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Anmerkung eines Israeli zu den neuen deutschen Zuständen: »Da haben die Deutschen sechs Millionen Juden abgeschlachtet, und jetzt sieht es so aus: Das war's dann.«

 

Beim Wiederlesen meiner Tagebuch-Notizen aus dem Sommer 1990 treffe ich auf das Zitat: »In Sachen deutscher Vereinigung sind alle Novizen.« Dieser Ausspruch der Publizistin Cora Stephan ist von bemerkenswerter Weisheit. Noviziate dauern mindestens ein Jahr, eher drei Jahre. Nach dem Ende des Noviziats wird eingeschworen. Erst nach nochmals drei Jahren wird die Zusammen­gehörigkeit ganz vollzogen.

 

Es ist von einiger Aussagekraft, wenn ein langjähriges Mitglied der Rote Armee Fraktion, ausgewiesen als Killer, die Zeit seines Aufenthaltes in der DDR als die besten Jahre seines Lebens bezeichnet.

 

Erstmals seit sehr langer Zeit zu Fuß die frühere Luisenstraße hinab, vom Brandenburger Tor Richtung Charite. Die Sichtblenden nach Westen sind eingerissen. Das Gebäude des Reichstags ist schamlos nah. Eine Wohnhauszeile, eben fertiggestellt, DDR-Postmoderne, wie lustlos. Das einsame, strahlend renovierte Geschäftshaus ist eine Apotheke. Geschäftliche Neugründungen hinter armseligen Fassaden, als bestünden sie seit Jahren. Das ehemalige Staatssekretariat für Kirchenfragen ist wieder veterinärmedizinisches Universitätsinstitut. Geruch der Apathie. Die Akademie der Künste gleicht einem verfaulten Mausoleum. Hundedreck. Betriebsamkeit vorm Krankenhaus, Leute in achtloser Kleidung, ein paar weiße Kittel. Vor der Einmündung in die Invalidenstraße staut sich Autoverkehr. Der neue Charite-Turm ist proportionslos, viel zu hoch. Trümmer, Baugerüste, zerfetzte Reklamen. Ich muß an Downtown Manhattan denken.

 

Wandlitz«, lese ich, »war wahrlich nicht die Elbchaussee: die Nomenklatura des Westens verbäte sich das Privileg, in einem derart popeligen Bonzengetto einquartiert zu werden.«

 

Bei einer Podiums-Diskussion in Leipzig gab es erstmals öffentliche Schuldbekenntnisse. Gleich gab es sie in Menge. Dies machte den Eindruck von modischem Flagellantismus, der, wenn die modische Trotzbehauptung des kollektiven guten Gewissens in der ehemaligen DDR erst abgenutzt ist, unser flächendeckendes Schicksal zu werden verspricht.

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Für die Probleme, die sich aus der deutschen Einheit ergeben«, lese ich, »sind laut Kohl keine zusätzlichen steuerlichen Belastungen erforderlich. Bitterfeld liegt ja nicht in Deutschland, sondern in der Umwelt.«

 

Zeitungsbericht: Der Zahnarzt Peter Markula aus Cottbus hatte 1988 ohne staatliche Erlaubnis die DDR verlassen. Er hinterließ ein neugebautes Einfamilienhaus auf 2600 Quadratmeter großem Grundstück, das von der Stadtverwaltung beschlagnahmt und zum Preise von 160000 Mark der DDR verkauft wurde an den Chefarzt Dieter Müller. Hierbei seien, heißt es, die guten Beziehungen Müllers zur SED-Bezirksleitung maßgeblich gewesen. Im Herbst 1990 versuchte Zahnarzt Markula, sein Eigentum zurückzuerhalten. Er strengte zu diesem Zweck eine Klage vor dem Kreisgericht Cottbus an. In der Verhandlung bestand Chefarzt Müller weiterhin auf der Rechtmäßigkeit seines Kaufes. Der damalige Leiter der Finanzabteilung, die den Verkauf veranlaßt hatte, ist inzwischen Oberbürgermeister. Auch die anderen damals mit der Sache befaßten Personen sind ausnahmslos weiterhin in der Cottbuser Stadtverwaltung beschäftigt. Die Zivilkammer des Kreisgerichtes erklärte sich als nicht zuständig für den Fall und wies die Klage von Zahnarzt Markula ab.

