Start    Weiter 

c3

 

64-82

Vom Kommunismus befreit man sich wie von einer Neurose.« (Ignazio Silone)

 

Daß die eher als absolute politische Gegensätze empfundenen Politiker Jaruzelski und Mazowiecki im beinahe gleichen Augenblick demissionierten, hat seine tiefe historische Begründung. Bei beiden Personen handelt es sich um die Abkömmlinge von polnischen Kleinadelsgeschlechtern, die im 19. Jahrhundert verarmten.

 

Die Bezeichnung »Interplak-Zahnbelag-Entfernungs-Instrument« für eine elektrisch betriebene Zahnbürste erinnere lebhaft an den Wortschatz der versunkenen DDR, erfahre ich in einem Text und erkenne dankbar, daß es doch noch etwas gibt, das der einstige SED-Staat als Errungenschaft in das geeinte Deutschland hat einbringen können.

 

Ich komme an der Mainzer Straße in Ostberlin vorüber. Die Barrikaden und Straßensperren sind längst abgeräumt. An den Mauern kann noch, wer will, die Spuren der Auseinandersetzung vom Jahresende 1990 erkennen: Einbruch der Gewalt in eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die hergestellt worden war durch den gewaltlosen Wandel. Wurde damit der Revolution die Gewalt nachgereicht? Wer, unter der Berufung, daß gewaltlose Revolutionen ein Unding seien, so argumentiert, mißachtet diese näherliegende Erklärung: Der Aufstand vom Herbst 1989 stürzte ein Regime, das sich ausschließlich durch die Gewalt definierte. Es konnte erfolgreich nur unterlaufen werden durch Gewaltlosigkeit.

 

In der liebevollen Frage«, lese ich, »an die Bewohner der neuen Bundesländer, wie es ihnen denn so ginge, ist die Routine nicht zu überhören, wie sie etwa Krankenhausärzten während der morgendlichen Visite eigen ist.«

 

Zu den Enttäuschungen des Warenangebots nach dem Juli 1990 in Ostdeutschland gehört, daß die Lebensmittel zahlreicher, farbiger, vielfältiger und im Geschmack sehr viel fader sind als jene aus der guten alten DDR.

 

65


Die zum Teil blutigen Auseinandersetzungen um Hausbesetzer Ende 1990 waren auch, wie fast alle umstürzlerischen Ereignisse, Ausdruck eines Generationskonflikts. Er richtete sich gegen die Sieger von 1989, die ihrerseits das SED-Regime der regierenden Großväter gestürzt hatten. Immer war es dabei um die gesellschaftliche Dominanz gegangen. Die Angreifer von 1989 rekrutierten sich aus den Fünfzigjährigen, jene von 1990 aus deren Kindern.

 

Der Buddhismus behauptet, der Mensch werde nur frei durch Verzicht. Danach wären die Staaten Ost-Europas tatsächlich gewesen, was sie immer zu sein behaupteten, nämlich frei. Man hätte von Ländern des real existierenden Buddhismus reden sollen.

 

Nachdem die Einführung der D-Mark die Ostdeutschen nicht von ihren wirtschaftlichen, die Herstellung der staatlichen Einheit nicht von ihrer politischen Zurückgebliebenheit erlösen konnte und ein rasches Ende dieser Situation für die nächsten Jahre auch nicht abzusehen ist, werden sie sich andere Lösungen ihrer Probleme einfallen lassen müssen. Eine Minderheit wird ihnen durch die Flucht entkommen wollen. Der größere Rest wird, da man mit einem negativen Selbstbewußtsein auf die Dauer nicht leben kann, die vorhandenen Nachteile zu Tugenden stilisieren. - Bescheidenheit, Leiderfahrung und das Bewußtsein, stellvertretend für die gesamte Nation die moralischen und ökonomischen Lasten des verlorenen Krieges beglichen zu haben, werden eine Art von spartanischem Elite-Geist erzeugen, der dem westdeutschen Hedonismus bloß noch verächtlich begegnet. Man wird in eine Rolle schlüpfen, wie sie die Hugenotten im modernen Frankreich spielen. Zu Hilfe dabei kommt, daß man eine der Bastionen des Puritanismus in Deutschland besetzt, die Mark Brandenburg. Überhaupt dürfte bald eine heimliche Wiederkehr Preußens erfolgen.

