Prof.
Hans-Joachim Schellnhuber |
Dieser
Artikel erschien gekürzt und verändert in F.A.Z., 2.10. 2001, S. 60,
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Die Ko-Evolution von Natur, Gesellschaft und Wissenschaft — Eine Dreiecksbeziehung wird kritisch
Von Prof. Schellnhuber, 2001
Im Sprachschatz des modernen Weltbürgers nimmt der Begriff "Sustainable Development" einen bedeutenden Rang ein. Schließlich suggeriert dieser Ausdruck das verträgliche Zusammenspiel von "Ökologie, Ökonomie und Sozialem", und das in angenehm vager Weise. Die gängige deutsche Übersetzung als "Nachhaltige Entwicklung" geht noch einen Schritt weiter und stellt eine nahezu leere Worthülse bereit, die nach jeweiliger Interessenlage mit Inhalt gefüllt werden kann.
Ideale Voraussetzungen für die zeitgenössische Politik: Mit Beschluß des Bundestags ist kürzlich ein sogenannter Nachhaltigkeitsrat eingerichtet worden, in dem die Integration von sozioökonomischer und ökologischer Entwicklung von hochrangigen Vertretern des deutschen Gesellschaftsspektrums erörtert und gegebenenfalls ausgehandelt werden soll. Die Ansicht ist durchaus löblich und der Rat möglicherweise nützlich — wenn es denn rasch gelingt, die (Un)Verbindlichkeiten hinter sich lassen und zur Sache zu kommen.
Aber was ist Sache? Unzählige mehr oder minder wissenschaftliche Publikationen haben sich dem Thema "Sustainable Development" gewidmet, seit es in den 1980ern durch die Brundtland-Kommission in den Diskurs-Olymp katapultiert wurde.
Die meisten dieser Abhandlungen sind eine tragfähige Definition jenseits wohlmeinender Sottisen vom Schlage "Die menschlichen Grundbedürfnisse befriedigen, ohne die Erde zu zerstören!" leider schuldig geblieben. Deshalb habe ich vor einigen Jahren den Versuch unternommen, zum logischen Kern des Nachhaltigkeitsbegriffs vorzustoßen.
Bei dieser Analyse kam ich zu dem Schluß, daß es sich tatsächlich um ein Kerngehäuse aus etlichen Kammern handelt, welche fundamental verschiedene Interpretationen in sich bergen: die durchgängige Beachtung ökologischer und sozioökonomischer Mindeststandards, die laufende Maximierung der globalen Wohlfahrt, die Einhegung desaströser Risiken, die Festschreibung des Gleichheitsgrundsatzes in einem immerwährenden Generationsvertrag oder das Ansteuern eines akzeptablen Gleichgewichtszustandes, der gleichsam das Ende aller Umweltgeschichte markiert — all diese Kardinalziele können (separat oder kombiniert) der Nachhaltigen Entwicklung gesetzt werden (Schellnhuber & Wenzel 1998).
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In allerjüngster Zeit ist die allgemeine Sustainability-Diskussion wieder in Bewegung geraten und hat dabei erheblich an Tiefenschärfe gewonnen. Dies wurde unter anderem bei der "Open Science Conference on Global Change" deutlich, welche im Juli dieses Jahres in Amsterdam mehr als 1800 Umwelt- und Entwicklungsforscher aus 100 Nationen in einem Ereignis zusammenführte, das gewissermaßen das wissenschaftliche Gegenstück zum politischen "Erdgipfel" von Rio de Janeiro im Jahre 1992 darstellte.
In einer von Bill Clark (Harvard University, USA) initiierten Plenarsitzung wurde dort die "Geburt" einer neuen Wissenschaft, der "Sustainability Science", angekündigt und eine öffentliche Beschreibung des Säuglings vorgenommen. Diese Charakterisierung orientierte sich wiederum weitgehend an einem grundlegenden Aufsatz, der im April 2001 im amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science erschienen ist und von einem interdisziplinären Autorenteam (inklusive zweier PIK-Forscher) verfaßt wurde (Kates et al. 2001). Um neuerlichen Wucherungen des Sprachschwammes vorzubeugen, nutze ich die mir als Verfasser gegebene Definitionsmacht und übersetze "Sustainability Science" mit Koevolutionswissenschaft.