 

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Von außerordentlicher Weisheit geprägt war die verbale Verwechslung, die einem Programmsprecher im ostdeutschen Radio unterlief, als er kurz vor den Bundestagswahlen vom Dezember 1990 mitteilte: »Für den Inhalt der Parteien sind die Werbespots verantwortlich

 

Eine Gruppe der Bürgerbewegung nahestehender Jugendlicher, in Leipzig wohnhaft, verfertigte Transparente, die äußerlich Spruchbändern der Honecker-Ara ähnelten. Weiße Aufschriften auf rotem Stoffgrund kündeten: »Vorwärts zum 42. Jahrestag der BRD!« Oder: »Die Lehre von Ludwig Erhard ist richtig, weil sie wahr ist!« Oder: »Weiter voran unter dem Banner von Adenauer, Erhard und Kohl!« Die Transparente sollten vorgezeigt werden bei einer Demonstration, auf der Leipziger Ringstraße, an einem Montag, in Erinnerung an jene Protestzüge, mit denen die alte DDR gestürzt worden war. Die Transparente blieben ungezeigt. Die Demonstration fiel aus wegen Mangel an Teilnehmern. Ein Streik der Reichsbahn verhinderte, daß die vereinbarte personelle Verstärkung von außerhalb rechtzeitig eintraf.

 

Erinnerungen an die alte DDR. In einem Vorratsschrank finde ich ein kleines Döschen mit der Warenaufschrift »HSL 1915100 NAKA. VEB Gewürzmühle Leipzig im VEB Kombinat Nahrungsmittel und Kaffee«. Bei dem Inhalt des Döschens handelte es sich um Kapern.

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Der Manager einer großen Versicherungsanstalt berichtet, für die geplante Erweiterung seiner Organisation in den fünf neuen Bundesländern habe er Personal über eine Stellenanzeige gesucht. Zu seinem Erstaunen hätten sich ausschließlich ehemalige Angehörige der DDR-Staatssicherheitsbehörden sowie dechargierte Offiziere der Nationalen Volksarmee gemeldet. Die Erklärung für diesen Bewerberkreis lieferte der Wortlaut der Stellenanzeige. Es war darin vom Aufbau einer »General-Agentur« die Rede.

 

Hermann Kant, Schriftsteller der ehemaligen DDR und flottester Zyniker der deutschen Gegenwarts-Belletristik nach Arnolt Bronnen, äußerte in einem Zeitungsinterview, das beste an der DDR sei der Traum gewesen, den man von ihr hatte, und das schlechteste an ihr, daß es sie nicht mehr gebe. In Wahrheit verhalten sich die Dinge genau umgekehrt.

 

In einem Verkaufsgeschäft der fränkischen Stadt Hof, die nahe zur ehemaligen DDR liegt und dem von dorther eindringenden Einkaufstourismus in besonderem Maße ausgesetzt ist, wurde eine Verkäuferin, die aus Sachsen stammte, von der Firmenleitung aufgefordert, ihren Dialekt zu unterdrücken und Hochdeutsch zu lernen, mit der Begründung, Sächsisch sei geschäftsschädigend.

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Veränderungen nach der deutschen Einheit. Ich erhielt Besuch eines alten Freundes aus Bayern. Früher redeten wir bei solchen Zusammentreffen über Tod und Leben, über Unfreiheit, über Kunst, über Kommunismus, über die Unerforschlichkeiten der slawischen Seele. Diesmal redeten wir etwas über Politik, dann bloß noch über Immobiliengeschäfte, Steuerprogressionen, Abschreibungssummen, Investitionszulagen, Reisepauschalen, Freibeträge, Wertermittlung und Anlageberater.

 

Man hat angemerkt, die Wirtschaft der ehemaligen DDR werde derzeit von zwanzigjährigen Yuppies mit vierzigjähriger Berufserfahrung übernommen.