66


Eine hübsche Assonanz: In der alten Bundesrepublik gab es das Kino der Autoren, in der DDR gab es das Kino der Zensoren.

 

Der westdeutsche Literaturkritiker K. hatte sich über Jahrzehnte spezialisiert auf die publizistische Förderung von literarischen Dissidenten, zumal solchen deutscher Zunge. Der Vorgang war der immergleiche. Ein kecker Autor zwischen Oder und Elbe tat den Mund auf. K. machte sich zu seinem Anwalt. K. sorgte dafür, daß Radio und Zeitung von dem kecken Autor Notiz nahmen. Der erhielt daraufhin Schwierigkeiten mit seinen Behörden. Kritiker K. schlug Alarm. Der kecke Autor wechselte das Vaterland und suchte sich im westdeutschen Kulturbetrieb einen Platz, der meist ein solcher der Anonymität war, denn Kritiker K., seinem Ruf und seiner Funktion zu entsprechen, hatte bereits wieder das nächste Jungtalent aus der DDR ausgespäht. Seine Arbeit war einträglich und schien unerschöpflich, bis die Berliner Mauer fiel. Plötzlich gab es keine Dissidenten mehr. Um andere Talente, etwa solche im eigenen Land, hatte sich K. zu wenig bemüht. - Seine alte Funktion wahrnehmen zu können, hatte er zwar ein reges politisches Sensorium entwickeln, aber literarische Maßstäbe weitgehend vernachlässigen müssen, daß er schon seit längerem in dem Verdacht stand, er habe niemals welche besessen. Tatsächlich war unter den durch ihn reichlich ausgerufenen Ost-Genies keines gewesen, das diesen Namen wirklich verdient hätte. Der Hohn, auf den er neuerdings trifft, hält er für eine späte Rache östlicher Geheimdienste. Insgeheim sehnt er sich zurück nach der alten DDR samt ihrer intakten Berliner Mauer.

67


 

In der ehemaligen DDR«, lese ich, »führt der Weg aus der Not nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, sondern vom Akademiker zum Würstchenverkäufer.«

 

An der Tür eines Geschäftes in der ehemaligen DDR hängt ein Schild mit der Aufschrift Wegen Privatisierung geschlossen. Als ich es las, mußte ich mir Mühe geben, den Satz nicht grundsätzlich zu nehmen.

 

Man sagt, im postkommunistischen Ost-Europa sei zum neuen Opium für das Volk der Nationalismus geworden. Die Ostdeutschen darf man davon ausnehmen. Der Historiker Michael Stürmer vermerkt ganz richtig: »Die Warnung vor einem neuen Nationalismus hat in Deutschland seit September 1989 die Form eines ratlosen Rituals angenommen: eine Sorge auf der Suche nach ihrem Gegenstand.« Es wäre zugleich ein Ausweis dafür, daß die ehemalige DDR aus dem Verband Ost-Europas, dem sie vierzig Jahre lang angehörte, fast völlig ausgeschert ist.

