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Bruch mit Moskau
Ich verwünschte mich selbst. Ich saß fest in der Autoschlange auf der New Yorker Queensboro Bridge und machte meinem Ärger mit russischen Flüchen Luft. Zu dumm, daß ich den Verkehrsstau nicht vorausgesehen hatte und mein fein ausgetüftelter Plan auf diese Weise scheitern konnte. Ausgerechnet an diesem einen Abend durfte ich nicht zu spät kommen, nicht zu diesem entscheidenden Treffen. Ich hatte alles sorgfältig ausgearbeitet, den Zeitplan und alle Einzelheiten mehrmals abgecheckt. Aber jetzt beschlich mich das unheimliche Gefühl, daß all das vergeblich sein könnte.
Was ist, wenn der Mann, mit dem ich verabredet bin, nicht wartet? Wenn ihm einfällt, daß die ganze Verabredung ein Täuschungsmanöver sein könnte? Werde ich ihn jemals wieder erreichen können?
Immer neue Zweifel tauchten auf: Weiß wirklich niemand, was ich vorhabe? Angenommen, es hat mich jemand verpfiffen, und ich laufe in eine Falle. Steht hinter mir in der Autoschlange schon ein Wagen, der mich verfolgt?
Für jeden, der in der Sowjet-Union aufgewachsen ist, sind solche Hirngespinste selbstverständlich, dort ist es reine Selbsterhaltung, den Mitmenschen finstere Motive zu unterstellen.
Seit meinem Eintreffen in New York wurde ich überwacht. An diesem Abend war die Überwachung hoffentlich nicht lückenlos. Die Ungewißheit machte mich nervös.
Ich mußte feststellen, ob ich verfolgt wurde, aber wie sollte ich das anfangen? Es waren zu viele Autos hinter mir, als daß ich unter den Scheinwerferpaaren in meinem Rückspiegel einen verdächtigen Wagen aussondern konnte.
Falls mich wirklich jemand beobachtete, würde er bis jetzt jedenfalls nichts Ungewöhnliches berichten können: Arkadij Nikolajewitsch Schewtschenko, Sowjetdiplomat und Beamter der Vereinten Nationen, fuhr wie gewohnt ins Wochenende. Er war auf dem Weg zu dem heruntergekommenen Landhaus in Glen Cove auf Long Island, in dem sich die Topleute der sowjetischen Uno-Mission in ihrer Freizeit verkriechen konnten.
Meine Bewacher - so hoffte ich jedenfalls - konnten nicht wissen, daß sie gerade heute abend ein Auge auf mich hätten haben sollen. Denn ich war unterwegs zu einem geheimen Treffen mit einem US-Regierungsbeamten.
Mein Chauffeur war bereits ins Wochenende gefahren, ein KGB-Spitzel - ebenso wie mein ranghöchster Mitarbeiter in der Bürosuite im 35. Stock des Uno-Gebäudes. Dort amtierte ich seit dem Frühjahr 1973 als stellvertretender Generalsekretär für politische Fragen und Angelegenheiten des Sicherheitsrats.
Ich war es gewohnt, beschattet zu werden, aber das hatte dieses Leben auch nicht erträglicher gemacht. Ich hatte wie fast alle Sowjetbürger gelernt, mit dem KGB zu koexistieren und mußte mich den Drohungen des Staatssicherheitsdienstes, seiner Einmischung in mein Leben und in meine Arbeit abfinden. Heute abend wollte ich dem KGB für immer entwischen.
Angefangen hatte alles vor einigen Wochen in meinem Büro im UN-Gebäude. Da faßte ich den endgültigen Entschluß, mit dem Sowjetsystem zu brechen.
Viele meiner Uno-Kollegen kannten mich als einen "Hardliner", einen orthodoxen Verfechter der Sowjetinteressen
im UN-Sekretariat, der nie zögerte, die Uno-Satzung zugunsten der UdSSR zu beugen. Diese Einschätzung war nicht falsch. In meiner Position war es unerläßlich, jedem Wink aus der Sowjet-Union oder des sowjetischen UN-Botschafters Jakow Malik blindlings zu gehorchen.
Es prägt einen tief, wenn man wie ich mehr als zwanzig Jahre lang die Werte und Ziele des Sowjetsystems eingeimpft bekommt. Das hatte mich zu einer Art Uhrwerk gemacht, das kaum noch anzuhalten war.
Aber nachdem ich einmal begonnen hatte, mich innerlich vom Sowjetsystem zu distanzieren, brachte ich es gelegentlich über mich, in Wort und Tat den sowjetischen Interessen - vorsichtig - zuwiderzuhandeln.
Ich tat dies mit zunehmender Genugtuung, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab. Doch ich war nicht sicher, ob die Amerikaner dies überhaupt bemerkt hatten. Ich vermutete, daß mein bisheriges Verhalten sie nun an meiner Aufrichtigkeit zweifeln lassen würde. Falls ihnen doch etwas aufgefallen war, würden sie nach meinen Motiven forschen und sich nicht damit zufriedengeben, daß ich frustriert oder unzufrieden sei. Falls ich mich ihnen offenbarte, so dachte ich, würden sie mir interessiert zuhören.
Es war das Jahr 1978, die Politik der Entspannung stand in voller Blüte. Die Vereinigten Staaten, so dachte ich, würden mich wohl kaum aufnehmen, wenn dadurch ein noch so leichter Schatten auf die rosigen Hoffnungen einer Verständigung fielen.
Jedenfalls würde die Sowjet-Union den USA sofort eine absichtliche Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Moskau und Washington vorwerfen. Und das Schicksal eines einzelnen ist ohne Bedeutung, wenn es um die Politik der Supermächte geht.
Die Amerikaner konnten natürlich auch annehmen, daß ich sie täuschen wollte oder, schlimmer noch, daß ich einfach übergeschnappt war, drogensüchtig oder ein Alkoholiker, der sich um den Verstand getrunken hatte.
Wie die Sowjets reagieren würden, war mir völlig klar. Wenn sie Wind davon bekämen, würden sie mich sofort nach Hause verfrachten - mit düsteren Zukunftsaussichten.
Daß Schachgroßmeister und Künstler sich absetzen, mag hingehen, wenn es aber einer aus der politischen Elite tut, ist es etwas ganz anderes.
Mein Vorhaben war gefährlich. Aber ich hatte inzwischen zuviel Abscheu vor dem System, dem ich diente, und vor mir selbst, weil ich ihm diente. Hinzu kam die Hoffnung auf ein ganz neues Leben, und so gab es für mich nur eins - mich den Amerikanern zu offenbaren.
Ich wollte sie direkt und inoffiziell ansprechen! Wie, das wußte ich zuerst noch nicht. Der Zufall kam mir zu Hilfe. Ich hatte auf einem Korridor des UN-Gebäudes einen mir von früher bekannten Amerikaner getroffen, einen intelligenten, aufrichtigen Menschen mit guten Verbindungen in Washington.
Der mußte der geeignete Mann für meine Pläne sein. Ich sagte ihm, daß ich etwas Vertrauliches mit ihm zu besprechen hätte, und lud ihn zu einem Spaziergang am nächsten Tag ein. Als wir uns am Eingang zur Halle des UN-Gebäudes trafen, regnete es in Strömen. Wir mußten unser Gespräch aufschieben, stellten aber fest, daß wir beide in der nächsten Woche zu demselben Diplomatenessen eingeladen waren.
