, sich der Liebe mit einer positiven Haltung, ein Anrecht darauf zu haben, zu nähern: »Ich habe viel zu bieten. Liebe und schätze mich als den Menschen, der ich bin. Liebe mich nicht, weil du mich bedauerst oder weil du Angst vor mir hast.« Sie boten Liebe an — nicht Manipulation, Kontrolle, Ausbeutung oder Mißbrauch — und konnten damit den Kreislauf von Gewalt durchbrechen. Sie erschufen den Ausgleich zwischen Liebe geben und Liebe nehmen. Es fiel ihnen oft weitaus schwerer, Liebe gelassen entgegenzunehmen. Dieser Lernprozeß war für ihre Heilung jedoch ebenso wichtig wie das Wissen, daß ihre angebotene Liebe als wertvoll akzeptiert wurde.

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