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1  Das Jahr des Schafes    

 

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Das Stück eines österreichischen Gegenwartsautors, uraufgeführt am Wiener Burgtheater, wurde bereits vor der Premiere von klerikal-konservativer Beschimpfung und juristischen Drohungen eingeholt. Eine der provozierenden Rollen in diesem Stück, jene einer »Lodenfaschistin«, hatten insgesamt 28 Darstellerinnen abgelehnt. Den Part übernahm schließlich eine Schauspielerin aus der ehemaligen DDR.

 

Im Berliner Souvenir-Shop der SED-Nachfolgeorganisation PDS wurden Sticker verkauft mit dem Satz Mut zum Träumen. Beim Betrachten dieser Ware tat ein Besucher den Ausspruch, daß für die PDS Mut zur Wirklichkeit doch wohl angebrachter wäre.

 

Nächtlicher Landungsanflug auf Berlin-Tegel. Bei den Schleifen der Maschine über der Stadt zeigt sich die vor dem Herbst '89 am meisten erleuchtete Passage im Weichbild, die Grenze, inzwischen in provozierendes Dunkel getaucht. Auch dadurch bleibt ihr Verlauf weiterhin kenntlich. Die Unterschiede zwischen den durch die Mauer einst getrennten Stadthälften, die sich etwa bei Gängen durch die Straßen immer mehr zu verwischen scheinen, sind vom Flugzeug her deutlich wahrzunehmen. Der Westen ist das von Witold Gombrowicz so benannte »funkelnde Glitzerding« geblieben. Der Osten ist dämmerig. Immer noch.

Man hat wahrgenommen, daß der PDS-Chef Gregor Gysi nach der Offenlegung von großangelegten Geldschiebereien durch seine Partei einen ähnlichen Eindruck gemacht habe wie Uwe Barschel kurz vor seiner Ehrenwort-Pressekonferenz.

 

Nach Auskunft eines Klatschblattes ist ein durch seine DDR-kritischen Texte berühmt gewordener Autor aus dem vordem sogenannten deutschen Westen eine Liebesbeziehung eingegangen mit einer Journalistin, die in der ehemaligen DDR für ihre unbedingte Systemtreue bekannt gewesen war. Es wäre dies, wenn es denn stimmt, ein schönes Exempel für das von Helmut Kohl geforderte Versöhnungswerk.

 

Die frühere DDR-Strafvollzugsanstalt Berlin-Rummelsburg ist wiedereröffnet worden als ein Tagungs­zentrum, das sich in den Ankündigungen zumal seines Veranstaltungsservice rühmt.

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Nahe einem Badeort an der vormals zur DDR gehörenden Ostseeküste wird durch ein Schild hingewiesen auf die Existenz einer Surf-Schule. Das englische Wort surf bedeutet Brandung. Eine Surf-Schule hätte demnach die Aufgabe, das Meer eine seiner ureigenen Tätigkeiten zu lehren. Die Existenz der Surf-Schule könnte als Indiz dafür dienen, daß man denen da drüben eben alles beibringen muß.

 

Die Wiedervereinigung der beiden getrennten Teile Berlins äußert sich derzeit darin, daß in den westlichen Nobel-Stadtteilen Zehlendorf und Schlachtensee der Lärm, die Abfälle und die Schmierereien zunehmen, in östlichen Stadtvierteln wie Lichtenberg oder Köpenick die Zigarettenreklamen und die Porno-Shops.

 

Bei einer Reise durch das Münsterland, das in strahlendem Lichte liegt, stehe ich auf einem Bahnsteig des Hauptbahnhofs von Hamm. Statt des erwarteten Zuges, der Verspätung haben wird, rollt langsam ein Zug ein, dessen Waggons das Signet der Deutschen Reichsbahn aus der ehemaligen DDR tragen. Auch sonst verleugnet der Zug seine Herkunft nicht. Die Fenster sind blind. Die Waggons sind staubig. Innen riechen sie, stelle ich mir vor, nach den bekannten schlechten Desinfektionsmitteln. Ich entdecke, daß die Begegnung mit dem Zug inmitten der unverhofften Umgebung mich anrührt. Es ist wie ein Reflex von Heimweh. Ich bin beunruhigt wegen meiner Sehnsucht, die den Zuständen von Not und Verwahrlosung gilt. Ich frage mich, wieviele Menschen außer mir solche Empfindungen haben mögen.