 

Im Fernsehen läuft eine Dokumentation über die Jagdgewohnheiten der alten DDR-Nomenklatura. Daß die Schorfheide vor dem Staatsratsvorsitzenden Honecker bereits Kaiser Wilhelm und Marschall Göring als weidmännisches Territorium diente, läßt erkennen, in welcher Nachfolge man sich verstand. Die Wälder sind inzwischen von Wild völlig überbesetzt, um das zehnfache der zulässigen Menge. Ich erinnere mich an Fahrten durch Mecklenburg, wo Rehe in riesigen Rudeln auf Feldern mit Herbstsaat standen. Der Fernsehfilm zeigt einen mit weißer Keramik ausgekleideten Keller. Leere Fleischhaken hängen an der Wand. Auf dem Boden liegen um die hundert Geweihe, sinnlos geordnet. 

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Ein Förster erzählt von den Jagdgewohnheiten der hohen Herren. Sie seien exzellente Schützen gewesen, doch keine Heger. Es sei ihnen bloß um das Schießen gegangen, um das Töten. Ein riesiges Silo wird gezeigt, mitten im Forst. Hier wurde Futter für das Wild gelagert. Täglich war eine Tonne auszugeben, die Tiere sollten zutraulich werden und dadurch leichter vorzuführen sein. Das Schießen erfolgte, allem Komment zuwider, aus dem Wagen. Sie behandelten das Jagdwild wie ihre Untertanen. Sie behandelten ihre Untertanen wie das Jagdwild.

 

In Ungarn ist die Verbrechensrate im ersten Halbjahr 1990 um 40 Prozent gestiegen, die Zahl der Einbrüche hat sich um 65, die der Diebstähle um 54 Prozent erhöht. In Polen stieg die Kriminalitätsrate um 70 Prozent an. Der Wenzelsplatz in Prag, das Heiligtum der tschechischen Unabhängigkeit, heißt im Volksmund »Platz der Taschendiebe«.

 

Ein schönes Zeugnis für Erfahrungen im Realsozialismus selbst bei führenden Angehörigen der Nomenklatura liefert dieser Ausspruch des ehemaligen bulgarischen Staats- und Parteichefs Todor Schiwkoff: »Wenn ich es noch mal machen müßte, dann nicht mehr als Kommunist, und wenn Lenin noch lebte, würde er genau dasselbe sagen.«

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Seit dem Datum der deutschen Einheit, lese ich, zeigen sich auf dem Gebiet der fünf neuen Bundesländer vermehrt Stadtstreicher und Obdachlose. Ihre bevorzugten Aufenthaltsorte sind zum Beispiel Magdeburg und Berlin. Für Leipzig liegen Schätzungen vor, wonach die Zahl der Angehörigen dieses Personenkreises innerhalb der Stadt auf 400 zu beziffern sei. Eine der wenigen Institutionen, die sich um solche Menschen kümmern, ist die Diakonie der evangelischen Kirchen. Auch der erste städtische Beauftragte für die Nichtseßhaften in Leipzig ist ein ehemals kirchlicher Mitarbeiter. Er drängt auf die Fertigstellung eines ersten Asyls, einer aufgelassenen Villa, die etwa 50 Betten bereitstellen wird. Die anderen Obdachlosen werden weiterhin dort nächtigen müssen, wo sie vorerst allesamt nächtigen, das ist in Abrißhäusern, in abgestellten Eisenbahnzügen oder in der stinkenden Herrentoilette des Leipziger Hauptbahnhofs. 

Ein charakteristisches Schicksal aus jener Personengruppe ist das des Enrico I., 21 Jahre alt. Sommer 1989 floh er aus der alten DDR über Ungarn, lebte zunächst in Frankfurt, später in München, probierte sich in mehreren Berufen und scheiterte darin. Er wurde vom Heimweh überwältigt und kehrte nach Leipzig zurück. Er fand keine Unterkunft und keine Arbeit. Sein einziger Besitz ist ein Schlafsack. 

Oder Rudolf P. Er lebte 50 Jahre lang in der gleichen Wohnung, dann wurde das zugehörige Haus abgerissen, Rudolf P. lud einige seiner Habseligkeiten in einen Kunststoffbeutel, den er seither ständig mit sich führt, denn er fand keine neue Bleibe. Er ist 71 Jahre alt. Er zeigt auf seine Jackentasche und sagt: »Hier oben drin hab' ich die einzige Hoffnung, auf die ich mich verlassen kann.« Bei dem Inhalt der Tasche handelt es sich um eine Rasierklinge.

