Start   Weiter

5  Lutz Rathenow: Teile zu keinem Bild oder Das Puzzle von der geheimen Macht

 

 

1.

62-90

Seit vier Monaten existiert das gesetzlich verbriefte Recht auf Akteneinsicht, und die Öffentlichkeit scheint immer verwirrter auf die aus den MfS-Akten veröffentlichten Fakten zu reagieren. Eigentlich wollte ich, nach der ersten Aufregung, in aller Ruhe die Papiere durchlesen. Nacheinander, mit Pausen, damit ich den Rhythmus der Vergangenheit bestimmen kann — wenn ich ihr schon häufiger ausgeliefert war, als sie noch Gegenwart war.

Statt dessen ertappe ich mich immer wieder bei Kommentaren, bei Interviews, die helfen sollen, gröbste Dummheiten aufzuklären. Vielleicht notwendig, aber oft sinnlos.

Zwei Gruppen von Menschen arbeiten bewußt oder auch eher instinktiv gegen eine wirkliche Sachdiskussion über die Deutung der MfS-Papiere: die eine aus schlechtem Gewissen. Zu ein paar hunderttausend Menschen, die eine Öffnung der persönlichen Akten mit Grund fürchten, kommen noch jene hinzu, die aus Unkenntnis Angst haben. So stand in einer Zeitung der Leserbrief von einem Mann, der dreimal von Stasi-Mitarbeitern werbend angesprochen worden ist: Und der nun fürchtet, auch ihn habe das MfS als IM geführt.

Das sind Resultate des Verwirrspiels derer, die gern in der Öffentlichkeit die Vorstellung durchsetzen möchten, vor lauter Ungenauigkeiten seien die Akten ohne jeden historischen Wert. Als ob es jemals historische Dokumente gegeben hätte, die nicht einer Interpretation bedürften. Natürlich sind die Akten nur ein Schlüssel zur DDR-Geschichte, jedoch ein wesentlicher. Wer sie vor allem juristisch nutzen wollte, verkennt ihre Eigenart. In dieser Hinsicht verschweigen die Akten manches, was ihren Erzeugern zu peinlich schien.

Das in den Papieren notierte Abbild der Realität muß hinterfragt werden: Was steht nicht drin, weil es bewußt oder aus Routine verschwiegen worden ist? Denn zahlreiche Praktiken der Machtausübung werden nicht erwähnt, während andere kleinkrämerisch genau verzeichnet sind. Da, wo es heikel wird, läßt das MfS oft zahlreiche Informanten zu Wort kommen. Sie beschreiben den Eindruck einer Aktion, der «draußen» entsteht. Die Zahl der Berichte über ein Ereignis läßt die Bedeutung erahnen, die die Aktenführer ihm einräumten. Neben dem, was nicht drinsteht, sind auf der anderen Seite natürlich Übertreibungen zu berücksichtigen. In den Planungen mutete sich das MfS manchmal mehr Erfolge zu, als zu erreichen waren. Und natürlich polarisiert der Blickwinkel, unter dem diese Papiere angelegt werden. Die für Feinde Gehaltenen wirken durch die Einschätzung ihrer Aktivitäten im Akten-Deutsch noch feindlicher, die anderen in ihrer Loyalität zum Staat noch DDR-freundlicher. Die Akten liefern Einblicke in die Planspiele der Macht, die interne Zusammenarbeit zwischen Partei/Staatsapparat und MfS. Sie lassen genaue Rückschlüsse auf die Art und Weise zu, in der Menschen Informationen lieferten und so zum Funktionieren des Apparates beitrugen.

Und die Akten geraten zu einer Chronologie zivilen Ungehorsams, wo sie die Verweigerung der Mitarbeit registrieren. Sie verzeichnen die Aktivitäten der Menschen, die Sand statt Öl im Getriebe des Staates sein wollten.

Und hier kommt die zweite Personengruppe ins zeitgenössische Stasi-Diskussionsabwehrspiel. Während die erste Gruppe wegen allmählich um sich greifender Sachkenntnis kleiner wird, wächst die zweite kontinuierlich an: Sie besteht aus jenen, die ihre Akte sehen wollen und erfahren müssen, daß über sie keine existiert. Oder nur eine sehr schmale.

63


«Meine Frau glaubt mir nicht, daß ich oft auf den Staat geschimpft habe auf Arbeit. Sie müssen mir helfen. Da muß sich doch irgend etwas noch über mich finden. Einmal hatte ich drei Aussprachen in einer Woche. Ich bin mir sicher, daß da einer von der Stasi dabei war.» — So ein Mann kürzlich auf der Gauck-Behörde.

Keine Akte zu haben könnte auf lange Sicht zum größeren gesellschaftlichen Problem werden. Trostloser kann ein Bürger nicht vorgeführt bekommen, wie weit er unter den Möglichkeiten innerhalb des Staates blieb. Nicht vorhandene Akten sind zudem kaum interpretierbar, die Sache ist endgültig und nicht zu korrigieren. Solange die DDR existierte, konnte jeder für den nächsten Tag wenigstens sich selbst immer aufs neue Besserung geloben. Mit dem Verschwinden des Staates ist auch die Möglichkeit dahin, dessen Entwicklung zu verändern.

Jeder Akteur ist ein für alle Male zur historischen Figur geworden, dessen Verhalten nur noch verschieden gedeutet werden kann. Etwas ist unwiederbringlich dahin, das erzeugt Schmerz und Scham. Und der Schmerz tarnt sich gern hinter Zynismen, nach dem Motto: Wie schlecht müssen die gearbeitet haben, wenn sie noch nicht einmal mich überwachten. Von den Millionen nicht erfaßter DDR-Bürger werden einige beharrlich an der Selbsttäuschung festhalten, daß eine eigene Akte existierte — und wegen ihrer Bedeutung vernichtet worden ist. Diese Haltung läßt sich um so leichter einnehmen, als in einigen (in punkto Qualität und Ausmaß noch nicht recherchierten) Fällen wirklich Akten vernichtet worden sind. Wahrscheinlich muß in das Vokabular der Psychologen künftig das Wort «Aktenneid» eingeführt werden. Aus dem resultiert verschiedenes Abwehrverhalten gegenüber jenen, die bändeweise verschriftet worden sind. Die Abwehr reicht von anbiederischer Hochachtung über Spott und Hohn bis hin zur Vernichtungssehnsucht.

Es sind auf Dauer nicht die Täter, die eine Vergangenheitsanalyse gefährden. Es sind die Nicht-Opfer, die kaum verkraften, nicht Opfer gewesen zu sein.

64


2.

JANUAR 1992

«Vermerk über eine mündliche Information des Genossen Generalmajor Niebling, Leiter der ZKG, an Genossen Oberst Paroch.»

Gleich ist es fünfzehn Uhr. Jetzt schließt der Lesesaal, in dem ich seit dem 2. Januar Akteneinsicht nehme. Alle Akten müssen in die silbernen Kisten zurückgelegt werden. In einem gut gesicherten Raum warten sie auf den nächsten Tag ihrer Entschlüsselung. Und wie immer entdecke ich kurz vor Enthüllungsschluß noch etwas Besonderes. Was teilte der Genosse mit?

«Genosse Generalmajor Niebling teilte mit, daß Lutz Rathenow wegen Reiseangelegenheiten seiner Ehefrau bei Rechtsanwalt

Prof. Dr. Vogel

vorgesprochen hat.

Durch den Rechtsanwalt wurde Rathenow in dieser Angelegenheit nicht unterstützt.

Prof. Vogel teilte ihm mit, daß er in dieser Angelegenheit für ihn nichts tun könne und er sich diesbezüglich an staatliche Stellen wenden könnte. Rathenow habe daraufhin zum Ausdruck gebracht, daß er von staatlicher Seite keine Unterstützung in Reiseangelegenheiten erhält. Nach möglichen Gründen befragt, äußerte er gegenüber Prof. Vogel, daß dies vermutlich mit seiner Tätigkeit zusammenhängt, da er satirische Arbeiten schreibt.

Durch den Rechtsanwalt wurde ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht, daß sicher auch Satire Grenzen hat. Damit war das Gespräch abgeschlossen.»

 

Also der Vogel auch ein IM? Vorsicht, so klar geht das aus diesem Schriftstück nicht hervor. Die Hauptabteilung XX/9 nahm den Bericht entgegen. «Meine» Abteilung. Oberst Reuter, Major Heimann, allmählich vertraute Namen. Für die einen die Führungsoffiziere. Und für die anderen eine Art Lebensbegleiter. Unsere Lebenszersetzer, wenn alles so geklappt hätte, wie geplant. Doch zurück zu Vogel, dem Doktor des Menschenverkaufs aus humanitären Erwägungen. Was sagt so ein Bericht? Im für ihn günstigen Fall, daß er abgehört worden ist. Nächste Frage: Mit oder ohne sein Wissen ? Die sichere Zuflucht, ein Hort der Geborgenheit vor den Häschern des

65


Staates war seine Anwaltskanzlei jedenfalls nicht. So wie unser Gespräch wurden andere bei Bedarf weitergemeldet. Ahnte er das ? Wies Dr. Vogel seine Mandanten darauf hin ? Oder erstattete er selbst den Kurzbericht ? Nein, kein Deckname mit IM-Hinweis findet sich auf diesem Blatt vom 15. lo. 86. Aber es gab eben auch andere Formen der regelmäßigen Informationsübermittlung. Und was bedeutet ZKG ?