68


 

Nazis raus! Wohin?« (Günther Nenning)

 

Heinrich Dathe, Dr. phil., geboren 1910 im sächsischen Vogtland, wurde 1934 Mitarbeiter des Zoologischen Gartens Leipzig, wo er es bis zum Stellvertreter des Direktors brachte. Er nahm am Zweiten Weltkrieg teil, geriet in Gefangenschaft, kehrte heim, arbeitete für einen Verlag, dann wieder für den Leipziger Zoo, bis man ihn, 1954, zum Gründungsdirektor des Tierparks in Berlin-Friedrichsfelde berief, der ein großer Erfolg und sein Lebenswerk wurde. Er saß in den Vorständen zahlreicher DDR-offizieller Organisationen und Komitees. Man verlieh ihm höchste Staatsauszeichnungen, darunter den Karl-Marx-Orden und den Stern der Völkerfreundschaft. Er blieb Direktor des Tierparks weit über das Datum seiner Pensionierung hinaus, da niemand den Mut aufbrachte, ihm zu kündigen, er behielt darum auch seine frühere Dienstwohnung, die eigentlich seinem präsumptiven Nachfolger zustand. Als 1990, Heinrich Dathe war inzwischen 80 Jahre alt, die Kündigung durch die zuständige Stadtverwaltung erfolgte, gerierten sich Teile der Ostberliner Öffentlichkeit, als habe man ein Heiligtum geschändet. - Niemals war davon die Rede, daß Heinrich Dathe bereits am 1. September 1932 in Adolf Hitlers NSDAP eingetreten war (Mitglieds-Nr. 1518207). Später habe er sich, heißt es, bei ideologischen Auseinander­setzungen stets auf die Seite der Stalinisten geschlagen. Er starb im Januar 1991. Bei der Eröffnungssitzung des neuen Gesamtberliner Abgeordnetenhauses protestierte der Redner von Bündnis 90 dagegen, daß dieses Parlament es abgelehnt habe, für den toten Tierpark-Direktor eine offizielle Gedenk­minute einzulegen. Die anwesenden Anhänger der Bürgerbewegungen spendeten der Bemerkung nachdrücklichen Beifall. Die Revolutionäre vom Herbst '89 haben ihre Revolution zu Recht verloren.

69


 

Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR werden verbale Beleidigungen jetzt bevorzugt mit Analogien aus dem Bereich der Politik bestückt. Als besonders schlimme Beschimpfung gilt der Satz: »Sie sind ja schlimmer als Mielke und Schnitzler zusammen!«

 

Schon werden die«, lese ich, »die die ganzen Jahre im Osten an den dortigen Zuständen loyal-kritisch und gemütlich litten, über das dünne CEuvre der >Dissis< süffisante Bemerkungen austauschen.«

70


In einer Radiosendung über jüdische Kultur in Ost-Europa trifft jemand die beunruhigende Feststellung, daß, wenn man der moderneren polnischen Belletristik den Antisemitismus fortnehme, nicht mehr viel von ihr übrigbleibe.

 

Für die Juden war der Messias nie Gottes Sohn, sondern ein Mensch, ein Jude, der kam, das auserwählte Volk, die Juden, zu erlösen«, schreibt, in seinem allerletzten Prosa-Text, der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. »Karl Marx war ein Jude, der kam, das auserwählte Volk, das Proletariat zu erlösen.« Die Analogie scheint auf den ersten Blick erhellend. Sie geht von der nicht erst bei Dürrenmatt geäußerten Erkenntnis aus, daß der wissenschaftliche Sozialismus recht eigentlich eine säkulare Religion und Marx deren einer jüdisch-eschatologischer Überlieferung verpflichteter Stifter war. Die Analogie stimmt dann doch nicht, da der Messias jedenfalls dem auserwählten Volk zugehören sollte, und Marx war kein Proletarier. Dann ist auch an die vielen falschen Messias-Gestalten zu erinnern, die sich zahlreicher gutgläubiger Anhänger erfreuen durften und bloß Hochstapler waren. Marx und Engels als Hochstapler? Die Analogie wird erst schlüssig, wenn man von Jesaja aufs Neue Testament wechselt. Christus war ein Heilsbringer, aber nach altjüdischem Verständnis ein Apostat. Seine Anhänger verrieten ihn. Seine Botschaft ließ sich auf dieser Welt nicht verwirklichen. Unentwegt bildeten sich in Berufung auf ihn neue Sekten. Was in seinem Namen geschah, waren Zerrbilder, Exzesse, Schrecknisse.