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Ein Mann, Bürger der ehemaligen DDR, warf den Zuständen unter Ulbricht und Honecker vornehmlich ihren Mangel an kulinarischer Kultur vor. Die Mauer bedeutete für ihn die Aussperrung aus den Paradiesen des guten Essens. Als diese Mauer fiel, regte er sich dermaßen auf, daß sein Stoffwechsel durcheinandergeriet. Seither muß er auf strenge Diät achten.

 

Der ungarische Reformpolitiker Imre Pozsgay hat zu Recht angemerkt, daß der Sturz der realsozialistischen Systeme in Osteuropa auch die europäische Sozialdemokratie mitrisse.

 

Eine der in der gesamtdeutschen Debatte um die ideologischen Altlasten der ehemaligen DDR verwendeten Vokabeln lautet Gesinnungsästhetik. Formuliert nach dem Vorbild des von Max Weber erfundenen Begriffes Gesinnungsethik sagt er nichts anderes aus, als daß Gesinnung eine Ästhetik habe oder eine Ästhetik existiere, welche herrühre aus einer Gesinnung. Literaten in den fünf neuen Bundesländern könnten den Unsinn, den man ihnen mit dieser Vokabel nachredet, mühelos abwehren, wenn sie etwas gebildeter wären.

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Denn es ist nicht wahr«, hat ein Pole gesagt, der zur Zeit von Jaruzelskis Kriegsrecht im Internierungslager saß, »daß wir nur Opfer sind, wir sind Schuldige.«

 

Die alte DDR hatte sich in ihren Anfängen entschlossen, Friedrich II., den Preußenkönig, als Blutsäufer und Hauptakteur der deutschen Misere zu zeichnen. Im Laufe der Jahre sah man ihn differenzierter oder, in der Lieblingsvokabel damaliger Ideologen: dialektischer. Die Schlesischen Kriege waren da zwar nach wie vor ein Unheil gewesen, aber Friedrich hatte auch den Oderbruch kultivieren lassen und den Kartoffelanbau gefördert. Noch später wurde sein Denkmal wieder auf die Allee Unter den Linden gestellt, und der höchste Mann im Staate redet ausdrücklich von Friedrich dem Großen. Wieder einmal also, zum vierten, hat sich ein von Berlin aus regierter deutscher Staat durch seine kritiklose Berufung auf Fridericus Rex zugrunde gerichtet.

 

Nach einer Äußerung der sowjetischen Zeitung Moskowskije Nowosti hatte die deutsche Frage deswegen gelöst werden müssen, weil es nunmehr die sowjetische Frage gab. Ich halte diese Formulierung für angemessen, denn die sowjetische Frage, wie die deutsche, hat mit Teilung zu tun.

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Der Journalist Oldag erzählt einer in München erscheinenden Zeitung von seiner Begegnung mit Jürgen Fischer. Der ist ein inzwischen fünfzigjähriger Diplomchemiker mit Karriere im Werk für Mikroelektronik Zehdenick, nördlich von Berlin. Jürgen Fischer war früher Mitglied der SED. Er war ehrgeizig. Er wurde in dem Betrieb Abteilungsleiter. Man wählte ihn in die Kreisleitung der SED. Eine Zeitlang leitete er die Betriebsgruppe der Gewerkschaft. Er wurde Direktor für Kader und Bildung, am Ende Direktor des Gesamtbetriebs mit, immerhin, 1400 Arbeitsplätzen.

»Wir haben hohe Achtung vor der persönlichen Einsatzbereitschaft der führenden Genossen«, sagte im Oktober 1989 Jürgen Fischer und sagte: »Marktwirtschaft haben wir nicht nötig.« Nach dem Februar 1990 sagte er: »Ich versuche, den hohen Anforderungen der sozialen Marktwirtschaft gerecht zu werden.« Er wollte alle Arbeitskräfte behalten. Sie müßten nur das Doppelte produzieren. Die Leute produzierten, und das Werk wurde eine Kapitalgesellschaft. Fischer entwickelte ein Sanierungskonzept, danach waren bloß noch 500 bis 700 Arbeitsplätze zu halten. Die Leute begannen gegen Jürgen Fischer zu demonstrieren. Jürgen Fischer untersagte alle gewerkschaftliche Betätigung, stellte Mitarbeiter der früheren Staatssicherheitsbehörde ein und entließ 105 Arbeitskräfte.