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In einem Kommentar zu Enthüllungen über vermeintliche oder tatsächliche Zuarbeiten, welche Angehörige der neuen politischen Klasse in Deutschland dem früheren Ministerium für Staatssicherheit der DDR leisteten, entdecke ich Worte des Erstaunens darüber, daß »der tote Geheimdienst eines nicht mehr existenten Landes immer noch Wirkung« zeitige. Die Lösung des Rätsels besteht darin, daß jener Geheimdienst eben nicht tot, sondern bloß untot ist. Seine Mitglieder führen demgemäß eine zwanghafte Existenz als Vampire, mit der bekannten Eigenart, unschuldige Menschen heimlich zu überwältigen, auszusaugen und zu infizieren. Als oberster Untoter macht der zuzeiten auf dem transsilvanischen Balkan ansässige Markus Wolf als Graf Dracula eine ausgezeichnete Figur.

 

Es fällt mir auf, daß jetzt, Ende des Jahres 1990, eine einstige Lieblingsvokabel des sterbenden ostdeutschen Staates, das Wort von der DDR-Identität, völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist. Das hat nicht so sehr damit zu tun, daß es die DDR nicht mehr gibt, sondern damit, daß es sich um ein Synonym handelte für das Wort Pfründe.

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In einem Zeitungsbericht über die gegenwärtigen Zustände in Polen lese ich diese Sätze: »Wo früher der Parteisekretär unumschränkt herrschte, hat heute oft der lokale Chef der Solidarnosc die Macht. Souverän hievt er Freunde und Vertraute in wichtige Positionen und verteilt Privilegien unter sie. Statt des Parteibuchs der KP gilt nun der Entlassungsschein eines der Internierungslager, in die General Wojciech Jaruzelski in der Zeit des Kriegsrechts 1981 die Opposition sperren ließ.« Der Bericht fährt fort mit der Anmerkung, daß viele Polen dem inzwischen vom Amt des Präsidenten demissionierten Jaruzelski »schon fast wieder nostalgisch nachtrauern«.

 

In geringfügiger Abwandlung eines Ausspruchs von Theodor W. Adorno ist der deutsche Kommunist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.

 

Der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg, Gottfried Forck, erzählt, wie er kurz nach den Volkskammerwahlen vom März 1990 in der damaligen DDR mit einem Taxi vorfuhr. Er fragte den Fahrer nach der Art von dessen Votum, worauf diese Antwort erfolgte: »Ich habe Kohl gewählt.« Forck sagte: »Dann haben Sie also de Maiziere gewählt.« Der Fahrer entgegnete: »Den kenne ich gar nicht.« Im Lichte der inzwischen gemachten politischen Erfahrungen muß jenem Taxifahrer ein höchstes Maß an politischer Weisheit zugebilligt werden.

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Eine große Wochenzeitung druckt in zwei Fortsetzungen eine Rede von Egon Bahr zum deutschen Problem. Bei ihrer Lektüre erinnere ich mich einer Diskussion, die ich mit diesem Politiker hatte, kurz vor dem 17. Juni 1989, in einem Hörfunkstudio des Südwestfunks Baden-Baden. Anwesend waren außerdem ein Redakteur des Senders und der Schriftsteller Martin Walser. Egon Bahr begann das Besprach vor dem Mikrofon damit, daß er sagte, alles Reden über die deutsche Wiedervereinigung sei nach der Errichtung des gemeinsamen westeuropäischen Binnenmarktes ein Verstoß gegen Geist und Buchstaben der römischen Verträge. 