«Zentrale Koordinierungsgruppe.»

Ach ja, das Alphabet des MfS.AG G. «Arbeitsgruppe Geheimnisschutz.»

AGAuE.

«Arbeitsgruppe Aktionen und Einsätze.»

AKG.

«Auswertungs- und Kontrollgruppe.»

Ein Alphabet, das scheinbar nicht von der Stelle kommt. Es scheint so sinnlos wie viele Maßnahmen seiner Urheber. Und hat doch so perfekt funktioniert.

Dr. Wolfgang Vogel sah ich gelegentlich auf Empfängen der bundesdeutschen Vertretung in Ostberlin. Meist kündigte sich sein Erscheinen durch einen Journalisten- und Diplomatenpulk an, der Vogel einen Satz zu entlocken hoffte, welcher aktuelle Nuancen im Verhältnis der DDR zum deutsch-deutschen Verhältnis andeutete. Einmal sprach ich ihn in seiner Kanzlei. Meiner Frau war die bereits in Aussicht gestellte Reise zu einem bundesdeutschen Verwandtenbesuch trotz genehmigungsüblicher Gründe abgelehnt worden. Ich fühlte mich mitverantwortlich und wollte etwas für sie tun. Für einen öffentlichen Protest schien mir die Sache zu unbedeutend. Ein Schriftsteller riet mir zum Ausreisedoktor. Das freundliche Gespräch blieb ergebnislos, auch wenn ich von Anbeginn des Reisebegehren meiner Frau strikt von meinem Reiseverbot zu trennen versuchte. Doch Dr. Vogel durfte sich - laut Dr. Vogel - nur um Ausreisefragen kümmern, nicht um Reisefragen. Das Politbüro habe ihm jegliche Intervention in Reisefragen untersagt.

66


Im zwölften der mir bisher vorliegenden fünfzehn MfS-Aktenbände lese ich auf Seite 294 den von Oberst Reuter unterzeichneten «Vermerk über eine mündliche Information des Genossen Generalmajor Niebling, Leiter der ZKG, an Genossen Oberst Paroch» vom 15. Oktober 1986. Er ist kein normaler Spitzelbericht.

Dr. Vogel wurde zum Fall, so ein Zufallsfund bekommt plötzlich ein anderes Gewicht. Wie bei meinem Anwalt Dr. Gysi. Mit ihm hatte ich mehrfach zu tun. Kein Hinweis, außer 1980 im Gerichtsverfahren, findet sich. Was bedeutet das, wenn am Ende aller Akten ein Vernichtungsprotokoll über (wahrscheinlich) Tausende von Seiten steht? Als ein Journalist in Bonn mit Gregor Gysi sprach, wehrte dieser Vorwürfe einer MfS-Mitarbeit auch mit dem Argument ab, in meinen Akten hätte sich ja auch nichts gefunden, ihn betreffend. Woher wußte er das ? Aber ertappt habe ich GG damit auch nicht, denn ich erzählte natürlich einigen Fragern, daß ich in Richtung Gysi nichts entdeckte. Und so etwas spricht sich ja rasch weiter.

Was lehrt uns das? Wo nur einzelne Blätter vorhanden sind, kann deren Deutung schwierig werden. Aber auch ohne eindeutige Zuordnung sagen die Schriftstücke etwas aus. Deshalb noch einmal zu der halben Seite über Dr. Vogel und mich zurück. Eine zwangsläufig auftauchende Frage stellte ich schon: Hat der Anwalt Mandanten auf die Möglichkeit des Abgehörtwerdens hingewiesen, wenn ihm diese Dinge erzählten, die bei Staatssicherheitskenntnis eine Gefahr für sie darstellten? Gerade die Aufwertung der Sonderrolle Vogels durch Westmedien hätte DDR-Bürger dazu verführen können, seiner Sonderrolle mehr zu vertrauen, als bei den Abhörrealitäten dienlich war.

Doch damit sind nicht alle Fragen ausgelotet. Sicher ist: Die halbe Seite läßt nicht erkennen, ob sie durch Abhören oder durch ein Gespräch zwischen Dr. Vogel und einem Offizier erarbeitet worden ist. Doch der Bericht verrät etwas über seine Ziele: Es wurde eindeutig der Besucher des Anwalt ausgespitzelt, nicht der Anwalt selbst. Der Bericht gibt den Inhalt des Gespräches nicht korrekt wieder und läßt die Argumentation von Dr. Vogel staatstreuer erscheinen, als diese auf mich wirkte. Während unseres Gespräches kritisierte er vorsichtig die Reiseeinschränkungen und hoffte, daß die Führung da bald klüger agiere. Er kam kurz auf gemeinsame Bekannte in der amerikanischen und schwedischen Botschaft zu sprechen. Keine uninteressanten Fakten für das MfS. Sie müssen Vogel sehr getraut haben, wenn sie so etwas gar nicht mehr erwähnen.

67


Nun könnte jemand einwenden, in Vogels potentieller Akte sähe der Vermerk anders aus als in meiner. Trotzdem bleibt eine Merkwürdigkeit : Wenn ein MfS-Mitarbeiter über das Gespräch von zwei nicht mit dem MfS zusammenarbeitenden Menschen berichtet, versucht er auf irgendeine Weise das Verhältnis zwischen diesen beiden zu beschreiben. Denn Informationen oder Mutmaßungen darüber, wie deren Beziehung fortgesetzt wird, sind für künftige Maßnahmen wichtig. Als mögliches Abhörresultat bietet der Vermerk eine verzerrte Wiedergabe des Gespräches: eine klare Zurückweisung meines Begehrens durch Dr. Vogel. Eine Fortsetzung der Kontakte ist nach diesem Text nicht zu erwarten. In unserem Gespräch gab sich Dr. Vogel aber so, als ob ich mich jederzeit wieder hätte an ihn wenden können. Selbst die Grenzen der Satire sprach er mit ironischem Unterton an.

Nur wer Dr. Vogel vollständig vertraute, durfte in unserem Gespräch keinerlei Gefahr für ein verstecktes Einverständnis zwischen uns wittern. Deshalb scheint es mir möglich, daß Dr. Vogel selbst eine mündliche Information an einen Offizier der Staatssicherheit gab, die dann sinngemäß zum hier zitierten Vermerk wurde. Es wäre ein hinreichend korrekter Bericht über eine absolvierte Pflichtübung (Abweisung meines Begehrens) gewesen, gleichzeitig hätte er mir gegenüber mehr Individualität demonstriert, als dem MfS zu berichten ihm dienlich schien. Deshalb wird diese Notiz zu einem Indiz für die persönliche Weitergabe von Informationen. Allerdings nicht zu einem Beweis.

 

3

Zwischen der Tintenzeit und der Zukunft perfekter Kommunikationssysteme siedelten die Ritter von der Sicherheit ihre Verfahrensweisen an. Schlecht lesbare Kopien, sogar handschriftlich eingeheftete Berichte verweisen auf den DDR-bekannten Mangel an Vervielfältigungstechnik.

68


Andererseits sind sie immer dabei, wenn es ums Abhören, Mitschneiden, Auswerten oder um das Verhindern von telefonischen Kontakten geht.

 

Information

über eine Provokation des Lutz Rathenow im Zusammenwirken mit dem Westberliner Rundfunksender RIAS I am 4. iq. 1986 Im Zusammenhang mit seiner weiteren Profilierung und Popularisierung durch westliche Massenmedien nutzt Rathenow vorliegenden inoffiziellen Hinweisen zufolge seine Beziehungen zu dem verantwortlichen Kultur-Redakteur des Westberliner Rundfunksenders RIAS,

Soldat, Hans-Georg
erf. HA II, 

aus.

