Prof. Hans-Joachim Schellnhuber  

Amerikanisches Roulette

 

Der Artikel erschien
im Juni 1999 in der Süddeutschen Zeitung,
auf den Web-Seiten des PIK,
und im Buch <Die Gegenwart der Zukunft> (2000 by Wagenbach)

  

2000

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Vorsetzer: 
Die Welt im globalen Treibhaus – Im großen Klimaspiel befindet sich unsere Zivilisation auf einem gefährlichen Weg: Sie könnte ein Kapitalverbrechen an unseren Lebensmöglichkeiten begehen.

 

Mit das Schönste am neuen Berlin sind die vielfältigen Fluchtwege, die aus dieser gänzlich unromantischen Stadt hinaus in die blaugrünen Landschaften Brandenburgs führen. Dort erstreckt sich der kräftige Faltenwurf der Natur­kulissen aus Gewässern, Waldhöhen und Auen bis zum Horizont, den an manchen Tagen ein Himmel von toskanischer Klarheit und Anmut überspannt. Das ist den regionalen Witterungs­bedingungen zu ver­danken, die im Übergangs­raum zwischen atlantischem und kontinentalem Klima eine wahre Champagner­luft herbeizaubern.

 

Das topo­graphische Design aber stammt von einer Naturbau­meisterin, die ihren schöpferischen Zenit vor etwa 20.000 Jahren erreichte – der letzten großen Eiszeit vor Entstehen unserer Zivilisation. Diese "Weichseleiszeit" schuf unter anderem das monumentale Warschau-Berliner Urstromtal, das noch heute durch unzählige Seen und Moore nachgezeichnet wird. Vor zwanzig Jahrtausenden war das Areal, das die deutsche Bundesregierung und ihren Apparat beherbergen soll, von dicken Eiszungen bedeckt. In den weiter südlich gelegenen Löß- und Frostschutt-Tundren grasten das Mammut und das wollhaarige Nashorn.

Wie konnte es zu jener "Mutter aller Klimakatastrophen" kommen?  

Die Wissenschaft hat diese Rätselfrage noch nicht vollständig gelöst, aber mit großer Wahrschein­lichkeit dürfte der rhythmische Wechsel von Warm- und Kaltzeiten in den letzten Jahrmillionen der Erdgeschichte mit winzigen Schwankungen der Bewegungs­form unseres Planeten zu tun haben. Beispielsweise verändert sich die Neigung der Erdachse zur Sonnen­umlaufebene mit einer streng physikalisch bestimmten Periode von 40.000 Jahren, und je stärker die Achsen­neigung, desto ausgeprägter sind die Jahreszeiten – vor allem auf den Kontinenten der nördlichen Hemisphäre.

Wie aber solche externen Mini-Störungen des planetarischen Betriebsfriedens sich schließlich zu veritablen Existenzkrisen der irdischen Lebenswelt aufschaukeln konnten (mit Eispanzern, die zum Beispiel Skandinavien tief in die Erdkruste drückten, mit dem Rückzug der Meere auf ein um mehr als 100 Meter tieferes Niveau), ist immer noch Gegenstand heißer Debatten. Das Geheimnis wird sich wohl erst mit der Entschlüsselung der komplexen Wechsel­wirkungen zwischen Atmosphären­dynamik, Meeresströmungen, biologischen Regelungs­funktionen und geologischen Prozessen im Gesamt­system Erde offenbaren. Mit dieser "Erdsystem­analyse" ist eine Jahr­hundert­aufgabe für die künftige Forschung benannt.

Vom reinen Erkenntnisstandpunkt aus kommt hier ein unbedachter (und bedenkenloser) Großversuch gelegen, den der industrialisierte Teil der Menschheit seit Mitte dieses Jahrhunderts mit dem Weltklima durchführt: Durch den Verbrauch von fossilen Energieträgern wie Öl oder Erdgas werden inzwischen jährlich mehr als 20 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Luft geblasen; hinzu fügen sich Milliarden Tonnen von ähnlich wirkenden "Treibhausgasen" aus Landwirtschaft, Chemieproduktion und Müllmanagement. All diese Gase verdienen sich ihren Namen durch die verblüffende Fähigkeit, die von der Erdoberfläche ins kalte Weltall strebende Wärmestrahlung wieder zum Boden zurückzuwerfen und damit ein aufgeheiztes Treibhausklima für den ganzen Planeten zu erzeugen.

Das "Experiment" hat bereits beachtliche Reaktionen ausgelöst, denn seit den achtziger Jahren purzeln die Temperatur­rekorde rund um den Globus, und der Haushalt der Natur scheint in vielen Bereichen gründlich durch­einander zu geraten. Eine penible Auswertung des Versuchsprotokolls wird sicher wichtige Hinweise auf die Manipulier­barkeit der Erdatmosphäre und die Ursachen der erwähnten Kaltzeit-Warmzeit-Achterbahn der Vergangenheit liefern.