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Die Kündigungen mußte er zurücknehmen. Sie verstießen gegen das Tarifabkommen. Jetzt wollte er radikal die Kosten senken und kaufte sieben neue Automobile. »Die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich geändert«, sagte er. Das SED-Parteiabzeichen am Revers hat er durch ein kleines goldenes Kleeblatt eingetauscht.

 

Nach einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa wollte sich in Sachsen der neugegründete Landesverband des Bundes der Vertriebenen einen Vorstand wählen. Alle dafür vorgeschlagenen Kandidaten waren früher Mitglieder der SED gewesen, die den Bund der Vertriebenen immer als eine Organisation von Revanchisten und Kriegstreibern verfolgt hatte. Die Wahl des Vorstandes ist daraufhin unterblieben.

 

Genug«, sagte mir ein nicht mehr junger Schöngeist mit erstem Wohnsitz in Hamburg-Harvestehude. Wir saßen in einem Kaffeehaus am oberen Kurfürstendamm, und mein Gesprächspartner blickte mißbilligend über die Köpfe des durchaus gemischten Publikums. »Unser Interesse für die ostdeutschen Zustände«, sagte er, »hat fünfzehn Monate gewährt. Das waren zehn Monate zuviel. Nun müssen wir daran denken, daß wir auch noch Verpflichtungen in der Toscana haben.«

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Auf einem Plakat der PDS lese ich die Parole: »Linke brauchen kein Vaterland.« Ich frage mich, wieso die PDS, als sie noch SED hieß, vierzig Jahre lang so inständig an einem Vaterland gebastelt hat. Natürlich, sie ist damit gescheitert. Die Parole hat etwas vom Fuchs und den Weintrauben in der klassischromanischen Fabel, aber sie läßt sich auch als Selbstkritik lesen. Parolen von einer so aufgeblähten Vieldeutigkeit, denke ich mir, fallen zu Recht ins Nichts.

 

Das Scheitern des SPD-Kanzlerkandidaten in Ostdeutschland ist damit erklärt worden, daß er aus dem Saarland stamme, was augenblicklich negative Erinnerungen an den gebürtigen Saarländer Erich Honecker wachrufen mußte. Die Wahrheit verhält sich etwas anders: Schon Erich Honecker ist gescheitert, weil er als gebürtiger Saarländer von Ostdeutschland keine Ahnung hatte.

 

Die frühere Ost-Berliner Universitätsbuchhandlung Unter den Linden ist in den Besitz eines rheinländischen Unternehmens übergegangen. Bei meinem ersten Besuch nach der Wiedereröffnung dortselbst entdeckte ich sofort hinter dem Eingang einen ausladenden Tisch mit Esoterik, welchen Anblick ich durchaus als eine Niederlage empfand.

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Man schildert mir diese Biographie: Eine Frau vom Geburtsjahrgang 1916 erlebte, als sie ein Kind war, die trostlosen Zustände der Hungerwinter nach dem Ersten Weltkrieg mitsamt dem Geldverfall und der Steckrüben-Marmelade. Ihre Jugend fiel in die Weltwirtschaftskrise. Der Beginn ihrer Ehe fiel unter die Zeichen der braunen Diktatur. Ihr Mann zog in Hitlers Krieg und kam nie zurück. Kurz vor dem Kriegsende wurde sie noch zwangsverpflichtet, in die Rüstungsproduktion. Ihre Wohnung wurde ausgebombt. Sie erlebte die russische Besetzung. Sie wurde Trümmerfrau. Sie zog ihre Kinder auf unter den materiellen Mängeln und immateriellen Zwängen von Walter Ulbrichts DDR.

Als Honeckers Mauer stand, machten ihre Kinder ihr Vorwürfe, daß sie nicht gemeinsam mit ihnen in den deutschen Westen geflohen wäre. Dann gingen diese Kinder, eines nach dem anderen, aus dem Haus. Sie arrangierten sich mit dem politischen System der DDR, machten Karriere und vergaßen ihre Mutter. Als die Frau ins Rentenalter eintrat, erhielt sie, da sie niemals eine höhere berufliche Qualifikation hatte erlangen dürfen, die niedrigste Rente. Der Betrag war eben ausreichend, ihre Miete in einem allmählich verfallenden Wohnhaus zu entrichten und die tägliche Ernährung zu bestreiten.

Ihre Kinder flohen, eines nach dem anderen, in den deutschen Westen. Gelegentlich erhielt die alte Frau von ihnen Pakete. Nach dem Sturz des Honecker-Regimes und der vollzogenen Währungsunion bezog sie wiederum die niedrigste Rente.

