Warlam Schalamow
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Schalamows Erzählungen gehören zu den herausragendsten Leistungen der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Der Autor geht darin einer Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunderte in der Tradition des Humanismus erzogen wurden, Auschwitz, Kolyma hervorbringen?
Schalamow zieht den Leser der Erzählungen aus Kolyma, deren erster Zyklus in diesem Buch versammelt ist, in die Gegenwart des Lageralltags hinein, ohne Hoffnung auf einen Ausweg: "Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt."
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matthes-seitz-berlin.de/buch/durch-den-schnee.html
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein.
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Inhalt Inhalt.pdf
Durch den Schnee (7) Auf Ehrenwort (9) In der Nacht (18) Zimmerleute (22) Die Einzelschicht (30) Das Paket (34) Regen (40) Der Kant (45) Marschverpflegung (52) Der Injektor (72) Apostel Paulus 74 Beeren 82 Die Hündin Tamara (86) Cherry Brandy 94 Kinderbildchen 102 Kondensmilch 107 Brot (113) Der Schlangenbeschwörer 123 Der tatarische Mullah und die frische Luft (132) Der erste Tod (142) Tante Polja (148) Die Krawatte (154) Goldene Tajga Waska Denissow, der Schweinedieb Serafim Der freie Tag Domino Ein Herkules Schocktherapie Das Krummholz Rotes Kreuz Die Juristenverschwörung Typhusquarantäne Was ich im Lager gesehen und erkannt habe Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein - Warlam Schalamows radikale Prosa Biografische Daten zum Autor Anmerkungen Glossar |
perlentaucher durch-den-schnee-erzaehlungen-aus-kolyma-band-1.html
In diesem Zusammenhang lobt er Gabriele Leupolds deutsche Übersetzung sowie ihre genauen Anmerkungen und ihr Glossar.
Grundsätzlicher Unterschied zwischen Solschenizyn und Schalamow sei, dass ersterer sich in seinem Werk für "große Ideen" und Politik einsetzte, Schalamow dagegen, desillusioniert und verbittert, vor allem seine Erlebnisse dokumentieren wollte. Martynova erhofft sich, dass durch die deutsche Publikation der "Erzählungen aus der Kolyma" sich der Blick für das "herzzerreißend vollendete" Leben und Werk dieses Schriftstellers öffnet.
zu Neue Zürcher Zeitung, 30.06.2007 Erfreut zeigt sich Rezensent Ulrich M. Schmid vom ersten Band einer auf sechs Bände angelegten Werkausgabe mit Schriften Warlam Schalamows. Denn damit werde der vor 100 Jahren geborene russische Schriftsteller endlich auch im Westen besser bekannt. Die "Erzählungen aus Kolyma" versteht er als Zeugnis des "grausamen Lebensschicksal" des Autors, der vierzehn Jahre Haft in sibirischen Lagern erleiden musste. Nicht verwunderlich scheint es ihm, dass diese Erzählungen zu Lebzeiten des Autors in der Sowjetunion nicht erscheinen konnten. Er hebt hervor, dass sich Schalamow gleichwohl immer gegen politische Vereinnahmung seines Werks im Westen gewehrt habe. Ausführlich berichtet Schmid auch über das prekäre Verhältnis Schalamows zu Alexander Solschenizyn, dem er vorhielt, den Archipel Gulag ästhetisiert zu haben und mit dem er deshalb brach. Schalamow hatte eine literarische und moralisch bewertende Darstellung der russischen Lager immer abgelehnt. Das Grauen, davon war er überzeugt, kann nur in einer dokumetarischen Schilderung erfasst werden, erklärt uns Schmid. Das scheint Schalamow auf beeindruckende Weise gelungen zu sein, umgibt die in "formbewusster" Prosa gehaltenen Texte für den Rezensenten doch eine "Aura höchster Authentizität".
Süddeutsche Zeitung von
13.03.2008 Warlam Schalamows Kurzgeschichten aus dem Gulag Deutsche Konzentrationslager haben ihren Platz in der Literatur. Von den Lagern des stalinistischen Gulag weiß man hingegen wenig. Vom einen auf das andere zu schließen, wäre ein Fehler. Seine Jugend abgezogen, bestand das Leben des Journalisten Warlam Schalamow aus zwei Teilen. Erst war er fast 18 Jahre lang in den Lagern des hohen Nordens eingesperrt. Dann, nachdem Stalins Tod 1953 ihm die Freiheit geschenkt hatte, verbrachte er viele Jahre damit, seine Erlebnisse auf den Begriff zu bringen. Wer den Körpersäften, die bei Jonathan Littell in die Gegend spritzen, literarisch nichts abgewinnen kann, darf sich Schalamow und seiner Übersetzerin Gabriele Leupold anvertrauen, die mit diesem Buch für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse 2008 nominiert ist. Angesichts des Bankrotts der humanistischen Ideale, der ihm im Gulag augenfällig wurde, hielt Schalamow die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Romanform für überholt. Drei Wochen dauerte es im Schnitt, bis ein Intellektueller in den Goldbergwerken im Osten Sibiriens auf seine Kenntnisse nichts mehr gab. Hunger, Gewalt und Arbeit bei mehr als minus 50 Grad Kälte zersetzten jedes Individuum. Undenkbar schien Schalamow die Vorstellung, einen Mann, dessen Denken erstarrt ist, reduziert auf den Wunsch nach Wärme, Schlaf und Brot, zum Protagonisten eines Romans zu machen. So ein Mann hat keine Sprache mehr. Er ist wie ausgelöscht.