Ich riet daraufhin, man solle vor dem Bundesverfassungsgericht eine Klage anstrengen, ob die römischen Verträge mit dem westdeutschen Grundgesetz und seiner Präambel überhaupt vereinbar seien. Im Bewußtsein unserer belletristischen Ohnmacht formulierten Walser und ich unsere nostalgischen Überzeugungen von der unverzichtbaren Möglichkeit eines einheitlichen deutschen Staates. Egon Bahr nannte die deutsche Zweistaatlichkeit friedensfördernd und wiederholte das bekannte Argument, die rituellen Einigungsbekundungen der westdeutschen Politik seien deren politische Lebenslüge. Seine Sätze besaßen eine in sich logische Geschlossenheit und eine durch vielfache Wiederholung eingeübte Schärfe. 

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Um so erstaunter war ich, daß, als nach dem Fall der Berliner Mauer die rasche deutsche Einigung offenbar wurde, Egon Bahr sich alsbald öffentlich vernehmen ließ, mit eben diesem Vorgang gingen ein persönlicher Herzenswunsch und sein wichtigstes politisches Ziel in Erfüllung. In seiner jetzt abgedruckten Rede sagt Egon Bahr, daß »Anpassung gesünder, lukrativer, jedenfalls bequemer« sei. Er hat ja so recht.

 

Jeder politische Aufstieg«, lese ich, »ist fast immer ein moralischer Abstieg.«

 

Am 16. Dezember 1990 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Oranienburg eine Gedenktafel für die dort während der Hitlerherrschaft ermordeten Sinti und Roma enthüllt. Es waren Vertreter der evangelischen Kirche anwesend. Es sprachen Vertreter von Organisationen der Zigeuner. Das ostdeutsche Fernsehen zeigte ausführliche Aufnahmen. Auch die Tafel rückte ins Bild. Man konnte ihre Aufschrift lesen, bei der die Toten als Opfer einer verfehlten Denkweise beklagt wurden. Es stand dafür das Wort Idiologie. Die höhnische Empfindungslosigkeit, mit der man diesen doppeldeutigen orthographischen Fehler vorwies und gleich danach wieder die redenden Roma-Vertreter zeigte, war der Beweis, daß man, den geäußerten Worten zum Trotz, nichts begriffen und nichts gelernt hatte.

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Unmittelbar nach dem Ende des letzten Krieges war auf Plakatwänden und Mauern in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone ein Ausspruch von J.W. Stalin zu lesen: »Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleiben.« Man hat zu Recht festgestellt, daß sich die unzweifelhafte Wahrheit dieses Spruches zuletzt gegen seinen Urheber, mehr noch gegen den Staat, den er geschaffen, triumphal durchgesetzt habe.

 

Nach jeder Niederlage kommen«, lese ich, »die Berater.«

 

Zu den Dingen, wert, aus der alten DDR in die neue Wirklichkeit herübergerettet zu werden, gehört eine Bemerkung, die der Volkskammmer-Abgeordnete Claus für einen bestimmen Typ von politischer Rede fand. Er verglich sie mit dem »Schwert Karl des Großen« und sah diese Übereinstimmungen: »Sehr lang, sehr breit, aber auch sehr flach.«

 

Ich stelle mir vor: Am 9. Oktober 1989 kam es im Zusammenhang der Leipziger Montagsdemonstration, der bisher größten ihrer Art, zu blutigen Zwischenfällen. Einheiten der DDR-Volkspolizei versuchten, die Marschsäule aufzuhalten. Als dies nicht gelang, wurde aus Maschinenpistolen in die Menge geschossen. Aus den Seitenstraßen fuhren Panzer auf den Ring und verhinderten den Weitermarsch.

