Start     Weiter 

d4

 

83-100

Die Wiedervereinigung, hat jemand ganz richtig gesagt, sei nicht viel mehr gewesen als ein pathetischer Fetzen Beethoven am falschen Ort.

 

In einem Zeitungstext lese ich von einer Menschengruppe, die sich den Namen »Anonyme Melancholiker« gegeben habe. Sie wohnen in Polen. Es könnte sie ebenso in Ungarn, in der Tschechoslowakei, im Baltikum, in Rumänien, in Rußland geben. Es könnte sie auf dem Gebiete der vormaligen DDR geben, und wahrscheinlich sind sie, neben der Institution der Warteschlange (die sich aus ihresgleichen konstituiert), die letzte Eigentümlichkeit, welche die fünf neuen Bundesländer mit dem Rest des aufgelösten Ostblocks verbindet.

 

Auf einer Abbildung zum Thema Frauenprobleme in der ehemaligen DDR flieht eine verhärmte, weinende Mutter mitsamt ihren Kindern aus dem Haus. Ihr Mann droht mit geballter Faust hinter ihr her. Die Frau murmelt: »Als er noch bei der Stasi war, hatte er genügend andere, die er verprügeln konnte.«

 

Es ist natürlich wahr, daß Saddam Hussein militärisch bekämpft werden muß, denn er hätte spätestens in zwei Jahren die Atombombe gehabt, hergestellt in Anlagen, welche geliefert wurden von jenen Ländern, die ihn jetzt militärisch bekämpfen.

 

Aller Reichtum, alle Volkskraft, alles Leben nur auf ein Ziel - Vernichtung - hingelenkt: Ein solches System muß endlich entweder die Menschheit oder sich selbst vernichten.« Diese Worte, die sowohl auf den Warschauer Pakt als auch auf den militärischen Einsatz im Mittleren Osten zutreffen, entstammen dem Buch »Das Maschinenzeitalter« der Bertha von Suttner. Sie wurden im Jahre 1887 geschrieben.

 

Als erfolgreichste sprachliche Neuschöpfung für die Charakterisierung der Deutschen in den beiden ehemals getrennten Landesteilen haben sich die Wörter Ossi und Wessi erwiesen, was zum Beispiel deutlich wird durch die verschiedenen Ableitungen, etwa Ossi-Land. Eine besonders gelungene Erfindung ist jene für die westdeutschen Berater, die in Behörden auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eingesetzt werden und dort Besser-Wessis heißen. Als auftrumpfende Reaktion darauf wurde der Super-Ossi erfunden. Bei ihm handelte es sich um den Namen eines neuen Boulevard-Blatts, das schon nach wenigen Ausgaben in Konkurs ging. Der Erfolg der gesamten Wort-Familie erklärt sich aus ihrem Herkommen.

84


Sie entstammt der Junge-Leute-Sprache, wo Neubildungen wie Hirni und Knacki in Umlauf waren. Wessi entstand ursprünglich als eine Analogiebildung zu Ossi. Ossi entstand ursprünglich als eine Analogiebildung zu Assi, für Asozialer.

 

Das sicherste Ergebnis eines Krieges bestehe in der Erkenntnis, daß es viele Gründe gegeben habe, seinen Ausbruch zu verhindern. Die Äußerung stammt von Dieter Hildebrand. Daß doch immer die Kabarettisten, also die Narren, Wahrheiten sagen, die von jedem gebilligt und von keinem beherzigt werden.

 

Denkbar gewesen wäre der Fall eines Berufsoffiziers der ehemaligen NVA. Als ausgezeichneter Spezialist auf dem Gebiet der Nachrichtentechnik gab er in einem Ausbildungscamp auf der Insel Rügen seine Fähigkeiten weiter an Guerillakämpfer der PLO. Diese Aufgabe versah er innerhalb der Verantwortlichkeit des Warschauer Paktes. Sein höchster militärischer Vorgesetzter war ein sowjetischer Marschall. Nach dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde der Mann in die Bundeswehr übernommen. Nunmehr untersteht er der Verantwortlichkeit der NATO. Sein höchster militärischer Vorgesetzter ist ein US-amerikanischer Armeegeneral. Im Verlaufe des Golfkrieges greift Saddam Husseins Irak die Türkei militärisch an. Hiermit ist der Bündnisfall gegeben. 