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Sie erfuhr, daß der private Besitzer des Mietshauses vorgesprochen habe und das Gebäude bald sanieren lassen möchte, was dann bedeutende Veränderungen für die gegenwärtigen Mieter mit sich brächte. Seit dem Fall der Mauer hatten ihre Kinder noch niemals Zeit gefunden, ihre alte Mutter zu besuchen. Die Kinder schreiben auch nicht oft. Möglicherweise haben sie wirtschaftliche Schwierigkeiten. Einen Platz in einem Altersheim kann die alte Frau nicht finden. Sie fragt sich, wofür sie eigentlich gelebt habe.

*

Lafontaine genoß als Kind eine geistliche Erziehung. Sein berufliches Tun hatte mit einem Fach zu tun, das man, im allgemeinsten Begriff, ein naturwissenschaftliches nennen kann. Vor allem darf man es als einen Übergang oder, besser, Vorwand sehen für den Ausbau seiner Karriere, denn von Anfang an stand ihm der Sinn nach persönlicher Nähe zur politischen Macht. Rasch war er darin erfolgreich. Er bediente bereitwillig den Zeitgeschmack. Seine hohe Intelligenz blieb unbestreitbar. Sein Spott konnte außerordentlich werden, seine verbalen Äußerungen wurden gefürchtet. Dabei leugnete er nicht seine Neigung zu parasitärem Genuß, zu feiner französischer Lebensart, und immer blieb das Zentrum seiner Neigungen Paris. Er schuf sich viele Feinde. Er brachte es zur Teilhabe an einem innersten Kreis der Einflußnahme, doch den absoluten Höhepunkt des von ihm gewählten Tuns hat er ständig verfehlt: Da waren andere davor. Die Rede ist von Jean de Lafontaine (1621-1695), Mitglied der Academie francaise, Freund Racines und Erneuerer der Fabeldichtung.

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Man erzählt mir von einem Berliner Vorort, Teil der früheren DDR, wo insgesamt 800 Fälle des ungeklärten Besitzes an Immobilien vorliegen. Da trotz des zweiten Staatsvertrages und der durch die übernommene Rechtssituation garantierten Eigentumsrechte die Besitzlage von Fall zu Fall unentschieden bleibt, setzen manche der Parteien auf Psychoterror. Bizarrester Fall ist jener einer westdeutschen Eigentümerfamilie, die sich vor das ihnen gehörige Grundstück Woche um Woche mit einem Wohnmobil postiert. Sie zermürben die Nerven der jetzigen Bewohner derart, daß sie, im Abstand von etwa zwei Stunden, an deren Tür schellen und das Ausleeren ihrer chemischen Toilette verlangen, was man ihnen, schon aus ökologischen Gründen, nicht gut verweigern kann. Das Wohnmobil ist auch sonst ausgestattet mit allerlei Signien des Komforts, etwa einer Fernseh­antenne. Die Außenwände zeigen in buntesten Farben einen Seestrand, mit Palmen, vor azurblauem Himmel.

 

Vor mir fährt eine schmutzig-graue Limousine durch die Straßen von Ostberlin. Auf dem Kofferraum klebt ein gelber Sticker mit der Aufschrift: Oh, frische Bohnen! Innen sitzen vier Offiziere der Roten Armee.

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Die früher im Dienst des SED-Staates beschäftigten Juristen eröffnen jetzt, da sie auf eine neuerliche Übernahme in den öffentlichen Dienst nicht hoffen dürfen, häufig eine Praxis als freier Rechtsanwalt. Ihre Schriftsätze zeichnen sich immer wieder aus durch ein stilistisch schlechtes und grammatisch fehlerhaftes Deutsch. Sprache ist, nach einem Ausspruch von Karl Marx, die Materie des menschlichen Denkens.

 

Täglich warte ich auf die Entdeckung, der Chef der alten DDR-Staatssicherheitsbehörde, Erich Mielke, habe sich selbst observieren lassen.

