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Prolog

 1.  Abschied und Wiederkehr

 

11-18

Am 25. Februar 2010 starb meine Mutter. Ihr Name war Erika, und sie durfte (oder musste?) 82 Jahre alt werden. Kindheit und Jugend ihrer Generation waren geprägt von den großen europäischen Katastrophen und den unfassbaren deutschen Entgleisungen des 20. Jahrhunderts: Krieg, Ruin, Nazi-Wahn, Holocaust, Zerstörung. Es folgten Strafe und Scham. Und schließlich verstohlenes Zurückkriechen in die Menschheitsgemeinde – zu beachtlicher Freiheit und erstaunlichem Wohlstand unter dem noblen Schutzdach des Grundgesetzes. Mit 17 Jahren verlor Erika ihren Verlobten in einer der Kesselschlachten an der Ostfront; mit 18 wurde sie bei einem Bombenangriff der Westalliierten verschüttet; mit 19 erlebte sie ihre erste Schwangerschaft.

Die Begräbniskirche bei Ortenburg war wenige Tage nach ihrem Tod noch winterkalt, doch sanft von Frühlingslicht erfüllt, und die Sandwege über den Friedhof draußen atmeten sogar schon Sommerwärme. Am offenen Grab der Familie Schellnhuber wurden Reden wie an fast allen Gräbern gehalten, die sich vergeblich mühten, der Verstorbenen gerecht zu werden oder den Hinterbliebenen Trost zu spenden. Erikas Leben war entlang tiefer Bruchlinien verlaufen; als am schwierigsten erwies sich sogar das letzte Daseinsdrittel, unter scheinbar stabilen äußeren Bedingungen. Aber meine überwältigende Erinnerung an sie ist die einer hübschen, fröhlichen, zärtlich liebenden, jungen Mutter, die ich uneingeschränkt widerliebte. Nicht zuletzt deshalb waren die glücklichsten Jahre meines bisherigen Lebens die meiner Kindheit, also etwa die Zeit zwischen dem dritten und dem zehnten Geburtstag. Die Magie dieser Zeit begleitet mich noch heute, wenngleich sie nun tief im Bewusstseinshintergrund gelagert erscheint. Und der Tod meiner Mutter hat diesen Hintergrund noch weiter weggestoßen, wohl über den Horizont der seelischen Rückrufbarkeit hinaus.

Aber stimmt das wirklich, habe ich meine Kindheit nicht schon längst – Stück für Stück, in kleinen, unbarmherzigen Schritten – verloren? Ich kam im Haus meiner Eltern zur Welt, das seit zweihundert Jahren im Besitz unserer Familie ist und das vor vielen Jahrhunderten als erstes öffentliches Schulgebäude der reichsfreien evangelischen Grafschaft Ortenburg in Niederbayern aus Stein, Lehm und Holz errichtet wurde.

In diesem Haus bin ich auch groß geworden. Es war unbestritten das schönste der ganzen Gemeinde, stattlich-heiter, auf einer ummauerten Anhöhe platziert, von wildem Wein umrankt und von riesenhaften Birnbäumen, Berberitzenhecken und Gemüserabatten umgeben. Der grüne Sommerduft der Tomaten, die meine Großmutter leidenschaftlich kultivierte, und der braune Winterduft des schweren Weihnachtsgebäcks, das ich fabrizieren half, durchzogen die Kinderzeit. Unvergesslich meine Ausritte als kleiner Junge auf dem ungesattelten Ochsenrücken zu unseren Weizen- und Roggenfeldern, durch Streuobstwiesen und sandige Hohlwege, in der flirrenden Augusthitze voller Lerchengesang. Unvergesslich das Abendläuten der Pfarrglocken im Herbst, das meinen Bruder und mich von den Anhöhen rings um Ortenburg nach Hause rief, wo meine Mutter bereitstand, um uns den Schmutz eines endlosen, beglückenden Nachmittags in der nur halb gezähmten Natur abzuschrubben. Das Leben war schön, auch wenn meine Mutter oft mit der Sorge schlafen ging, woher wohl am nächsten Tag das Essen für die Familie kommen würde.