In der Residenz unseres Gastgebers zog ich meinen alten Freund beiseite. "Ich möchte Ihnen eine ungewöhnliche Frage stellen", sagte ich ohne Umschweife. "Ich will mit meiner Regierung brechen, und ich möchte im voraus wissen, wie die Amerikaner reagieren, wenn ich sie um politisches Asyl bitte."
Unser Außenminister Andrej Gromyko hatte mir bei einem Besuch der UN-Vertretung in New York 1969 angeboten, sein Berater zu werden, und ich hatte freudig und erwartungsvoll zugesagt; nicht nur wegen des Prestigegewinns. Ich hoffte auch, an Gromykos Seite Gelegenheit zu finden, die sowjetische Politik in jener Richtung zu beeinflussen, die mir am Herzen lag.
Im April 1970 fuhren wir, meine Frau und ich, mit dem Sowjetdampfer "Alexander Puschkin" aus New York ab. Wir gingen in Leningrad an Land und fuhren mit dem Zug weiter nach Moskau. Meine Schwiegermutter holte uns vom Bahnhof ab.
"Arkadij, da waren mehrere Anrufe vom Zentralkomitee für dich. Sie wollten wissen, wann du hier eintriffst. Du sollst zurückrufen."
"Wer hat denn angerufen?"
"Ich weiß nicht - sie haben mir eine Nummer angegeben."
Einige Stunden später rief ich beim Zentralkomitee an. Eine mir unbekannte Stimme meldete sich: "Ah, Arkadij Nikolajewitsch. Sie sind schon in Moskau. Ich bin der Assistent von Boris Nikolajewitsch (Ponomarjow). Er möchte Sie so bald wie möglich sprechen."
"Aber ich bin gerade erst angekommen", wandte ich ein. "Ich müßte zuerst ins Ministerium gehen und mit Gromyko sprechen."
"Ich fordere Sie auf", drängte er, "morgen früh als erstes hier vorbeizukommen, und zwar noch bevor Sie ins Ministerium gehen."
Ich ging am nächsten Tag sofort zum Zentralkomitee, aber ich hatte keinen Grund zur Beunruhigung. Ponomarjow wollte mir nur einen Posten an seiner Seite anbieten. Er malte mir die Vorteile einer Karriere im Zentralkomitee aus und stellte mir eine rasche Beförderung in Aussicht. Ich sagte nicht direkt nein und antwortete, ich müsse erst mit Gromyko darüber sprechen. Solche Ausflüchte war er nicht gewohnt, aber er machte mir keine Vorwürfe.
Gromyko konnte seinen Ärger über diesen Abwerbeversuch nicht verbergen: "Schewtschenko, was wollen Sie? Wollen Sie für das Zentralkomitee oder als mein Berater arbeiten?"
Ich sagte, ich wolle gern im Ministerium bleiben und sei dankbar für sein Angebot. Gromyko schien sich darüber zu freuen und versprach mir, meine Ernennungsurkunde noch am selben Tag zu unterzeichnen. Später rief er Ponomarjow an und forderte ihn in aller Deutlichkeit auf, die Abwerbung in seinem Ministerium einzustellen.
Ich war mit Gromyko so oft und unter den verschiedensten Umständen zusammengetroffen, daß ich glaubte, ihn ziemlich gut zu kennen. Aber erst nachdem ich einige Zeit unter ihm gearbeitet hatte, wurde mir voll bewußt, was für ein komplizierter und schwieriger Mensch er ist.
Andrej Gromyko macht nach außen den Eindruck einer perfekten Maschine, leistungsfähig und dauerhaft, immer voll einsatzfähig, eindrucksvoll, aber bar jeder menschlichen Wärme. Er kann witzig und wütend sein, aber hinter jeder seiner Äußerungen stehen eiskalte Logik und Routine, die ihn als Vorgesetzten wie als Gegner unheimlich erscheinen lassen.
Gromyko ist dem Sowjetsystem mit Haut und Haaren ergeben. Er ist jetzt selbst einer der Machtfaktoren des Systems, einer seiner mächtigsten Motoren - zugleich ein Produkt des Systems und einer seiner obersten Herren.
Als ein Journalist ihn um biographische Angaben bat, antwortete er: "Meine Persönlichkeit interessiert mich nicht." Das war keine Pose, sondern die volle Wahrheit, obwohl er in Wirklichkeit eine faszinierende Persönlichkeit ist.
Chruschtschow bemerkte einmal, wenn er Gromyko befehle, seine Hose herunterzulassen und sich einen Monat lang auf einen Eisblock zu setzen, würde der das tun. Das war Chruschtschows Art, die fast schon legendäre Standfestigkeit und Zähigkeit seines Außenministers zu loben.
Gromykos Aufstieg zu seiner Spitzenposition ist um so bemerkenswerter, als seine Politikerkarriere im Außenministerium begann. Gewöhnlich steigen die führenden Sowjetpolitiker aus den Reihen der Parteibürokratie auf.
Gromykos Familienname leitet sich von dem belorussischen Dorf Staryje Gromyki ab, in dem er 1909 als Sohn einer "Halbbauern/Halbarbeiter-Familie" (seine eigenen Worte) geboren wurde. Er trat 1931 der Partei bei.
Nach seinem Examen am Minsker Landwirtschaftsinstitut ging er 1934 nach Moskau, wo er am Wirtschaftsinstitut der Akademie der Wissenschaften einen höheren Posten bekleidete. 1939 trat er in den Auswärtigen Dienst ein.
Gromyko verdankt seinen Aufstieg unter anderem den umfassenden Säuberungsaktionen Stalins unter den roten Staatsdienern der ersten Generation. Er gelangte in Positionen, deren Inhaber den Massenerschießungen zum Opfer gefallen waren oder in den Straflagern langsam dahinsiechten. Die Nachrücker waren meistens mediokre Bürokraten, unter denen Gromyko auffiel: Er war nicht nur linientreu und diszipliniert, sondern auch intelligent und gebildet, und er arbeitete schnell und gründlich.
Ohne Erfahrungen im diplomatischen Dienst begann er seine Karriere als Chef der Amerika-Abteilung im Volkskommissariat (Ministerium) für Auswärtige Angelegenheiten. Nach vier Jahren als Botschaftsrat wurde er 1943 Missionschef in Washington: Er überstand mit Erfolg eine persönliche Unterredung mit Stalin, vor der - wie mir berichtet wurde - die Assistenten des Diktators Wetten abgeschlossen hatten, ob er ihn nach Westen (Amerika) oder nach Osten (Sibirien) schicken würde.
Damals, 1939, war Fjodor Tarassowitsch Gussew Parteisekretär des Volkskommissariats für Auswärtiges und später, zugleich mit mir, Gromykos Berater. Er beschrieb einmal die Verhältnisse, unter denen Gromykos Aufstieg begann.
Im Mai 1939 hatte Wjatscheslaw Molotow den Genossen Maxim Litwinow als Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten abgelöst. Dieser Wechsel war das Signal für die Abwendung der UdSSR von den westlichen Demokratien - und für die Säuberungsaktionen, die das diplomatische Korps dezimieren sollten.