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Auch auf dem Karl-Marx-Platz kam es zu Schießereien. Jugendliche lieferten sich einen förmlichen Bürgerkrieg mit Angehörigen von Betriebskampfgruppen. Am Ende gab es 17 Tote und 512 Verwundete, die in die Leipziger Krankenhäuser eingeliefert wurden, zwei der Toten und 67 der Verwundeten waren Angehörige der Ordnungsmacht. Etwa sechshundert Personen wurden verhaftet, die meisten kamen nach Feststellung der Personalien wieder frei. Anderntags erfolgten in verschiedenen anderen DDR-Städten, darunter Berlin und Dresden, Sympathiekundgebungen von Bürgerrechtsgruppen, die rasch aufgelöst wurden. Auch hier gab es Festnahmen. Blut floß keines. Mehrere evangelische Kirchen, besonders in Berlin, veranstalteten Mahnwachen. In den Medien der DDR erfolgten jetzt öffentliche Bekundungen des Einverständnisses mit den Maßnahmen des 9. Oktober in Leipzig. Künstler, Wissenschaftler, Sportler, Arbeiter und Bauern äußerten die Sätze:  Wir haben lange genug Geduld gezeigt! und Dem Gegner keinen Fußbreit Boden! Im Ausland brach ein Sturm der Empörung und des Abscheus los, in Berlin (West) und Frankfurt/Main gingen Tausende in Schweigemärschen auf die Straße, Zeitungen verglichen die Ereignisse in Leipzig mit jenen in Peking, man sprach vom Himmlischen Frieden an der Pleiße. Auf der Buchmesse in Frankfurt wurden die Stände der DDR-Verlage von Besuchern gemieden, bei Gastspielen von DDR-Künstlern in Hamburg und Düsseldorf kam es zu Boykottaufrufen kon-

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servativer Zeitungen, was sofort die linksliberale Presse auf den Plan rief, die ihren Widerstand gegen solchen Ersatzkrieg' mitteilte und an den unsinnigen Brecht-Boykott der fünfziger Jahre erinnerte. Linke Zeitschriften der Bundesrepublik fingen an, das Eingreifen der DDR-Ordnungsmacht in Leipzig mit der Frontsituation der DDR vorsichtig zu erklären und als bittere Notmaßnahme im Klassenkampf förmlich zu entschuldigen. Künstler begannen, den 9. Oktober von Leipzig als ästhetisches Ereignis zu bedenken, sie zogen Vergleiche mit dem Bürgerkrieg in Sowjetrußland zu Anfang der zwanziger Jahre. Januar 1990 eröffnete das Oberste Gericht der DDR einen Prozeß gegen die fünf Rädelsführer von Leipzig, zwei evangelische Kirchenleute, zwei Studenten, eine Musikerin. Während der Beweisaufnahme wurde die aktive Diversion ausländischer Presseleute in der DDR und der gezielte Einsatz westlicher Geheimdienste immer wieder hervorgehoben. Die Urteile gegen die Angeklagten lauteten schließlich auf Freiheitsstrafen unterschiedlicher Höhe. Abermals kam es zu massiven öffentlichen Protesten in West-Europa, die internationalen Schlagzeilen wandten sich danach wieder verstärkt den Geschehnissen im Nahen Osten zu. Angesichts der zuweilen chaotischen inneren Verhältnisse in anderen Ländern des Warschauer Paktes begann man vereinzelt damit, die in der DDR seit dem Oktober '89 herrschende politische Ruhe beifällig hervorzuheben. 

Eine Tagung des ZK der SED rückte in den Text ihres Kommuniques die Versicherung, daß man

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keine Rückkehr zum Stalinismus betrieben habe und betreiben wolle. 

Der für ein halbes Jahr völlig zum Erliegen gekommene Polit-Tourismus aus der Bundesrepublik in die DDR lebte wieder auf. Erste prominente Besucher waren Max Streibl und Wolff v. Amerongen. Präsident Mitterrand holte seinen Staatsbesuch in Ostberlin (den er wegen der Leipziger Ereignisse verschoben hatte) mit sechsmonatiger Verspätung nach. Bei einer Tischrede im Schloß Niederschönhausen gab er seiner Sympathie mit den Opfern des 9. Oktober Ausdruck. Die Tageszeitung Neues Deutschland druckte den übersetzten Text seiner Rede im vollen Wortlaut. Zum Abschied verlieh Staatsratsvorsitzender Erich Honecker an Francois Mitterrand einen der höchsten Orden des Landes, Stern der Völkerfreundschaft.

 

In einer autobiographischen Rückerinnerung lese ich den Satz, man könne nicht stolz darauf sein, was man damals geschrieben habe, man könne höchstens stolz darauf sein, was man damals nicht geschrieben habe. Die Rückerinnerung gilt der Zeit von Hitlers Drittem Reich und ist nicht der einzige Beispielsfall, da die braune und die rote Diktatur in Deutschland miteinander übereinstimmen. Die andere Übereinstimmung besteht dann noch darin, daß sich zu dem hier zitierten Satz bloß eine Minderheit der Schreibenden bekennen dürfte, die in der Regel zugleich die weniger erfolgreichen sind.