Aber da sind ja noch einige Milliarden von unfreiwilligen Versuchskaninchen – die Menschen auf diesem Planeten, welche zwar kaum selbst zur Verstärkung des Treibhauseffekts beitragen, aber die Auswirkungen dieser tiefgreifenden Transformation der Natur mit voller Wucht spüren werden. Zu nennen sind vor allem die Bewohner der sogenannten Entwicklungsländer, deren Verbrauch an Primärenergie vielleicht nur ein Tausendstel des durchschnitt­lichen US-Amerikaners beträgt, und die kaum oder gar nicht für die möglichen Konsequenzen des menschen­gemachten Klimawandels gerüstet sind.

Über diese Konsequenzen wird noch zu reden sein. Zuvor möchte ich aber zwei Gesichtspunkte* von herausragender umweltpolitischer Bedeutung darstellen.

* (d-2005:)  Nr. 1 würde ich bezeichnen mit "Klimaskeptiker" und Nr.2 mit "Klimamodelle".

 

1.

Nachdem sich die Medien noch bis vor circa fünf Jahren gegenseitig bei der Schilderung von Schreckensszenarien über die unmittelbar bevorstehende, unabwendbare "Klimakatastrophe" übertrumpften, wurde die öffentliche Debatte zuletzt von den sogenannten "Klimaskeptikern" beherrscht. Obwohl es sich dabei hauptsächlich um eine diffuse Gruppe von Lobbyisten, Journalisten und Amateurwissenschaftlern handelt, die kaum jemals originäre Forschungs­leistungen zum Thema erbracht haben, ist es dieser Koalition hervorragend gelungen, den Stand unseres Wissens in einem falschen Licht erscheinen zu lassen.

Insbesondere wurde der Eindruck erweckt, daß sich die Fachleute in der Frage der grundsätzlichen Manipulierbarkeit des Weltklimas durch den Menschen zutiefst uneinig wären. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, denn praktisch alle international ausgewiesenen Klimawissenschaftler erwarten eine durchgreifende Destabilisierung der bisherigen Atmosphären­dynamik — wenn wir auf dem gegenwärtigen sozioökonomischen Entwicklungspfad verharren. Dieser Konsens hat sich paradoxerweise in den letzten Jahren, also im Kreuzfeuer der Skeptikerpolemik, deutlich erhärtet.

Und so lautet der Urteilsspruch der Wissenschaft: "Wer die chemische Zusammensetzung der Lufthülle im Sinne einer effektiven Verdoppelung der prä-industriellen Kohlendioxidwirkung verfälscht, wird mit einer globalen Erwärmung von bis zu 3,5 Grad Celsius, aber nicht unter 1,5 Grad, bestraft."

Zur Bewertung dieses Verdikts sei vermerkt, daß die eben angesprochene Weichseleiszeit mit einer durchschnittlichen Abkühlung des Planeten um allerhöchstens 6 Grad Celsius einherging.

Doch damit nicht genug: "Wer in einem besonders schweren Fall der fortgesetzten Emission von Treibhausgasen aus Industrie, Verkehr, Haushalten, Landwirtschaft usw. die effektive Kohlendioxidwirkung sogar vervierfacht, muß mit einem Strafmaß von bis zu zehn Grad Celsius Erwärmung rechnen."

Ganz nüchtern betrachtet befindet sich unsere Zivilisation gegenwärtig auf dem direkten Weg zum Umwelt­kapital­verbrechen, da der Trend zur Anreicherung der Atmosphäre mit Treibhaus­gasen ungebrochen ist (aktueller CO2-Zuwachs pro Jahr: 3,5 ppm). Und eine Erhöhung der globalen Mitteltemperatur um etwa ungefähr zehn Grad bis zum Ende des übernächsten Jahrhunderts würde alle natürlichen Hitzewallungen von Mutter Erde seit der Eroberung des Festlands durch das höhere Leben als marginale Unpäßlichkeit erscheinen lassen. Diesem Eingriff in die nun schon vier Gigajahre währende Schöpfungs­geschichte kann nur durch eine entschlossene Klimaschutzpolitik vorgebeugt werden – so man dies will.

 

2.

Auch wissenschaftliche Urteile werden zumeist nicht im Zustand völliger Gewißheit gefällt, und der Indizienprozeß ums Klima kann durchaus Justizirrtümer hervorbringen. Das Fatale an der Situation ist der Umstand, daß erst der Vollzug der Tat unter den Augen der Öffentlichkeit absolute Sicherheit bringen würde – aber für diese Demonstration müßte das Ableben des Opfers billigend in Kauf genommen werden. Deshalb werden bei der Verhandlung Sach­verständige hinzugezogen, die Prognosen über die vermutliche Entwicklung der Opfer-Täter-Beziehung abgeben sollen.