Dann ereignete sich das »Wirtschaftswunder«. Seine Vorboten waren schon Ende der 1950er-Jahre im Rottal unterwegs; ab 1960 brach es dann unwiderstehlich und flächendeckend über meine Heimat herein. Die Leute hatten plötzlich Geld oder bekamen günstige Darlehen. Große Traktoren tauchten auf und ersetzten Zugochsen und Pferde. Autos begannen unregelmäßig die Straße vor unserem Haus zu befahren, die wir Kinder doch als ewiges Lehen zum Zweck des Murmelspielens im Juni und des Schlittenfahrens im Januar ansahen. Lagerhäuser für die Speicherung der Ernte und für die Verteilung von Kunstdünger und Pestiziden wurden errichtet; Telefon­masten und Trafohäuschen wuchsen aus dem Boden.

Und da war vor allem die große bayerisch-vaterländische Flurbereinigung, welche die liebenswürdig verwinkelte, jahrtausendgereifte Bau-ernlandschaft in eine Industriebrache überzuführen begann – aufgeräumt, über­sichtlich, rechteckig, reizlos.

Als Kind begriff ich nicht, was da vor sich ging. Ich wusste nichts vom »FlurbG« – dem am 14.07.1953 verabschiedeten Bundesflurbereinigungsgesetz – oder vom »AGFlurbG« – dem am 11.08.1954 verabschiedeten Bayerischen Gesetz zur Ausführung des Flurbereinigungsgesetzes. Und schon gar nichts von den Römischen Verträgen, worin die sechs Kernstaaten der EU im Jahr 1957 einen gemeinsamen Wirtschaftsmarkt und die »Modernisierung der Agrarstrukturen« beschlossen. Ich erlebte nur, wie Hecken und Baumgruppen gerodet, Dorfteiche zugeschüttet und Trampelpfade asphaltiert wurden. Mein Paradies zerbröckelte unter den dünnen, unermüdlich die Gegend durchstreifenden Kinderbeinen.

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Der Übergang zur kleinindustriellen Landwirtschaft vor den Toren des Marktfleckens Ortenburg wurde widergespiegelt und begleitet von einem beschleunigten baukulturellen Erosionsprozess in seinem Innern: Mit den neuen Verdienstmöglichkeiten des »Wirtschaftswunders« – auch außerhalb des Agrarsektors – entstanden Anlagen und Infrastrukturen von zeitloser Hässlichkeit: Esso-Tankstellen, VW-Werkstätten, Sandgruben, Steinbrüche, Zementfabriken, Getreidesilos, lang gestreckte Molkereien, Buswendehämmer sowie Einkaufsläden, Gaststätten und Cafés im grotesken Pseudo-Bauhausstil. Mit dem wachsenden Wohlstand erfasste der Erneuerungsrausch alsbald auch – ja, vor allem – die private Wohnsubstanz: In den Jahren zwischen 1960 und 1990 schossen in den traditionellen Obstgärten der Ortenburger Bürger Ein- und Zweifamilienhäuser mit breiten Auffahrten, Doppelgaragen und Ölzentralheizungen aus dem Boden. Schließlich sollte jedes der Kinder seinen eigenen Hausstand gründen können, ein früher undenkbarer Luxus.

An so etwas wie Energieeffizienz verschwendete man nicht den flüchtigsten Gedanken – das spottbillige Erdöl schwappte ja aus den Wüstenbohrlöchern Arabiens bis nach Niederbayern.

Und an das reiche Formenerbe des Rottals, wo sich immer noch baumeisterliche Juwelen in versteckten Winkeln wie Reisbach finden, erinnerten höchstens noch architektonische Demütigungen wie ausladende Balkone im pervertierten Voralpenstil.

Auf den bisher freien Flächen innerhalb der Ortschaft – unsere Vorfahren wussten genau, warum sie diese offen gehalten hatten – entstanden Neubausiedlungen wie Fettklumpen im Herzgewebe eines kranken Menschen.

