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Erster Grad: Die Haut

2.  Wachstumsstörungen

Schellnhuber-2015

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Dennis Meadows ist ein freundlicher, weißbärtiger Herr, der gute Geschichten und Witze erzählen kann. Außerdem hat er die nahezu geniale Fähigkeit, didaktische Spiele zu erfinden, mit denen er den Besuchern seiner Vorträge die Denkschablonen aus den Köpfen reißt. Wenn man ihm so zuhört und zuschaut, wird man nachhaltig verunsichert und fragt sich, ob nicht der allergrößte Teil unserer Ansichten und Handlungen durch nichts weiter begründet ist als Routine, Gewohnheit, Wiederholung.

Meadows wurde in den 1970er-Jahren als Leitautor der Studie 'Die Grenzen des Wachstums' weltberühmt. In jenem Jahrzehnt begann man an verschiedenen Orten der Wissenschaftswelt Computer einzusetzen, um die Dynamik komplexer Systeme zu simulieren. Das Wort »komplex« signalisiert zunächst einmal nur, dass die betrachteten Forschungsgegenstände sich aus vielen Komponenten zusammensetzen, die auf vielfältige Weise miteinander wechselwirken. Eine besondere intellektuelle Herausforderung stellen solche Systeme dar, wenn die Bestandteile sehr unterschiedlich sind – also nicht wie beim idealen Gas, das nur aus einer Schar identischer Moleküle besteht. Und wenn die Kräfte zwischen diesen Bestandteilen nichtlinear sind – also nicht wie bei einer idealen Federmatratze, wo sich alle Verformungen und Schwingungen aus der Proportionalität von Belastung und Widerstand ergeben.

Unsere Welt ist voller Systeme mit diesen verschärften Komplexitätseigenschaften; die Beispiele reichen von den selbst organisierten Mustern von Schleimpilzen bis hin zu den subtil strukturierten Ringen des Saturn. Und zu den komplexesten aller bekannten Systeme im Universum zählen ohne jeden Zweifel das planetarische Ökosystem, die Weltwirtschaft und das menschliche Gehirn (also Wesenheiten, die nicht ganz unabhängig voneinander existieren, was wir noch ausführlicher behandeln werden).

Komplexe Systeme sind überaus faszinierend (die Schönheit einer majestätischen Kumuluswolke, vom Flugzeugfenster aus betrachtet, ist kaum zu übertreffen), aber für den Menschen in mindestens dreierlei Hinsicht »schwierig«: erstens, schwierig zu verstehen; zweitens, schwierig vorherzusagen; drittens, schwierig zu beherrschen.

Nehmen wir als Beispiel das Phänomen des tropischen Wirbelsturms, der je nach Weltregion des Auftretens als Hurrikan (Atlantik), Taifun (Pazifik) oder Zyklon (Indik) bezeichnet wird. Bei der Entstehung dieser gewaltigen Stürme, die in Böen Geschwindigkeiten von über 350 km/h erreichen, spielt eine Reihe von physikalischen Elementen und Prozessen eine Rolle - von der latenten Wärme, die beim Auskondensieren winziger Meer­wasser­tröpfchen frei wird, bis hin zur sogenannten Corioliskraft, die für die berühmt-berüchtigte Spiralform der Hurrikane & Co. verantwortlich ist und ihren Ursprung in der Rotation der Erde selbst hat.

Das Zusammenspiel der am Wirbelsturm beteiligten Kräfte ist schon kompliziert genug, um den Wissenschaftler verzweifeln zu lassen. Aber damit nicht genug: Im Herzen der komplexen Sturmdynamik sitzt ein kognitives Wider­standsnest, das bisher allen Belagerungsversuchen der brillantesten Forscher getrotzt hat: die Navier-Stokes-Gleichung, welche das Strömungsverhalten von einfachen Flüssigkeiten oder Gasen beschreibt. Diese Gleichung ist also beispielsweise für Wasser gültig, nicht aber für zähflüssiges Blut. Zur Erbauung der Physiker unter den Lesern und zum wohligen Gruseln aller übrigen sei die berühmte Gleichung hier explizit wieder­gegeben:

Es ist unmöglich, dieses Gebilde in wenigen Sätzen zu erläutern, aber es sollte zumindest erwähnt werden, dass v das Strömungsfeld des betrachteten Mediums bezeichnet, p seine Dichte, p den inneren Druck und f die Intensität der von außen aufgeprägten Kräfte (wie etwa der Schwerkraft). Gleichung 1 ist so etwas wie der »heilige Gral der Komplexitätswissenschaft«, denn hinter der abstrakten Symbolkette verbergen sich so unterschiedliche und wichtige Effekte wie der Umschlag eines gemächlichen Flusses in eine wild-turbulente Wirbelstraße oder der Auftrieb unter den Tragflächen von stählernen Flugkolossen, die allen Todesängsten ihrer Passagiere zum Trotz nur äußerst selten vom Himmel stürzen.

Der vermutlich klügste Mensch des 20. Jahrhunderts war - trotz der geringeren Wirkmächtigkeit im Vergleich zu Albert Einstein - der Mathematiker John von Neumann (siehe dazu ausführlich Kapitel 15). Von ihm wird glaubhaft berichtet, dass er sich die für nur wenige Sekunden aufgeschlagenen Seiten eines beliebigen Telefonbuchs exakt merken und sie wiedergeben konnte. Aber er wird auch zitiert mit seinem brennenden Forscher­wunsch, vor dem Ableben noch die Navier-Stokes-Gleichung im Kern zu begreifen, eine Hoffnung, die sich selbst für diesen Geistesriesen nicht erfüllte.

 wikipedia  John_von_Neumann  *1903 in Budapest bis 1957

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Sollte es der Wissenschaft aber eines Tages doch noch gelingen, die Strömungsdynamik gewöhnlicher Flüssigkeiten zu enträtseln, dann dürfte es auch möglich sein, vereinfachte Gleichungen nieder­zuschreiben, die das Werden und Vergehen eines Wirbelsturms nachvollziehbar machen.

Aber selbst dann dürfte das Prognoseproblem hartnäckig weiterbestehen. Mithilfe von Supercomputern können die Bewegungen von Hurrikanen zwar heute schon einigermaßen zufriedenstellend vorhergesagt werden, etwa durch das amerikanische National-Hurricane-Center (NHC) in Miami. Eine besondere Tücke dieser nichtlinearen Objekte ist es allerdings, dass selbst kleinste Fehler in den von Satelliten, Schiffen oder Wetterstationen in die Simulationsrechnungen eingespeisten Werten – etwa die anfängliche Luftdruckverteilung in einer bestimmten Atmosphärenschicht – sich zu exponentiell wachsenden Kalkulations­fehlern auftürmen und damit die gesamte Prognose zerschmettern können: Es macht immerhin einen gewissen Unterschied, ob der Wirbelsturm über Kuba oder über Haiti hinwegbraust beziehungsweise ob er sich deutlich vor dem Aufprall auf die Südostküste der USA abschwächt oder nicht.

Die Problematik der galoppierenden Computerabweichung ist den Komplexitätsforschern schon seit einer legendären Arbeit von Stephen Smale aus dem Jahr 1967 (Smale 1967) bekannt. Dort wurde gezeigt, dass völlig harmlos erscheinende Gleichungen überaus verwirrende und praktisch nicht vorhersagbare Bewegungsabläufe in sich bergen. In anderen Worten: Diese simplen Gleichungen erzeugen eine chaotische Dynamik, die letztlich jeden Wundercomputer schlägt. Da die Navier-Stokes-Gleichung noch viel hinterhältiger ist, wird es auch in absehbarer Zeit keine verlässliche 14-Tage-Wettervorhersage geben. Grob vereinfacht müsste nämlich die Computerkapazität exponentiell mit der Anzahl der Prognosetage wachsen – was irgendwann zu einem Rechner in Planetengröße führen würde. Das bedeutet aber nicht, dass eine solide Klimavorhersage unmöglich wäre, wie weiter unten zu diskutieren ist.