In Sachen Klima sind diese Sachverständigen nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Silizium und Metall zusammen­gesetzt. Es sind die elektronischen Höchstleistungsrechner der einschlägigen Forschungszentren, die virtuelle Klimarealitäten der Zukunft simulieren. Die dafür erforderlichen Programme werden aus Modellen des komplexen Klimasystems erzeugt, welche wiederum eine bunte Mischung aus physikalisch-chemischen Grundgesetzen und groben Näherungsbeschreibungen für bisher kaum verstandene Teilprozesse darstellen. Diese Modelle sind also (noch) mit zahlreichen Mängeln behaftet; dennoch repräsentieren sie die Summe unseres heutigen Wissens über das Klimageschehen in der bestmöglichen Weise.

 

Im übrigen ist die heutige Prognosesicherheit bereits zu groß, um das Unterlassen von klimapolitischen Maßnahmen weiterhin als verantwortungs­bewußtes Warten auf entscheidende Erkenntnisse kaschieren zu können. Ganz im Gegenteil dürfte fast allen Akteuren im großen Klimaspiel klar sein, daß die Atmosphärendynamik durch den zivilisat­orischen Impuls bereits aus der natürlichen Bahn geworfen worden ist und daß der dadurch provozierte Ausflug in eine neue Umwelt nicht mehr gestoppt, sondern bestenfalls nur noch in akzeptablen Grenzen gehalten werden kann. Denn das gekoppelte Atmosphäre-Ozean-Vegetation-System ist eigentlich außerordentlich träge, ja nachgerade "gutmütig". Einmal in Bewegung geraten, wird es sich jedoch erst in den nächsten tausend (!) Jahren in ein neues Gleichgewicht zurecht­rütteln. 

 

So gesehen ist "die Gegenwart der Zukunft" nirgendwo so greifbar wie beim von Menschen gemachten Klimawandel. Wir wissen mit großer Wahrscheinlichkeit, was auf uns zukommt; wir unternehmen allerdings nichts Erfolg­versprech­endes dagegen, weil das Problem erst in 30 bis 50 Jahren dramatische Züge annehmen wird und weil die populistische Staatskunst des ausgeh­enden Millenniums offenbar nicht mehr die Kraft für Langfrist­strategien aufzubringen vermag.

Dies erinnert an ein Sujet, das in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht immer wieder vorkommt: Der Held erfährt auf übernatürliche Weise, wann und wie er dereinst zu Tode kommen wird. Ausgestattet mit dieser Information unternimmt er Verschiedenes, um dieses Schicksal abzuwenden. Aber er tut es so töricht, daß er am Schluß genau den vorher­bestimmten Tod stirbt......

 

Doch wie wird das Schicksal von Natur und Zivilisation in einer deutlich wärmeren Welt aussehen?  

Ich will versuchen, auf diese Frage keine Alibiantwort zu geben, sondern tatsächlich eine Reihe von nicht unplausiblen Erwartungen benennen. Dabei ist es sinnvoll, zwischen zwei Arten von Effekten zu unterscheiden, nämlich die stetig sich entfaltenden Klimawirkungen und die sprunghaften Konsequenzen des Klimawandels. Mit aufwendigen Computer­simulationen lassen sich Auswirkungen der ersten Kategorie leidlich abschätzen, insbesondere für die wichtigen Bereiche Ökosysteme, Wasserwirtschaft, Landwirtschaft, menschliche Gesundheit und Küstenmanagement.

So findet man beispielsweise, daß eine Fortsetzung des heutigen Erwärmungstrends einen tiefgreifenden Umbau der Landvegetation und der marinen Lebenswelt zeitigen wird. Bestands­grenzen von Baumarten werden ebenso zu wandern beginnen wie wärme- und kälteliebende Tierarten – falls für diesen globalen Flüchtlingszug überhaupt Migrations­korridore (zum Beispiel über die Alpen) zur Verfügung stehen. Außerordentlich zweifelhaft ist es, ob die Korallengärten rund um den Äquator fortbestehen können, da ihr Überleben bereits durch die Temperatur­schwankungen im Verlauf eines gewöhnlichen El-Niño-Ereignisses stark gefährdet ist. Die Konsequenzen einer solchen Entwicklung – in Verbindung mit dem Anstieg der Meeresspiegel infolge wärmebedingter Ausdehnung – für die Stabilität vieler Küstenlinien sind nicht abzusehen.

