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Willkommen daheim!  

Ein Nachwort von L. Sanford

Mut kann ebenso ansteckend sein wie Angst.

Alice Miller in <Du sollst nicht merken>

251-255

Die Überlebenden, die mir so ausführlich über die Hoffnungen und die Gesundheit in ihrem Leben berichtet haben, widerlegen alle engstirnigen Unter­stellungen über <zwangsläufige> Konsequenzen von Kindheits­traumen. Die Hindernisse, die sie gemeistert haben, waren nicht nur Hindernisse der Vergangen­heit; noch sind sie ausschließlich psychischer oder seelischer Natur. 

Sie litten alle unter projiziertem Mangel. Sie fürchteten, daß die Einstellung der Menschen sich ändern würde - und zwar zum Schlechten -, wenn sie ihre Kindheit aufdecken. Sie sind dankbar für die Hilfe, die sie erhalten haben, und glauben alle, daß ihnen mehr Hilfe gut getan hätte. 

Sie werden gesund trotz der Gesellschaft, in der sie leben. Sie fanden in ihren Herkunftsfamilien keinen <ruhigen Hafen in einer herzlosen Welt>, doch die meisten trafen auch in der Welt außerhalb ihrer Familie eine feindselige Umgebung an. Christina sagt: 

»Meine größte Schranke ist nicht meine Behinderung: es sind die Meinungen anderer Menschen über mich. Viele Leute glauben, wer in der Kindheit mißbraucht wurde, ist für sein ganzes Leben ruiniert. Wenn dazu noch Taubheit und Blindheit kommt, heißt es: <Vergiß es.> Dann habe ich oft das Gefühl, für mich lohnt der Aufwand, mich zu retten, nicht. Wenn ich weitermache in meinem Heilungs­prozeß und meinen Bestrebungen, komme ich mir vor, als tue ich das unrechtmäßig, als müsse ich es heimlich tun.« 

Viele Menschen stellen sich gegen Klischeedenken über Rasse, Religion, Alter, Behinderung, Geschlecht, soziökonomischer Klasse oder sexuellen Neigungen. In die Liste derer, die einer <Gleichstellung> bedürfen, müssen auch jene aufgenommen werden, die in der Kindheit traumatisiert wurden. Wie häufig ändern wir unsere Meinung über einen Freund oder Arbeitskollegen, wenn wir erfahren, daß er oder sie als Kind mißbraucht wurde. Dieses Wissen setzt die Betroffenen in unseren Augen herab. Wir sehen in ihnen möglicherweise eine <menschliche Zeitbombe, die jede Sekunde hochgehen kann>. Wir werden ungeduldig mit ihrem Leiden, oder wir trösten sie mit Sätzen wie: »Es hätte schlimmer sein können.« Oder wir versuchen sie zu beschwichtigen: »Das Schlimmste hast du ja überstanden.«

Warum, so fragen wir, klammern sie sich an veraltete Bewältigungsstrategien? 

Wir erkennen nicht, wie unsere Verdrängung, Verharmlosung und unsere pseudowissenschaftlichen Projektionen der Schuld an dem Trauma den Abwehrhaltungen und Denkfehlern der einstigen Täter gleichen. Wir sehen nicht, daß unsere Unsen­sibilität genau diese Abwehr­mechanismen aufrechterhält, die abgelegt werden müssen. Bedauerlicher­weise tragen unsere Klischeevorstellungen über einstige Opfer nur dazu bei, daß der >große Geheimbund<, wie Gloria Steinem sich ausdrückt, tatsächlich geheim bleibt.    wikipedia  Gloria Steinem *1934 in Ohio

Dieser Standpunkt der <Sicherheit in der Geheimhaltung> ist nicht nur bei einstigen Opfern von Kindes­mißbrauch und Vernachlässigung anzutreffen. Sarah Moskovitz schreibt in den Schlußfolgerungen ihrer Beob­achtungen an Kindern, die den Nazi-Holocaust überlebt haben:

Für sie ist das Problem des Stigmas überall... — vergrößert die Einzigartigkeit ihrer Erfahrungen und macht sie schwieriger zu ertragen... Dieses Gefühl, ein Außenseiter zu sein, entstanden durch die Ausrottung, Vernichtung und die Ermordung der ganzen Familie, werden sehr häufig durch Mißtrauenshaltungen verstärkt, <Teilnahmslosigkeit aus Selbstschutz> oder der Suche nach einem Krankheitsbild derer, die dem Überlebenden zwar nicht bewußt Schaden zufügen wollen, die ihn aber dennoch isolieren. 