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Die Zeile Deutschland, einig Vaterland, unter die sich die Bestrebungen zur nationalen Einheit nach dem Herbst 1989 in der DDR gestellt hatten, entstammte der Nationalhymne der DDR. Ihren Text hatte verfaßt der 1958 verstorbene Johannes R. Becher, ein wegen seiner charakterlichen Mängel und literarischen Schwächen vielfach umstrittener Lyriker. Der nationalen Einheit nach dem Herbst 1989 widersprach der Aufruf zum Fortbestand einer separaten DDR, Für unser Land, den die Schriftstellerin Christa Wolf verfaßt hatte und der bereits wenige Wochen später nur mehr historische Makulatur war. Nicht zu Unrecht hat man deswegen festgestellt, der tote Johannes R. Becher habe die lebende Christa Wolf besiegt.

 

Man erzählt mir diese Geschichte: Ein Berliner Schauspieler-Ehepaar, bekannte Leute, auch vor dem Fall der Mauer häufig zu Gastspielen im europäischen Westen, beschäftigte seit vielen Jahren eine Zugehfrau, eine anhängliche und zuverlässige Person. Die Frau hatte ein halbwüchsiges Kind, ein Mädchen, das an Leukämie erkrankt war. Es wurde in der Berliner Universitätsklinik behandelt, bis es starb. Zur Beerdigung waren die beiden Schauspieler anwesend. Die DDR wurde älter. Im Herbst des Jahres 1989 hielt sich das Ehepaar zu Filmarbeiten im Ausland auf. Als es heimkehrte, befand sich die DDR bereits in Auflösung. Die Schauspieler entdeckten, daß ihre Zugehfrau nicht mehr erschien.

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Sie suchten nach ihr und fanden ihre Wohnung verschlossen, Nachbarn waren nicht in der Lage, Auskunft zu geben. Die beiden Schauspieler vermuteten, daß die Frau sich einer Fluchtaktion über Warschau, Prag oder Budapest angeschlossen habe. Im Februar 1990 stand eines Abends die Frau vor der Wohnungstür der Schauspieler. Man bat sie herein. Sie machte einen bedrückten Eindruck. Sie war damals tatsächlich geflohen, nach Schwaben, sie hatte dort eine gute Stellung. Die Frau äußerte sich nicht über ihre Gründe. Sie wurde von ihren Gastgebern nicht nach den Gründen gefragt. Der Abend verging. Man erzählte Geschichten und spekulierte über die Zukunft. Der Schauspieler brachte die Frau zur Tür. Hier, im Halbdunkel, machte die Frau eine Mitteilung. Sie sei jahrelang Mitarbeiterin der Staatssicherheitsbehörde gewesen, sie hätte in deren Auftrag das Ehepaar ausspioniert. Die Staatssicherheitsleute hätten sie erpreßt, indem sie für das leukämiekranke Kind eine besonders sorgfältige Behandlung versprachen, mit sonst in der DDR nicht erhältlichen Medikamenten. Dies alles zu sagen, fühle sie sich jetzt verpflichtet. Schließlich, die beiden Schauspieler seien immer sehr gut zu ihr gewesen. Sie seien auch damals zur Beerdigung des Kindes gekommen. Die Frau weinte etwas bei ihren Worten. Sie schien zugleich erleichtert und ging dann durch die Dunkelheit davon.

 

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In einem Zeitungsartikel lese ich die Wendung von der »Politisierung des Unpolitischen durch die Phrase«. Das ist auf Westdeutschland gemünzt und auf die zehn Jahre nach 1968, aber es trifft noch viel zuverlässiger die vierzig Jahre der DDR.

