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15. Die Welt braucht mehr Menschen

 

detopia-2019: Es ist nicht schön, dass der Autor einfach so ohne Warnung mit Belletristik beginnt.

 

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Der Nahverkehrszug nach Koblenz, Ankunft Hauptbahnhof 19.44 Uhr, ist schwach besetzt, aber so leer wie an anderen Wochentagen ist er nicht. Ein paar junge Leute sind samstags immer auf dem Weg in die Stadt. Noch eine halbe Stunde dauert die Fahrt. Im ersten Abteil sitzen Christian und Sven, beide 18 Jahre, und von recht unterschiedlichem Charakter. Sven hat seinen Walkman auf größte Lautstärke gestellt. Christian liest konzentriert in einem Buch. Er versucht es zumindest. Sonst ist niemand im Abteil.

Nach 10 Minuten wird es Christian zu dumm. Er bedeutet seinem Gegenüber mit energischer Geste, den Walkman etwas leiser zu stellen. Der tut erst einmal so, als verstünde er nichts: "He?" Er nimmt den Kopfhörer ab und fragt mit gespielter Unschuld: "Is was?". Christian muß lang und breit erklären, warum ihn das Geräusch beim Lesen stört, dann dreht Sven die Lautstärke etwas zurück und blickt Christian verschmitzt an: "Gehst wohl auch heute abend in die Disko?", fragt er. Natürlich nicht, das hatte er sich gleich gedacht. Zu laut ist es ihm dort, und angeblich zu viele Leute. Das ist es doch gerade, denkt Sven, und betrachtet den komischen Vogel mit seinem dicken Buch genauer.

Neugier ist eine starke Triebfeder, stärker als das lauteste Getöse im Walkman, und bald sind beide in ein Gespräch verwickelt. Christian hat Svens lockere Bemerkung, es gebe ohnehin bald zu viele Menschen, da sei die Disko eine gute Vorübung, wirklich ernst genommen. Da muß Sven natürlich noch einen draufsetzen: ,,Natürlich gibt es zu viele Menschen! Mehr als 5 Milliarden sollen es schon sein, und

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in China kleben sie schon zusammen wie die Ameisen." Christian blickt einen kurzen Augenblick zum Fenster hinaus, als wüßte er nicht, was er mit dem lockeren Typen gegenüber anfangen sollte, doch dann schaut er ihn mit etwas übertrieben fragendem Blick an: "So? Zu viele Menschen gibt es? Woran kann man das denn feststellen?"

Sven ist sofort klar, daß er darauf reagieren muß, und zum Glück fällt ihm ein guter Spruch seines Sozialkundelehrers ein: "Die Grenzen des Wachstums sind schon lange erreicht, und wir müssen uns endlich der Verantwortung für unser Raumschiff Erde bewußt werden!"

"Raumschiff Erde," murmelt Christian leise und blinzelt in die untergehende Sonne, die gerade hinter ein paar Bäumen hervorkommt: "Es ist ein schönes Raumschiff, unsere Erde, wenn man die schönen Bilder vom Space Shuttle sieht, herrlich blau und die weißen Wölkchen." 

Beide sind sich zum ersten Mal völlig einig, doch nur für kurze Zeit:

"Aber dein Vergleich ist ganz falsch, etwas stimmt daran nicht", fährt Christian mit schneidender Schärfe fort. "Er beweist nicht, daß es zu viele Menschen gibt. Laß mich mal nachrechnen? Skylab hatte etwa 75 Tonnen und 3 Mann Besatzung, nicht wahr?" Sven nickt zustimmend, obwohl er keine Ahnung hat. "Salut 19 Tonnen und 2 Mann. Bei Spacelab muß man das Shuttle eigentlich mitrechnen. Grob gerechnet kommt man etwa darauf, daß jedes Besatzungsmitglied 15 Tonnen Masse des Raumschiffs braucht, um darauf leben zu können. Dann ist das Raumschiff voll." 

Sven schaltet den Walkman ganz aus, während Christian weiterrechnet. "Die Landfläche der Erde umfaßt 150 Millionen Quadratkilometer, sagen wir einen Kilometer Tiefe, so viel kann man technisch nutzen, bei etwa 5 Gramm pro Kubikzentimeter spezifischem Gewicht, macht etwa ..."