Aber es ist immer wieder inspirierend, seine Texte zu lesen.

71


 

Ein Bekannter mit Wohnsitz in Berlin-Charlottenburg erzählt mir, er habe neulich eine Partie 1984er Chablis Valmur Grand Cru ersteigert. Der Glanz in seinen Augen, während er dies berichtet, kommt nicht etwa daher, daß der Erwerb besonders kostengünstig geschah, vielmehr ist er zu erklären mit dem. Namen des Vorbesitzers. Der Wein stammte aus dem Keller des ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker.

 

Bei der am 15. Januar 1991 veranstalteten Gedenkdemonstration zu den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf dem Friedhof von Berlin-Friedrichsfelde marschierten über hunderttausend Menschen. Wie bei den gleichen Veranstaltungen zum gleichen Anlaß in der alten DDR hatte die Mehrzahl der Marschierer vom Wirken und Denken der beiden Toten wenig Kenntnis. Ihre Teilnahme an dem Marsch diente einer aktuellen politischen Offenbarung. Ihr Gedenken war überwiegend Heuchelei.

 

72


Am südöstlichen Rand von Berlin haben sich Jugendbanden gebildet, die über ein heimliches Netzwerk miteinander kommunizieren. Sie unternehmen Einbrüche, Raubüberfälle, sie veranstalten Hetzjagden auf Vietnamesen, die unter freiem Himmel Handelsstände unterhalten, sie liefern sich Straßenschlachten mit anderen Jugendlichen, die einer linken politischen Gesinnung verdächtig sind. In den Straßen patrouillieren verstärkt Streifenwagen der Polizei. Die Existenz der Banden wird erklärlich durch den Umstand, daß von den Schulabgängern dieser Region im Jahre 1991 nur 50 Prozent eine Lehrstelle erhalten werden. Diese Nachrichten erfahre ich an jenem Tag, da der Architekt des Einigungsvertrages auf DDR-Seite, Günther Krause, zum Bundesminister im neuen Kabinett Helmut Kohl berufen worden ist.

 

Die Staatslimousine des ehemaligen SED-Partei- und Staatschefs der DDR, Erich Honecker, ist für 20.000 D-Mark in den Besitz eines Hildener Automobilhändlers übergegangen. Es handelt sich um einen dunkelblauen Pkw vom Typ Volvo 264 TE, Baujahr 1977, Neupreis 128.000 D-Mark. Der Wagen ist gepanzert und verfügt in seinem Inneren über eine Bar, ein Fernsehgerät, ein Telefon und eine Radioanlage mit acht Lautsprechern. Besonders beeindruckend ist die eigens angebrachte und noch vorhandene Halterung für eine Maschinenpistole vom Typ Kalaschnikow. Der Wagen kann für Hochzeitsfahrten gemietet werden.

73


Der militärische Einsatz des großen Verbündeten wird mit Wohlwollen und Bewunderung kommentiert. Es herrscht eine voyeuristische Begeisterung, die, wie aller Voyeurismus, etwas von sexueller Ersatzbefriedigung hat. Höhnisch und voller Erbitterung wird über pazifistische Gefühle und Aktionen berichtet, man unterstellt bei den Teilnehmern entweder Feigheit oder einen aus Undankbarkeit gespeisten politischen Egoismus. Ich rede von den Texten konservativer deutscher Publizistik betreffend den amerikanischen Krieg am Golf. Ich rede von den Texten der einstigen DDR-Publizistik betreffend den sowjetischen Krieg in Afghanistan.