Dafür begannen die alten, wetterdunklen, holzschindelverkleideten Wohnhäuser zu verfallen, wenn sie nicht abgerissen oder entstellend »renoviert« wurden. Einige dieser für die Grafschaft Ortenburg so charakteristischen Gebäude stehen noch heute, von wenigen Liebhabern erhalten und gepflegt. Ihr Anblick ist wie ein Stich in den Leib, weil vor Augen geführt wird, was einst war und was noch sein könnte.

Mit jedem Besuch in meinem Heimatort über die letzten vier Jahrzehnte wurde mir der Verlust meiner Kindheitsidentität durch den Verlust ihres Schauplatzes deutlicher: Mit meinem Vater – auch er ist nicht mehr am Leben – unternahm ich Wanderungen zu einst vertrauten Stätten, aber wir mussten uns immer weiter vom Ortskern entfernen, um noch fün-dig zu werden. Mein Geburtshaus selbst habe ich längst von meiner persönlichen Kulturerbeliste gestrichen, denn sein großzügig-umständlicher Charme ist inzwischen durch funktionalen Umbau ausradiert, seine wundervolle Baumentourage schon lange von Axt und Säge niedergestreckt.

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Der Tod meiner Mutter erschien mir wie eine letzte und endgültige Verlustbestätigung für alles, was mir dort kostbar war. Nachdem vier kräftige Männer das Grab zugeschaufelt hatten, begab sich die verhältnismäßig große Trauergemeinde zum »Leichenschmaus« – wie habe ich diesen Begriff immer gehasst! – in einen nahe gelegenen Gasthof hoch über der Ortschaft. Anschließend stieg ich mit meiner Frau die Anhöhe ganz empor, um vor der langen Rückreise noch ein wenig frische Luft zu atmen, vor allem aber auch, um meine Gefühle zu ordnen. Bald lag das Wirtshaus, das sich vor vielen Jahren noch einer altertümlichen Kegelbahn im Schatten grandioser Walnussbäume rühmen konnte, tief unter uns. Die Dämmerung war nicht mehr fern, die Luft erstaunlich mild und von einer kristallenen Klarheit: Föhnwetter …

Wir wanderten immer weiter die steile Straße hinan, vorbei am Gefallenendenkmal im Zentrum eines kleinen Fliederhains, hinauf bis zum Kamm der Hügelkette. Ich vermied es bewusst, mich umzudrehen und zurückzublicken, denn irgendwie hoffte ich, ganz oben der Vergangenheit ein Bild zu entreißen, das ich seit vielen Jahrzehnten wie einen unhebbaren Schatz in mir trug. Endlich, am höchsten Punkt des Weges, wandte ich mich rasch um, für jede Enttäuschung gewappnet – doch wahrhaftig, da lag SIE: In einer zauberhaften Melange aus schwindendem Sonnenlicht und aufsteigendem Vollmondlicht erstreckte sich, vom Anfang bis zum Ende des südlichen Horizonts, die Kette der Bayerischen Alpen! Die Konturen waren so scharf, dass man jeden Felssturz zu erkennen meinte, die Farben so tief, dass man Zwiesprache mit den weiß-blauen Gletscherzungen halten wollte. In diesem Moment war ich ganz und gar heimgekehrt, instantan zurückversetzt an jenen heißen Sommernachmittag vor 55 Jahren, als ich an der Hand meiner Mutter an exakt derselben Stelle vom Anblick der Alpen überwältigt wurde …