Denn tatsächlich geht es um einen Problemkreis von ungeheurem Radius, nämlich um die eng gekoppelte und sich gegenseitig beschleunigende Entwicklung von globaler Natur, Gesellschaft und Erkenntnis - ein Prozeß, der vom Wissenschaftssystem nicht nur zureichend erklärt werden soll, sondern in dem sich dieses System auch selbst neu erfinden muß. Somit ist, nota bene, die Koevolutionswissenschaft gleichzeitig die objektive Lehre von der Mensch-Umwelt-Koevolution und ein subjektiv koevolvierender Faktor jener Wechseldynamik.
Diese Bemerkungen bedürfen einer Erklärung. Ich möchte sie mit der wahren Geschichte über einen fiktiven Mikrokosmos vorbereiten.
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Die Parabel von La Trinidad
Auf einer Felsenkanzel an der abgeschiedensten Südostflanke der Pyrenäen klebt das Bergdorf La Trinidad hoch über dem Fluß Noguera. Wenn dieser Fluß überhaupt Wasser führt, dann leuchtet er in jenem betörenden Vergißmeinnichtblau, das man ausschließlich in Hoch-Aragòn oder Hoch-Katalonien zu sehen bekommt. Die grauen Schieferhäuser des Dorfes sind im Laufe der Jahrhunderte an den Abgrund herangekrochen und zu einer organischen Fortsetzung der Steilwand geworden. Ihre Bewohner haben sich seit undenklichen Zeiten von standortgemäßer Landwirtschaft und einfachem Handwerk ernährt: Wein-, Obst-, und Olivenanbau an den sanfteren Hängen oberhalb des Dorfes, Schnitzen von Haushaltsgeräten aus dem Holz des Buchsbaumes, Flechten von ledernen Fußbekleidungen und dergleichen mehr. Ein einfaches und monotones, sprich überschaubares und vorhersehbares Dasein. Aber nun droht La Trinidad aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Immer mehr Gemeindemitglieder klagen über Risse und Scherungen an ihren Gebäuden, immer öfter reißen Steinlawinen Ziegen oder Schafe in den Abgrund, und quer durch die Plaza Mayor hat sich ein Spalt aufgetan – breiter als eine Kinderhand und ohne erkennbaren Boden. Die meisten Bewohner sind verwundert, manche verängstigt und einige prophezeien bereits den Untergang des ganzen Dorfes, dessen herabstürzende Trümmer die Noguera zu einem riesigen See aufstauen würden.
Jetzt ist die gesellschaftliche Elite von La Trinidad zum Handeln aufgerufen. Der Bürgermeister bestellt eine Sondersitzung des Gemeinderates ein, der jedoch nach längerer Debatte konkrete Beschlüsse und Maßnahmen ohne vorherige Problemanalyse durch eine "hochkarätige Expertenkommission" ablehnt. Deren Mitglieder sind schnell gefunden: der Schulmeister des Ortes, des weiteren ein Geologe aus Zaragoza, der sich im Ort in mühsamer Kleinarbeit ein komfortables Ferienhaus aus einem halbverfallenen Stall geschaffen hat und schließlich der Prior der nahegelegenen Abtei Nuestra Señora de los Àngeles, der weithin den Ruf eines Architekturkenners genießt.
Die Experten nehmen sich viel Zeit, um die beunruhigenden Veränderungen vor Ort zu inspizieren, nach möglicherweise ähnlich verlaufenden Entwicklungen in benachbarten Ortschaften zu fahnden, die Bibliotheken der Provinzhauptstadt nach sachdienlichen Hinweisen zu durchforsten und eine Vielzahl hitziger Diskussionen zu führen. Nach fünf Monaten stellen sie ihre Untersuchungsergebnisse bei einer weiteren Sondersitzung des Gemeinderates vor: Alles deute darauf hin, daß sich im Innern des Wirtsberges von La Trinidad gewaltige Spannungen aufbauten, die sich in einzelnen, aber noch gemäßigten Verwerfungen entlüden. Als Ursache kämen sowohl natürliche als auch möglicherweise externe Störfaktoren, vielleicht sogar menschlicher Einfluß, in Frage. Kausale Gewißheit sei aber nur durch aufwendige Meßkampagnen über den Mindestzeitraum von zwei bis drei Dekaden zu erlangen. Eine baldige Absprengung der gesamten Felsenkanzel sei unwahrscheinlich, jedoch nicht völlig auszuschließen....