 

Das neue, wöchentlich erscheinende Mitteilungsblatt einer Gemeinde am Rand von Berlin wird herausgegeben von einem Kleinunternehmer, der über lange Jahre Mitglied einer Blockpartei war. Es findet sich in dem Blatt der ausführliche Text eines ehemaligen Mitglieds der SED wider die Umbenennung von Straßen, welche gegenwärtig noch nach Wilhelm Pieck und Ernst Thälmann heißen. Ein ehemaliges Mitglied des Obersten Gerichts der DDR gibt Auskünfte als Rechtsanwalt. Ein ehemals führender Mitarbeiter der Kulturabteilung des ZK der SED hat ein eigenes Gedicht drucken lassen. Es lobt in humoristischen Worten die örtliche Feuerwehr.

74


An einer Wand des Bahnhofs Friedrichstraße in Berlin-Mitte findet sich folgendes Sgraffito: PARTEI DER SCHWEINE. Die Initialen sind mit andersfarbigem Stift hervorgehoben. Für jene empfindlichen Gemüter, denen die Benennung zu vulgär erscheinen könnte, wird ein in kleinerer Schrift abgefaßter und in Klammern gebrachter Bildungshinweis mitgegeben. Siehe Orwell, Farm der Tiere.

 

Es ist nicht zu bestreiten, daß einige hohe Politiker aus Honeckers DDR, wie Hans Modrow, Dietmar Keller und Klaus Höpcke, aus wohlverstandener Einsicht, aus vorauseilendem Opportunismus oder aus beidem sich einst zu Handlungen entschlossen hatten, welche die Auflösung des alten Regimes begünstigten. Aus diesem Umstand leiten sie heute das Recht für das eigene politische Überleben ab. Sie übersehen dabei, daß es in ihrer Vergangenheit außerdem Handlungen gab, die vollkommen systemfreundlich, menschenfeindlich und stalinistisch waren. Da letztere an Umfang weit überwogen, werden sie ihnen jetzt nachdrücklich vorgeworfen. Dennoch sitzen die Leute weiterhin auf ihren Sesseln. Sie wiederholen damit jenen ruinösen Fehler, an dem schon das alte SED-Politbüro scheiterte: nicht rechtzeitig zurücktreten zu können. Um so mehr ist die längst erfolgte Demission des ehemaligen DDR-Spitzenpolitikers Manfred Gerlach zu würdigen, von dem kaum einer mehr redet, auch nicht negativ.

75


Am 17. Januar 1991, dem ersten Tag des Golfkrieges, schössen die Kurse an den wichtigsten internationalen Börsen in die Höhe: »explosionsartig«, wie es in einem Zeitungsbericht heißt. Der Deutsche Aktienindex habe mit 100 Punkten den absolut höchsten Tagesgewinn seiner Geschichte verbucht. Auf dem Parkett der Frankfurter Börse herrsche eine »Bombenstimmung«. Das perverse Niveau dieser Haltung, schreibt die Zeitung, entspreche ziemlich genau jenem in den rheinischen Karnevalsvereinen, wo gegenwärtig die Sorge herrsche, wie man die Rosenmontagszüge doch noch veranstalten könne. Für eine Weile hatte ich fast vergessen, daß es auch gute Gründe gibt, den Kapitalismus widerwärtig zu finden.

 

Ein Leipziger Krimmalpolizist ernannte zum Aufsteiger des Jahres 1990 den Taschendiebstahl.

 

Am 20. Januar 1991 demonstrierten in Moskau mehrere hunderttausend Menschen gegen das Blutbad, das, genau eine Woche zuvor, Truppen des sowjetischen Innenministeriums in Wilna angerichtet hatten. Die Demonstranten führten mit sich Bilder des sowjetischen Staatspräsidenten. Auf dessen Oberlippe hatte man Stalins Schnurrbart montiert, Michail Gorbatschow sah dadurch aus wie Groucho Marx. Ein sehr angemessener Vergleich. Er gilt einem melancholischen Narren, bei dessen Namen unwillkürlich an einen längst vergangenen sozialistischen Politiker zu denken war.

76


 

In einem Zeitungsbericht aus Israel erfahre ich von einer Hundehütte, die durch eine Plastikverkleidung gegen eventuelle irakische Gasangriffe geschützt wird. Der Verfasser des Berichtes spricht zusammenfassend vom Zustand einer »hysterischen Gelassenheit« im Land.