 

Werbung zur Bundestagswahl in Ostberlin. Ich fahre mit meinem Wagen auf einer verkehrsreichen Straße, als mir ein riesiges farbiges Plakat entgegenschwimmt, das den Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine im angeregten Gespräch mit Egon Krenz zeigt. Erst beim Näherkommen sehe ich, bei dem vermeintlichen Krenz handelt es sich um einen grinsenden Anonymus. An anderer Stelle wirbt für die CDU mit einem großen Porträt des wegen Parteispenden ins Gerede gekommenen früheren Flick-Managers von Brauchitsch. Hier braucht es mein mehrmaliges Hinblicken, daß ich auf dem Plakat endlich den Politiker Diepgen erkenne. An einer Werbewand steht in riesigen Lettern Die Löwen kommen! Statt der zu erwartenden Fahrzeuge einer französischen Automobilfirma erscheinen danach die Bilder von Genscher und Lambsdorff.

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Noch immer nicht hinreichend erklärt ist die Tatsache, daß die Staatssicherheitsbehörde in der alten DDR, ausgestattet mit Hunderttausenden von Mitarbeitern, versehen mit riesigen materiellen wie auch immateriellen Zuwendungen, exakt in jenem Augenblick vollständig versagte, auf dessen möglichen Eintritt hin sie einzig ins Leben gerufen worden war.

 

Durch Zufall gerate ich in den Vortrag eines Ostberliner Kulturwissenschaftlers über die Lage der Künste im ehemaligen SED-Staat. Es werden die Zumutungen aufgezählt, die Vorschriften, die Konflikte, die Verbote, die Knechtungen der Kunst durch die Zensur. Die Bilanz wird düster. Das Gesamturteil gerät vernichtend. Sonderbar nur, daß der Jargon immer noch jener blutleeren Formelsprache aus mäßig aufgeklärtem Spätmarxismus und wässeriger Kultursoziologie entstammt, wie sie bei entsprechenden Anlässen in der Endphase der Honecker-Herrschaft das übliche war. Von daher geblieben sind auch die eindimensionale Sicht und das Fehlen störender Fakten.

 

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Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski erzählt die folgende Geschichte:

»Ich war bei netten Leuten in Baden-Baden zu Gast. Eines Tages sagte mein Gastgeber zu mir: <Wissen Sie, wir Badener sind eigentlich keine Deutschen. Blicken Sie von der Terrasse aus nach Westen. Dort, wo Sie diese Wiesen und Weinberge sehen, ist schon Frankreich. Wir haben lateinische Gemüter, lieben Wein, schöne Frauen, Liebeslieder.> — Das war ein sehr sympathisches Erlebnis, es schien mir aber wenig wesentlich zu sein. – Einige Tage später war ich in Hamburg. Und dort hat mir ein netter Mann in einer Tweedjacke, die Pfeife im Mund, gesagt: <Wissen Sie, wir Hamburger sind eigentlich keine Deutschen. Wir haben eine hanseatische Tradition, skandinavische Sitten. Wir halten uns nicht für Deutsche.> — Ich erzählte ihm dann von meinem Gespräch in Baden-Baden und fragte: <Wenn es wirklich wahr ist, daß weder die Badener noch die Hamburger Deutsche sind, sagen Sie mir, bitte, wo die Deutschen leben.> – Er entgegnete sehr ruhig: <Fahren Sie in die DDR. Dort leben die Deutschen.>«

 

Ich fahre mit dem Wagen durch Dörfer in der Umgebung von Neuruppin. Ich sehe keines der sonstwo üblichen Zeichen für den eingetretenen Wandel. Kein politisches Plakat wirbt für eine der neuen Parteien. Keine Reklame fordert auf zum Erwerb bestimmter Zigaretten oder Kaffeesorten. Die Häuser verfallen. Die Stallungen der landwirtschaftlichen Genossenschaft sind groß, stillos und wirken ungepflegt. Die Straßen sind völlig entleert. Hinter den Fenstern flackert mit violettem Licht das eingeschaltete Fernsehgerät. Ich habe den Eindruck, der Herbst '89 habe nicht stattgefunden, die alte DDR existiere noch, regiert von der SED und dem Vorsitzenden Honecker. Die Vorstellung berührt mich wie eine eisige Hand.

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Nachdem Hans Modrow Abgeordneter zum Deutschen Bundestag und Peter-Michael Diestel Fraktionsvorsitzender im Landtag von Brandenburg geworden war, ließen sich kaum noch Einwände dagegen finden, daß man Otto Wiesheu in Bayern zum Staatssekretär berief.