Damit ist die Verwirrung vollständig. Muß man, kann man, darf man bei diesem dürftigen Erkenntnisstand überhaupt etwas tun? Einige Ratsmitglieder plädieren dafür, den Bericht einstweilen unter Verschluß zu halten, aber nach tumultartiger Debatte setzt sich die Einsicht durch, daß man der Informationspflicht gegenüber der Gemeinde uneingeschränkt nachkommen müsse. Dies könne nur in einer schleunigst anzuberaumenden Bürgerversammlung geschehen. Am Abend des folgenden Samstags strömen die Einwohner auf der Plaza Mayor zusammen – und zwar auf der hangseitigen, vermeintlich sicheren Hälfte des gespaltenen Areals. Der Bürgermeister reflektiert knapp den Ernst der Lage und ruft mit den Worten "Es geht um La Trinidad" zur öffentlichen Erörterung der Krise auf. Langsam kommt die Diskussion in Gang; noch weiß niemand, daß sie das Schicksal des Ortes wenden wird.
Eine Flut von Mutmaßungen – banal, scharfsinnig, aberwitzig – entströmt den Kehlen der Anwesenden: Zu viele neue Gebäude seien in den letzten Jahren errichtet worden, deren Last der Fels nicht mehr zu tragen vermöge. Und die schweren Geländefahrzeuge der gelegentlich aufkreuzenden Touristen, aber auch die neuerdings von einigen Bauern eingesetzten Traktoren würden den Untergrund in gefährliche Schwingungen versetzten. Nein, rufen andere, schuld sei allein die Provinzregierung mit ihren irrsinnigen, von der Europäischen Kommission finanzierten Entwicklungsprojekten. Wer könne noch bezweifeln, daß der Vortrieb des gigantischen neuen Tunnels nach Frankreich durch den benachbarten Gebirgsstock die Statik der ganzen Region erschüttere?
Wieder andere, deren Wortführer seit Jahren Geoökologie in Madrid studiert, aber in den Semesterferien regelmäßig nach La Trinidad zurückkehrt, sehen die eigentliche Ursache in hausgemachten Umweltveränderungen. Läßt man nicht die mauergestützten Terrassen hinter dem Ort, die Generation um Generation zur Bekämpfung der Bodenerosion in die Hänge gekerbt hat, zusehends verfallen? Verdichten nicht schwere Erntemaschinen die Erde auf den Feldern zu undurchdringlichem Zement? Sinkt nicht der Grundwasserspiegel durch die vielen Tiefbrunnen, die während der Umstellung der Landwirtschaft auf die neuartigen nationalen Förderrichtlinien gebohrt werden mußten? Mais statt Futterhirse, Aprikosenbaumspaliere statt Olivenhainen, großbeerige Tafeltrauben statt der uralten Weinsorten wie Garnacha und Cariñena: der Durst der Cash Crops erweise sich als schier unstillbar.
Und am schlimmsten überhaupt sei der Versuch, die kahle Sierra zu beiden Seiten der Ortschaft mit Eukalyptusgehölzen wieder aufzuforsten. Eine winzige, aber unbeugsame Minderheit unter den Versammelten ist völlig anderer Meinung: Nicht der Mensch bestimme das Schicksal von La Trinidad, sondern der Mond. Jahrzehntelange Beobachtungen eines Schäfers mit Hang zu naturwissenschaftlichen Studien belegten eindeutig, daß der Fels exakt im Rhythmus der wechselnden Leuchtkraft des Erdbegleiters arbeite.