85


Die NATO entsendet Einheiten in den Mittleren Osten, darunter Kontingente der Bundeswehr, darunter unseren Offizier. Auf dem Territoriuni Kuwaits wird er in militärische Kampfhandlungen verwickelt. Auf der Gegenseite stehen die PLO-Kämpfer, die er einst ausgebildet hat. Sie beschießen ihn mit sowjetischen Raketen, welche bestückt sind mit von Deutschen hergestelltem Kampfgas. Er selbst schießt mit US-amerikanischen Waffen, in die er von Deutschen hergestellte Munition schiebt. Abends, vor dem Einschlafen, denkt er nach über die vielfältigen Inhalte des Wortes Friedensmission.

 

Der wegen seiner konservativen Gesinnung bekannte und wegen seiner initiativen Rolle beim Historiker­streit gescholtene Historiker Ernst Nolte hat sich über die osteuropäischen Revolutionen von 1989/90 geäußert. Er beschreibt die Rolle der Linksintellektuellen zumal in Deutschland derart, daß sie, in ihrem Insistieren auf dem Status quo, den Westmächten die Zustimmung zur deutschen Vereinigung ermöglichten: »Indem sie es den Verbündeten leichter machten, für das Prinzip der Selbstbestimmung einzutreten, da dessen Realisierung in Deutschland für die Gegenwart nicht erwartet zu werden brauchte.« Das wäre, wenn es denn stimmt, ein hübscher Beleg für die dialektische List der Geschichte. Man könnte den Gedanken noch erweitern: Indem die Linksintellektuellen den Sozialismus wollten, haben sie den Kapitalismus durchgesetzt. 

86


Man könnte den Gedanken modifizieren: Indem die Linksintellektuellen die Zweistaatlichkeit favorisierten, mußte die konservative Welt, um die Linken zu besiegen, die Einheit herbeiführen. Ernst Noltes Gedanke hat allerdings einen Fehler. Er billigt den Linksintellektuellen einen Einfluß zu, den sie nicht hatten, es sei denn bei sich selbst. Die deutsche Einheit kam, weil es nirgends mehr Hindernisse gegen sie gab, außer den Linksintellektuellen, und die waren keines.

 

 

Noch immer sind jene unterirdischen S-Bahnhöfe und U-Bahn-Stationen in Ostberlin, die während der Jahre 1961 bis 1989 durch die DDR-Behörden unzugänglich gehalten wurden, eine gespenstische Landschaft. Ich habe ihr Schicksal während der achtundzwanzig Jahre ihrer Funktionslosigkeit verfolgen können. Unmittelbar nach dem Mauerbau wurden sie mit eisernen Gittern versperrt. Danach wurden ihre Eingänge niedergerissen, sie wurden völlig aus dem Straßenbild getilgt. Wenn unterirdisch noch Züge durch sie fuhren, wurde deren Fahrt nicht mehr unterbrochen, immerhin wurde sie verlangsamt, es war wie ein unbedingter Reflex, oder wie ein Phantomschmerz. Die Stationen blieben immer etwas erleuchtet. Anfangs standen auf den Bahnsteigen noch Doppelstreifen der DDR-Grenzpolizei. Später blieben die Stationen gänzlich menschenleer. Die Lampen wurden ständig trüber, vermutlich infolge des Schmutzes, der sich auf ihnen ablagerte.

87


Die Passanten in ihren Zügen nahmen die Stationen immer weniger zur Kenntnis, die Stationen entfernten sich aus ihrem Gedächtnis, sie wurden zu einem grauen, indifferenten Abschnitt unterirdischen Verfalls. Einmal erfolgte ein jähes Erwachen, als die Station Walter-Ulbricht-Station umgewandelt wurde in Station der Weltjugend. Schneidbrenner versprühten grelle Funken, vorübergehend fiel Tageslicht ein und verscheuchte die Ratten, Gerüchte über eine Modifikation des Regimes an der Grenze gingen durch Berlin wie eine Staubwolke. Nichts geschah. Die Station schloß wieder. Ausgestattet mit ihrem neuen Namen, versank sie abermals in Dämmerung. Dennoch war sie zu einer heimlichen Verheißung geworden, daß nichts so bleiben müsse, wie es vorher war, diese Verheißung wurde schließlich eingelöst, nach dem 9.November 1989. Die vergessenen Eingänge zu den unterirdischen Stationen wühlten sich wieder hervor und ans Licht, metaphysische Maulwürfe, sie erhielten neue Umrandungen und neue Schilder. Ich betrete die Station »Unter den Linden«, nahe dem Brandenburger Tor. Ich hatte ihre Existenz vergessen. Die Stufen und Wände machen kenntlich, daß sie es schon lange gibt, daß man sie nur hastig wieder hergerichtet hat. Es riecht nach Moder und billigen Farben. Die Mauern zeigen sich in schamlosem Weiß. Die wartenden Menschen, es sind sehr wenige, scheinen zu frieren. Die Station kommt von den Traumata der letzten dreißig Jahre nicht los.