Am Tag nach seiner Amtsübernahme bestellte Molotow den Genossen Gussew und den Leiter der Personalabteilung in sein Arbeitszimmer und hielt ihnen mit lauter Stimme einen langen Vortrag über die Notwendigkeit, die Ära der politischen Kurzsichtigkeit durch eine Säuberung des Mitarbeiterstabes von den Klassenfeinden zu beenden.
Als er auf seinen jüdischen Vorgänger zu sprechen kam, brüllte Molotow: "Schluß jetzt mit der Litwinowschen Liberalität. Ich werde das Wespennest dieses Jidden mit den Wurzeln ausrotten."
Gromyko spricht nicht gern über diese Jahre. Ich habe aber nie eine kritische Bemerkung von ihm über Stalin oder Molotow gehört. Ich glaube, er hatte großen Respekt vor beiden.
Einmal allerdings erzählte er amüsiert eine Anekdote aus der Zeit, als er sich auf seinen Botschafterposten in Washington vorbereitete. Damals gab Stalin ihm den Rat, in amerikanische Kirchen zu gehen und sich die Predigten anzuhören, um sein Englisch zu verbessern.
Stalin verdankte seine Bildung bekanntlich seiner Schulung am Priesterseminar der georgisch-orthodoxen Kirche. Er argumentierte, daß ein Priester sich immer gewählt und klar ausdrücken müsse, und die Kirche folglich der geeignete Ort für das Sprachstudium sei.
Gromyko gab später zu, daß Stalins Ratschlag ihn einigermaßen in Verlegenheit gebracht habe - er vermochte sich nicht vorzustellen, daß ein atheistischer Sowjetbotschafter in einer Kirche auftauchen konnte, ohne beträchtliches Aufsehen in der Öffentlichkeit und bei der Presse zu erregen. Das war aber auch der einzige Rat Stalins, den er je mißachtete.
Die Schulung des jungen Gromyko durch Stalin und Molotow hat bis heute tiefe Spuren in seiner Persönlichkeit hinterlassen. Nachdem ich jedoch einige Zeit mit ihm zusammengearbeitet hatte, stellte ich zu meiner Verwunderung fest, daß er kein so kompromißloser Stalinist geworden war wie viele seiner Kollegen aus diesen Anfangsjahren.
Gromykos politisches Weltbild entstand zu der Zeit, als die Sowjet-Union und die Vereinigten Staaten sich im Krieg verbündet hatten, um Faschismus und Nationalsozialismus niederzuringen. Er erinnert sich gern an Franklin Roosevelt, den er als einen "weisen Staatsmann mit weitreichenden Interessen" bezeichnet.
Der teilweise widersprüchliche Einfluß dieser frühen Jahre auf Gromykos Denken wird besonders deutlich, wenn Feindseligkeit in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen vorherrscht - etwa in seiner Ansprache vor der UN-Vollversammlung von 1984, als er die amerikanische Haltung verurteilte und mit Hinweis auf das Bündnis im Zweiten Weltkrieg im selben Atemzug betonte, daß "unser Land heute mehr denn je an der Aufrechterhaltung normaler Beziehungen zu den Vereinigten Staaten interessiert ist".
Gromyko hat 1945 an den Konferenzen von Jalta und Potsdam teilgenommen. Er leitete 1944 bereits die sowjetische Delegation auf der Konferenz von Dumbarton Oaks. Später, nach Molotows Abgang, führte er auch die Delegation auf der Gründungs-Konferenz der Vereinten Nationen in San Francisco.
Als einer der Gründerväter der Vereinten Nationen wurde Gromyko 1946 der erste Vertreter des Kreml im Sicherheitsrat, wo er sich den Ruf eines "Mister Njet" erwarb. Innerhalb von zwei Jahren legte er damals zwanzigmal sein Veto ein.
Seitdem ist Gromyko an allen bedeutenden Entwicklungen in den Ost-West-Beziehungen, besonders aber der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, persönlich beteiligt.
Er kennt alle amerikanischen Präsidenten von Franklin Roosevelt an und ebenso ihre Außenminister von Cordell Hull bis George Shultz.
Gromyko hat als einziges der heutigen Mitglieder des Politbüros an verantwortlicher Stelle unter allen Kremlführern von Stalin bis Tschernenko gedient.
Eine Reihe von Zufällen half Gromyko, seine Position gerade dann zu festigen, wenn sie besonders gefährdet erschien. Er war 1948 nach Moskau zurückgekehrt und zu Molotows Stellvertreter avanciert.
1949 wurde Andrej Wyschinski Außenminister und beförderte Gromyko zu seinem Ersten Stellvertreter.
Wyschinski, der blutrünstige Ankläger in Stalins Schauprozessen, wollte Stalins Außenpolitik genauso rücksichtslos wie die Säuberungen durchsetzen. Gromyko hingegen hielt nicht sehr viel vom Kalten Krieg, und die beiden bekamen Streit miteinander.
Wyschinski, der ausgefuchste Strafverfolger, entdeckte bald einen dunklen Punkt auf Gromykos weißer Weste und nutzte ihn, um seinen unbequemen Stellvertreter zu diskreditieren.
Gromyko hatte allerdings die Waffe selbst geschmiedet, mit der Wyschinski ihn erledigen wollte. Zurückhaltend und anspruchslos in seinem Privatleben, war ihm doch einmal ein typischer Fehler unterlaufen: Auf Drängen seiner Frau Lidija Dmitrijewna hatte er durch Beziehungen Baumaterial beschafft und Arbeiter des Ministeriums eingesetzt, um sich im Moskauer Vorort Wnukowo eine hübsche Backsteindatscha zu bauen. Bis heute tut so etwas jeder, der die Möglichkeit sieht, politische Macht für private Zwecke einzusetzen. Ich selbst habe einmal Arbeiter des Außenministeriums mit der Renovierung meiner Moskauer Wohnung beschäftigt. Solche Vergehen werden selten geahndet. Der Status des Funktionärs schützt vor einem Skandal.
Wyschinski jedenfalls hatte von Gromykos Bauvorhaben Wind bekommen und benutzte es, um ihm durch die Partei eine offizielle Rüge erteilen zu lassen und 1952 als Botschafter nach London abzuschieben.
Zu seinem Nachfolger ernannte Wyschinski Jakow Malik, der sich in den dreißiger Jahren als Polizeispitzel und später als giftsprühender antiamerikanischer Nachfolger Gromykos auf dem Botschafterposten bei den Vereinten Nationen hervorgetan hatte.
Mit Stalins Tod wendete sich 1953 das Blatt wieder. Wyschinski wurde abgesetzt, die meisten seiner Vertrauensleute mit ihm. Malik ging als Botschafter nach London, und Gromyko kehrte nach Moskau zurück, um seinen alten Posten im Außenministerium zurückzufordern.
Seitdem ging es mit Gromyko nur noch aufwärts. Chruschtschow ernannte ihn 1957 zum Außenminister, und er überstand auch dessen Sturz. Erst später wurde bekannt, daß Chruschtschow seinem Schwiegersohn Alexej Adschubej weitreichende außenpolitische Vollmachten auf Kosten Gromykos übertragen hatte.
Noch zu Chruschtschows Zeiten hatte Gromyko eine Entscheidung getroffen, die sich später als segensreich für ihn herausstellen sollte. Er bemühte sich um den ziemlich einflußlosen Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, des ebenso einflußlosen Parlaments der UdSSR. Gromyko ahnte mit seinem Instinkt und etwas Glück, daß mehr in dem Mann steckte: Leonid Breschnew.