Was schließlich die Beherrschbarkeit von tropischen Wirbelstürmen (im Sinne der direkten Beeinflussung) angeht, betreten wir endgültig das Terrain der Wissenschaftsfantasie. Allerdings gibt es bereits interessante Hinweise auf natürliche Faktoren, welche beispielsweise Hurrikane dämpfen könnten – unter anderem massive Staubwolken, die in bestimmten Jahren von der Sahara hinüber in die Karibik ziehen. Solche Wolken künstlich als Sturmtöter zu fabrizieren und gezielt einzusetzen, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein. Dagegen wird in den USA unter anderem darüber spekuliert, wie man Wirbelstürme – vor allem die hochgefährlichen Tornados – eventuell per Laserstrahl »abschießen« könnte. Science-Fiction, zumindest vorerst.

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Ganz allgemein muss die Steuerung komplexer Systeme allerdings nicht notwendigerweise schwierig sein: Der Mensch als zweifellos hochkomplexes Gebilde ist bekanntlich mit den einfachsten psychologischen Tricks verführbar und lenkbar. So weit der Ausflug in die Komplexitätswissenschaften, die in den letzten Dekaden atemberaubende Fortschritte erzielt haben.

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Kehren wir nun zu Dennis Meadows zurück, den ich häufig bei internationalen Konferenzen treffe. Bei einer dieser Gelegenheiten lud ich ihn zu einem Vortrag ans Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ein, das ich 1992 gründete und seither leite. Dennis sagte sofort zu, und Anfang 2010 fand sich dann auch ein passender Termin für seine Vorlesung an unserem Institut.

Beim Mittagessen vor der Veranstaltung erzählte er mir, wie ihn das Schicksal auf mehreren Zufallswellen in die Arbeitsgruppe von Jay Forrester am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge bei Boston spülte. Forrester selbst gilt als einer der Pioniere der Computer­simulation verwickelter Vorgänge. Bereits 1956 gründet er die Systems-Dynamics-Group an der Sloan-School-of-Management am MIT und erfindet dort einen speziellen Formalismus zur mathematisch-elektronischen Nachahmung komplexer Systeme.

Meadows selber verlässt Massachusetts nach der Promotion Ende der 1960er-Jahre und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise durch Südostasien, wo er zum ersten Mal in direkte Berührung mit der armen, schmutzigen und überbevölkerten Welt jenseits der nordamerikanischen Wohlstandszitadellen kommt. Ein weiterer Zufall führt ihn später ans MIT zurück, wo Forrester über einem Versprechen gegenüber dem Club-of-Rome brütet: Er soll die Verträglichkeit der exponentiellen Zivilisations­entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Endlichkeit der planetarischen Ressourcen wissenschaftlich hinterfragen.

Dafür möchte er zum ersten Mal in der Forschungsgeschichte nichts Geringeres zum Einsatz bringen als ein elektronisches Simulationsmodell der modernen Weltgesellschaft und ihrer Fortentwicklung im natürlichen Bett aus Ökosystemen und mineralischen Rohstoffen! Im Nachhinein erscheint dieses Projekt ziemlich größenwahnsinnig, aber die Technologieeuphorie der 1960er-Jahre kannte das Wort »unmöglich« nicht. Einmal zur Reise ins Unbekannte aufgebrochen, würde man auf alle Fälle faszinierendes Neuland entdecken – wie schon Kolumbus mithilfe des größten Navigationsfehlers des 2. Jahrtausends. Und genau so kommt es:

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Unter Dennis Meadows’ Leitung wird in Massachusetts ein Weltpuppentheater erschaffen, wo elektronische Marionetten nach verschiedenen Melodien (»Szenarien«) Gruppentänze in die ferne Zukunft aufführen. Die Studien mit dem einzigartigen Spielzeug produzieren haufenweise interessante Ergebnisse. Bemerkenswert ist jedoch, dass die meisten Tänze, nach ekstatischen Phasen um die Wende zum 3. Jahrtausend, zwischen 2010 und 2050 ins Stocken geraten und in einigen Szenarien ganz kollabieren. In anderen Worten: Das Wachstum der globalen Industriegesellschaft schlägt aufgrund der Erschöpfung der Rohstoffquellen und der Umweltzerstörung in einen Schrumpfungsprozess um – zumindest im Computer.