Christian holt einen kleinen Taschenrechner aus der Jackentasche und tippt. "So, das muß man durch 5 Milliarden Menschen teilen. Also ich hab's, paß auf. Ein Raumschiff wiegt 15 Tonnen pro Mann Besatzung. Das Raumschiff Erde hat über 150 Millionen Tonnen technisch zugänglicher Masse pro Mann. Das ist das Zehnmillionenfache. Wenn die Weltbevölkerung auf das Zehnmillionenfache ansteigt, dann ist die Besatzung unseres Raumschiffs Erde im Verhältnis so groß wie auf den Raumschiffen, die wir heute bauen."


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"So ein Quatsch, so habe ich das doch nicht gemeint!", ruft Sven aufgeregt, "ich verstehe gar nicht, was die ganze Rechnerei soll."

"Was das soll? Wenn du einen Vergleich machst, dann muß er auch stimmen. Ein Raumschiff ist eng, und es sind meist gerade so viele Personen an Bord, wie überhaupt hineinpassen. Allein damit, daß man die Erde ein Raumschiff nennt, ist aber noch nicht bewiesen, daß auch die Erde randvoll bevölkert ist. Das soll die Rechnerei! Weißt du, im Prinzip hast du ja recht, die Erde ist im Weltraum von der Sonne und den anderen Planeten unvorstellbar weit entfernt, wie ein kleines Raumschiff, aber die Erde selbst ist auch ganz schön groß, da ist mehr Platz, als man denkt."

Sven ist baff: "Das Millionenfache der Weltbevölkerung! Also, das meinst du doch nicht im Ernst. Das kann sich doch keiner vorstellen. Bei dir pfeift's, Mensch, schon tausendmal mehr Menschen sind ganz unvorstellbar."

"Das stimmt nicht. Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht, und ich kann mir das recht gut vorstellen. Paß mal auf." Christian setzt sich kerzengerade und deutet mit dem rechten Zeigefinger auf die glatt ausgebreitete Fläche der linken Hand: "Stell dir einmal vor, du wärst ein Steinzeitmensch, ein Germane oder so etwas Ähnliches. Damals war die Bevölkerungsdichte etwa 1 Mensch pro 15 Quadratkilometer. Nun stell dir vor, da käme einer und erzählte dir, daß in 2000 bis 3000 Jahren hier mehr als 200 Menschen pro Quadratkilometer leben würden. Das ist mehr als das Dreitausendfache. Dann wärst du als alter Germane völlig von den Socken, nicht wahr, denn du könntest dir keine Hochhäuser, keine moderne Landwirtschaft, keine Kanalisation vorstellen; rein gar nichts von dem, was wir heute alles benutzen, könntest du dir vorstellen.


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Wenn man sich heutige Ballungszentren ansieht und modernste Technologien, Laser, Hydrokulturen in Treibhäuser, Gentechnik und so weiter, dann kann man sich schon vorstellen, daß irgendwann einmal auch 5000 Milliarden Menschen auf der Erde leben könnten. Falls die Menschheit sich alle 40 Jahre verdoppelt, wäre es in 300 Jahren soweit, vermutlich wird es aber länger dauern."

Sven schüttelt den Kopf: "Das sind doch reine Gedankenspiele. Schon heute kann ein Drittel der Weltbevölkerung nicht richtig ernährt werden."

"Mensch, du hast aber eine komische Logik. Daß so viele Menschen hungern, beweist doch noch lange nicht, daß man sie nicht sattmachen könnte, wenn man es richtig anstellt. Wir könnten heute locker 28 Milliarden Menschen ernähren, das habe ich in einem Buch des Bevölkerungswissenschaftlers Colin Clark gelesen. Und ein anderer, ich glaube, er heißt Roger Revel, hat sogar behauptet, daß die Erde 40 Milliarden Menschen ernähren kann."

wikipedia  Colin_Clark_- Ökonom 1905-1989

Sven wird lauter: "Die können viel sagen, das kann doch keiner nachprüfen. Kannst du das etwa nachprüfen. He?"

Betont ruhig antwortet Christian: "Natürlich kann ich das nicht in allen Einzelheiten nachprüfen, aber ich glaube, sie haben recht. Ich habe mir das so überlegt. Hier, also in den westlichen Industrieländern, benötigt man etwa 0,25 Hektar Ackerland, um einen Menschen zu ernähren. Allein Afrika hat 789 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbare Landfläche und könnte, wenn dort die Landwirtschaft genauso produktiv wäre wie hier, über 3 Milliarden Menschen ernähren. Wenn auf der Welt so viele Menschen hungern, dann liegt das an der wirtschaftlichen Unterentwicklung. Technisch könnte man den Hunger besiegen, aber es wird aus politischen Gründen nicht gemacht, das ist doch gerade die Schweinerei!"