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BRalpha, 2007 - Von Marina Farschid Neuübersetzung
Warlam Schalamow sagte über sich: Ich kann vieles nicht, aber eines ganz sicher: nicht mehr getäuscht werden. Meinem Blick entgeht nichts. "Er durchleuchtet dich, in Sekunden", erinnert sich Irina Sirontinskaja. Man konnte ihm nichts vormachen. Sie kannte ihn gut, besser als jeder andere. Sie war seine letzte Lebensgefährtin und engste Vertraute. Warlam Schalamow, der fast 18 Jahre im Gulag saß, hat ihr alles erzählt - von seinem Leben am Kältepol der Erde. Von Kolyma.
Irina Sirontinskaja: "Das, wovor er wirklich Angst hatte, war die Kälte. Die Kälte von minus 50 Grad, bei der jeder Rest von Menschlichkeit, vom Menschsein erfriert. Und dazu noch dieser endlose Hunger, diese Wassersuppe, die sie bekamen - mit der Ration von einem halben Hering dazu. Man fütterte und strafte sie wie wilde Tiere. Und nur, wenn du dich gut benommen hast, funktioniert hast, bekamst du ein Stück Brot."
Aus Kolyma, dem Fernen Osten Sibiriens, konnte niemand fliehen. Schalamow kam 1937 wegen sogenannter trotzkistischer Verschwörung in den brutalsten Gulag Sibiriens - mit der großen Terrorwelle Stalins. 14 Stunden arbeitete er täglich in den Goldgruben, im Kohlebergwerk, als Holzfäller. Mit bloßen Händen schlug er sich durch Schlamm und Eis. Das Gewehr im Nacken. Wer den Plan nicht erfüllte, wurde erschossen.
Irina Sirontinskaja:
"Im Lagerleben war nicht der Kopf das Wichtigste, was man schützen musste. Schalamow hat schnell gelernt, wie man überlebt. Wie man zuschlägt und sich verteidigt. Den Bauch musste man zuallererst schützen - vor Tritten und Messerstichen. Es war nackter Instinkt."
In diesem Menschenstrom am Kältepol der Erde verschwindet das Individuum. Es wird in drei Wochen zum Tier, schreibt Warlam Schalamow in seinen jetzt erstmals auf Deutsch erscheinenden Erzählungen, die wie keine anderen das Grauen des Gulags schildern:
"Er hatte einen menschlichen Zeh berührt. Ein großer Zeh ragte aus den Steinen hervor - im Mondlicht. Sie bogen dem Toten die Arme gerade und zogen ihm das Hemd aus. Er war noch ganz jung. Sie zogen ihm auch die Unterhosen aus. Die Wäsche des Toten wurde an Glebows Körper warm und schien schon nicht mehr fremd."
Schalamow beschreibt die Zersetzung des Menschen lakonisch, er erkundet nicht ihr Seelenleben, wenn sie gleichgültig töten oder jemanden retten oder sich zum Sterben niederlegen. Er moralisiert nicht, er belehrt nicht, sondern er untersucht.
1953 darf er die Kolyma verlassen und kommt wieder nach Moskau. Er hofft, dass seine Gedichte - von Pasternak hochgelobt - und später seine Erzählungen veröffentlicht werden. Doch nur ein paar Lyrikbände erscheinen.
Auch die anfängliche Freundschaft mit Solshenizyn zerbricht. Zu unterschiedlich sind ihre Ansichten. Ihre Wege trennen sich.
Solshenizyns "Archipel Gulag" erscheint im Westen. Wie auch einige Erzählungen Schalamows. Der distanziert sich davon - öffentlich. Er will, dass seine Erzählungen über Kolyma nur in der Sowjetunion erscheinen. Solshenizyn wirft ihm daraufhin Opportunismus vor.
Diesen Vorwurf hält Schalamows Lebensgefährtin bis heute für pure Heuchelei. Irina Sirontinskaja:
"Solshenizyn war doch derjenige, der Schalamow regelrecht ausgeredet hatte, seine Texte im Ausland, im Westen zu veröffentlichen. Er würde dann eine persona non grata und nicht mehr in der Sowjetunion erscheinen. Der wahre Grund war: Solshenizyn hatte Angst vor der künstlerischen Konkurrenz des Stärkeren."
Schalamow treibt ruhelos durch Moskau. Getrieben von den eigenen Erinnerungen, die niemand lesen will und darf.
Die Jahrzehnte der Haft haben ihn zu einem einsamen Menschen gemacht, unfähig, anderen zu vertrauen. Er ist zweimal geschieden, lebt von einer kleinen Invalidenrente, schreibt unermüdlich, ausgezehrt von Krankheiten. Sein Gleichgewichtssinn ist gestört, er wird schwerhörig und erblindet.
Am 15. Januar 1982 kommt er mit einer Erkältung und Fieber ins Krankenhaus. Er liegt im kalten Flur und wird gefragt befragt. Irina Sirontinskaja: "‚Welchen Tag haben wir heute? Wie spät ist es jetzt?', fragten die Ärzte einen Schwersthörigen und Blinden! Darauf konnte er nicht antworten. Wie auch?! Die schnelle Diagnose der Ärzte hieß: Demenz, ein Verrückter. Man steckte ihn in die Irrenanstalt. Er war wieder isoliert, ausgestoßen. Diesmal endgültig."
Zwei Tage später stirbt er. In der Nervenklinik. Die Obduktion ergibt: Er hatte eine Lungenentzündung. - Er hätte noch gerettet werden können.