Man muss wissen, dass das Gebirge rund hundert Kilometer Luftlinie von Ortenburg entfernt liegt und sich nur ganz selten aus dem Dunst Niederbayerns heraushebt. Ich habe dieses Schauspiel nur einige wenige Male in meiner Kindheit erlebt, aber nie so schön wie damals im Juli – und jetzt wieder. Ich wandte mich nach Norden, wo als behäbig-dunkel-grüne Gegenmasse die Höhen des Bayerischen Waldes aufragten. Was für ein erhabener Standort, was für ein erhabener Augenblick, was für eine erhabene Landschaft! Die Hügel des Rottals schwappten wie gutmütige Wellen zwischen den zwei Gebirgszügen hin und her, mit bezaubernden Schaumkrönchen aus Waldinseln, Dorfhaufen und zwiebelgekrönten Sakralbauten. Doch bei näherem Hinschauen gewann das Verlustempfinden wieder Oberhand über die Wiedererkennungseuphorie:

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Selbst im Dämmerlicht waren sie überall auszumachen – die Transformationsnarben der Flurbereinigungen; die Amputationsstümpfe der Wohlstands­operationen; die offenen Wunden einer Landwirtschaft, welche sich irgendwo zwischen kleinteiliger Traditionskultur und hoch rationalisierter Maisproduktion verirrt hat; die überdimensionierten Schneisen von Umgehungsstraßen, die versuchen, uns den Anblick von allem zu ersparen, was an Kostbarem auf dem fruchtbaren Boden zwischen Donau und Inn steht.

Und dennoch ist das geographische Rückgrat dieser Landschaft ungebrochen, schlägt ihr biologisches Herz kräftig weiter, fällt noch immer der Seidenregen des Rottals im leuchtenden Juni und im edelgrauen November. Was für meine, in jenem besonderen Moment wiedergefundene Heimat gilt, lässt sich in ähnlicher Weise über die Heimat der Menschheit sagen – den Planeten Erde. Auch in diesem viel größeren Zusammenhang habe ich einmal persönlich einen magischen Augenblick erlebt: Im April 1974 stand ich – ebenfalls in der Abenddämmerung – auf einer Anhöhe in Zentralafrika, die einen geradezu unbeschreiblichen Rundblick über die Riesenlandschaft zu meinen Füßen gestattete. Nach Westen erstreckte sich das Kongobecken, ein dampfendes, schleimiges, grünes Urwaldgewoge, in das die Sonne zyklamrot hineinstürzte. Fast glaubte man, ein leises Zischen zu hören, einen Urton aus dem Geräuschkanon der juvenilen Welt. Nach Osten öffnete sich der Zentralafrikanische Graben, dessen Savan nen grund mit den Leibern unzähliger Elefanten gesprenkelt war. Im Norden schimmerte die Fläche des Edward-Sees, und im Gegengebirge der Virunga-Vulkane brannte wie ein Drachenauge der Nyiragongo, der Feuer, Asche und Rauch geiferte und die ganze umgebende Kulisse in glut-böses Licht tauchte.

Wie ich damals dorthin gekommen bin, ins »dunkle Herz Afrikas«, tut hier nichts zur Sache, aber diesen Anblick trage ich seither in mir, und er wird mich bis ins Grab begleiten. Denn in diesem Anblick offenbarte sich mir die Erde in einer geradezu beängstigenden Schönheit, welche alle menschlichen Maßstäbe sprengt und sich so unmittelbar nur wenige Male ertragen lässt. Wie groß ist doch die Schöpfung, wer und was immer sie vollbracht hat … Heute ist das Herz Afrikas, die Region zwischen den Oberläufen von Kongofluss und Nil, zwischen Ruwenzori-Gebirge und Tanganjika-See todkrank. Sie birgt immer noch unvergleichliche geologische, ökologische und kulturelle Ressourcen, aber die Namen der Staaten, deren Territorien sich dort begegnen – Sudan, Uganda, Ruanda, Burundi, Demokratische Republik Kongo –, sind im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit Synonyme geworden für Völkermord, Krieg, Anarchie, Zerstörung, Armut und Krankheit.