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Sven ist nachdenklich geworden: "Meinst du wirklich, 3 Milliarden allein in Afrika? Sonne haben die da ja genug, da muß alles gut wachsen." Er erinnerte sich an eine Fernsehsendung, in der berichtet wurde, daß man - wo wußte er nicht mehr genau, auf alle Fälle in Afrika - zwei- bis dreimal im Jahr ernten konnte. Sollte dieser Bücherwurm etwa recht haben? Nein! 

"Da fällt mir ein, was ich schon lange sagen wollte. Das Problem ist ja nicht allein die Nahrung. Du vergißt ganz die begrenzten Rohstoffe und die Umweltzerstörung. Da liegt nämlich der Hase im Pfeffer."

"Jetzt wiederholst du nur in anderer Form das, was du vorhin mit dem Raumschiff Erde gebracht hast. Da mußt du dir eben mal die Mühe machen und nachrechnen, wie lange die bekannten Rohstoffe ausreichen. Damit hast du eine Untergrenze. Und dann nimmst du dir einmal eine Tabelle der chemischen Elemente her, eine die auch angibt, zu wieviel Prozent das jeweilige Element in der Erdkruste enthalten ist, und rechnest nochmal. Damit hast du eine obere Grenze, denn so viel kann man maximal von dem Element gewinnen, vorausgesetzt, man hat genügend Energie. Mach dir doch mal so eine Tabelle für die wichtigsten Rohstoffe."

Sven ist das zu sehr von oben herab gesagt, und er zischt zurück: "Deine großmäuligen Rechentricks überzeugen mich gar nicht. Ich kann was besseres tun, als Zahlenreihen auf Papier kritzeln!"

"Du hast doch angefangen," gibt Christian zurück: "Außerdem will ich ja gar nicht rechnen. Ich wollte eigentlich gerade sagen, daß es mit dem Rechnen nicht getan ist. Im Grunde ist es nämlich eine moralische Frage. Siehst du, ich habe gewußt, daß du mich so anguckst, wenn ich das sage. Ich meine das nicht so wie in der Kirche oder wenn Reden geschwungen werden." Während Christian das sagt, hat er Sven offen und zugleich mit großem Ernst angeblickt. Eine kleine Pause entsteht, und erst als Sven mit einem kurzen Blick zu verstehen gegeben hat, daß er bereit ist, weiter zuzuhören, fährt Christian fort: "Also das war so. 


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Abends kam im Fernsehen ein Bericht über die Hungerkatastrophe in Äthiopien mit schrecklichen Bildern. Die großen Augen der Kinder - ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich habe mir immer wieder gedacht, daß doch jeder Mensch ein Recht hat zu leben, und diese Menschen können doch nichts dafür. Wenn man das wirklich ernst nimmt, mit dem Recht auf Leben, dann darf man eigentlich das Wort ‚Überbevölkerung' gar nicht in den Mund nehmen, sondern kann nur von ‚Unterernährung' oder ,zu wenigen Nahrungsmitteln' sprechen! Am nächsten Morgen habe ich mich entschlossen, nie mehr ‚Überbevölkerung' zu sagen und zu überlegen, was man machen kann, damit kein Mensch unnötig verhungert." Nach einer kurzen Pause fügt Christian verschmitzt hinzu: "Erst danach habe ich mit den ,Rechentricks' angefangen."

Sven holt tief Luft, kratzt sich mitten auf dem Kopf und läßt sich an die Rücklehne des Sitzes plumpsen: "Und du bist wirklich der Meinung, ganz egal wie viele Menschen es gibt, wenn man will, dann kann man sie alle ernähren?"

"Im Prinzip stimmt das, wenn man es will und alle notwendigen Technologien dafür entwickelt und nutzt."

 

"Dann bist du wohl auch für Kernenergie und solche Sachen!" entfährt es Sven.

"Natürlich. Auf die Kernenergie kann man nicht verzichten, vor allem in den Entwicklungsländern. Sie muß nur ganz sicher gemacht werden."

"Das sagst du so, als wäre das alles schon gebongt. In Tschernobyl hat man doch gesehen, was passieren kann. Das Risiko kann man doch keinem aufzwingen!"