Immer wenn der Vorsitzende Breschnew zur Vorbereitung auf seine Zusammenkünfte mit ausländischen Staatsmännern Hilfe brauchte, war Gromyko damit zur Hand. Er nahm Breschnews Position als nominelles Staatsoberhaupt der Sowjet-Union sehr ernst. Zuweilen instruierte er ihn sogar persönlich.
Und als Gromyko hörte, daß Breschnew einen Redenschreiber benötigte, stellte er ihm seinen eigenen zur Verfügung: Andrej Alexandrow-Agentow, der zusammen mit seinem Kollegen Anatolij Blatow bald zum vertrauten und mächtigen außenpolitischen Berater Breschnews aufstieg. Wichtig für Gromyko: Die beiden hatten diese Machtposition nur durch seine Protektion erreicht.
Auch privat hielt Gromyko Kontakt mit Breschnew. Er ließ sich sogar zum Jäger ausbilden, nur um den zum Parteichef aufgestiegenen Breschnew bei dessen liebster Freizeitbeschäftigung begleiten zu können. Bis dahin hatte Gromyko seine körperliche Betätigung auf morgendliches Training mit Hanteln und gelegentliche Spaziergänge beschränkt.
Gromyko fand schließlich echtes Vergnügen an der Jagd. Ich habe ihn nie glücklicher gesehen als an jenem Sonntag im Jahr 1972, als er kurz vor Mittag seine Datscha in Wnukowo mit einer geschossenen Ente betrat, die er am Morgen erlegt hatte. Sein Lächeln war so fröhlich, wie er es der Welt nur selten gönnt, wenn überhaupt einmal.
Mit Hilfe Breschnews, den er mit seinem Kosenamen "Ljonja" anredete, konnte Gromyko nicht nur seine Stellung in der sowjetischen Außenpolitik festigen, sondern sich auch zu ihrem Meister aufwerten.
Ende der sechziger Jahre schob Breschnew den Ministerpräsidenten Alexej Kossygin beiseite und nahm selbst die Zügel der Außenpolitik in die Hand, wobei er Gromyko vom Mentor und Konfidenten zum gleichberechtigten Partner aufsteigen ließ.
Diese Beförderung wurde 1973 auch offiziell bestätigt, als Gromyko zum Mitglied des Politbüros aufstieg.
Die meisten westlichen Beobachter vermochten die Machtposition Gromykos im Kreml nicht richtig einzuschätzen. So irrte Henry Kissinger, als er einmal schrieb, vor seiner Aufnahme ins Politbüro habe Gromyko nur als "Vollstrecker, nicht als Urheber" der sowjetischen Außenpolitik fungiert. Tatsache ist, daß Gromyko diese Politik seit langem formulierte.
Doch davon war kaum etwas zu bemerken, weil Gromyko seinen Einfluß nicht gern zur Schau stellt. Er steht über den Dingen, hält sich zurück und zieht es vor, hinter den Kulissen zu wirken.
Zur selben Zeit wie Gromyko wurde auch der KGB-Vorsitzende Jurij Andropow zum Vollmitglied des Politbüros gewählt. Diese beiden aufstrebenden Spitzenpolitiker waren zwar keine engen Freunde, aber sie kamen gut miteinander aus. Dabei hatte Gromyko die KGB-Typen nie ausstehen können.
Er und besonders seine Frau nahmen sich immer vor der Geheimpolizei in acht und waren auf der Hut, wenn sich KGB-Leute zeigten. Gromyko sah jedoch in Andropow nicht nur den KGB-Chef, und Andropow brachte dem Außenminister die gleiche Wertschätzung entgegen.
Hatten sie miteinander zu tun, respektierte Andropow immer das höhere Dienstalter Gromykos. Das war ungewöhnlich unter Sowjetpolitikern von ungefähr gleichem Rang und erklärt sich wohl damit, daß Andropow früher als Diplomat, als Botschafter in Ungarn, unter Gromyko Dienst getan hatte.
Nach außen wurde dieser Statusunterschied deutlich durch die regelmäßigen Besuche Andropows im Außenministerium, bei denen sich beide zu längeren privaten Unterredungen trafen. Gromyko revanchierte sich nicht - im Gegensatz zu vielen anderen Kremlgewaltigen tauchte er nie im KGB-Hauptquartier auf.
Die respektvoll-freundschaftlichen Bande zwischen Gromyko und Andropow wurden auch dadurch gefestigt, daß Gromyko Andropows Sohn Igor, einen angehenden Diplomaten, unter seine Fittiche nahm. Er ist heute Botschafter in Athen.
Mit Tschernenko hatte Gromyko kaum persönlichen Kontakt - zumindest nicht, bis dieser zum Generalsekretär der KPdSU aufstieg. Mit Breschnew und Andropow hatte Gromyko am liebsten direkt verhandelt, in Tschernenko sah er einen zweitrangigen Opportunisten. Aber wie die übrige Alte Garde der Politbüro-Mitglieder hielt er Tschernenko unter den gegebenen Umständen nach Andropows Tod für die beste Wahl.
Die Lage nach dem Machtantritt Tschernenkos erlaubte es Gromyko, seinen Einfluß im Politbüro noch auszubauen und mehr denn je die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Mit seiner Erfahrung, seinem politischen Geschick und seinem Zugriff auf die Außenpolitik beeinflußt Gromyko zweifellos die Meinungen der übrigen Politbüro-Mitglieder. Seine Stimme wiegt wahrscheinlich schwerer als die jedes anderen Kollegen, wenn eine Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik ansteht.
Als ich Anfang der 70er Jahre Gromykos Wirken in den Sitzungen des Politbüros beobachten konnte, bemerkte ich, daß es für die anderen schwierig, wenn nicht gar unmöglich war, über seine Auffassungen zu diskutieren oder ihnen entgegenzutreten. Außer dem kürzlich verstorbenen Verteidigungsminister Ustinow konnte das kaum noch jemand wagen.
Trotzdem haben einige westliche Experten Gromykos Macht bezweifelt. Sie führen zu Recht an, daß er keine politische Basis in den wichtigsten sowjetischen Institutionen Partei, Streitkräfte und KGB besitzt.
Diese Beobachtungen übersehen jedoch die wichtigste Tatsache: Gromyko ist selbst zu einer sowjetischen Institution geworden - zum Symbol der Kontinuität und Stabilität des Systems, zu seinem mächtigen Verteidiger auf der internationalen Szene.
Er genießt einen ungeheuren Respekt nicht nur bei der Mehrheit der Sowjetbürger, sondern auch bei seinen politischen Gegnern, seinen Feinden.
Gromyko ist durch seine langjährige Erfahrung der wohl bestinformierte Außenminister der Welt. Seine politische Langlebigkeit verdankt er - mindestens zum Teil - auch der Tatsache, daß er, obwohl von Haus aus Wirtschaftsexperte, vermeidet, sich mit den inneren Problemen des Sowjetstaats zu belasten.
Er weiß nur zu gut, daß der wirtschaftliche Morast seines Landes undurchdringlich ist und schon mehr als einer Politikerkarriere zum Verhängnis wurde.