Wir hätten sie fast vergessen, unsere gesammelten Provokationen. Hier finde ich sie alle wieder. Bis auf ein paar besonders erhebliche, doch läßt ein Vernichtungsprotokoll Raum für Vermutungen. Die Interviews mit dem RIAS oder Deutschlandfunk sind alle da, ordentlich abgeschrieben. Hier spielte die Stasi ihren Eckermann brav. Aber manchmal - weiter im Protokoll vom 9. lo. 86:

«Internen Hinweisen zufolge vereinbarten Rathenow und Soldat für den 4.10.1986 die Durchführung eines Telefoninterviews. Durch eingeleitete Kontroll- und Überprüfungsmaßnahmen konnte erarbeitet werden, daß Soldat bzw. dessen Kollege Schiller, Jürgen am 4. lo. 86 gegen 14.00 Uhr im Rah-men der Sendung «Berlin-Boulevard», RIASI, das Interview mit Rathenow zu

- der geplanten Veröffentlichung des Buches «Ostberlin die andere Seite einer Stadt» im Piper-Verlag München sowie

- Fragen im Zusammenhang mit der Ablehnung seiner Reise zur Frankfurter Buchmesse senden wollten.

Rathenow sicherte seine Anwesenheit zum genannten Zeitpunkt in der Wohnung zu.

Am 4. lo. 1986 wurde ein Mitschnitt des Beitrages gewährleistet. Gegen 14.20 Uhr wurde folgender Sachverhalt mitgeschnitten:

Die Kontrolleure und Überprüfer waren bereit. Und was kontrollierten sie ? Die geplante Gesprächsverhinderung ?

Meine Leitung war an jenem Tag wieder einmal tot. Und sagte keinen einzigen «Piep»... Ich klopfte beim Besitzer des Zweitanschlusses an der Wohnungstür. Auch heute muß Otto Normalbürger seinen Telefonanschluß teilen. 

69


Mein «Teilhaber» schlief manchmal über dem abgehobenen Hörer ein. Das erzeugte dann Stille in meiner Leitung - und der Anrufer von außerhalb hörte das Besetztzeichen. Doch diesmal war der eifrige Telefonierer aus dem Hinterhaus nicht da. Eine jener seltsamen Störungen hatte also den Apparat erfaßt, die pünktlich am Morgen begannen und mit einem Berichtszeitraum endeten. Nach einem Tag oder zwei. Jedenfalls dann, wenn der Störungsbedarf aufgehoben worden war. An diesem Tag gab es kein Interview, statt dessen die Bitten der Moderatoren, es nicht zu verhindern, hilflos, ehrlich - MfS-Mitschnitt:

«Ja, also ich, ich verstehe das beim besten Willen nicht, warum man eingreifen muß und ich meine, es hört ja jetzt jemand mit, es muß ja jemand mitgekriegt haben, daß wir mit ihm telefonieren wollten, und vielleicht ist man doch so nett und geht aus der Leitung. Also ich bin der Meinung, dieser Staat DDR müßte in der Zwischenzeit wirklich so souverän sein.»

Und dann erklärt Hans-Georg Soldat mögliche Hintergründe in bezug auf Autor und Buch. Und Jürgen Schiller liest aus dem Buch. Und die Moderatorin blendet mehrfach das Besetztzeichen ein.

«So hört sich das an, wenn man einen Autor mundtot macht.»

Und mit dem Verstummen der Moderatorin endet der Mitschnitt. Und dann folgt in dem MfS-Dokument der Satz:

«Überprüfungen zum vorliegenden Sachverhalt haben ergeben, daß keine Hinweise auf technische Störungen bei der Deutschen Post der DDR vorlagen bzw. ein absichtliches Stören der Verbindung durch Rathenow ausgeschlossen werden kann.»

Unterzeichnet vom Leutnant Klein. Natürlich merke ich beim Lesen der MfS-Akten auch eins - sie wollten in den Akten weitgehend als «korrekt arbeitend» erscheinen. Sie rechneten zwar nicht mit dem Ende der DDR, nichts deutete darauf hin, aber das MfS rechnete jederzeit mit Kurskorrekturen der Partei. Und die hätten zumindest eine Überprüfung der Arbeitsweise der Staatssicherheit bedeuten können. Insofern waren sie vorsichtig. Kein Klartext über Maßnahmen, die selbst in der DDR formal einen Verstoß gegen Gesetze bedeuteten:

70


«Überprüfungen zum vorliegenden Sachverhalt haben ergeben, daß keine Hinweise auf technische Störungen bei der Deutschen Post der DDR vorlagen bzw. ein absichtliches Stören der Verbindung durch Rathenow ausgeschlossen werden kann.»

Ein Satz, der besagt: Die protokollführende Abteilung wußte nicht, was los war. Ein technischer Defekt lag nicht vor. Auch Rathenow fummelte nicht am Telefon herum. Aber das wären die beiden einzigen Möglichkeiten einer normalen Störung. Aber sie wußten: Ich habe die Verbindung nicht gestört. Also können sie es nur selbst gewesen sein. Dieser Satz will ein Geständnis sein. Wir waren es, wahrscheinlich die Abteilung XX/8, für technische Manipulationen zuständig. Ich finde den Satz zu schön, durch zwei Ausschließungen etwas einzugestehen; das berufsmäßige Verbergen findet hier einmal die adäquate Form seiner Beschreibung. (Und wollte es wer genau untersuchen, so könnte die Störung immer noch einem anderen Geheimdienst angelastet werden.)

 

4.

Ich sitze nun seit drei Wochen vor meinen Akten oder ihren Resten. Fünfzehn Ordner mal 300-400 Seiten. Gestern brachte eine der hilfsbereiten Frauen ein neu aufgefundenes Stück. Aus der unsortierten Ablage, noch nicht archiviert, deshalb noch nicht in die laufenden Meter einsortiert. Auch in dieser: Sofort neue Belege für kleine Schikanen. Die mehrfach in Varianten wiederholte Anweisung, jede Bewegung auf meinem Konto zu melden. Und manchmal gibt es gehobenen Blödsinn.

«Information» Durch einen Mitarbeiter unserer Diensteinheit wurde festgestellt, daß 

Rathenow, Lutz
Deckname: « Assistent»

seine äußere Erscheinung verändert hat. Er trägt jetzt eine Kurzhaarfrisur. Die Haarform ist glatt, mit angedeutetem Mittelscheitel. Des weiteren hat er seinen Vollbart gestutzt. Diese Feststellung wurde durch unseren Mitarbeiter am 22. Juli 1987 getroffen.»

71


Wann wird je wieder ein Geheimdienst dieser Welt die Veränderungen meiner Frisur beschreiben?

«In Zusammenarbeit mit der HA VIII wurde gesichert, daß alle äußerlichen Aktivitäten des R. im Wohnhaus inoffiziell unter Kontrolle stehen. Ein Zugang dieser inoffiziellen Kräfte in den Verbindungskreis und die Wohnung des R. konnte bisher nicht erreicht werden.»

Beruhigend. Viele der Berichte, auch jene von Spitzeln, zeigen an, was sie alles nicht wissen. Insofern kann sich jeder für eine skeptische oder eine optimistische Lesevariante seiner Akte entscheiden. 95 Prozent der Menschen, mit denen ich zu tun hatte, schrieben keine Berichte für die Staatssicherheit. Eine freilich nur bedingt aussagekräftige Zahl, denn nicht alle wurden ja angesprochen.

Die Spitzelberichte sind sozusagen das Nervensystem aller Akten. Buchgutachten, Kriminalisierungsvorhaben, Maßnahmepläne, Zersetzungsstrategien - was wären sie ohne den einzelnen Mann oder die Frau, die die vielen kleinen Informationen beschafft, aus denen die größeren Schikanen zusammengebastelt werden. Die Berichte unterscheiden sich stark voneinander. Die schönsten in meiner Akte verfaßte Ibrahim Böhme. Ein wenig altmodisch im Stil, deshalb aus dem allgemeinen Brei der gängigen Präsentation von Informationen hervorstechend.

«Lutz Rathenow ist mir bekannt seit 1974/75. Er war damals noch ein relativ junger Mensch, der sich mit Lyrik im Bezirk Gera einen Namen machte. Lutz Rathenow war einer von jenen jungen Heißspornen in Jena, die zu dem damaligen dissidenzverdächtigen Lyriker Jürgen Fuchs mit einer gewissen Hochachtung aufschauten.»

So beginnt ein vierseitiges, engbeschriebenes Porträt meiner Person. Da wir uns bis dahin nur zweimal im Leben begegnet waren, enthält es überwiegend Spekulationen:

«Wenn ich eine allgemeine Einschätzung Lutz Rathenows treffen sollte, so kann diese nur mehr als lückenhaft sein, da ich über die Vorgeschichte Lutz R. nichts weiß und auch mir von dem derzeitigen Lebensumfeld und Lebensumständen des Lutz R. wenig bekannt ist. Ich kann auch keinen echten und ehrlichen inneren Bezug zur Literatur von Lutz R. finden, muß aber auch da selbstkritisch einschätzen, daß ich von ihm damals in den 70er Jahren und auch jetzt relativ wenig gelesen habe, daß läßt sich also noch demnächst nachholen. »

72


Ein redseliger Mann, der Beinahekanzler aller Deutschen. Jedenfalls erfüllte Böhme seine Selbstverpflichtung:

«Ich halte es aber für möglich, Lutz R. demnächst aufzusuchen, um sich wieder ins Gedächtnis zu bringen, zumal ich bereit bin, meine Persönlichkeit selbst unter den Scheffel zu stellen und Lutz R. mit seinen Schwachstellen zu hofieren. Seine Schwachstellen sind ......»