Auf die Kontinente der Erde wird insgesamt mehr Regen fallen, denn die Verdunstung aus den subtropischen Meeren nimmt mit dem Temperatur­anstieg zu. Dies kann sich für bisherige Dürregebiete als segensreich erweisen, in vielen Regionen wird es dagegen zu deutlich erhöhten Überschwemmungs­risiken kommen: Schließlich haben sich die Flüsse ihr Bett unter jahrtausende­lang recht stabilen Niederschlags­bedingungen gegraben, und unser gesamtes Hochwasser­schutzsystem orientiert sich am Status quo. Es ist ja die Änderung der Klima­bedingungen schlechthin, die einen ungeheuren Anpassungs­druck auf die meisten Sektoren und Systeme aufbauen und exorbitante Kosten verursachen wird.

Alle seriösen Studien weisen darauf hin, daß sich die landwirtschaftliche Gesamtproduktion auf dem Globus mit dem Klimawandel erhöhen ließe. In dieses Kalkül geht als entscheidender Faktor die Tatsache ein, daß die Kohlendioxid­emissionen der Zivilisation den Pflanzen mehr Nahrung für ihr photosynthetisches Wachstum liefern. Aber die Studien zeigen auch, daß nur die Landwirt­schafts­giganten der heutigen Welt (also die USA, Kanada, die EU, die Ukraine etc.) von dieser Entwicklung profitieren werden, während die agrarischen Notstandsländer (also Äthiopien, Burkina Faso, Pakistan, Nordostbrasilien usw.) weiter empfindliche Einbußen bei der Lebensmittel­produktion erleiden müssen. Mit anderen Worten, die Nord-Süd-Schere öffnet sich noch weiter.

Weniger verheißungsvoll für die reichen Industrieländer sind die Perspektiven für die Gesundheitsverhältnisse in einer deutlich wärmeren Welt. Die Ausbreitung von tropischen Krankheiten ist gewissermaßen beschlossene Sache. So wird sich der Flächenanteil der malariagefährdeten Gebiete von gegenwärtig 45 Prozent auf über 60 Prozent erhöhen. Ob die durch den Klimawandel mobilisierten tropischen Ökosysteme außer Aids noch weitere mikro­organismische Überrasch­ungen bereithalten, ist Gegenstand aufkeimender Spekulationen.

 

Dieses überwiegend düstere Gemälde der Welt im Treibhaus stimmt die Fachleute aber nicht wirklich melancholisch, denn das Vertrauen in die menschliche Anpassungs­fähigkeit ist groß. Was uns Experten wirklich Sorgen bereitet, ist die Möglichkeit von abrupten und irreversiblen Ereignissen im Zuge des globalen Klimawandels. 

Mein Kollege Stefan Rahmstorf wird zu diesem Problemkomplex in der nächsten Folge dieser Serie ausführlich Stellung nehmen.*

Hier sei nur ein Beispiel erwähnt: Die Kulturen in Süd- und Südostasien sind auf Gedeih und Verderb dem Monsun ausgeliefert, genauer: der mit den Sommerwinden einsetzenden und zumeist sintflutartigen Regenzeit. Der Monsun schädigt und verdirbt und ertränkt; sein Ausbleiben aber ist eine Strafe der Götter, welche die Existenz­grundlage einer Agrargesellschaft zerbricht. Die neuesten Modell­rechnungen liefern Hinweise darauf, daß sich die gesamte Monsundynamik im Verlauf des menschgemachten Klimawandels in ihrem Charakter verändern könnte; daß sich extreme Schwankungen in Stärke und Verteilung dieser jährlichen Sintflut ausformen werden. Die volkswirt­schaftlichen Auswirkungen wären dramatisch.

Die Monsunprognose ist nur eine Illustration der drastischen Umbrüche, die ein ungebremster zivilisatorischer Umbau der Atmosphäre provozieren könnte. Die Wahrscheinlichkeit, daß einige dieser "Special Effects" von der Natur auch realisiert werden, ist leider sehr hoch.

So betrachtet ist das Klimaspiel der Menschheit wie "Amerikanisches Roulette": Diese verschärfte Form der gesell­schaft­lichen Unterhaltung, bei der die Mitwirkenden die Trommel eines Revolvers rotieren lassen, der mit fünf Kugeln geladen ist (statt nur mit einer wie beim russischen Roulette), und sich anschließend den Lauf an die Schläfe setzen, stammt aus irgendeinem (ziemlich schlechten) B-Movie. Der Held des Films hat übrigens Glück im Unglück; er überlebt das Spiel — mit einem dauerhaften Gehirnschaden. 

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*  "Die Welt fährt Achterbahn" - Süddeutsche Zeitung, 3./4. Juli 1999 - Von Stefan Rahmstorf 

 

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