Gromyko hat sein politisches Geschick auch dadurch bewiesen, daß er sich aus Fehden und Kompetenzstreitigkeiten in Partei und Staatsbürokratie heraushält. Soweit möglich, verhält er sich neutral und geht allen versteckten Konflikten und Intrigen im Kreml aus dem Weg. Diese Vorsicht und sein feines Gespür für die Machtverteilung im Politbüro haben ihm die Führungskämpfe erspart, in denen sich schon so mancher begabte Politiker verschlissen hat.
Während seiner ganzen Laufbahn, ob nun als einfacher Vollstrecker oder auch als verantwortlicher Urheber sowjetischer Politik, hat Gromyko immer gewußt, wohin er gehörte und was ihm möglich war. Leute, die das nach seiner Meinung nicht so genau wissen, kann er nicht ausstehen.
Vorsicht war ihm schon früh zur zweiten Natur geworden, und was als verständliche Zurückhaltung in ihm begann, entwickelte sich allmählich zur Verschlossenheit. Fleiß, Gehorsam und Standfestigkeit brachten ihn auf seinem Lebensweg nach oben und bewahrten ihn gleichzeitig vor der Gefahr, in Richtungskämpfen auf der falschen Seite zu stehen - besonders in den Jahren unter Stalin.
Gromyko ist in vieler Hinsicht ein orthodoxer Kommunist geblieben. Doch wenn es um die künftige Entwicklung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen geht, denkt er in größeren Zeiträumen, als viele Beobachter in der Sowjet-Union oder auch im Westen wahrhaben wollen.
Ich habe an Gromyko nie den zum Reflex gewordenen Haß bemerkt, den viele Politiker seines Alters - und auch jüngere - gegen die Vereinigten Staaten oder die Amerikaner hegen. Ihn interessieren die USA nur als Supermacht und Rivale der Sowjet-Union im internationalen Kräftespiel.
Wie viele seiner Politikerkollegen respektiert Gromyko die amerikanische Stärke. Er ist zwar nicht gerade proamerikanisch eingestellt, aber im Gegensatz zu anderen Sowjetführern sieht er die Vereinigten Staaten nicht nur als den Hauptgegner, sondern auch als den Partner der Sowjet-Union - soweit die augenblicklichen oder längerfristigen Interessen beider Länder übereinstimmen oder parallel laufen. Ich glaube nicht, daß seine grundlegende Meinung zu diesem Thema sich inzwischen gewandelt hat.
Gromykos Konzeption für die internationale Politik ist zu einem guten Teil das klassische System des Gleichgewichts der Kräfte. Er ist ein gewiefter und ausdauernder Praktiker, beständig auf Vorteile für die Sowjet-Union aus, aber auch bereit, die westlichen Interessen im Rahmen des taktisch Nötigen zu berücksichtigen.
Seine Auffassungen zu den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, zur Europapolitik - besonders soweit sie Deutschland und Frankreich betreffen -, zur Abrüstung und zu den SALT-Verhandlungen beeinflussen maßgeblich die Marschrichtung der sowjetischen Außenpolitik.
Es ist gut, sich daran zu erinnern, daß Gromyko einer der Hauptinitiatoren der Entspannungspolitik war und immer noch ihr wichtigster Exponent im Politbüro ist.
Über die Entspannung und die SALT-1-Verhandlung zerstritt er sich so sehr mit dem damaligen Verteidigungsminister Andrej Gretschko, daß die beiden manchmal wochenlang kein Wort miteinander sprachen.
Aber in beiden Fragen setzte sich Gromyko schließlich durch.
In der Nixon-Ära war Gromyko faktisch der sowjetische Wortführer in den diplomatischen Gesprächen zwischen Kissinger und dem sowjetischen Botschafter Dobrynin. Wenn Dobrynins Berichte in Moskau eintrafen, las Gromyko sie als erster und entschied, wer sie noch zu Gesicht bekam.
Auf seinen Vorschlägen basierten dann die Entscheidungen zum sowjetisch-amerikanischen Verhältnis. Gromyko bemühte sich auch - oft vergebens -, den antiamerikanischen Eifer Jakow Maliks, des unübertroffenen Kalten Kriegers in den UN-Sitzungen, zu dämpfen.
Gromykos engste Mitarbeiter haben ihr Hauptaugenmerk ebenfalls auf die Vereinigten Staaten und Westeuropa gerichtet. Zu seinem Ersten Stellvertreter ernannte er einen alten Bekannten, den Amerika-Experten Georgij Kornijenko.
Sein Konfident im inneren Kreis ist Anatolij Kowaljow, ebenfalls Stellvertretender Außenminister, der sich auf die Europapolitik konzentriert. In jüngster Zeit wurde noch Wiktor Komplektow, ein weiterer ehemaliger Leiter der Amerika-Abteilung, in den Kreis der Gromyko-Stellvertreter aufgenommen. Sie alle können direkt mit dem Minister sprechen.
Im Gegensatz dazu bekommt zum Beispiel der Chef einer der drei Afrika-Abteilungen Gromyko monatelang nicht zu Gesicht - außer auf einer der großen Konferenzen des Ministeriums -, und er geht kaum fehl in der Annahme, daß der Minister die Berichte aus seinem Bereich höchstens überfliegt.
Trotz zahlloser Einladungen hat Gromyko Schwarzafrika nie besucht und mit Ausnahme Kubas kein lateinamerikanisches Land von innen gesehen. China interessiert ihn vor allem in der Optik des Dreiecks Moskau-Washington-Peking.
Wenn er mit uns über solche Einladungen sprach, hatte er immer die gleiche Begründung, sie auszuschlagen: "Was soll ich da? Worüber sollte ich mit denen sprechen? Nigeria (oder ein anderes Land) ist doch keine Weltmacht wie die Vereinigten Staaten."
Wenn ich Gromyko richtig einschätze, dann ärgert er sich beständig über die dauernde Gefährdung der sowjetischen Vorherrschaft in Osteuropa, und er betrachtet diese Länder als eine Belastung für uns.
Er sagte das zwar nie offen, aber ich hatte den Eindruck, daß es ihn einfach langweilte, mit Politikern aus den Ostblockländern zu verhandeln oder sie auch nur zu besuchen. Von den Falken im Zentralkomitee wurde er deshalb als ideologischer Leisetreter eingestuft.
Vor Gromykos Aufnahme ins Politbüro bekam ich von diesen Vertretern der harten Linie offene Kritik an seiner Politik zu hören: Er sei zu sehr auf "Realpolitik" in seinen Verhandlungen mit den Amerikanern bedacht.
Einmal, es war 1972, erlebte ich mit, wie Gromyko in peinlicher Weise aufgefordert wurde, seine Linientreue zu beweisen. Wir waren gerade zur UN-Vollversammlung in New York angekommen und hatten einen Durchschlag von Gromykos Redemanuskript in Moskau zurückgelassen. Der Text war im Außenministerium aufgesetzt worden und in letzter Minute an das Politbüro zur Kenntnisnahme gegangen.
Nun hatte das Außenministerium die Mitteilung eines Assistenten von Breschnew geschickt, einige Mitglieder des Politbüros fänden, die Rede beginne ohne die rechte ideologische Würze. Der Absender regte an, dem einen vorhandenen Breschnew-Zitat noch weitere hinzuzufügen, um die friedliebende Haltung der Sowjet-Union zu unterstreichen.