Irgendwann verlagert sich der Schwerpunkt der Debatte von der Ursachenforschung zu den lebenspraktischen Konsequenzen. Man wisse zwar herzlich wenig, aber doch allemal genug, um zu handeln. Vordringlichstes Ziel müsse die Stabilisierung der baulichen Gesamtsubstanz, möglicherweise durch nachhaltige Versiegelung der größten Spalten im natürlichen Gestein sein; nur im Falle der offenkundigen Fruchtlosigkeit dieser Maßnahmen wären Evakuierungspläne als ultima ratio auszuarbeiten. Diese recht rational erscheinende Anregung erfährt scharfen Widerspruch von den eher spirituell veranlagten Anwesenden: Die übermächtige Natur sei mit solchen Klempnereien in ihrem Laufe wohl kaum aufzuhalten. Die wenigen Rücklagen der Gemeinde sollten stattdessen in die Anfertigung einer monumentalen Prozessionskerze investiert werden – schließlich habe dieses Mittel schon einmal, bei der großen Dürre von 1786, die Rettung gebracht. Aber auch die attentistische Grundhaltung findet Stimme und Gehör: Wer jetzt überstürzt agiere, handele bestimmt verkehrt und verschwende wertvolle Gelder, die zur Befriedigung handfester Bedürfnisse, wie der Errichtung des lang herbeigesehnten Gemeindeschwimmbads, dringend benötigt würden. Im übrigen habe es schon immer Risse in den Hauswänden gegeben, und wahrscheinlich würden die Enkel der heutigen Einwohner den Ort ohnehin aufgeben, um in die Stadt zu ziehen.
Es ist weit nach Mitternacht als der Wechselgesang der Argumente und Gegenargumente abzuklingen beginnt. Die Honoratioren ziehen sich zu einer kurzen Beratung zurück; dann präsentieren sie ihr Resümee und einen atemberaubenden Vorschlag: Das Rätsel um La Trinidad sei zwar weiter ungelöst, aber man habe heute viele wertvolle Hinweise erhalten.
Wahrscheinlich gebe es kein einfaches Erklärungsmuster, da wohl eine Vielzahl von Faktoren in einer Weise zusammenwirken würde, die in keinem herkömmlichen Lehrbuch verzeichnet sei. Gleichwohl könne man nicht zuwarten, bis neue Lehrbücher geschrieben würden — das Schicksal des ganzen Dorfes hinge möglicherweise bereits an einem seidenen Faden, der bei verstocktem Festhalten am jetzigen Umgang mit der Natur jederzeit durchtrennt werden könne. Neue Einsichten würden dringend benötigt, um Entscheidungen zu treffen, wie sie keiner ihrer Vorfahren jemals treffen mußte. Man könne zum einen versuchen, den ganzen Ort mit allen Mitteln gegen den namenlosen und heimtückischen Feind zu verteidigen. Man könne allerdings auch beschließen, den scheinbar instabilsten Dorfbereich aufzugeben und zu retten, was man als rettungsfähig und unbedingt rettenswert erachte. Es verstehe sich von selbst, daß hier an erster Stelle die Hauptkirche Santa Bàrbara mit ihren einzigartigen romanischen Fresken aus dem frühen 12. Jahrhundert zu nennen wäre; die Arme-Leute-Behausungen dicht am Abgrund erschienen dagegen einer größeren Anstrengung wohl kaum wert. Schließlich müsse der komplette Rückzug aus La Trinidad erwogen werden, so schmerzlich diese Überlegung auch sei. Diesen Exodus könne man allerdings nur mit massiver Unterstützung der Landesregierung überleben, deren Versprechungen aber nicht vorbehaltlos zu trauen wäre. Denn nur zu gerne würde die Obrigkeit Hilfestellung bei der Ablösung der Kirchenfresken leisten, um sie in das weltberühmte Museum auf dem Montjuic in Barcelona schaffen zu lassen.
Der Gemeinderat sehe sich jedoch außerstande, Entscheidungen solcher Tragweite alleine zu verantworten. Diese einzigartige Notlage erfordere eine einzigartige Mobilisierung der gemeinsamen Fähigkeiten und eine neuartige Form der Willensbildung. Man werde deshalb umgehend einen "Rettungsausschuß" aus allen relevanten gesellschaftlichen Kräften bilden, dem individuelle Beobachtungen und Vermutungen über die Entwicklung mitzuteilen seien und der diese Informationen laufend verarbeiten werde. Der Ausschuß sei auch ausdrücklich dazu autorisiert, Prioritätslisten für die Bewahrung bzw. Migration von Schutzgütern aufzustellen und eine vorläufige ökonomische Bewertung dieser Güter – mit Blick auf eventuelle Versicherungsansprüche und Kompensationszahlungen – vorzunehmen. Ab heute werde die Bürgerversammlung im Dreimonatsabstand auf diesem Platz zusammenkommen, um den Rechenschaftsbericht des Rettungsausschusses zu diskutieren und sein Mandat sowie seine Zusammensetzung fortzuschreiben. Dieser Prozeß werde eine neue Identität der Dorfgemeinschaft schaffen, welche entweder zusammen Wege aus der Krise finden oder im vollen Bewußtsein des kollektiven Versagens untergehen werde ...