 

Es wird offensichtlich, daß in unserem Jahrhundert Revolutionen nur dann zu dauerhaften Ergebnissen gelangen, wenn sie friedlich verlaufen. Dies zeigte sich mit dem Ende der faschistischen Regime auf der iberischen Halbinsel, mit dem Ende der Obristen-Diktatur in Griechenland, mit dem Sturz der Diktaturen auf den Philippinen und in Chile, mit der überwiegend friedlichen Auflösung realsozialistischer Regimes in Ost-Europa. Instabilität herrscht lediglich dort, wo auch jetzt wieder Gewalt im Spiel war, etwa in Rumänien. Hingegen ist die auf friedlichem Weg zur Macht gelangte Corazon Aquino, der man von einem Mal aufs andere das rasche Scheitern prophezeite, immer noch wie selbstverständlich im Amt. Man muß den Eindruck bekommen, als sei, zweitausend Jahre nach ihrer Verkündigung und ausgerechnet in einer Zeit nachlassender religiöser Intensitäten, die Bergpredigt dabei, zum erfolgreichen Modell praktischer Innenpolitik zu werden.

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In seinem als Buch erschienenen Interview teilt Erich Honecker mit, daß er seine Ablösung von den höchsten Staatsämtern der damaligen DDR und das politische Ende der DDR als Resultat grenzenüberschreitender Verschwörungen, des Verrats vermeintlicher Freunde und des internationalen Klassenkampfes sieht. Besonders deprimiert, daß er vom Inhalt seiner Worte offenbar gänzlich überzeugt ist.

 

Es gab kurz vor dem Ende der realsozialistischen Ordnungen in den davon betroffenen Ländern politische Anekdoten, die den nahen Zusammenbruch vorwegnahmen. Dazu gehört jene vom Kreml-Mausoleum, wo das Totenbett eines Morgens geräumt ist und lediglich ein handschriftlicher Zettel verblieb: »War alles ein Irrtum. Bin zurück nach Zürich. W. I. Lenin«. Oder jener modifizierte Marx-Ausspruch: »Proletarier aller Länder - verzeiht mir!«  Ein hierher gehöriger Ausspruch hat den beunruhigenden Vorzug, original zu sein, nämlich diese Äußerung von Friedrich Engels: »... wenn das so fortgeht, so fürcht ich gar, daß der Herrgott mir meine Schriften übersieht und mich in den Himmel läßt.«

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Die unbestreitbare Ausstrahlung des PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi scheint mir nicht darin zu bestehen, daß er ein Sozialist, sondern darin, daß er ein Spieler ist.

 

Journalist und SED-Mitglied, da hat man es bei vielen DDR-Bürgern doppelt schwer, glaubwürdig zu sein.«, äußerten im Spätherbst 1989 zwei Thüringer Zeitungsleute. Da es inzwischen weder eine SED noch DDR-Bürger mehr gibt, werden sie sich wohl in dem Glauben wiegen, sie hätten ihre Glaubwürdigkeit zurück.

 

In einer Wochenzeitung lese ich über die Zustände an der Universität Leipzig. Dort waren nach einer Aufstellung vom Juni 1990 fast 81 Prozent aller amtierenden Professoren ehemalige Mitarbeiter der Staatspartei SED. Erzählt wird das Beispiel des Direktors im Institut für Physiologie, Bereich Medizin, Peter Schwarze. Er war bis zum Jahre 1980 SED-Parteisekretär gewesen und sei eingesetzt worden, da der vorherige Institutsdirektor verstorben war. Schwarzes fachliche Qualifikation sei von der Berufungs­kommission nicht diskutiert worden. Er selbst habe seinen Forschungen eine »Weltspitzen­leistung« attestiert, während andere Wissenschaftler sie für durchaus banal hielten. Er sei Mitglied der früheren Volkskammer und des Beirates im alten DDR-Gesundheitsministerium gewesen.

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Seine Ehefrau sei Direktor eines auf seine Initiative hin neugeschaffenen Instituts für Pathophysiologie geworden, seine beiden Kinder hätten an eben diesem Institut promoviert, mit den Eltern als Gutachtern.