 

Das bis heute anhaltende Grauen des Realsozialismus«, lese ich, 
»heißt weder Stasi noch Planmißwirtschaft, sondern >komplexer Wohnungsbaus<«.

 

Man erzählt mir von mehreren konservativen westdeutschen Publizisten, die vierzig Jahre lang gegen den Kommunismus, zumal jenen Ostdeutschlands, in wütenden Artikeln angeschrieben haben. Ich hatte mir vorgestellt, das Jahr 1989 müsse für diese Leute das Datum eines großen Triumphes gewesen sein, da doch alles, was sie in ihren Texten behauptet hatten, sich nunmehr als zutreffend erwies. Man berichtet mir, sie seien vielmehr in tiefe Depressionen gefallen. Ihr Emotionspotential sei gänzlich versiegt. Sie sähen sich um ihren Gegenstand gebracht und wüßten nun nicht mehr, worüber sie überhaupt schreiben sollten. Der eindrucksvollste Sieg, welchen der Realsozialismus in Ost-Europa errang, bestünde demnach darin, daß er seine ärgsten Feinde vernichtete, noch während und indem er selbst unterlag.

77


 

Graffito am Prenzlauer Berg in Berlin: 
»Es ist deutsch in Kaltland.«

 

Immer noch, im fünfzehnten Monat nach ihrem Untergang, werden aus der alten DDR bis dahin verborgen gebliebene Scheußlichkeiten offenbart. Eine trägt den wissenschaftlichen Namen Leukose. Es handelt sich hierbei um eine durch Viren übertragbare Bluterkrankung bei Rindern. Tiere, die mit Leukose infiziert sind, werden in zivilisierten Ländern sofort getötet und dem Abdecker überantwortet. Nicht so in der DDR. Dort wurde für leukotische Rinder vielmehr eine spezielle Tierhaltung eingerichtet, sogenannte Leukoseauffangbetriebe, in denen die Tiere, bei krankheitsbedingt geringer werdendem Milchaufkommen, weiterhin gemolken wurden, bis man sie schlachtete. Das Fleisch wurde in unverfrorenem Zustand dem volkseigenen Handel überantwortet. Leukose ist wahrscheinlich auf den Menschen übertragbar und führt dann zur Leukämie.

 

78


Ich stelle mir vor, der Traum vieler romantischer Revolutionäre des Herbst '89 wäre in Erfüllung gegangen. Wir hätten noch eine separate DDR, demokratisch verfaßt und, wie die ehedem volksdemokratischen Anrainer im Osten, weiterhin Mitglied im Warschauer Pakt. Die blutigen Ereignisse im Baltikum steuern Januar 1991 ihrem ersten Höhepunkt entgegen. In Berlin und Leipzig gehen protestierende Menschen auf die Straßen. Mitglieder der PDS veranstalten Gegendemonstrationen. Es kommt zu blutigen Zusammenstößen. In mehreren großen Versorgungsbetrieben wird gestreikt. Der öffentliche Nahverkehr kommt zum Erliegen. Über Rundfunk und Fernsehen wird ein Manifest namentlich nicht benannter Patrioten verlesen: den Bestand des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates zu retten. Der Verteidigungsminister der UdSSR läßt 560.000 Rotarmisten aus ihren deutschen Kasernen ausrücken. Ihr Oberkommandierender erklärt den Ausnahmezustand. Die demokratisch gewählte Regierung wird abgesetzt. Das Funkhaus in der Berliner Nalepastraße sendet Musik von Beethoven und Hanns Eisler. Auf dem Brandenburger Tor weht wieder die rote Fahne.