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Globale Koevolution
Die Theaterwelt, in der sich das Drama um La Trinidad abspielt, erlaubt es, der oben abstrakt konstatierten Wechseldynamik zwischen Gesellschaft, Natur und Wissenschaft Konturen und Farben zu verleihen. Auf dem imaginierten (aber keineswegs imaginären) Schauplatz lösen tiefgreifende Veränderungen der sozioökonomischen Strukturen eine Lawine von Folgeereignissen aus.
Möglicherweise im Verbund mit unkontrollierbaren Naturprozessen resultiert daraus zunächst die rapide Transformation der gewohnten Umwelt, was die auslösende Gesellschaft in Form zahlreicher neuartiger Belastungen und Risiken zu spüren bekommt. Da die bisher bewährten politischen Mechanismen der Problembewältigung versagen – auch weil das tradierte kognitive System kein adäquates Lösungswissen zeitgerecht bereitzustellen vermag –, muß sich der soziale Körper mitsamt seinen erkenntnisproduzierenden und willensbildenden Organen im Takt der "entfesselten" Natur permanent neu konstruieren, um eventuell zu überleben.
Dieser schnelle Prozeß der offenen Koevolution hat heute eine erdgeschichtlich einmalige Dimension erlangt und involviert das planetarische System als Ganzes. Die eingangs erwähnte Amsterdamer Konferenz zum Globalen Wandel hat diese Einsicht mit Forschungsergebnissen aus den letzen 15 Jahren eindrucksvoll untermauert (Steffen, Tyson et al. 2001). In einer Abschlußerklärung wurde als Hauptbotschaft formuliert, daß das System Erde durch die mannigfachen Einflüsse der weltweiten Zivilisation seit der industriellen Revolution aus seiner herkömmlichen Betriebsweise heraus gezwungen wird.
Die menschlichen Einflüsse – wie die Veränderung der physikochemischen Beschaffenheit der Atmosphäre, die Modifikation der kontinentalen Oberflächen durch Landnutzung und die Störung des globalen Wasser- und Sedimenthaushaltes – erzeugen multiple, wechselwirkende Umwelteffekte, die in komplexen Kaskaden die planetarische Maschinerie durchdringen.
Da diese Maschinerie weitgehend nichtlinear operiert (also mit disproportionalen Reaktionen auf Eingriffe aller Art), ist nicht auszuschließen, daß unsere Zivilisation dadurch unabsichtlich "ökologische Schalter" aktiviert und abrupte Veränderungen der regionalen oder gar weltweiten Umweltbedingungen auslöst. Vieldiskutierte Beispiele für solche "kritischen Phänomene" sind die Unterdrückung warmer Ozeanströmungen durch Verschiebung der großskaligen Niederschlagsmuster im Zuge des menschengemachten Klimawandels oder die Umorganisation des asiatischen Monsunsystems infolge veränderter meteorologischer Eigenschaften der dortigen Landoberfläche als Konsequenz aus expandierender Landwirtschaft, exzessiven Waldrodungen und beschleunigten Siedlungsaktivitäten. Prekärerweise lassen sich Wahrscheinlichkeit oder gar Zeitpunkt solcher Ereignisse beim heutigen Erkenntnisstand kaum quantifizieren, so daß die Menschheit nun mit Umweltrisiken leben muß, die irgendwo zwischen den Windmühlen des Don Quijote und dem Schwert des Damokles angesiedelt sind. Dies macht den besonderen Charme des "Anthropozäns" aus, wie der Nobelpreisträger Paul Crutzen unser Zeitalter getauft hat.