Erzählt wird das Beispiel des Direktors der Sektion Veterinärmedizin, Schwark. Er nutzte die eigentlich für Rinderstallungen vorgesehenen Gelder in Höhe von 195.000 Mark, um sich eine sogenannte Kulturbaracke am Stadtrand bauen zu lassen. Während die Rinderställe verkommen seien, habe man aus der entsprechend umfunktionierten Kulturbaracke heraus Jagden auf die universitätseigenen Damhirschherden veranstaltet. Nach dem Herbst '89 sei Schwark von Mitarbeitern der Sektion Tiermedizin in einer Beschwerde des Amtsmißbrauchs und der Inanspruchnahme ungerechtfertigter Privilegien beschuldigt worden. Resultat sei gewesen, daß Schwark durch die Universität mit der Untersuchung seiner eigenen Fehltritte beauftragt worden sei, während die hauseigene Universitätszeitung die Beschwerde als Verleumdung bezeichnete. Die daraufhin eingeschaltete Staatsanwaltschaft habe förmliche Gesetzesverstöße Schwarks festgestellt. Das Bildungsministerium in der Regierung de Maiziere habe von der Universität gefordert, Schwark zu entlassen, woraufhin ihn die Universität aus gesundheitlichen Gründen und auf dessen eigenen Wunsch hin abberief.

Erzählt wird das Beispiel des Mathematikprofessors Laßner, der am 9. Oktober 1989, als in Leipzig die für das weitere politische Schicksal der gesamten DDR entscheidende Massendemonstration stattfand, geäußert haben soll: »Und wenn es sein muß, muß auch geschossen werden. Wir haben ja alle das Schießen gelernt.«

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Erzählt wird, daß noch im Juli 1990 ehemalige Parteisekretäre, Parteileitungsmitglieder und Kommandeure der SED-Kampfgruppen zu ordentlichen Professoren und Dozenten berufen wurden, in Leipzig wie in anderen Universitäten auch. »Die immer wieder vertagte Selbstreinigung der Universität muß jetzt geschehen«, sagen die Verfasser des Artikels. Ihr Tonfall teilt mit, daß sie an den Vollzug ihrer Forderung selbst nicht glauben.

 

Andrzej Szczypiorski, aufgewachsen im von Deutschen besetzten Warschau, später Häftling im deutschen Konzentrationslager Sachsenhausen, tadelt die deutschen Gegner der deutschen Wiedervereinigung. Die Meinung, der einheitliche deutsche Staat sei gleichbedeutend mit einer politischen Bedrohung der übrigen Welt, gehe aus von der selbstverständlichen Überzeugung einer deutschen Besonderheit: »Als ob hier die Rede von Giganten, von Titanen und nicht von Durchschnittsmenschen wäre.« Die Meinung, daß man die Deutschen anders behandeln müsse als andere Völker, sei ein »Zeugnis nationalistischer Illusionen«.

 

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Manchmal träume ich, daß ich aus der Haustür trete, und vor den Fenstern gegenüber weht wieder die Fahne mit dem Wappen von Hammer und Zirkel im Ährenkranz. Ich ziehe die Tageszeitung aus dem Briefschlitz. Sie ist im Umfange dünn. Ihre Schlagzeile berichtet vom letzten Plenum des Zentralkomitees der SED. Ich erkenne den Umriß meiner Nachbarin hinter der Fensterscheibe. Ich weiß, sie notiert jetzt für die sie beauftragende Behörde den genauen Zeitpunkt, da ich mein Haus verlasse. Heimlich lache ich über sie und ihr sinnloses Tun. Ich gehe bis zum nächsten Lebensmittelgeschäft, wo in den Fenstern schmutziges, halbwelkes Gemüse liegt. Die Preise im Laden sind niedrig. Das Angebot ist schlecht. Die Käufer äußern ihren Unmut in verächtlichen Bemerkungen. Nebenan beim Fleischer stehen in langer Reihe die Leute, sie warten auf sogenanntes Edelfleisch. Aus einem halbgeöffneten Fenster ertönt die monotone Stimme von Ministerpräsident Stoph. Am Stamm eines der Straßenbäume hängt ein handgefertigtes Plakat, es wirbt für einen Rentnernachmittag mit Kinderchor und Kuchen. Zwei Männer in Bauarbeiter-Overalls lehnen an einem Gartenzaun, jeder hält in der Hand eine geöffnete Flasche, die beiden betrinken sich. Mit überhöhter Geschwindigkeit fährt der Dienstwagen des Ortsbürgermeisters durch eine Pfütze, daß ich beiseite springen muß. Aus dem Halbdunkel einer Toreinfahrt tritt jetzt ein Mann. Er zeigt mir flüchtig seinen schmalen Dienstausweis und teilt mir meine vorläufige Festnahme mit.