Als Gromyko sah, daß die Mitteilung von seinem ehemaligen Redenschreiber Alexandrow-Agentow unterzeichnet war, wurde er wütend. "Was ist in Alexandrow gefahren?" schimpfte er. "Was glaubt er eigentlich, wer er ist?"
Er hatte natürlich begriffen, daß Alexandrow auf Anweisung von Breschnew oder einem anderen Politbüro-Mitglied gehandelt hatte. Gromyko gab mir die Anweisung: "Hier, Arkadij Nikolajewitsch, nehmen Sie das an sich. Setzen Sie noch ein Breschnew-Zitat in die Rede ein, aber lassen Sie alles andere unverändert." Gromyko wußte, daß er es sich unter Breschnew leisten konnte, er selbst zu sein.
Alexandrow, das macht diese Episode deutlich, hatte vergessen, daß er Gromykos Protege war, und sich aus dem Einflußbereich des Außenministeriums entfernt. Der Vorfall war typisch für viele kleine Verrätereien innerhalb der Elite.
Auch ich muß zugeben, daß ich mich Gromyko gegenüber nicht ganz loyal verhielt, weil ich ihn nicht schon lange über Alexandrows heimliches Absetzmanöver informiert hatte.
Ich hatte Gromyko auch nicht berichtet, daß Boris Ponomarjow, der Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees, und dessen Freunde oft über ihn herzogen und ihn "den kleinen Außenamtsbürokraten" nannten. Doch als Gromyko zum Mitglied des Politbüros aufgestiegen war, waren solche abfälligen Äußerungen - zumindest in meiner Gegenwart - nicht mehr zu hören.
Unter den Molotow-Nachfolgern Wyschinski und Schepilow war nach dem Zweiten Weltkrieg der Einfluß des Außenministeriums auf die sowjetische Politik zurückgegangen. Unter Gromyko wurde dieser Einfluß wiederhergestellt.
Gromyko ist gewiß so raffiniert wie Machiavelli und ein so ungeheuer begabter Diplomat wie Fürst Talleyrand, der sich nicht nur als origineller Politdenker auszeichnete. Talleyrand überlebte auch als Außenminister die Französische Revolution ebenso wie die Ära Napoleons und setzte noch die Bourbonen-Dynastie wieder auf den Thron.
Gromyko würde den Vergleich wohl weit von sich weisen, und sei es nur wegen der adligen Abstammung Talleyrands.
Man macht es sich zu einfach, wenn man - wie einige westliche Beobachter - Gromyko lediglich als eine "diplomatische Mehrzweckwaffe" beschreibt. Er hält zäh an seinen tiefempfundenen Auffassungen und Überzeugungen fest und hat sie bereits oft mit Geschick und Raffinesse in die Tat umgesetzt.
Er ist imstande, seine Absichten jahrelang zu verschleiern, aber er gibt sie niemals auf und fährt unbeirrbar fort, die Fundamente zu ihrer Verwirklichung "Stein auf Stein", wie er gern sagt, zusammenzufügen.
Das eigentliche Erfolgsgeheimnis des Politikers Gromyko liegt vielleicht in dem Geschick, mit dem er immer wieder Lösungen und Kompromisse findet, die allen Richtungen in der Sowjetelite annehmbar erscheinen. Das Gegenbeispiel ist Chruschtschow, der erfahren mußte, was es heißt, wenn man sich nicht an dieses sowjetische Grundgesetz politischer Weisheit hält.
Als diplomatischer Unterhändler kann kaum jemand Gromyko das Wasser reichen. Er bereitet sich immer minuziös vor und treibt schon dadurch die meisten seiner Gegner mühelos in die Ecke. Selbst wenn die Sowjet-Union einen schlechten Stand hat, drängt er die Gegenseite in die Defensive.
Doch er kann ebenso eindrucksvoll agieren, wenn die Situation ihm die Rolle eines charmanten, verständnisvollen Partners nahelegt.
Gromyko ist ein Meister der Detailarbeit. Er nimmt einen Vorteil unauffällig ohne Gegenleistung wahr, und sein Verhandlungspartner begreift erst, was vorgeht, wenn es zu spät ist. Er ist ein guter Schauspieler, der keine Mühe hat, seine wahre Absicht und Gemütsverfassung zu verbergen.
Gewöhnlich gibt er sich seriös und nüchtern, aber zuweilen bekommt er auch - echte oder vorgetäuschte - Wutanfälle. Er kann undurchdringlich dreinschauen, aber auch zu neckischen Scherzen aufgelegt sein - obwohl seine witzigen Einfälle meistens etwas plump wirken.
Gromyko hat ein unübertroffenes Gespür dafür, wann er sich kompromißbereit zeigen und wann er ruppig auftreten muß. Ich habe verwundert mit angesehen, wie er manchmal plötzlich bei Verhandlungsbeginn eine Position aufgab, die wir nur im Notfall räumen wollten, und ebenso erlebt, wie er mit unglaublicher Hartnäckigkeit einen anderen Punkt verteidigte, den er ohne weiteres fallenlassen konnte, weil das Politbüro ihn bereits dazu ermächtigt hatte.
Gromyko ist bereits so lange im Amt, daß er glaubt, immer weitermachen zu können - mögen seine Diplomatenkollegen auch kommen und gehen. Sein Leitstern ist der marxistische Glaubenssatz, daß die objektive historische Entwicklung den Kommunismus - für Gromyko gleichbedeutend mit der Sowjet-Union - begünstigt.
Da die Zeit also ohnehin für die sowjetische Seite arbeite, so argumentiert er, kann er es sich leisten, dieselbe Meinung wochen-, monate- und jahrelang zu vertreten. Deshalb verfolgt er unbeirrbar und von keinen Zweifeln angekränkelt seine Ziele, auch wenn er irgendwann einmal einsehen muß, daß die sowjetischen Ziele im Moment unerreichbar sind.
Es ist schon erstaunlich, wie oft er am Ende doch erreicht, was er will. Henry Kissinger, der Gromyko oft am Verhandlungstisch gegenübersaß, weiß ein Lied davon zu singen.
Er faßt Gromykos Methode zusammen als "das geduldige Ansammeln unbedeutender Punktgewinne, bis sie sich zu einem handfesten Vorteil summieren". Zudem baut Gromyko, so ebenfalls Kissinger, "auf die Ungeduld seines Verhandlungspartners, um auf andere Weise nicht erreichbare Vorteile zu erlangen".
In seiner heutigen Machtposition ist Gromyko weit entfernt von dem altbekannten Griesgram, von dem Neinsager, als der er sich im Westen profiliert, und von dem Jasager, als der er sich in seiner Heimat empfohlen hatte. Er wird sich nie mehr auf einen Eisblock setzen, gleichgültig, auf wessen Befehl.
Er ist nicht mehr der Mann, der Kennedy 1962 erklärte, es seien keine sowjetischen Atomraketen auf Kuba stationiert, während Kennedy Photos von diesen Raketen besaß.
Ich glaube, Gromyko wußte zu der Zeit nicht genau, was auf Kuba vorging. Chruschtschow brachte es sicher fertig, ihn über dies oder jenes im dunkeln tappen zu lassen, genauso wie er es mit Botschafter Dobrynin in der Frage der Raketen auf Kuba tat. Heute gibt es jedoch keine Geheimnisse des Kreml, in die Gromyko nicht eingeweiht wäre.