Die Tiefe der damit verbundenen Probleme und die Breite der potentiellen Auswirkungen stellen nicht nur eine unerhörte Herausforderung für die internationale Politik, sondern auch für unsere Wissenschaftskultur als Ganzes dar. Das klassische Paradigma der "optimalen Kontrolle", wo man für ein zu steuerndes System zwanglos Zielgrößen auswählt, um sie mit Hilfe des für alle Eventualitäten vorproduzierten, exakten Expertenwissens punktgenau zu realisieren, wird hier zur Chimäre.
An präzise Vorhersagen über die Folgen einer, sagen wir, Verzehnfachung des CO2-Gehaltes der Lufthülle ist überhaupt nicht zu denken, und wer möchte schon dafür plädieren, ein solches Experiment zum Zwecke der Wahrheitsfindung vorsorglich durchzuführen? Aber selbst die Identifizierung angemessener Ziele — für Wirtschaftswachstum, Entwicklung der Lebensqualität, Umweltintegrität — ist zu einer Aufgabe geworden, die kein wie auch immer legitimierter und alimentierter Think Tank der Welt zu lösen vermag.
Wenn etwa im Kontext der "Nachhaltigkeit" von den Bedürfnissen künftiger Generationen gesprochen wird: Sie zu antizipieren, hieße sie zu konstruieren, also die Entwicklung des Planeten so zu lenken, daß unseren Nachkommen nichts anderes übrig bliebe, als die Wünsche und Ansprüche, die wir für sie im wahrsten Sinne des Wortes vorgesehen haben, tatsächlich zu haben! Noch gravierender ist jedoch, daß die Forschung so gut wie nichts über die Bedürfnisse der überwältigenden Mehrheit der heutigen Generationen aussagen kann, da diese Menschen zufälligerweise fernab von den Zitadellen der westlichen Wohlfahrt geboren worden sind. Die Fluchtpunkte des Fortschritts vagabundieren im Nebel.
Facetten der Koevolutionswissenschaft
Die Amsterdamer Deklaration versucht, der geschilderten Problematik gerecht zu werden, indem sie die Entwicklung eines neuartigen globalen Systems der Umweltwissenschaften im weitesten Sinne fordert. Dieses System soll sich durch innovative Integrationsmethoden, transnationale Strukturen und einen fortwährenden Dialog mit den betroffenen Individuen und Interessengruppen in aller Welt auszeichnen. Solche Forderungen bündeln und "erden" einen breiten zeitgenössischen Diskurs der Wissenschaftssoziologie, der sich dem "Neu-Ersinnen von Wissenschaft" im Zeitalter der proliferierenden Unbestimmtheiten widmet (Nowotny, Scott & Gibbons 2001).
Die Protagonisten dieser Debatte weisen insbesondere darauf hin, daß Wissen heute im zusehends dichteren Kontext seiner gesellschaftlichen Wirkungsmächtigkeit produziert wird, und daß dieser Kontext nicht still verdaut, sondern sich auf 1001 Kanälen lautstark beim Wissenschaftssystem zurückmeldet. Dies gelte es nicht zu fürchten, sondern im Gegenteil für die Herstellung einer verständigen Partnerschaft zwischen Gesellschaft und Wissenschaft zu nutzen.
In der vorläufigen Vision der Koevolutionswissenschaft sind all diese Aspekte durch eine "große Vereinheitlichung" der Dreiecksbeziehung Natur-Zivilisation-Kognition berücksichtigt und eingeordnet. Dies ist dringend notwendig, da die drei einzelnen Paarbeziehungen innerhalb der Konstellation inzwischen kritische Intensitäten erreicht haben. Diese Koevolutionswissenschaft reflektiert aber nicht nur die Maschinerie als Ganzes, sie ist auch die potentielle Unruhe derselben. Beispielsweise entwirft sie Szenarien des technologischen Fortschritts und antizipiert dessen Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft, wodurch eben dieser Fortschritt initiiert, vermieden oder moderiert werden kann.