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Entdeckung bei der Lektüre des Erich-Honecker-Erinnerungsbuches »Der Sturz«: die Sprache. Sie ist grau, umständlich, kraftlos, manchmal peinlich burschikos, immer geprägt von einer quälend ins Leere laufenden Didaktik. Sie war die Sprache der gesamten alten DDR. Sie beherrschte fast sämtliche Zeitungen, Vorträge, den Ausbildungsbetrieb, die offiziellen Verlautbarungen, die veröffentlichten Dokumente zur Zeitgeschichte, die Gespräche in politischen Versammlungen, die Schulaufsätze der Kinder. Eine ganze Bevölkerung kommunizierte im Zungenschlag eines einzelnen Menschen. Sein Sprachstil wurde ebenso flächendeckend wie die Observation durch die von ihm zu verantwortende Geheimpolizei.

 

Dabei wird nicht ausgeschlossen«, erfahre ich in einem Bericht über den Kulturbetrieb, »daß die frühere SED-Frömmigkeit eine Qualität sei, die ihren Mann auch heute empfiehlt, sofern er sich geschickt gewendet hat.«

 

In Auseinandersetzungen um die geistigen Altlasten des SED-Regimes kehren diese Entschuldigungs­formeln immer wieder: Wir haben von den Verbrechen nichts gewußt. Wir haben von den Verbrechen nichts wissen können. Wir haben nur immer das Beste gewollt. Man hat uns betrogen. Man hat unsere ehrliche Überzeugung mißbraucht. So schlimm waren die Dinge nun wieder nicht. Es gab doch auch manches Positive. Die Schuld für das Geschehene trägt allein die ehemalige Führung. Wir können uns nicht ewig Asche aufs Haupt streuen. Wir müssen den Blick nach vorne richten. – Dies alles sind exakt die Entschuldigungsformeln, mit denen die Deutschen des Jahres 1945 sich zu der soeben beendeten Herrschaft Adolf Hitlers verhielten.

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Bei Richard Schröder, ostdeutschem Theologen und Sozialdemokraten, lese ich: »Es hat sich doch bei uns nicht die Überzeugung breitgemacht, Lügen und Betrügen und Bespitzeln seien gut. Vielmehr war unser Übel der zu hohe Preis für Aufrichtigkeit.« 

Ich lese: »Im Westen sind Helden genauso dünn gesät wie im Osten. Und wenn es um Moral geht, schneidet der Westen so glänzend nicht ab. Die Verhältnisse dürfen eben nicht wiederkehren, in denen für Selbstverständliches Heldenmut nötig war.«

 

In Leipzig, erfahre ich, hat der Finanzdezernent der neuen Stadtverwaltung, als es um die Vergabe eines größeren Grundstücks ging, grob eigenmächtig und zum Nachteil der Stadt gehandelt. Bei der Entscheidung, ob man ihn daraufhin entlassen solle, war zu bedenken, daß ein geeigneter Ersatz für ihn schwerlich zu finden sei, da es kaum jemanden gebe, der für so wenig Geld eine solche Arbeit verrichten wolle.

 

Das Wort Trauerarbeit klingt scheußlich. Wie alle sprachliche Scheußlichkeit ist es auch falsch. Obschon erfunden von dem Juden Freud im katholischen Wien, atmet es den Geist des Calvinismus. Der Begriff Arbeit setzt Willen und Anstrengung voraus. Er verheißt Belohnung und Abschluß. Er brüskiert das Gefühl. Er nimmt der Trauer das Metaphysische. Er wurde und wird genau dort zum Erfolg, wo man Trauer am liebsten verweigert. Er bestätigt jene Lüge, deren Widerlegung zu sein er vorgibt.

 

Aus den Stellengesuchen der im Axel-Springer-Verlag erscheinenden Berliner Morgenpost: 

»Offizier, (ehem. MfS/Personen- und Objektschutz,) — 41 J., FS-Kriminalist, Führerschein Kl. III, Englisch­kenntnisse, ungekündigt, loyal, flexibel, belastbar, zielstrebig und selbständig arbeitend, Aufgabengebiet im MfS: Vorbeugende Suche und Identifizierung von SVG; Sprengmittelerlaubnis vorhanden. — Ehem. MfS-Offiz. 35 J., Kfz-Schl., FS-Jurist, FS Kl. III, Erfahr. in analyt. Tät. mit gewaltbez. Arb. gegenst., umschulungsbereit, Vertrieb, Banken, Sicherheit.«

 

Frage eines sächsischen Kindes unmittelbar vor der gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990: »Vati, wenn wir jetzt zum drittenmal Onkel Helmut wählen, sind wir dann endlich Wessis?«

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  Rolf Schneider 1992