Alles verrate ich nun nicht. Die Akten sind persönlich genug — wenn auch nicht so, wie das manche befürchten. Die Sprache der Bürokratie verhindert eine lebendige Intimität. Den Verfassern war ja auch weniger am Privaten um seiner selbst willen gelegen. Eher an dem Verhindern unerwünschter Öffentlichkeit. Also dem Organisieren einer DDR-Öffentlichkeit, die Lust an noch mehr Öffentlichkeit nehmen sollte:

«Vermerk

über Abstimmungen zum koordinierten Vorgehen gegen Rathenow Am 14.1.1987 wurde zwischen dem Referatsleiter der BV Erfurt, Abt. XX/8, Geno. Ehrsam, und dem Leiter der HAXX/9, Gen. Reuter folgendes abgestimmt und festgelegt:

Durch den IMB «Viktoria» wird auf der Grundlage einer detaillierten Auftragserteilung und Instruierung Rathenow im März/April 87 zu einer Lesung in die ESG Erfurt eingeladen.

Mit dem Ziel der ideologischen Auseinandersetzung und Herabwürdigung der literarischen Arbeiten von Rathenow kommt eine «Zersetzergruppe» der BV Erfurt zum Einsatz.

Rathenow soll durch diese Maßnahme weiter verunsichert werden und eine Disziplinierung der ESG soll erfolgen.

Die HAXX/9 hat zu gewährleisten, daß für die Vorbereitung des Einsatzes der «Zersetzergruppe» BV Erfurt, rechtzeitig die Texte von Rathenow, die er beabsichtigt zu lesen, zur Verfügung gestellt werden.»

Ich kann mich bis in das Jahr 1981 zurücklesen.

Mit Rissen im Schrift-Film: Zwischen 1981 und 1982 klafft plötzlich eine zehnmonatige Lücke. Vor meiner Verhaftung im November 80 fehlt alles.

«Glaubst Du mir oder der Akte?» fragte ein Freund, der kein Inoffizieller Mitarbeiter gewesen sein will. Ich glaube gar nichts. Ich betrachte sie, wie ich ein Auto betrachten würde, wenn ich von seinem Innenleben mehr verstünde. Wenn es fährt, funktioniert es. Und ich kann studieren, wie es funktioniert. Und so haben auch die Akten funktioniert, mit all ihren kleinen Zuliefererteilen. 

73


Und so funktionierte auch Sascha Anderson alias David Menzer alias Fritz Müller alias Peters. Natürlich hätte er noch gehässiger und ausführlicher berichten können. Er war eher sachlich und effizient. Das genaue Gegenteil seiner Gedichte. So berichtete er am 4. März 87 von der ersten Präsentation des gemeinsam mit Harald Hauswald gestalteten Foto-Text-Bandes «Ostberlin — die andere Seite einer Stadt» in einer Westberliner Galerie:

«Es war auffällig, daß die zum diplomarischen Personal in der DDR gehörenden Vertreter der anwesenden Botschaften davon sprachen, von Lutz Rathe-now persönlich eingeladen worden zu sein. Von ihnen wurden jeweils auch mehrere Exemplare der zum Verkauf angebotenen Bücher gekauft, während sich die anderen anwesenden Personen kaum am Kauf der Bücher beteiligten. Es liegt also auf der Hand, daß die Diplomaten diese Bücher in die DDR mitnahmen, um sie dort zu verteilen. Ich kann keine konkreten Aussagen treffen, ob die vorgenannten Diplomaten über persönliche Kontakte zu Rathenow verfügen und für ihn Post verbringen. Ich glaube aber, daß Matanowitsch, der eine sehr volkstümliche Art hat, im Gegensatz zu Girardet mit Rathenow sehr gut auskommt.»

Der Fotograf Harald Hauswald und ich durften nicht zur Eröffnung. Von mehreren Leuten wurde das Gerücht kolportiert, wir hätten die Reise gar nicht beantragt. Ein Bekannter (B.) erfuhr das von Sascha A. Und reagierte, wie der Informant es wünschte:

«Der Juniorchef des Piper-Verlages betonte, daß beide Autoren eingeladen waren aber nicht reisen durften. In dem Zusammenhang äußerte B., daß Rathenow die Reise nicht angetreten habe, da er sich gar nicht um die Reisepapiere bemüht habe. Weitere Reaktionen darauf gab es nicht. Es wurden auch ansonsten keine Informationen von Bedeutung oder provokative Absichten bekundet.»

So provoziert ein Informant das, was er gern melden würde.

Zum Glück enthalten die Akten nicht nur Negativinformationen. Das Lyrikaktiv des Schriftstellerverbandes der DDR wollte am 2.2.89 eine Tagung mit 83 Lyrikern organisieren. Der Literaturabteilung des Verbandssekretariats wurde eine Namensliste eingereicht.

 

74


«Unter diesen Namen befanden sich auch ehemalige DDR-Bürger und solche die mit längerfristigen Visum im NSW leben, wie

Thomas Brasch
Wolfgang [Name unleserlich, der Autor] 
Sarah Kirsch
Günter Kunert sowie der operativ bekannte Feind der DDR
Lutz RATHENOW.

In einer im Verbandssekretariat des SV der DDR geführten Ausseinandersetzung bestand Gosse auf der Einladung oben genannter Schriftsteller, da sie seiner Meinung nach Bestandteil der DDR-Literatur sind. Er kündigte an, die genannte Tagung ausfallen zu lassen, wenn den Wünschen des Lyrikaktivs nicht entsprochen wird.

Wie inoffiziell bekannt wurde, hat die Literaturabteilung eine Vorlage für das Sekretariat des SV der DDR bezüglich dieser Tagung erarbeitet. In dieser Vorlage sind die o. g. Schriftsteller nicht mehr aufgeführt. Wie inoffiziell eingeschätzt wurde, wird Gosse dies zum Anlaß nehmen die Tagung abzusagen. Dabei werden ihn die Mehrzahl der Mitglieder des Lyrikaktivs unterstützen.»

 

Respekt vor Peter Gosse und dem Lyrikaktiv! Meines Wissens wurde die Tagung tatsächlich nicht mehr durchgeführt. Also waren auch die Lyriker nicht ganz in Apathie gefallen. Was mag in den restlichen Akten noch verborgen sein ? Eines merke ich schon jetzt: Der Klartext des berühmten Zitates von Erich Mielke «Ich liebe Euch doch alle!» lautet: «Wir hatten Angst vor jedem!»

 

V

FEBRUAR 92, KONFLIKTE

1

Es war einmal einer, der wollte Dichter sein. Und er schrieb talentiert und frech. Und lebte in der DDR und kam wegen einer politischen Sache ins Gefängnis. Wieder draußen, verfaßte er ein Gedicht für die Staats­sicherheit («Loblied auf einen MfS-Genossen»). Glaubte er an seine Worte? Später verwies er auf seine Angst. Nur aus dieser habe er das Gedicht geschrieben und öffentlich vorgetragen. Sie sollten ihn in Ruhe lassen. Aus Furcht vor dem MfS ein Loblied auf das MfS? Verrückte Zeiten. Über seine Angst schrieb er weitere Gedichte, die neugierig machten. 

75


Ein berühmter Schriftsteller besorgte einen Abdruck in einer renommierten Zeitschrift. Der Geförderte hatte keinen Kontakt zum MfS mehr. Blieb die Angst vor der unerwarteten Rückkehr von ihnen. Blieben ihre ausgestreuten Gerüchte, er arbeite für sie. Jahrelang begleiteten sie ihn.

Um den Bekannten diese Furcht und sich selbst eine andere zu nehmen, schrieb er sich Mut und Wut an - die sollten beweisen, was er nicht war. Er organisierte wichtige Lesungen in seiner Wohnung, wich brisanten Themen und Diskussionen nicht aus. Fand neue Freunde und trotz des Geredes einen bundesdeutschen Verlag. Erneut verhaftet, sorgte die öffentliche Aufmerksamkeit für seine rasche Freilassung. Er übersiedelte in den Westen, neun Jahre, bevor ihm das Land folgte.

Natürlich könnte Frank-Wolf Matthies seine Geschichte besser erzählen.

Am gleichen Tag, als auf der Titelseite des Neuen Deutschland sein Loblied auf den MfS-Genossen erwähnt wurde, flogen vier Leute aus Jena in Schwerin aus einer Veranstaltung. Bernd Markowsky hatte zwei Kinderlieder von Biermann gesungen. Und Brechts Meisterschüler Heinz Kahlau, der nach eigenen Angaben bis 1964 für die Staatssicherheit arbeitete, sprang beunruhigt auf und redete auf bestimmte Männer ein. Die veranlaßten, daß mit uns vier Jenaern noch in der Nacht geredet worden ist. Das Schweriner Poetenseminar, eine Förderveranstaltung des staatlichen Jugendverbandes für literarischen Nachwuchs, hatte seinen Klassenkampf. Wir reisten ab.