Nun muß Christian tief Luft holen, als müßte er sich gegen eine riesige Woge anstemmen: "Schon wieder, kaum hat man das Wort Kernenergie ausgesprochen, da kommt die ganze Litanei!"

"Ich habe ja noch gar nicht richtig angefangen", erwidert Sven mit einem breiten Grinsen.


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"Also ehrlich, ich weiß ja auch nicht, wie jede Schraube im Kernkraftwerk aussieht, und natürlich will ich nicht, daß sich Tschernobyl wiederholt. So etwas darf es einfach nicht geben. Aber die Wissenschaftler, die jahrzehntelang geforscht und Kernkraftwerke gebaut haben, sind auch nicht alle blöde. Und mich überzeugen sie allemal mehr als diese Anti-Kernkraft-Fachleute. Die meckern nämlich nur. Dabei ist die Frage doch... Also, stell dir vor, du sitzt mitten in der Wüste und bist halb verdurstet. Dein Auto ist völlig hinüber. Da kommt ein Lastwagen vorbei, der hat Sprengstoff geladen und nimmt dich zur nächsten Oase mit. Unterwegs erzählt dir der Fahrer, was er für einen heißen Ofen fährt, und daß vor drei Wochen einer seiner Kollegen mitsamt der Ladung in die Luft geflogen ist. Da würde doch nur ein Trottel aussteigen und sagen: ,Das Risiko ist zu groß, ich verdurste lieber!' Bei der Kernenergie wird aber heute genau so argumentiert."

detopia:: Man lese aber auch Herbert Gruhl, Der atomare Selbstmord.

Während sich der Zug den ersten Vororten von Koblenz nähert, wird es im Abteil immer munterer. Sven ist unterdessen mehr und mehr davon überzeugt, daß Christian ein unverbesserlicher Technikfanatiker sei, der mit genügend billiger Energie alle Probleme lösen wolle, und wird stinksauer, als Christian fragt, ob er denn persönlich die Verantwortung übernehmen und entscheiden wolle, wer leben dürfe und wer wegen Energiemangel sterben müsse. Trotz der hitzigen Debatte versäumt es Sven jedoch niemals, genau darauf zu achten, ob bei den kurzen Aufenthalten interessante Leute in den Zug einsteigen.

Während der Zug die Einfahrtsignale von Koblenz Hauptbahnhof passiert, meint Sven, man könne das Thema nicht völlig abhaken, und Christian versucht, ihm in aller Kürze zu beweisen, daß die Welt deshalb mehr Menschen brauche, weil die Arbeitskraft pro Kopf gewaltig steigt und heute ein einziger Arbeiter so produktiv ist wie zum Beispiel tausend Arbeiter im Mittelalter. Bei höherer Produktivität könne man einerseits mehr Menschen ernähren, brauche aber andererseits auch mehr. 

Svens Blick streift unterdessen den Bahnsteig entlang, einige von seinen Freunden warten bestimmt schon auf ihn. Beim Aussteigen fragt er Christian, ob er nicht doch mal mit in die Disko kommen wolle. Christian schüttelt den Kopf: "Zu laut!"

"Und zu überbevölkert" grinst Sven: "He, hast du eigentlich eine Freundin?" "Ja, wieso?" "Das ist bestimmt so eine mit Brille!" ruft Sven, während er winkend auf ein munteres Grüppchen vor dem Bahnhof zuläuft. Christian winkt auch kurz hinüber und geht nachdenklich weiter: "Hat der überhaupt kapiert, was ich gesagt habe? Naja, auf jeden Fall war das besser, als wenn ich mich die ganze Zeit über das Getöse aus seinem Walkman geärgert hätte."

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deto-2007: Solch ein fiktives Gespräch spricht nicht für die Wissenschaftlichkeit, welche Schauerhammer für sich in Anspruch nimmt. Es hier geht es um Glaubensfragen.  1. Mit "billige Energie" meint RS die Atomfusion. 2. Bis jetzt ist nicht zu vermuten, ob diese überhaupt jemals gelingen kann. 3. wenn sie denn einmal praxiswirksam würde, dann würde ein Unfall alle bisherigen derartige Geschehnisse übertreffen. 4. solange, bis es den Unfall gibt, wird diese "billige" Energie dazu benutzt werden, Wärme herzustellen, also die Atmosphäre aufzuheizen.

 

 

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