Die Arbeit unter Gromyko ist fast wie ein Aufenthalt in der Hölle. Er ist sehr schwer zufriedenzustellen und kann so launisch sein wie seinerzeit Chruschtschow.
Man weiß nie genau, was er will, denn er will immer mehr, als er zunächst sagt.
Er verabscheut Unentschlossenheit und haßt Menschen, die nicht klar und ohne zu zögern auf seine Fragen antworten.
Er schert sich einfach nicht um die Tatsache, daß es manchmal so gut wie unmöglich ist, auf komplizierte Fragen sofort eine Antwort parat zu haben.
Zuweilen ist er grob und rücksichtslos zu seinen Mitarbeitern. Dann wird er laut und tut selbstherrlich so, als sei er allwissend und die anderen unaussprechlich dumm. Später, bei anderem Anlaß, besonders, wenn es ein gesellschaftlicher ist, bei dem er sich immer unsicher fühlt, gibt er sich dann freundlich, fast schüchtern, so als wäre nichts geschehen.
Gromyko lobt selten jemanden, auch wenn er mit dessen Leistung zufrieden ist. Respekt genießt er nicht nur bei Ausländern. Ich würde nicht wie Henry Kissinger sagen, daß ich ihn gern mag, aber ich respektiere ihn in vieler Hinsicht. Er ist ein fähiger Staatsmann und persönlich längst nicht so korrupt wie die meisten Sowjetführer. Ich kenne seinen Charakter sehr gut und glaube daher nicht, daß er jemals einen Menschen ins Gulag gebracht hat.
Gromyko hat sich im Lauf der Jahre mit einem undurchdringlichen Panzer umgeben, der ihm vor den Sorgen der Menschen den Schutz bietet, den wohl alle Sowjetführer sich wünschen und ohne den die Parteichefs seit Chruschtschow kaum noch auskommen können. Gromyko hat sich jedenfalls in seinem Kokon eingerichtet, als wäre er in ihm zur Welt gekommen.
Seine Tochter Emilija sagte einmal zu mir: "Mein Vater lebt über den Wolken. Seit fünfundzwanzig Jahren hat er nicht einmal einen Fuß in eine Moskauer Straße gesetzt. Er nimmt nur wahr, was er durch die Fenster seines Wagens ausmacht."
Zu der Zeit, als ich sein Berater war, brachte dieser Wagen ihn sechs Tage in der Woche morgens gegen zehn ins Ministerium und abends gegen sieben oder acht wieder nach Hause. Von diesem Zeitplan wich er nur ab, wenn dringende Dinge zu erledigen waren. Befand er sich erst einmal in dem Wolkenkratzer aus der Stalinzeit, der außer dem Außenministerium auch das Außenhandelsministerium beherbergt, fuhr er mit dem Lift - reserviert für ihn und seine ranghöchsten Beamten - direkt in sein Arbeitszimmer im siebenten Stock.
Hier hielt er sich auch - abgesehen von einer Mahlzeit in seinem privaten Speisezimmer - den ganzen Tag auf. Er las die Akten durch, die seine Mitarbeiter für ihn als wichtig erachteten, und empfing eine sorgfältig ausgewählte Schar von Spitzenbeamten seines Ministeriums oder Auslandsbesuchern. Über das Kreml-Telephon, die "Wertuschka", sprach er mit Politikern in seinem Rang außerhalb des Ministeriums oder auch mit seinen Stellvertretern - selten aber mit den Abteilungsleitern seines eigenen Hauses.
Gromyko ist ein vorbildlicher Familienvater. Er hat nur einmal geheiratet und ist seiner Frau Lidija Dmitrijewna treu ergeben. Sie hat beträchtlichen Einfluß - er hört gern auf sie. Ihre Ratschläge reichen von seinem Privatleben bis in die Regierungssphäre und betreffen besonders die Auswahl der Mitarbeiter für die Spitzenpositionen im Ministerium. Ein Spaßvogel unter den Beamten nannte sie einmal "den wahren Chef der Personalabteilung".
Gromyko versteht sich auch gut mit seinem Sohn Anatolij, der Chef des Afrika-Instituts der Akademie der Wissenschaften und Korrespondierendes Mitglied dieser angesehenen Institution ist.
Anatolij kann es sich wie seine Mutter und noch ein paar Freunde leisten, mit seinem Vater offen über die wahren Lebensverhältnisse der Sowjetbürger außerhalb der dünnen Kreml-Luft zu sprechen.
Mit seiner hochgebildeten Tochter Emilija versteht Gromyko sich prächtig. Sie hat ihr Geschichtsstudium mit dem Doktorgrad abgeschlossen. Ihr Vater hat sie verwöhnt, und sie kann genauso eigensinnig sein wie er, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Ein Beispiel dafür ist ihre Heirat mit Alexander Piradow, einem Professor für Internationales Recht am Moskauer Institut für internationale Beziehungen.
Piradow war viel älter als Emilija und hatte bereits zwei Ehen hinter sich. Seine erste Frau war die Tochter des Mitglieds der alten Führungsgarde Grigorij Ordschonikidse, der sich 1937 umbrachte, seine zweite die Chefredakteurin von "Gesundheit", einer der populärsten sowjetischen Monatszeitschriften.
Piradow stammt aus Georgien. Er ist geistreich und witzig, aber nicht sehr arbeitsam, und er redet zuviel. Er hat einen Hang zu leeren Versprechungen und gutem Wein.
Emilijas Eltern waren mit dieser Heirat nicht einverstanden, aber sie wollte Piradow unbedingt haben, und schließlich gaben Gromyko und seine Frau nach. Erst als sie Großeltern wurden, konnten sie sich ganz damit abfinden, und seither ist der Enkel Andrej ihr Liebling.
Gromyko ist zwar ein kunstverständiger, kultivierter Mann, aber er zeigt sich bei kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen nur, wenn es sich nicht umgehen läßt. Er liest viel - nicht nur politische und historische Bücher, sondern auch Belletristik. Der Bogen seiner bevorzugten Autoren reicht von Tolstoi über Shakespeare bis Mark Twain.
Er spricht fließend Englisch, fast täglich wird ihm die "New York Times" ins Haus geliefert, dazu kommen "Time" und andere Zeitschriften aus dem Westen. Gelegentlich kann er sogar über amerikanische Comic-strips und politische Cartoons lachen.
Er stöbert gern in historischen Archiven, ist ein Bewunderer des Fürsten Alexander Gortschakow, eines berühmten russischen Diplomaten aus dem vorigen Jahrhundert.
Er sieht gern Filme bei sich zu Hause in Moskau. In Glen Cove, wo die sowjetische Uno-Delegation wohnt, halten die Angestellten immer eine Kopie des sowjetischen Vorkriegsfilms "Pique Dame" nach der Novelle von Puschkin für ihn bereit. Er hat diesen Film mindestens ein dutzendmal gesehen, und die Angestellten erwarten, daß er ihn noch öfter sehen möchte.
Ihm gefiel der Hollywoodfilm "Vom Winde verweht", "Der Pate" ließ ihn kalt. Am liebsten sind ihm die amerikanischen Filme aus der Vorkriegszeit und den Kriegsjahren, als er sich in Washington und New York aufhielt. Während der für ihn veranstalteten Sondervorführungen in der UN-Botschaft sagt er, wer die Schauspieler sind, und bemerkt fortlaufend etwas über ihr Talent und ihre Lebensgeschichte.