Um ehrlich zu sein: ich bedauerte dies. Schon drei Jahre zuvor hatte die Bezirksleitung des Jugendverbandes ihre erste Einladung zurückgezogen - weil ich mir die fast schulterlangen Haare nicht schneiden ließ. Während der Armeezeit lud man mich nicht rechtzeitig oder energisch genug ein. Und das Jahr darauf reiste ich lieber mit einem Freund durch Rumänien und Bulgarien. Aber während der Armeezeit war ich zu jeder scheinlyrischen Schandtat bereit, nur um für Stunden aus dem Exerzierknast herauszukommen. Sicher hätte ich in jenem Jahr 72 auch meine drei Armeegedichte vorgetragen. Idiotische Verse, noch zu bieder vernünftelnd, um Satire zu sein. Während eines Wachdienstes geschrieben, um was für das Bezirkspoetenseminar zum Vorlesen zu haben. Während des Schreibens ertappt und bestraft, Ausgangssperre, so fiel wegen der drei Gedichte für das Seminar das Seminar flach.

76


Zu dieser Zeit existierte unser Arbeitskreis Literatur in Jena noch gar nicht. Und drei Jahre später existierte er nicht mehr.

Und ein reichliches Jahr darauf debütierten Uwe Kolbe und Matthies in Sinn und Form. Wir kamen gerade von den Vernehmungen nach dem Biermann-Rausschmiß. Acht Freunde mußten im Knast bleiben. Gerade die Gedichte von Frank-Wolf verrieten einen Ähnlichgesinnten und machten Mut mit ihrer zugegebenen Angst.

FWM ist kein SaschaDavidFritz AndersonMenzerMüllerPeters. Frank verheimlichte seine staatsbejahende Lyrikphase nicht. Er war nie ein IM und stieg aus allen Kontakten rigoros aus. Etwas, das ich jedermann und jeder Frau hoch anrechne. Er sprach auch über diese Zeit, ein wenig allgemein, das Detail scheuend, aber so genau fragte kaum einer nach... Die berechtigte Angst vor dem Abgehörtwerden lieferte einen bequemen Vorwand, ganz heikle Fragen nicht zu stellen. Matthies spielte nicht den Oppositionellen, er war es. Vielleicht ein wenig verkrampft, um nicht mehr für ängstlich gehalten zu werden. Genauso verkrampft wütend wie einige Formulierungen in einem «Offenen Brief», in dem er jetzt die Art und Weise attackierte, in der Sascha Andersen von seinem Rom-Stipendium ausgeschlossen wurde. Fast jeder Satz stimmte und verfehlte seinen Gegenstand gleichzeitig. Ich versuchte zu antworten und merkte: Sobald die Distanz der Polemik verlassen wird, verschwimmen die Konturen auf merkwürdige Weise. Die Szene wird nun endlich erwachsen werden, meinte eine Erfurter Autorin in Reaktion auf all den lärmenden Nichtstreit. Zwölf Jahre hatte ich nicht mit Frank-Wolf Matthies gesprochen. Nun saß er wütend in meiner Wohnung und zerfetzte zu Recht drei oder vier ungenaue Sätze, die ich über ihn geschrieben hatte. Und bestätigte andere um so mehr. Die Mauer, all die nichtge-führten Gespräche, die aufgeblähten Mißverständnisse, die zu Problemen werden. Der Streit um Sascha Andersens Kollaboration rührte uns wieder zusammen. Die aus der Vergangenheit mitge-schleppten Frustrationen, die nicht geführten Dialoge, verhinderten das Erwachsenwerden.

77


Was wußten die «draußen» von dem Kampf einiger um oder sogar schon gegen die DDR ?

Was wußten wir «drinnen» von der Einsamkeit der West-Übersiedler in einem Land, das ihre Erfahrungen nicht haben wollte ?

Nein, FWM will nicht in seine Akten sehen. Und hat gute Gründe. Eine Art Nachlaßbesichtigung zu Lebzeiten, gegen die sich ein Instinkt wehrt: du bist ein lebendiger Leichnam dann. Gerade die Angst vor der Wucht der Vergangenheit erklärt oft die Heftigkeit der Abwehr. Die Angst, daß das ganze Leben im nachhinein wie von außen gesteuert erscheint. Ein völliges Unding, da selbst das MfS Pläne immer wieder in Konfrontation mit Realitäten korrigieren mußte.

DER GORDISCHE KNOTEN STAATSSICHERHEIT - und ihre Hinterlassenschaften. Können wir ihn ignorieren ? Oder gibt es da nur eine Methode: IHN DURCHLESEN. Ich denke nach wie vor:

Wir müssen da durch, ohne jede Illusion, da wirklich durchzukommen. Das Thema muß auf ein anderes Niveau hinaufdiskutiert werden. Eines, in dem es um Würde, Ich-Zerstörung, Chaos, Ordnung und die Literatur geht.

Tonbandmitschrift vom IMB Fritz Müller, aufgenommen am 17. lo. 84, angefertigt am 18. lo. 84:

«Information über Lutz Rathenow:

Rathenow hat am 8. Oktober 1984, abends, bei Anderson - Schönfließer Str. -200 DM in 800,- Mark umgetauscht. Am 10. Oktober 1984 war Rathenow wieder bei Anderson und hat sich während eines Gespräches über Kulturpolitik Notizen gemacht u. a. über einen Vorfall, der den Dresdner Maler Gö-schel, Eberhard betraf. Göschel hat einen Brief von Willi Sitte erhalten, in dem ihm dieser mitteilte, daß er nicht mehr unterstützungswürdig sei... Die Notizen zu diesem Vorfall machte Rathenow in ein Notizbuch, in welches er bereits ähnliche Vorfälle aufgeschrieben hat. Über die Angelegenheit wurde Rathenow bereits von Elke Erb informiert und wollte Detailinformationen von Anderson erhalten.»

Oder aus einer anderen Information von Fritz Müller, am 9.2.83 entgegengenommen:

«Das Gespräch wurde durch einen Besuch von Adolf Endler unterbrochen. Er brachte für Rathenow ein Manuskript ca. 7-8 Seiten mit... Die Manuskripte waren in einen Briefumschlag, auf dem LITFASS oder Assen Assenov stand.

78


Ich habe dies nicht genau gesehen. Die Manuskripte hat Lutz Rathenow aus dem Umschlag herausgenommen. Den Umschlag hat er beim Anfeuern des Ofens mit verbrannt. Adolf Endler bat Lutz Rathenow, Assen Assenow auszurichten, daß er jetzt unbedingt darauf bestehen müsse, sein noch überfälliges Geld... zu erhalten.»

Und dann geht Endler. Und S. A. späht weiter: «Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel beschrifteter Umschläge, die für Visitenkarten bestimmt waren.» Ich zeige einen Artikel von mir. S.A.: «Er äußerte sich nicht dazu, wie sein Brief und seine Äußerungen nach Westdeutschland gelangt sind.» Ende. Nur ein paar durchschnittliche Zeilen aus den knapp 50 bislang gelesenen Berichten. In meiner Akte. In der von Ulrike und Gerd Poppe sind es genau so viele. Diese zwei Zitate sollen nur eins belegen: Es werden Dinge berichtet, die das beste Abhörgerät nicht hergibt. Schon Geldsummen nannten wir nie.

Zweitens wird der IM nicht «zufällig abgeschöpft», sondern begibt sich immer wieder in für das MfS interessante Situationen, um diese zu beschreiben. Drittens provoziert er kriminalisierbare Handlungen. Viertens übt er immer stärkeren Einfluß auf ausgewählte Diplomaten der Ständigen Vertretung und auf andere Bundesbürger aus. Fünftens ist er ein hervorragender Multiplikator von Desinformationen des MfS und wirkt unmittelbar auf die Profilierung anderer Künstler ein. Er baut einige auf, in ständiger Abhängigkeit zu ihm, und arbeitet gegen andere.

Deshalb muß eine Malerin wie Cornelia Schleime rasch Einsicht in ihre Akten erhalten, um vielleicht zu erfahren, ob das Verschwinden von zehn Jahren ihres Lebenswerkes wirklich nur einer Nachlässigkeit Andersens zuzuschreiben ist. Er wollte es in den Westen transportieren lassen, kein Problem bei seinen Kontakten. Ein kleines, lösbares Problem für einen Dissidenten, gar keins für einen «Peters» (sein letzter Deckname im Westen).