 

 

Mehr und mehr erweist sich, daß die Presse-Berichterstattung der US-Armee über den Golfkrieg unvoll­ständig ist, manipuliert durch Zensoren und im Gesamtergebnis vorsätzlich falsch. Das geschieht im Geltungsbereich einer politischen Ordnung, die sich ihrer Freiheiten in der Berichterstattung rühmt. Die zur gleichen Zeit erfolgenden Korrespondenzen über die Ereignisse im Baltikum sind umfassend,

79


Journalisten aus aller Welt berichten ohne Behinderung. Das geschieht im Geltungsbereich einer staatlichen Ordnung, deren Behinderungen der Pressefreiheit früher zu Recht getadelt wurden. Das Ende des Kalten Krieges zeitigt bei den ehemals Hauptbeteiligten die sonderbarsten Resultate.

 

Einer, der es wissen muß, Alexander Jakowlew, langjähriger politischer Berater Michail Gorbatschows, redet von dem politischen System Ost-Europa als von einem »Schmarotzer-Sozialismus«. Da es eine andere Form des Sozialismus weder in Europa noch sonst auf der Welt überhaupt gibt, ist Schmarotzertum mit dem realen Sozialismus identisch. Derart muß man sich weder über die Verderbtheit der alten Nomenklatura erstaunen noch über das Ende dieser Systeme in einem völligen wirtschaftlichen Bankrott.

 

Ich erinnere mich einer Bemerkung des weltweisen Sebastian Haffner aus dem Jahre 1990: Das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit, resultierend aus dem Ende des Kalten Krieges, werde das mühsam stabilisierte politische Gleichgewicht in der Welt verwirren, den durch dieses Gleichgewicht garantierten Frieden gefährden und die Gefahr eines neuen großen Krieges, wovor er Angst habe, beträchtlich steigern. Haffners Ausspruch im Kopf, betrachte ich mir den gegenwärtigen Golfkrieg. 

80


Gesetzt, die Sowjetunion würde noch von der alten Nomenklatura bestimmt, wäre das Ultimatum des Weltsicher­heitsrates an einem russischen Veto gescheitert. Der militärische Einsatz am Golf wäre kein multinationaler, sondern bloß ein amerikanischer geworden. Immer vorausgesetzt, er wäre überhaupt zustande gekommen, da die Sowjetunion sich auf ihren formal auch heute noch bestehenden Beistandspakt mit dem Irak berufen und mit militärischen Gegenmaßnahmen gedroht hätte. So wäre es bei der bloßen Bereitstellung eines Armeekontingents in Saudi-Arabien geblieben und bei der Fortsetzung von Embargo und Blockade gegen Saddam Hussein. 

Irgendwann hätten sie gegriffen und zum politischen Ende des Diktators geführt. Keine Bomben wären gefallen, keine Kriegstoten gestorben, keine Ruinen entstanden. Es scheint fast, als habe Sebastian Haffner mit seiner düsteren Behauptung recht.

*

In einer Tageszeitung lese ich über die Amtsstube einer ostdeutschen Behörde eine Schilderung, der paradigmatische Aussagekraft zukommt: Der Amtsinhaber, ein Herr W., verfüge über zwei Telefonapparate, die aber nicht funktionierten, weil das telefonische Leitungsnetz ständig überlastet sei, und er verfüge über zwei Sekretärinnen, die ständig überlastet wirkten, weil die Telefonapparate nicht funktionierten.

 

Von tiefer Wahrheit geprägt ist der Dialog, den ein jüngeres Ehepaar aus einer Großstadt in der ehemaligen DDR führt. Der Mann hat seiner Frau zum Geburtstag einige zierliche Dessous geschenkt, worauf diese, statt in Freude auszubrechen, vielmehr ein Lamento beginnt. Man sei doch arbeitslos, und nun diese teure Ausgabe, Reizwäsche, das brauche man doch wirklich nicht zum Leben! Worauf der Ehemann sagt: »Wer weiß.«

 

Graffito in Ostberlin: Anarchie = Freiheit + Ausschlafen  

81-82

#

 

www.detopia.de     ^^^^