Diese Ergebnisse trafen die wachstumsselige Weltöffentlichkeit der frühen 1970er-Jahre wie eine Gigatonnen-TNT-Bombe und verursachten einen ungeheuren medialen Trichter. Das Meadows-Team hatte gewissermaßen eine neue, bedrohliche Welt im Cyberspace entdeckt, aber die Expeditionsberichte waren wie damals bei Kolumbus gewagte Verallgemeinerungen von überaus bruchstückhafter, anekdotischer Information. Beim »Weiter­erzählen« der Story von den Grenzen des Wachstums im zufallsgetriebenen gesellschaftlichen Diskurs kam es dann – genau wie im historischen Vergleichsfall – zu zahlreichen Fehl- und Überinter-pretationen. Interessanter­weise sagte Dennis Meadows in einem aktuellen Interview, dass die öffentliche Debatte über seine Studie weitgehend ohne seine Beteiligung stattgefunden habe. »Denn die Leute wollten nicht meine Meinung wissen, sie hatten ihre eigene.« (Krohn 2010)

Im Nachhinein ist man meistens – aber nicht immer – klüger: Die MIT-Kristallkugel, welche unablässig Zahlen, Kurven und Tortendiagramme über mögliche Zukünfte ausspuckte, faszinierte jedermann. Gleich zeitig war das Modell aber sicherlich Lichtjahre vom eigenen Anspruch entfernt, die komplexe Mensch-Erde-Dynamik über hundert Jahre und mehr adäquat abzubilden. Und eine zentrale Annahme bei der Entwicklung der verschiedenen Szenarien, die mittelfristige Erschöpfung der damals wichtigsten Rohstoffquellen, erwies sich in ihrer simplen Form als falsch. Der menschliche Erfindungsreichtum beim Aufspüren wertvoller Ressourcen wird ja eigentlich immer unterschätzt. Dennoch ist die Roh- und Grundstoffproblematik selbst mit den kreativsten wissenschaftlichen und technologischen Ansätzen nicht für immer aus einer endlichen Welt zu schaffen. Ich werde später darauf zurückkommen und zeigen, dass die entsprechenden Herausforderungen im 21. Jahrhundert teilweise anderen Charakter haben als im 20. Jahrhundert noch vermutet, dass sie aber möglicherweise vielgestaltiger und verwickelter sind, als sich selbst die MIT-Eierköpfe jemals vorstellen konnten.

Im Rahmen seines Vortrags am Potsdam-Institut konnten wir in kritischer Offenheit mit Meadows über die vermuteten und tatsächlichen Schwachstellen der legendären Simulation von 1972 und ihrer diversen Nachfolger (1992 und 2004) diskutieren. Er wies wiederholt darauf hin, dass der Zeitraum, für den massive Zusammen­bruchs­symptome regionaler oder auch globaler Zivilisationsdynamiken vorhergesagt wurden, mit dem Jahr 2010 gerade erst begonnen habe – wir könnten ja längst schon auf einer schiefen Nachhaltigkeitsebene in Richtung tiefer Abgründe jenseits unseres beschränkten Horizonts rutschen.

Am meisten beeindruckte mich allerdings eine damit zusammenhängende Behauptung von Meadows: Zivilisatorische Systeme neigten dazu, auf krisenhafte Erscheinungen mit der Verstärkung genau jener Strategien und Praktiken zu reagieren, welche die Krise überhaupt hervorgebracht haben! Wenn etwas schiefzulaufen droht, ist die Systemantwort in der Regel von der – einleuchtenden – Voreinstellung geprägt, dass man sich nicht etwa auf dem falschen Entwicklungspfad befinde, sondern dass man den richtigen Weg nicht entschlossen genug verfolgt habe. Dies führt in vielen Fällen zur fatalen Selbstverstärkung des Missmanagements: »If you are in a deep hole, stop digging!«, wie die Amerikaner solche Situationen treffend kommentieren.

Ich komme auf diese ebenso einfache wie bedeutsame Einsicht weiter unten mehrfach zurück.

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