Kein Wunder, daß Überlebende sich häufig zurückgezogen haben oder ihre eigenen Gruppen bildeten, wo sie frei sprechen, die Vergangenheit integrieren können, ohne gebrandmarkt zu sein. Aus diesen Gründen sieht die psychiatrische Fachliteratur Überlebende nur dazu fähig, Beziehungen zu Gleichgesinnten einzugehen. Viele Psychiater, die ihrerseits unfähig oder nicht bereit sind, mit den Erfahrungen von Überlebenden umzugehen, tragen Schuld daran, eine zu engstirnige Sichtweise populär gemacht zu haben, in dem sie die <Entfremdung> Überlebender einer krankhaften Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit zugeschrieben haben.1

Nicht nur Psychiater bringen Überlebende zum Schweigen und isolieren sie. Wir alle tun das. Genauso wenig ist die von Moskovitz geschilderte Ächtung eine Einzelerscheinung in der Geschichte. Kindes­mißbrauch und Vernachlässigung blühten jahrhundertelang und gedeihen weiter, eben weil wir uns ihren schädlichen Auswirkungen nicht stellen. Alice Miller hält uns vor Augen:

Doch der Sinn für die Entwürdigung des Kindes ist noch kaum in uns entwickelt. Der Respekt für das Kind und das Wissen um seine Demütigung sind eben keine intellektuellen Angelegenheiten, sonst wären sie schon längst zum Allgemeingut geworden. Mit dem Kind zu fühlen, was es empfindet, wenn es entblößt, gekränkt, gedemütigt wird, bedeutet zugleich, daß man wie im Spiegel plötzlich dem Leiden der eigenen Kindheit begegnet, was viele Menschen aus Angst abwehren müssen, andere wieder mit Trauer akzeptieren können. Menschen, die diesen Weg der Trauer gegangen sind, verstehen dann von der Dynamik des Seelischen mehr, als sie je aus Büchern hätten erfahren können.2

Aber wo und wie können die Betroffenen trauern?  

Ähnlich wie Überlebende des Holocaust finden viele Opfer von Kindesmißbrauch eine willkommene Atmosphäre in Selbsthilfe- und Beratungsgruppen, die von anderen Opfern gegründet wurden.

Daryl weiß, daß »die Welt keine anständige Welt ist. Ich dachte früher, wenn ich in größerer Geborgenheit und Sicherheit aufgewachsen wäre, könnte ich glücklicher sein. Heute weiß ich es besser. Wäre ich ohne Trauma aufgewachsen, wäre ich heute ziemlich naiv, ohne tiefe Empfindungen zu einer Reihe von Zusammenhängen. Der Nachteil ist, daß wir etwas verdreht denken. Ich weine nicht wie andere Menschen bei Begräbnissen. Für mich gehört der Tod zum Leben. Ich weine, wenn die Wahrheit ans Tageslicht kommt, wenn die Gerechtigkeit siegt. Das trennt mich manchmal von anderen, die keine Opfer waren, da sie die Tiefe meiner Gefühle nicht verstehen oder akzeptieren können.«

Stefan und andere Opfer sprachen von der Weisheit oder Tiefe, die ihre Erlebnisse ihnen vermittelt haben. Nicht alle einstigen Opfer haben aus ihrem Leiden erweiterte Perspektiven oder größeres Einfühlungs­vermögen gewonnen. Die Befragten meiner Studie verwandelten allerdings mit Sicherheit ihre Erfahrungen in eine größere Aufgeschlossenheit für das Leben, in größeres Mitgefühl für sich selbst und für andere. Viele von ihnen hatten Zeiten in ihrem Leben, in denen sie von ihren Kindheitstraumen völlig gefangen waren. Die einzigen Freunde, die sie hatten — vielleicht die einzigen Menschen, denen sie vertrauten —, waren andere Opfer. Sie waren vollauf damit beschäftigt, über Trauma zu lernen und ihre Gefühle in der Therapie zum Ausdruck zu bringen. Aber sie blieben in diesem Stadium ihrer Entwicklung nicht stecken.

Heute sind manche ihrer Freunde oder Lieben einstige Opfer, manche aber auch nicht. Sie sind immer noch bereit, über Trauma zu lernen und sie sind intellektuell an vielen anderen Zusammenhängen interessiert.

Manche ihrer Gefühle und Leidenschaften haben ihre Wurzeln im Kindheitstrauma, aber nicht alle. Das tiefe Eintauchen in ihre Vergangenheit war eine Zwischenstation, ein vorübergehender Aufenthalt ihrer Reise; es war nicht das endgültige Ziel. Jeder hat eine Identität, die über die Identität des Überlebendem hinausreicht.

Wie Paul sagt, er möchte am Leben teilnehmen wie jeder andere auch. »Ich habe meine Aufnahmegebühren bezahlt —  teuer bezahlt. Jetzt möchte ich in den Club aufgenommen werden.«

Er spricht über eine Heimkehr, ein Willkommen. Überlebende haben beängstigende innere Blockaden über­wunden und gelernt, ihre Traumen zu integrieren. Nun brauchen sie unsere Hilfe beim Forträumen der äußeren Blockaden, die ihre Integration in die Gesellschaft verhindern. Vielleicht freut sich jeder Mensch, der tiefes Leid ertragen hat, auf den Tag der Heimkehr. 

Viktor Frankl schreibt von Überlebenden aus Nazi-Konzen­trationslagern: Aber für jeden einzelnen der befreiten Gefangenen kommt der Tag, an dem er an seine Erlebnisse im KZ zurückdenkt und nicht mehr begreifen kann, wie er das alles überstanden hat. So wie der Tag seiner Befreiung endlich kam, an dem alles ihm wie ein schöner Traum erschien, so kommt auch der Tag, an dem alle seine KZ-Erlebnisse ihm nur noch wie ein Alptraum erscheinen.3

Für Überlebende, wie die, die in diesem Buch zu Wort gekommen sind, die den Mut aufbrachten und die Entschlossenheit hatten zu siegen, ist der Alptraum vorüber. 
Willkommen daheim!

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Ende

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