EINER, DER WIRKLICH ETWAS GETAN HAT, schrieb Frank-Wolf Matthies. Der Satz stimmt. Was, das wird noch genau und kühl zu analysieren sein. Auch im Vergleich zu Rainer Sched-linski, der genauso fleißig, aber weniger genau verraten hat. «Opportunismus und politische Anpassungsfähigkeit» wirft FWM Andersens Kritikern vor. Im günstigsten Fall hat dies SaschaDavidFritz AndersonMenzerMüllerPeters selbst exakt vorgeführt unter den Bedingungen der späten DDR.

79


Im teuflischeren Fall versuchte er, die Stasi über ihre Ziele hinaus für eigene Machtambitionen zu benutzen - dann dürfte sein Leben wohl, frei nach Matthies, als «Gesamtkunst-zerstörungswerk» betrachtet werden. Was erzählt Cornelia Schleime ? Als sie einen Umweltfilm fertig hatte, der beim ersten Publikum starke Betroffenheit auslöste, auch wegen der in ihm enthaltenen politischen Brisanz, zerschnipselte Anderson ihn für die nächste und alle kommenden Aufführungen. Er stellte ein entpolitisiertes, viel beliebigeres Video-Clip zusammen und vermochte Cornelia Schleime seine Handlung nur ungenau zu erklären. Erlebte sie die selbstbewußte, freche Anmaßung eines Künstlers - oder die instinktive Vorsicht eines Berichterstatters, der genau spürt, wann die Kunst seine Genossen zu nerven beginnt ?

5

All die verwickelten Geschichten erzählen Akten nicht. Sie versuchen, alles sehr linear zu gestalten, jede Ursache hat eine Wirkung -und die Ursache ist letztlich immer der Feind. Auf manche (aus MfS-Sicht vermuteten) Ursachen würde der Beobachter in purer Kenntnis der Wirkungen oft nicht kommen. So spiegeln sich in den Akten auch verdichtet die Ängste der DDR-Herrschenden um ihre Herrschaft wider. Zum Beispiel in dem folgenden Dokument:

Berlin, 20. November 1980

Bericht

Durch das Ministerium für Staatssicherheit wurden Beweise dafür erarbeitet, daß von feindlichen Einrichtungen und Personen in der BRD und Westberlin umfangreiche Aktivitäten durchgeführt wurden, um Personen mit feindlich-negativen und anderen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR gerichteten Verhaltensweisen zu formieren und zu aktivieren.

Unter Mißbrauch der Regelungen über den Besucherverkehr sowie unter Einbeziehung solcher Personen, wie

80


GRASS, Günter (53)

geb. am 16. lo. 1927 in Danzig

freiberuflicher Schriftsteller, Mitglied des Schrift-

stellerverbandes und des PEN-Zentrums der BRD

und

STRASSER, Johano (41) geb. am i. 5.1939 in Leeuwarden Hochschullehrer und Mitherausgeber der antisozialistischen Literaturzeitschrift «L'8o» beide wohnhaft: Westberlin, Niedstraße 13

sowie unter Mitwirkung von Robert HAVEMANN wurden Zusammenkünfte derartiger Personenkreise organisiert.

Im Rahmen dieser Zusammenkünfte erfolgten sowohl seitens der aus der BRD und Westberlin eingereisten feindlichen Kräfte als auch durch feindlich-negative Personen aus der DDR sogenannte Lesungen aus von ihnen verfaßten Schriften antisozialistischen Charakters. Darüber hinaus wurden dahingehende Forderungen gestellt, gemeinsame Anstrengungen zum «Erhalt der einheitlichen deutschen Kulturnation» sowie zur «Verteidigung des deutschen Bewußtsems» zu unternehmen.

Gleichzeitig wurde propagiert, daß die Ereignisse in der Volksrepublik Polen auch auf die DDR zu übertragen und die «in Polen erkämpften Erfolge als neues Bewußtsein auch für DDR-Bürger durchzusetzen seien».

Zur Unterbindung dieser Aktivitäten sowie zur Aufklärung der von ihnen begangenen Straftaten wurden am 19. n. 1980 durch das Ministerium für Staatssicherheit gegen die DDR-Bürger

MATTHIES, Frank-Wolf (29) geb. am 4.10.1951 in Berlin wohnhaft: 1054 Berlin, Lottumstraße 23

und

RATHENOW, Lutz (28) geb. am 22.9.1952 in Jena wohnhaft: 1034 Berlin, Thaerstraße 34,

die beide keinen Beruf erlernten, keine Arbeitsrechtsverhältnisse eingegangen sind und sich als freiberufliche Schriftsteller ausgeben, Ermittlungsverfahren mit Haft wegen ungesetzlicher Verbindungsaufnahme gemäß § 219 Absatz 2 Ziffer 2 StGB eingeleitet.

81


Die bisherigen Untersuchungen bestätigen die dargelegten Bestrebungen. MATTHIES und RATHENOW, die in der Vergangenheit zu BIERMANN Verbindung unterhielten und gegenwärtig mit HAVEMANN in Kontakt stehen, wurden unter unmittelbarer Einflußnahme solcher feindlichen Kräfte aus Westberlin, wie des Leiters des zum Springer-Konzern gehörenden Ullstein-Verlages Hans F. ERB sowie der in diesem Verlag als Lektorin tätigen Krista-Maria SCHÄDLICH und des sich als freiberuflicher Schriftsteller ausgebenden Jürgen FUCHS langfristig als feindlich wirkende Stützpunkte in der DDR aufgebaut.

Beide wurden veranlaßt, Texte antisozialistischen Charakters zu verfassen, die nach entsprechender Bearbeitung durch die vorgenannten Personen in der antisozialistischen sogenannten Literaturzeitschrift «L'8o» und anderen Publikationsorganen veröffentlicht wurden.

Obwohl beide, die lediglich in der Vergangenheit in der DDR als Jugendliche einige belanglose Gedichte und Kurzprosa in Zeitschriften veröffentlicht haben, als «Schriftsteller» auch für die BRD bedeutungslos und uninteressant sind, erfolgte durch den Rowohlt-Verlag 1979 die Herausgabe eines «Gedichtbandes» von MATTHIES unter dem Titel «Morgen» und durch den Ullstein-Verlag 1980 die Veröffentlichung eines Buches von RATHENOW mit dem Titel «Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet». Die erforderlichen Genehmigungen dafür wurden von den Beschuldigten nicht eingeholt. Weitere Veröffentlichungen wurden von ihnen gemeinsam mit den genannten Verlagseinrichtungen vorbereitet.

In den geführten Untersuchungen gegen die Beschuldigten, die sich bisher im Interesse der Organisierung einer politischen Untergrundtätigkeit gegen ein Verlassen der DDR aussprachen, wurde bisher darüber hinaus nachgewiesen, daß MATTHIES maßgeblich und im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Volksrepublik Polen verstärkt Zusammenkünfte des bezeichneten Personenkreises organisierte. Neben einer am 31.10.1980 in Anwesenheit von GRASS und STRASSER in seiner Wohnung durchgeführten Zusammenkunft, an der ca. 35 Personen — darunter auch RATHENOW — teilnahmen, wurden von ihm weitere für den 21. n. 1980 sowie den 5.12.1980 vorbereitet.

Zu RATHENOW wurde festgestellt, daß er im Rahmen seiner Verbindungen zu FUCHS und zu SCHÄDLICH zielstrebig Kontakte zu feindlich-negativen Personen in der DDR suchte und die Verbringung von diesen verfaßter Manuskripte nach Westberlin organisierte.

Während der Durchsuchung der Wohnungen der Beschuldigten wurde umfangreicher Schriftverkehr mit Verlagen und Publikationsorganen in der BRD, Westberlin, Österreich, der Schweiz und anderen kapitalistischen Staaten, Belegexemplare der von den Beschuldigten verfaßten Schriften sowie eine Vielzahl anderer, im nichtsozialistischen Ausland herausgegebener Bücher und Zeitschriften antisozialistischen Charakters beschlagnahmt.

82


Darüber hinaus wurden Visitenkarten von in der DDR akkreditierten Journalisten, Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der BRD und umfangreiches Adressenmaterial sichergestellt, deren Auswertung noch nicht abgeschlossen ist.

Im Zusammenhang mit der Einleitung der Ermittlungsverfahren gegen MATTHIES und RATHENOW erfolgt auf der Grundlage der entsprechenden strafpro-zessualen und anderer Rechtsnormen die Zurückdrängung und Auflösung des feindlich-negativen Personenzusammenschlusses. Die erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer erneuten Einreise der durch die dargelegten feindlichen Aktivitäten in Erscheinung getretenen Personen aus Westberlin und der BRD wurden eingeleitet.