 

88


Der Schriftsteller Landolf Scherzer begleitete im Januar '91 einen Lebensmitteltransport für die hungernde Sowjetunion aus dem thüringischen Suhl in die südlich Moskau gelegene Stadt Kaluga. Er schildert, wie die Ankunft und Auslieferung der Nahrungsgüter von den Empfängern vielfach als Demütigung empfunden wird. Ein Journalist lädt ihn zum Essen ein, in ein nicht jedermann zugängliches Gebäude und dort in einen separaten Raum. »Große Fenster, Blick auf die Oka. Weiße Tischdecken. Blumen. Gedecke. Teller mit Sülze, Fisch, Zunge. Schwarzes und weißes Brot. Saft. Mehrere Sorten Zigaretten. Speisekarte mit Suppen und Nachspeisen, drei Fleischgerichten. Keines kostet mehr als drei Rubel. Unauffällige junge Kellnerin.« Es handelt sich um den Speiseraum, der reserviert ist für den Gebietssekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.

 

Der Fluch der leninistischen Parteidisziplin ereilt noch deren Kritiker. Angesichts des deutlichen Rechts­rucks der sowjetischen Innenpolitik hätte Michail Gorbatschow, dessen respektabler Platz in der Zeitgeschichte doch unumstritten ist, längst zurücktreten müssen.

*

89


Bei einer Demonstration gegen den Golfkrieg auf dem Berliner Alexanderplatz erhielt besonders stürmischen Beifall die Parole, man solle die deutsche Rüstungsindustrie abwickeln. Das dabei verwendete Tätigkeitswort entstammt dem Text des deutschen Einigungsvertrags und wird dort verwendet im Hinblick auf politisch besonders vorbelastete akademische Einrichtungen. Die Rüstungsfabriken abwickeln hieße: sie auflösen, um sie in verbesserter, effizienterer Form neu zu errichten. Die Erfinder der Parole auf dem Berliner Alexanderplatz sind in den Reihen der PDS zu vermuten.

 

 

Ich erfahre vom Schicksal eines Inoffiziellen Mitarbeiters der alten DDR-Staatssicherheitsbehörde, B. Er hatte als sehr junger Mensch einen Fluchtversuch in die Bundesrepublik unternommen, der gescheitert war. Er wurde daraufhin zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt. Bei seiner Entlassung warb man ihn für die Stasi, deren Gegenleistung darin bestand, daß sie eine reguläre Arbeitsstelle vermittelte. B. hatte zwei Führungsoffiziere. Nette Leute. Mit einem von ihnen freundete er sich förmlich an. Aus den Urlauben brachte man sich gegenseitig kleine Geschenke mit. B. wurde auf einen Bürgerrechtler angesetzt, mit dem er sich seinerseits anfreundete. Die Beziehung zu seinem Führungsoffizier begann darunter zu leiden. Seine gesamte Tätigkeit wurde ihm schließlich durch diesen Konflikt vergällt. Sonst sei aber überhaupt nichts Diabolisches dabeigewesen, und der größte Vorzug seiner Situation habe darin bestanden, daß er immer öffentlich über die politischen Zustände der DDR habe herziehen können, ohne Angst vor einer Verhaftung zu haben.

90


*

Auf ihrem 2. Parteitag im Januar '91 hat die SED-Nachfolgeorganisation PDS bekanntgeben müssen, bei ihren Mitgliedern betrage der Anteil jener, die unter 50 Jahre alt sind, 8,9 Prozent, jener der Rentner liege bei fast der Hälfte. Damit ist alles gesagt.

 

Die Unterschiede in der Beschäftigungssituation zwischen den alten Bundesländern und den neuen ergibt sich aus einer Gegenüberstellung der beiden Forschungsstätten zum Werk Johann Sebastian Bachs. Die eine, mit Sitz in Leipzig, beschäftigt von ursprünglichen 60 jetzt noch 42 vollberufliche Mitarbeiter. Die andere, mit Sitz in Göttingen, die eine, verglichen mit der Leipziger, sehr viel größere Effektivität hat, verfügt über sechs Angestellte.