Anscheinend war die relativ kurze Zeit während des Bündnisses gegen Hitler die schönste Zeit seines Lebens, ein Idyll, das er bei seinen Besuchen in New York immer wieder heraufbeschwören möchte.
Trotzdem ist sein Bild von Amerika - wie das von der Sowjet-Union - unvollständig. Der Mann auf der Straße kommt in seiner politischen Landschaft nicht vor. In New York sieht er nur das Innere der Gebäude, in denen er Ansprachen hält, arbeitet oder schläft. Spaziergänge unternimmt er nur auf dem einen Kilometer langen Rundgang innerhalb des ummauerten Grundstücks in Glen Cove.
Gromyko lebt fast wie ein Asket. Er raucht und trinkt nicht und war immer bei bester Gesundheit. Nach 1970 litt er aber plötzlich unter Kreislaufstörungen und hatte mehrere Ohnmachtsanfälle, einen sogar in einer Sitzung des Politbüros.
Er bekam Anweisung, weniger zu arbeiten und sich mehr auszuruhen. Seitdem geht er öfter auf Bären- und Entenjagd, spielt Schach mit seiner Frau Lidija und seinem Stellvertreter Anatolij Kowaljow.
Gromyko achtet sehr auf seine Kleidung. Er trägt gutsitzende Anzüge, die ihm die Schneiderwerkstatt des Außenministeriums aus teuren ausländischen Stoffen auf den Leib modelliert. Seinen Geschmack kann man getrost als konservativ bis fossil beschreiben, denn er hat sich in den Jahren, seit ich ihn kennenlernte, nicht um ein Jota verändert.
Seine Liebe zu einem bestimmten alten Borsalino-Modell, das inzwischen völlig aus der Mode war, hat mich einmal viel Zeit und Aufregung gekostet. Sein alter Hut, den er vor Jahrzehnten gekauft hatte, war völlig abgetragen und konnte nicht mehr aufgearbeitet werden. Er brauchte einen neuen.
So schwärmten bei einem seiner jährlichen Besuche die Assistenten aus, um irgendwo in New York den gleichen Hut aufzutreiben, sie kamen mit leeren Händen zurück. Gromyko aber bestand auf dem absolut gleichen Modell, obwohl ein Herrenausstatter erklärte, daß es seit 50 Jahren nicht mehr im Handel sei.
Seine Frau Lidija Dmitrijewna wandte sich in ihrer höchsten Not an mich: "Arkadij Nikolajewitsch, Sie kennen sich in New York besser aus als wir alle. Würden Sie Ihre Beziehungen spielen lassen, um den gleichen Borsalino für Andrej Andrejewitsch zu besorgen?"
Es war bestimmt leichter, eine verschollene Briefmarke oder eine seltene Kuriosität aufzutreiben, aber ein amerikanischer Freund half mir, Dutzende Läden von der Orchard Street bis zum Central Park abzuklappern - bis in einem staubigen Lagerraum ein Exemplar des Hutes ausgemacht werden konnte.
Gromyko wird am 18. Juli 76 Jahre alt und ist immer noch besser in Form als die anderen Politiker seines Jahrgangs. Er denkt noch lange nicht daran, in Pension zu gehen.
Westliche Auguren haben ihm die zweifelhafte Ehre erwiesen, ihn als den eigentlichen Initiator der 1984 vollzogenen Schwenkung des Kreml auf die ultraharte Linie gegenüber den USA herauszustellen. Damit haben diese Beobachter sich meiner Meinung nach geirrt.
Es ist im Gegenteil wahrscheinlicher, daß Gromyko versucht hat, mäßigend auf die Falken im Politbüro einzuwirken, um die Kälte und die manchmal beispiellose Feindseligkeit in den Beziehungen zwischen Moskau und Washington zu mildern, die am Ende der Amtszeit Carters und zu Beginn der Regierung Reagans vorherrschten.
Gromyko ist vielleicht noch unglücklicher über diese Entwicklung als seine westlichen Kollegen, weil sie an den größten Errungenschaften seines Lebenswerks nagt. Ich kann mir vorstellen, daß er jetzt wieder so wütend auf seine Landsleute ist wie 1983, als er in Madrid zur Rede gestellt wurde, weil sowjetische Abfangjäger den südkoreanischen Jumbo-Jet abgeschossen hatten.
Wäre Gromyko gefragt worden, hätte er dieses Vorgehen bestimmt nicht gebilligt. Er ist viel zu geschickt und erfahren, als daß er die Weltöffentlichkeit gegen sein Land durch aggressives Verhalten aufbrächte.
1960 jedenfalls riet er Chruschtschow davon ab, das amerikanische U-2-Spionageflugzeug abschießen zu lassen, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Kein Wunder auch, daß Gromyko wütend wird, wenn man ihn wegen der Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR anspricht. Für Auswanderungsgenehmigungen und die Behandlung der Dissidenten sind fast ausschließlich das Zentralkomitee und das KGB zuständig. Gromyko hat nichts damit zu tun und möchte sich auch nicht einmischen. Ihn interessieren Ideen, nicht der einzelne, eine politische Konzeption, nicht persönliche Tragödien.
In den letzten Jahren hat das sowjetische Führungskollektiv sich zugleich aggressiver und sensibler als sonst verhalten. Der Kreml mußte nicht nur außen- und innenpolitische Schlappen hinnehmen, sondern auch mit den Schwierigkeiten fertig werden, die sich aus dem Wachwechsel an der Spitze ergaben.
Die Sowjetführer igeln sich ein und reagieren hart und aggressiv, wann immer sie glauben, daß der Westen sie in einer schwachen Position vermutet oder sie bei einer Untat ertappt hat. Gromyko macht darin keine Ausnahme.
Durch die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Supermächten waren die Sowjets schließlich mehr im Nachteil, als sie erwartet hatten und sich leisten konnten. Sie sind vor allem darauf bedacht, die Gefahr einer atomaren Weltkatastrophe zu vermindern. Große Sorgen machen ihnen die amerikanischen Rüstungsanstrengungen und vor allem das "Krieg der Sterne"-Programm.
Am meisten fürchten sie, in dem unkontrollierten Wettlauf mit immer raffinierter konstruierten strategischen und raumgestützten Waffensystemen ins Hintertreffen zu geraten.
Sie mußten sich bereits mit der Stationierung der Pershing-2-Raketen und der Marschflugkörper in Westeuropa abfinden. Jetzt sehen sie ein, daß die Verschlechterung der Beziehungen mit Washington ihnen in ihrem Verhältnis zu Westeuropa geschadet, die Spannungen im Warschauer Pakt verstärkt und Peking eine Trumpfkarte gegen Moskau in die Hand gedrückt hat.
Zweifellos überblickt Gromyko das alles besser als seine Kollegen im Politbüro. Er weiß, es ist in Moskaus Interesse, normale Beziehungen mit den USA zu unterhalten - gleich wer in Washington Präsident ist und ob es den anderen Sowjetführern gefällt oder nicht.
Mit Gromyko wird noch einige Zeit zu rechnen sein, vorausgesetzt, es stößt ihm nichts zu. Es würde mich nicht überraschen, wenn er sich, unbeirrbar wie immer, an die Arbeit machte, um die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wieder zu normalisieren, auch wenn er wieder von vorn anfangen müßte, "Stein auf Stein".
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