 

Im Jahre 1965 durfte ein Entertainer namens Heinz Quermann öffentlich Possen reißen über politisch mißliebig gewordene Lyriker aus der DDR. In dem Publikum, das ihm Beifall zollte, saßen die höchsten Repräsentanten des ostdeutschen Staates. Vierzehn Jahre später, als unter unwürdigen Umständen zehn politisch mißliebig gewordene DDR-Schriftsteller aus ihrem Berufsverband gestoßen wurden, gehörten zu jenen, die der Aktion demonstrativ öffentlichen Beifall spendeten, die DDR-Folk-Schnulziers Hauff/Henkler und der DDR-Tenor Peter Schreier. Als im Dezember 1990 das ostdeutsche Fernsehen Eingang fand in das Gemeinschaftsprogramm der ARD, wirkten bei den ersten in diesem Zusammenhang ausgestrahlten Sendungen die Künstler Quermann, Hauff/Henkler und Schreier mit. Endlich weiß ich, was gemeint ist, wenn Errungenschaften aus der früheren DDR eingebracht werden sollen ins geeinte Deutschland.

 

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Östlich der Elbe ist roter Stoff als politisches Signal aus guten Gründen gänzlich verpönt. Ich werde den Verdacht nicht los, daß der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, seine vernichtende Wahlniederlage vom Dezember 1990 der Wirkung seines demonstrativ getragenen roten Schales verdankt.

 

Eine große Utopie«, lese ich, »erstarrt zu einer Institution und geht in dem Machtapparat, den sie sich selbst geschaffen hat, unter.«

 

Ich fahre mit dem Wagen von Wittenberge zur ehemaligen innerdeutschen Grenze. Ich komme durch Dörfer, die im steinigen Sperrgebiet lagen. Seit dreißig Jahren gehen sie einem unaufhörlichen, unaufhaltsamen Zerfall entgegen. Die Straße ist holperig, sie ist überzogen von Schlamm. Dämmerung. Ich fahre an alten Bauernhäusern vorbei. Die Dächer sind eingesunken. Vor den Fenstern hängen keine Gardinen, innen brennen bräunlich die Lampen, ich erkenne ausnahmslos alte Leute. Ich fühle mich erinnert an Schilderungen der russischen Provinz im 19. Jahrhundert, Gontscharow, Tschechow, das Elend ist trostlos, und die Trostlosigkeit ist das Elend. Ich halte am Elbufer. Die Anlegestelle ist neu angeschüttet worden. Ich muß lange warten. Es schneit jetzt. Hinter mir stauen sich die Lieferfahrzeuge westdeutscher Lebensmittelhändler. Die Fähre legt an, ich kann auf das Deck fahren. Das Personal ist vermummt, wegen der Kälte. Es zeigt sich wortkarg. Die Aufschriften an Bord sind allesamt niederländisch. 

Die Fähre legt ab. Im Wasser erkenne ich die bizarren Reste von Brücken. Die Lichter, von denen ich mich entferne, gehören der Ortschaft Dömitz. Ich muß meine literarischen Assoziationen korrigieren. In der Festung Dömitz hat nach 1856 der Schriftsteller Fritz Reuter eingesessen als politischer Häftling.

 

Denn wenn ich den Mund früher nicht hielt war das Täuschung und hielt ich ihn war das Täuschung denn es täuschte vor ich hielte ihn nicht.« (Rainer Kirsch)

 

In den Kammerspielen des Ostberliner Deutschen Theaters läuft das fünfte Jahr »Sturmgeselle Sokrates« von Hermann Sudermann. Das Lustspiel um ein paar alt gewordene Achtundvierziger, die ihre umstürzlerischen Ideale entgegen der stärkeren Wirklichkeit des Bismarckstaates komisch hochhalten, war, als Honecker noch regierte, eine böse Parabel auf die lächerlich und korrupt gewordenen Ex-Revolutionäre an der Staatsspitze. Jetzt wirkt es wie ein Grabgesang auf die politischen Idealisten vom Herbst '89, und die das Stück beherrschende politische Omnipräsenz des Deutschen Kaiserreichs ist wie eine Metapher für das von Bonn dominierte Gesamtdeutschland. Es gibt Kunstwerke, die bei den unterschiedlichsten politischen Konstellationen wahr erscheinen. Ihre Verfasser haben, auch ästhetisch, mit der Trivialität zu tun.

 

Im altchinesischen Mondkalender wird das erste Jahr nach Aufgabe der DDR-Selbständigkeit das Jahr des Schafes sein.

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