 

VI

Die Debatte über die Staatssicherheit verkam von Anfang an zu sehr zu einer Debatte über die IM der Staatssicherheit. Die Überreizung dieses Themas, die Sucht nach neuen Namensenthüllungen, hatte Folgen - jetzt droht der Irrtum der Beliebigkeit. Als sei IM gewesen zu sein die Einordnung in eine relativ belanglose, vielleicht sogar zufällige oder ohne eigenes Zutun gerührte Kategorie.

Der Schriftsteller Schedlinski reagierte als einer der ersten öffentlich auf den Vorwurf, IM gewesen zu sein, nicht mit Abwehr oder Schweigen. Er gab einiges zu und nannte plausible Gründe für einen Stasi-Einstieg unter Zwang. Allerdmgs bestritt er in seinem langen Artikel für eine große Zeitung, jemals über Geld oder Verbindungsleute in den Westen gesprochen zu haben.

«Einen Tag vorher erfuhr ich von Bernd Wagner, daß für ihn von Blohm 50 DM hinterlegt wurden als Anzahlung auf die Anthologie, auch Opitz soll 50 DM erhalten haben. Blohm muß offensichtlich die letzten Wochen in Berlin gewesen sein.» (IMB «Gerhard» am 13.8.1985 an Major Heimann)

83


Auch bei der Analyse der IM-Arbeit solle ein nüchtern interessierter Forscherblick versucht werden, der alles für möglich hält. Und der eine Debatte der Ergebnisse erst nach ihrer Ermittlung führen will. Einerseits sind die Akten Ausfluß eines Systems zur Machterhaltung, aus anderer Perspektive betrachtet, dokumentieren sie ein in sich selbst funktionierendes System, in dem jeder Spitzel seine eigene, mindestens in Nuancen unverwechselbare Aufgabe erfüllte.

«Zum Kurierdienst Rathenow's meinte G. M., daß es ein Mann vom Evangelischen Pressedienst sei. Rathenow erzählte zu diesem Mann, daß er in Westberlin eine Wohnung hat, aber auch bei uns in der Nähe des Kissingenplatz eine Wohnung hätte.»

So Reiner Schedlinski alias «Gerhard» am 19.12.86, wie meist auf Band gesprochen. Major Heimann stellte die Zwischenfragen und faßte dann zusammen. In diesem Fall war der Bericht nicht so schrecklich wichtig, Weihnachten verging, am 29.12. 86 wurde er dann abgetippt und vervielfältigt. Wer erhielt ein Exemplar ? Mindestens die Aktenführer der in den Berichten erwähnten Personen; anderes wurde zentral ausgewertet.

Das interne und externe Informationsstreuungsprinzip ist ein Thema für sich. Eine generelle Analyse der Spitzelberichte auch. Sie differieren hinsichtlich Länge und Verschlüsselungsgrad beträchtlich. Die meisten IM in meiner Akte haben auf Band gesprochen, da fallen auch Hemmungen weg, die der Berichterstatter beim Selber-Schreiben noch spürt. Vom Originalton der denunzierenden Person (Ich-Form) über einen stilistischen Mischmasch aus Erzeugersprache und wertendem Stasi-Jargon bis zu (meist kürzeren) stark abstrahierenden Berichten, die nichts mehr von der Individualität des Berichterstatters erkennen lassen, weist auch die Spitzelprosa Reiner Schedlinskis die ganze Breite und Vielfalt dieses MfS-Genres auf. Nicht in jedem unter seinem Decknamen «Gerhard» wiedergegebenen Bericht würde ich Schedlinski vermuten, bei einigen ergäbe sich die Urheberschaft eindeutig durch die geschilderte Situation. R. S. gibt vorwiegend Fakten wieder. Wer wo war. Wer wem was sagte. Wer welche Veröffentlichung vorbereitet. Was ich über welches Thema im Westen zu veröffentlichen gedenke. Er scheut sich aber nicht, auch Vermutungen weiterzutragen.

84


Zum Beispiel habe ich meine Bücher und Manuskripte nicht über den erwähnten Korrespondenten des Evangelischen Pressedienstes in den Westen geschmuggelt oder von dort bekommen. C. M., eine Freundin Schedlinskis, irrt sich. 

(Was für Folgen kann so ein Irrtum haben? Vielleicht eine konspirative Hausdurchsuchung bei jenem Korrespondenten zur Vergewisserung? Ich fand die Resultate einer solchen heimlichen Wohnungskontrolle bei einem anderen Korrespondenten in den Akten, protokollarisch zusammengefaßt. Sie suchen noch nicht abgeschickte Briefe, Manuskripte, Eingaben, Informationen von dritten Personen, die auf so einem Weg eine Beschwerde an amnesty international oder ihren Ausreiseantrag an die Bundesregierung übermitteln wollten. Vor Ort kopiert kann solches Material die Verhaftung gerade von entfernten Bekannten bewirken, die sich wundern, woher das MfS alles weiß. Und aus Angst lieber abschwächend einiges zugeben. Und dann sind ihre Geständnisse die Beweise zur Verurteilung.)

«Gerhard» liefert jede Menge Hinweise auf alle möglichen Personen - schon in meinen Berichten - und vergißt kaum ein Detail, das der Staatssicherheit helfen könnte, den persönlichen Bewegungsund Kommunikationsraum des Bespitzelten umfassend unter Kontrolle zu bringen.

«Rathenow hat nach wie vor die Schlüssel zu seiner Wohnung in der Thaer-straße. Als ich ihn besuchte, brachte er gerade einen großen Stoß Post, die nach wie vor an die alte Adresse geht. Im Hause habe er eine Person beauftragt, auf die Post zu achten.» (R. S. am 22. io.86)

Eine enge Beziehung bestand zwischen Schedlinski und mir nie. Ich wundere mich, was er alles erfahren hat. In diesem Sinne ist das Aktenstudium eine hervorragende Möglichkeit, das eigene Verhalten kritisch zu überprüfen und entsprechende Schlußfolgerungen für das Leben in der nächsten Diktatur zu ziehen. Es bleibt ein gewisses Rätsel, daß gerade Sascha Anderson und Reiner Schedlinski die Menschen waren, die der Staatssicherheit das effektivste Material für die permanente Kriminalisierung einerseits und für die «Zersetzungsmaßnahmen» im privaten Bereich andererseits zuspielten. IMB «Gerhard» am 21.5.86:

«In der ersten Maiwoche war G. M. bei Rathenow's. Sie berichtete, daß Bettina Rathenow sie eingeladen hätte, ein persönliches Problem mit ihr zu besprechen. Es ging dabei um die Schwangerschaft der Bettina und darum, daß sie das Kind haben möchte, Lutz aber nicht. Lutz Rathenow benutzte als Argument, das Kind nicht haben zu wollen, die Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl und die damit verbundenen Strahlenwerte, die er täglich mit ironischem Ton Bettina zur Kenntnis gab.»

Und er mutmaßt fleißig weiter über den Streit: Daß ich mich wohl häufiger nicht zu Hause aufhalte. Dies kombiniert er dann mit der Tatsache, mich am 3. Mai bei einem bestimmten Fest gesehen zu haben. Schedlinski mag Klatsch. Und vergißt aber auch am Schluß dieses Berichtes nicht, wieder die (illegale) Übergabe von Presseberichten aus dem Westen zu erwähnen:

«Bei dem letzten Besuch übergab Rathenow eine Sammlung westlicher Zeitungsmeldungen unter dem Titel «Dialog 86» — Ausschnitte.»

Daß «Gerhard» hier eine Freundin informell mißbraucht, «abschöpft», um im Geheimdienstslang zu bleiben, verrät die Abwesenheit von Schamgefühl. Offenbar ist der Ich-Verlust als Folge der regelmäßigen Zuträgertätigkeit so weit vorangeschritten, daß S. die Menschen um sich herum als beliebig nutzbare Objekte sieht. Die kann man sogar irgendwie gern haben, wie Knud Wollenberger seine Frau, das ändert nichts an der Praxis, sie bei (Stasi-)Bedarf wie eine Informationsmaschine abzuzocken. Reiner Schedlinski sagt, in einem ausführlichen Statement in der FAZ, daß er nicht alles mitgeteilt habe. Statt des Fragezeichens hinter diesem Satz ein weiteres Zitat:

«Rathenow war noch anschließend bei der Feier von Andersen und hat zu später Stunde mit einer mir nicht bekannten Frau, die er dort kennengelernt hat, die Veranstaltung verlassen. Es war schon verwunderlich, daß Rathenow ohne seine Ehefrau kam.» (1.7.86)

Erstens falsch beobachtet, und zweitens haben die Ungenauigkeiten dieses Berichts wohl weniger mit einem Stasi-Verweigerungswillen, sondern eher mit dem Zustand fortgeschrittener Alkoholisierung des Beobachters zu tun. Kurz danach begann eine neue Phase von privaten «Zersetzungsmaßnahmen», anonyme Anrufe, ein Brief, gestreute Gerüchte; Ulrike und Gert Poppe dokumentierten ja solche Maßnahmepläne, die auf die Zerstörung einer Ehe abzielten. Ich notiere dies, um zu zeigen, daß jemand wie Schedlinski auf jeder Ebene Informationen lieferte. In der Regel aber ging es um Westverbindungen.