 

Die DDR-Vergangenheit sei klebriger, als man sich das vorgestellt habe, schreibt der Münchener Journalist Heribert Prantl. Das Wort klebrig  ist recht aussagekräftig. Es teilt etwas mit über die Hartnäckigkeit des Haftungsvermögens wie auch über die Konsistenz: Klebrige Dinge sind meistens süß.

91


Bereits im Jahre 1917 stellte ein Mitglied des Senats der Vereinigten Staaten, Hiram Johnson, fest, das erste Opfer in einem Krieg sei immer die Wahrheit.

 

Man hat festgestellt, daß der berühmte Gorbatschow-Ausspruch, wer zu spät komme, den bestrafe das Leben, einen ehrwürdigen Vorläufer hat. Er stammt bereits vom Ende des 16. Jahrhunderts und lautet: »Wem gute Zeit ward und er verliert sie, der muß es später bereuen.« Enthalten ist diese Weisheit in den Romanen über den spanischen Edelmann Amadis, der, international außerordentlich erfolgreich, dem Autor Miguel de Cervantes als Anregung diente für seinen Ritter von der traurigen Gestalt.

 

Der Golfkrieg stiftet sonderbare Koalitionen. Hans Magnus Enzensberger und George Bush sind sich darin einig, daß Saddam Hussein der wiedergekehrte Adolf Hitler ist. Während sich der einstige Friedenskämpfer Wolf Biermann in seiner Option für den kriegerischen Einsatz der Amerikaner Schulter an Schulter mit dem vietnamerfahrenen US-General Norman Schwarzkopf. Findet, nehmen in der Reihe der Gegner dieses Einsatzes der Pazifist Gottfried Forck und der Rassist Jean-Marie Le Pen nebeneinander Platz.

 

92


Eine Nachricht, die sich selber kommentiert, besagt, daß in Amerika wegen des Golfkrieges die Akzep-tanz des fortwährend von den Fronten berichtenden Fernsehsenders CNN stark zugenommen habe, während gleichzeitig der Konsum von Gewaltvideos drastisch zurückgegangen sei.

 

Mit 45 Olympiasiegern, 150 Welt- und 60 Europameistern war die in Leipzig ansässige Deutsche Hochschule für Körperkultur eine der erfolgreichsten Sportausbildungsstätten der Welt. Zusammen mit der alten DDR geriet sie in die Krise, zusammen mit jener wurde sie aufgelöst, da die Subsidien, die sie verschlang, und die Privilegien, die sie verteilte, unter den neuen Umständen und angesichts der allgemeinen Miserabilität in den fünf neuen Bundesländern nicht mehr zu vertreten waren. Zu Recht hat man angemerkt, inmitten aller sonst sich vollziehender Konkurse liefere diese Schule das einzige Beispiel, daß man wegen nachweislich hervorragender Leistungen schließen müsse.

 

Der ehemalige Präsident des inzwischen aufgelösten DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant, wehrt sich in einem offenen Brief gegen den Vorwurf, zum Nachteil des Schriftstellers Erich Loest mit der einstigen DDR-Staatssicherheitsbehörde kooperiert zu haben. Er schlägt Erich Loest vor, sie sollten beide ihre öffentlich geführte Kontroverse beenden und lieber gemeinsam dafür eintreten, daß am Golf kein Krieg mehr sei.

93


Ginge Erich Loest auf diesen Vorschlag ein, so hätte Hermann Kant sein Ziel erreicht. Ginge Erich Loest auf diesen Vorschlag nicht ein, setzte er sich dem schon früher von Hermann Kant mitgeteilten Verdacht aus, der Befürworter einer menschenfeindlichen Politik zu sein. Von solchem, fälschlich dialektisch genannten, Zuschnitt sind die Offerten der alten SED immer gewesen, auch daran ging sie schließlich zugrunde. Ebenso wie an ihrem miserablen Informationsstand, und selbst der läßt sich am Beispiel nachweisen: Hermann Kant wußte offensichtlich nicht, daß Erich Loest schon vor der Publikation jenes Briefes sich längst öffentlich gegen den Krieg am Golf erklärt hatte.