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Innerhalb von Monaten im Jahr 1994 wurden im ruandischen Genozid zwischen 500.000 und einer Million Menschen getötet, davon etwa 75 Prozent der Tutsi-Minderheit des winzigen, dicht besiedelten Landes. Als die mordenden Hutu-Milizen schließlich besiegt und vertrieben wurden, flüchteten sie zu Hunderttausenden in die Urwälder des Ostkongo, was zu einer bis heute andauernden militanten Destabilisierung des gesamten Raumes mit abscheulichen Folgen für die Zivilbevölkerung führte. Auch im Südsudan und in Norduganda herrscht seit Jahrzehnten Bürgerkrieg zwischen bizarren Parteien und makabren Allianzen, denen schon längst Anliegen, Ziel und Begründung ihrer Kampfhandlungen abhandengekommen sind.

Die Gewalt nährt sich überall dort nur noch aus sich selbst – so muss man sich wohl die apokalyptische Endphase des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland vorstellen. Nur eine Marginalie in diesem höllischen Szenario ist die achtlose Vernichtung einzigartiger Naturerbschaften der Menschheit, gipfelnd im Niedermetzeln von Nashörnern, Elefanten und Berggorillas im Virunga-Nationalpark durch Soldaten außer Rand und Band. Fauna, Flora und Ökosysteme der Region stehen überdies unter einem enormen Sekundärdruck durch eine verelendete Bevölkerung, die vielfach durch Plünderung der verbliebenen Naturressourcen ihre einzige Existenzchance zu wahren versucht. Das illegale Schlagen von Edelhölzern oder das Wildern bedrohter Tierarten sind dort selbstverständliche Akte einer geradezu rechtschaffenen Normalität, einer Überlebenswirtschaft im Schatten allgemeiner Anarchie.

Dennoch ist das, was entlang des Zentralafrikanischen Grabenbruchs mit der Natur geschieht, wie ein Tritt in den weichen Unterleib der mitteleuropäischen Nachhaltigkeitsidealisten. Bei einer meiner Reisen nach Ruanda im Jahr 1980 hatte ich das Glück, an den Hängen eines der Virunga-Vulkane stundenlang eine Sippe von Berggorillas beim spielerischen Zeitvertreib beobachten zu können. Das Ballett der großen schwarzen Pelzkugeln, die da in kindlicher Fröhlichkeit und wechselnden Gruppen über eine Waldlichtung tanzten, war überwältigend. Rechtfertigt irgendetwas, bis hin zur größten Not, das Töten dieses kostbaren Teils der Schöpfung? Das frage ich natürlich im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass sich Europa auf dem Weg zur »Zivilisation« schon vor vielen Jahrhunderten fast aller Mitpassagiere in Noahs Arche entledigt hat.

Bei den wiederholten Aufenthalten in Ruanda vor dem Genozid konnte ich merkwürdigerweise keine direkten Anzeichen für das bevorstehende große Morden erkennen – das Land schien geradezu ein Modellbeispiel dafür darzustellen, wie man unterschiedlichste kulturelle und ökonomische Interessen auf knappstem Umweltraum ausbalanciert.

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Ob ungebremstes Bevölkerungswachstum und dadurch beschleunigte Ressourcenverknappung die totale humanitäre Katastrophe ausgelöst – oder zumindest bedingt – haben, kann niemand schlüssig belegen. Aber ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an die Behauptung eines Paters auf einer dschungelverlorenen Missionsstation östlich des Kongobogens bei Kisangani: Er meinte, dass die kleine Kivu-Provinz westlich des gleichnamigen Sees so fruchtbar sei, dass sie ganz Schwarzafrika allein ernähren könnte, wenn sie denn richtig bewirtschaftet würde.

Der heutige Blick auf diese Region, die so überreich an Wohlstandsquellen und so arm an entsprechenden Schöpfrädern ist, macht ratlos: Was hat der »Fortschritt« gebracht außer automatischen Sturmgewehren für Kindersoldaten? Werden die Überlebenskämpfe der dortigen Bevölkerung und die Ressourcen­feldzüge der ausländischen Rohstoffkonzerne schließlich mit der totalen Niederwerfung der Umwelt enden? Wohin gehen dann die Millionen Menschen, welche die zentralafrikanische Erde nicht mehr zu tragen vermag – in die Slums von Nairobi oder Kinshasa, wo das Leben schon heute ohne jede würdevolle Perspektive ist?