86


In angespannten Zeiten mußte er des öfteren ran. Nach der Verhaftungswelle gegen Bärbel Bohley, Freya Klier und andere im Januar 1988 war eine solche Zeit. Ich wollte eine Protesterklärung von Autoren veröffentlichen. Fünf Personen hörten sich meinen Vorschlag an. Der Bericht — offenbar in zahlreiche Nachbarakten wandernd — ist so verschlüsselt, daß jeder der fünf der Berichterstatter sein könnte. Die Person des Informanten agiert in solchen Berichten selbst:

«Rathenow hat sich als Verfasser dieses Textes nicht ausgewiesen, wie er sagte, um gegen ihn bestehende Vorbehalte nicht zum Tragen kommen zu lassen... Von den anwesenden Personen erhielt R. nur eine Unterschrift von dem operativ bekannten Opitz, Detlef... Die anwesenden operativ bekannten Rickhardt, Stefan und Mehlhorn, Ludwig befürworteten dieses Vorhaben Ra-thenows, unterschrieben jedoch nicht, weil sie keine Schriftsteller sind... Durch Schedlinski wurde geäußert, daß Rathenow so den Sicherheitsorganen zuarbeiten werde.» (28. i. 88)

Da hatte der Reiner recht. Aber wenigstens unterschrieben später ein paar tollkühne Jungautoren. Und der Text wurde bei einer Solidaritätsveranstaltung verlesen und in der FAZ gedruckt. Und in der DDR-Presse tauchten die Namen von Freunden als «feindliche Agenten» auf. Ich hatte Angst vor einer Verhaftung und leugnete am Telefon die Urheberschaft an dieser Erklärung - ganz dem Abgehörtwerden vertrauend.

Und richtig, sie schrieben mein Dementi mit. «Gerhard» mußte wieder ran.

«Nach nochmaliger Rücksprache mit dem IMB «Gerhard», dem der Text aus der FAZ vom 1.2.88 vorgelegt wurde, bestätigte der IM eindeutig, daß der Text mit dem als Protestbriefjunger Autoren, den Rathenow ihm u. a. Personen zur Unterschrift vorlegte, übereinstimmt. Damit ist eindeutig, daß Rathenow in dem Gespräch mit Jahn von sich ablenken wollte und die Aussage eine Schutzfunktion darstellte. Aus Gesprächen mit Jahn und Fuchs ist ersichtlich, daß Rathenow wegen des offensichtlich niedrigen Bekanntheitsgra-des der Unterzeichner vor einer Bekanntgabe zurückschreckte, da er sich nicht blamieren wollte.» (9.2.88)

87


Auch meine Verhaftung war im Januar 1988 vorbereitet worden. Es kam dann nur zu einer Rechtsbelehrung mit Strafandrohung. Warum eigentlich ? Die zahlreichen Seiten auf ein paar plausible Erklärungen zurückzustutzen fällt gar nicht so leicht. Wenn ich vereinfachend die Gründe in einem Satz zu bündeln versuche: Weil meine Präsenz in der Westöffentlichkeit schneller zunahm, als die Maßnahmen zur Einschränkung dieser Präsenz griffen.

Ich lese Reiner Schedlinskis Text zu seiner MfS-Mitarbeit mit Unbehagen. Wahrscheinlich lügt er nicht einmal. Natürlich gibt es keine Wahrheit an sich, aber R. S. verlor teilweise die Fähigkeit, die Realität wahrnehmen und wiedergeben zu können. An einer Stelle in seinem Text dringt das unverstellt hervor:

«Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem Tage alles gesagt habe; ich weiß nur noch, daß ich mich hinterher fühlte, als hätte man mir das Gehirn abgesaugt.».

Deshalb weiß er wohl nicht mehr, daß er über Westhonorare, Schmuggelware und hergestellte Drucksachen geredet hat. Zum Beispiel über die zitierten 50,-DM von West-Herausgeber Frank Blohm. R. S. berichtet über dessen geplante Anthologie. Blohm erhält für die DDR eine Einreisesperre. 1988 zur Buchmesse in Leipzig darf er wieder rein. Aus «Gerhards» Bericht vom 14.3.88: «Der IM wurde beauftragt, am Stand des Rowohld-Verlages [Rechtschreibung wie im Original - d.V.] nach Blohm, Frank zu fragen und Kontakt herzustellen.» So geschah es dann.

Schedlinski erledigte also auch Aufträge für die Stasi. «Die Beschaffung der Texte wurde eingeleitet.» So liest sich die lakonische Notiz am Schluß seines Berichtes vom 1.7.88, in dem R.S. von meinen Texten berichtet, die ich seiner (?) Zeitschrift eingereicht hatte.

Ich finde auch komische oder beschwichtigende Beobachtungen:

«Nach Einschätzung der Quelle beabsichtigt Rathenow selbst derzeit keinerlei demonstrative Handlungen in der Öffentlichkeit» (13.3.88). Korrekt, nur pflegte ich nie mit Bomben in der Tasche oder Plakaten in der Hand demonstrativ öffentlich zu wirken. Er hat also nichts bösartig erfunden, nur brav alles weitergemeldet, plus einiger heikler Mutmaßungen. Das verleiht ihm Glaubwürdigkeit und macht die Berichte brauchbar. 

88


Ein anderer IM, dem ich die Bösartigkeitsmedaille verleihen würde, verlangte dagegen nach psychiatrischer Behandlung meiner Person. Fazit: Das MfS schien ihn nicht ernst zu nehmen, man wollte Fakten und keine Haßtiraden. Man wollte ungefähr das, was «Gerhard» am 13.3.88 meldete.

«Corino traf im Pressekaffee u.a. mit Detlef Opitz (Berlin) und Rolf Schilling (Nordhausen) zusammen. In den frühen Abendstunden begab sich Corino mit Schilling in sein Stammquartier in Leipzig, um mit Schilling Tonbandaufzeichnungen für eine Rundfunksendung zu machen... Von Opitz wurde ein Text übergeben, der in einer der nächsten Kultursendungen gesendet werden soll.»

Die erwähnten Personen werden in ihren Akten sehen, was an Kriminalisierungsvarianten geplant worden ist. Karl Corino, dem Literaturredakteur des Hessischen Rundfunks, Texte zu übermitteln war illegal.

Ich sprach mit Detlef Opitz über Schedlinski. Innerhalb von Minuten erfuhr ich mehr über dessen MfS-Verstrickung als aus seinem Artikel. Warum ist er nicht in der Lage, die Tatsache mitzuteilen, daß er vor allem Stephan Bighardt, einen der Gründer von «Demokratie Jetzt», Detlef Opitz und mich bespitzeln sollte?

Opitz versucht seinen Freund Schedlinski zu verstehen und zu erklären. Dabei spüre ich eher, wie unerklärlich D.O. die Sache ist. Da er sich die Dimension dieser Selbstaufgabe eines Dichters kaum vorstellen kann (der Verrat anderer ist nur ein Element davon), versucht Opitz zu glauben, Schedlinski hätte nur das getan, was O. für die eigene Person an Versagen für möglich hält.

Schedlinskis Erinnerungsverweigerung verlängert das Leid seiner Freunde. Mich nervt es eigentlich, seitenlang Belege für seine Wahrnehmungsunfähigkeit heraussuchen zu müssen. Leute wie Schedlinski und Andersen verlängern die Existenz der DDR, sie binden Energien und blockieren damit eine Lektüre der MfS-Akten, die einer selbstkritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte dient. Zum Beispiel meiner.

Wenn ich von R. S. lese, er habe vor dem MfS keine andere Haltung zu seinem Umfeld gehabt als sonst, empfinde ich das als eine Verhöhnung. Er berichtet über viele Situationen und Personen abwertend. Entweder lügt er in den Berichten, oder er vergewaltigte sich in der Realität, indem er sich immer wieder verachteten Personen oder Situationen aussetzte, um über diese zu berichten.

Schedlinski demonstriert, wie einer ohne jede Überzeugung im zunehmenden Maße funktioniert. Zur Stasi gibt er an, «wenn ich sie schon nicht los würde, könnte ich vielleicht noch das Beste daraus machen.»

Schedlinski und Anderson lachen im Sommer 1990 einen Fernsehjournalisten aus, als er sie nach Schwierigkeiten mit dem MfS fragt. Unsere Generation hat damit nichts mehr zu tun — lautet sinngemäß ihre Antwort. 

Es fragt sich, welcher Betrug am größten war: Der gegenüber der Öffentlichkeit? Der gegenüber der «eigenen Generation»? Oder der gegenüber sich selbst?

89-90

#

 

www.detopia.de     ^^^^