Die Koevolutionswissenschaft wird sich in wesentlichen Zügen von der "klassischen" Wissenschaft der Popperschen Märchenwelt unterscheiden: Sie wird häufig strategisch sein statt kontemplativ; qualitativ statt exakt; hypothetisch statt falsifizierbar; präliminär statt kategorisch; kontextual statt universell; partizipativ statt objektiv. Und nichtsdestotrotz wird sie versuchen, ein Höchstmaß an Brillanz, Kreativität und Akribie zu realisieren. Aber es ist eben nicht mehr ein einzelnes, ewiges Elektron in einem perfekten, unendlich ausgedehnten Magnetfeld, das es mit aller Muße der Welt zu studieren gilt. Zu studieren gilt es statt dessen komplexe Umweltsysteme, deren Determinanten unmöglich einzeln identifiziert werden können, so daß man zu Methoden der kausalen Mustererkennung greifen muß. Zu studieren gilt es Dynamiken, die entweder zu langsam sind, um sie mit automatischem Monitoring überhaupt wahrnehmen zu können, oder zu sprunghaft, um sie in konventioneller Weise prognostizieren zu können. Die virtuelle Realität der Computersimulation erlaubt es, zumindest den unscharfen Karikaturen solcher Vorgänge auf den Leib zu rücken.
Zu studieren gilt es die vulnerabelsten Elemente der Mensch-Natur-Beziehungen, da eine flächendeckende Durchdringung des Gesamtgeflechts jenseits aller analytischen Potenz liegt. Inverse Verfahren, die von jenen Elementen ausgehend ihre multiplen Gefährdungspotentiale konstruieren, können sich hier als hochwirksame kognitive Instrumente erweisen. Zu studieren gilt es schließlich das Ensemble beschränkt rationaler Akteure, deren Umwelt- und Entwicklungsverhalten allenfalls statistischen Gesetzen unterliegen mag. Die Koevolutionswissenschaft wird nicht anstehen, diese Akteure in digitalen "Entscheidungstheatern" sich selbst modellieren zu lassen und damit die Koproduktion von Wissen im eigentlichsten Sinne zu verwirklichen.
Kunde aus den Pyrenäen
Soeben wird bekannt, daß ein Viertel von La Trinidad in die Tiefe gestürzt ist. Allerdings sind nur wenige Opfer zu beklagen, da die Bewohner das betroffene Areal bereits weitgehend geräumt hatten. Diese glückliche Fügung ist der Tätigkeit des Rettungsausschusses zu verdanken, der zu der Ansicht gelangt war, daß die Destabilisierung der Ortschaft mit der Dehydrierung wasserführender Sedimentschichten im Wirtsberg durch die veränderte Landnutzung und möglicherweise anderen Einflußfaktoren zusammenhinge. Die früher prall gefüllten "Kissen" seien in den letzten Jahren in sich zusammengesunken und hätten dadurch eine geologische Kettenreaktion ausgelöst. Durch intensivste Zusammenarbeit mit der Bevölkerung konnten sowohl die Hauptstörungen des Wasserhaushaltes als auch die unter den größten Spannungen stehenden Bereiche näherungsweise identifziert werden.
Nunmehr will die Dorfgemeinschaft alle Kräfte darauf konzentrieren, den verbliebenen Torso des Ortes durch eine Vielzahl von Maßnahmen zu verteidigen. Für eine Reihe von als gefahrbringend eingestuften Praktiken ist ein vorläufiges Verbot erlassen worden, aber man wird noch lange auf der Rasiermesserschneide der Spekulation tanzen müssen.
Erstaunlich ist jedoch, daß die meisten Bewohner unbedingt bleiben wollen, so daß das Dorf nicht das Schicksal der unzähligen Geistersiedlungen in den spanischen Pyrenäen teilen dürfte: La Trinidad wird leben, weil es beständig um Überleben kämpfen muß ...
E n d e
Literatur
H.J. Schellnhuber and V. Wenzel (Eds.) 1998. Earth System Analysis. Integrating Science for Sustainability (Springer, Berlin)
R.W. Kates et al. 2001. Sustainability Science. Science 292, 641-642
National Research Council, Board on Sustainable Development 1999. Our Common Journey: A Transition Toward Sustainability (National Academy Press, Washington D.C.)
W. Steffen, P. Tyson et al. 2001. Global Change and the Earth System. A planet under pressure. IGBP Science 4 (IGBP, Stockholm)
H. Nowotny, P. Scott and M. Gibbons 2001. Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainy (Polity, Cambridge)