Aber Beobachtungen dieser Art lassen sich für viele Gegenden der Welt anstellen, im Kern sogar für mein heimatliches Niederbayern, wenngleich dort Milizenkrieg oder Massenelend so fern erscheinen wie der Andromedanebel. Doch 9 Milliarden Menschen müssen spätestens 2050 irgendwie auf diesem kleinen Planeten Platz finden, ohne sich gegenseitig zu zertreten. Die letzten Jahrzehnte haben uns in dieser Hinsicht nicht entscheidend vorangebracht, ja wahrscheinlich global in die Irre geführt.

Aus vielen Begegnungen mit nachdenklichen Menschen bei öffentlichen Veranstaltungen weiß ich, dass in unserer Gesellschaft ein hartnäckig unausgesprochener Konsens gereift ist. Er besagt, dass es nicht immer weiter »aufwärts«-gehen kann, dass das Wohlstandsmodell der Nachweltkriegszeit – in Deutschland und erst recht anderswo – keine Zukunft hat.

Und dennoch – oder gerade deshalb – wird dieses Modell als quasi-heiliger Referenzrahmen aller individuellen Lebensentwürfe für unantastbar erklärt, auch für die Nachkommen. Ja, natürlich, wir leben weit über unsere Verhältnisse, und dieser deprimierenden Einsicht kann nur mit einer Steigerung der Misswirtschaftsintensität begegnet werden. Je näher etwa die Erschöpfung der fossilen Ressourcen wie Erdöl rückt, desto hektischer müssen wir den Stoff aus der Erde kratzen! Diese ebenso absurde wie zwingende Logik treibt die Weltwirtschaft »vorwärts«. Dass ein solches Modell nicht zukunftsfähig ist, wissen eigentlich alle, und jeder wartet deshalb auch auf den großen Systemwandel – irgendwann jenseits des eigenen Lebenshorizonts, versteht sich.

Möglicherweise haben aber sogar diejenigen unrecht, die meinen, dass es uns heute so viel besser gehen würde als unseren Großeltern: Für die Menschen im Ostkongo trifft dies noch nicht einmal materiell zu, für die Menschen im Rottal sicherlich nicht kulturell. Und welcher Preis wurde dafür bezahlt, uns dorthin zu bringen, wo wir heute sind, welche Energie- und Materialschlachten wurden geschlagen für eine Nachkriegsgesellschaft, deren Errungenschaften darin gipfeln, dass Bau- und Medienmärkte rund um die Uhr geöffnet sind?

Wie viele Gruppen, Schichten, Völker sind von der Globalisierung während der letzten fünfzig Jahre ins zivilisatorische und historische Niemandsland gedrängt worden?

Abbildung 1 lässt die Antwort auf die letzte Frage zumindest erahnen.

In einem Satz zusammengefasst: Die Menschheit ist unter größten Mühen, Verlusten und Kollateralschäden in eine Stellung vorgerückt, welche möglicherweise all die Opfer nicht wert war, die sich vor allem aber nicht halten lässt. Mein Buch soll insbesondere den zweiten Aspekt dieser Doppelkrise ausleuchten, die mangelnde Zukunftsfähigkeit der Art, wie wir unseren Planeten – im Großen wie im Kleinen – betreiben. Natürlich wird bei dieser Zusammenschau der Klimawandel die entscheidende Rolle spielen, weil er ein Menschheitsproblem darstellt, das alle Maßstäbe traditioneller Lösungs­kompetenz sprengt.

Ich möchte jedoch auch Pfade aufzeigen, auf denen wir unsere unhaltbare Position verlassen können, um zur Erde heimzukehren – nicht exakt zu der Welt, wie sie die Natur geschaffen hat und wie sie unsere Vorfahren über Jahrhunderte gestaltet haben. Aber zu einer, deren Schönheit und Größe wiedererkennbar sind, ob im Rottal oder im Ostkongo, und die uns alle durch dieses Jahrtausend tragen kann.

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