 

Die Aversion der Menschen in den fünf neuen Bundesländern gegen die Wirtschaftsprodukte der alten DDR erstreckt sich selbst auf gänzlich neutrale Waren. Eine LPG-Bäuerin, die auf einem thüringischen Markt ihre Hühnereier zu verkaufen pflegte, blieb nach Öffnung der Grenzen auf ihren Angeboten sitzen, wenn ein herangereister Händler aus Franken Eier anbot, die, obschon im Preis acht Pfennig pro Stück teurer, jedenfalls als westdeutsche Eier galten. Als sein Lager leergekauft war, erbarmte er sich, nahm der LPG-Bäuerin deren unverkäufliche Eier zum von ihr geforderten Preis ab, bot sie unter seinem Etikett und mit seinem Preisaufschlag den Leuten an und war auch hier binnen kurzem ausverkauft.

94


 

Der sowjetische Historiker Daschitschew hat in einem Interview geäußert, Präsident Michail Gorbatschow sei auf dem besten Wege, ein sowjetischer Deng Xiaoping zu werden. Wenn diese Vermutung zutreffen soll, müßte Gorbatschow die sowjetische Wirtschaft effizienter machen, wofür leider nichts spricht, und er müßte die Demonstranten in der Hauptstadt zusammenkartätschen lassen, wofür zum Glück nichts spricht. Gorbatschow ist auf dem besten Wege, zu werden, was er schon bisher war, nämlich Gorbatschow.

 

Man erzählt mir von Entlassungen, die an der Humboldt-Universität zu Berlin vorgenommen worden sind. Betroffen davon waren ausnahmslos Hochschullehrer, die infolge ihrer ideologischen oder organisatorischen Verbindungen zu Institutionen im alten SED-Staat den Studenten nicht mehr zugemutet werden konnten. Kaum im Besitz ihrer Kündigungsschreiben, klagten jene Personen bei den zuständigen Gerichten auf Wiedereinstellung, mit guter Aussicht auf Erfolg. Bei ihrer Entlassung lagen offensichtliche Verstöße gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen vor. Diese Verstöße waren nicht versehentlich, sondern absichtlich erfolgt. Die dafür verantwortlichen Personalabteilungen, deren Angestellte durchweg ideologische oder organisatorische Verbindungen zu Institutionen im alten SED-Staat besessen hatten, waren ihren alten Freunden zu Hilfe gekommen.

95


 

Ich glaube, die Israelis genießen es, ihren deutschen Besuchern Schuldgefühle zu vermitteln. Und ich glaube, die deutschen Besucher genießen es sehr, die Schuldgefühle zu empfinden.« Dieser Ausspruch stammt von dem israelischen Schriftsteller Amos Oz. Ich denke mir, er würde wohl auch funktionieren, wenn man statt deutsch westdeutsch setzt und statt Israelis: Bewohner in den neuen Bundesländern.

 

Besuch eines Bekannten, der in der DDR aufgewachsen und in die alte Bundesrepublik geflüchtet ist. Seit kurzem lebt er in Berlin. Wir fragen, ob es einen Satz gebe, der nach seinem Eindruck die Seelenlage der Menschen in den fünf neuen Bundesländern charakterisiere. Den gebe es, entgegnet er. Es handle sich um den Satz: »Das ist für mich nicht zumutbar.«

 

Bei einer Demonstration auf dem Gebiet der ehemaligen DDR trug jemand ein Transparent mit der Aufschrift Ossis aller Länder - verweigert euch/Als ich es las, fand ich, dieser Aufforderung werde längst nachgekommen. Die Zustände von Apathie und wirtschaftlicher Frustration in den ehemaligen Volksdemokratien sind unter anderem davon die Folge.

96


 

Ich lese einen Zeitungsartikel, der folgende Fakten zusammenträgt: Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowsi bestätigte in einem Interview, bereits seit 1985 habe er nachdenken müssen über gründliche politische Veränderungen in der DDR. Schalck-Golodkowski war heimlicher Offizier der obersten Staatssicherheitsbehörde MfS. Einer der ersten prominenten Kritiker der alten DDR-Zustände aus den Reihen der dortigen Administration wurde Markus Wolf. Er war Stellvertretender Minister des MfS. Zu den theoretischen Vordenkern eines Wechsels gehörte der Philosoph Michael Brie. Er war Inoffizieller Mitarbeiter des MfS. 

Heimliche Kontaktleute dieser Behörde saßen in allen Bürgerrechtsbewegungen sowie in Gliederungen der evangelischen Kirche. Die oppositionellen Parteigründer Schnur und Böhme wurden der MfS-Mitarbeit überführt. Entsprechende Verdächtigungen wurden ausgesprochen gegen die erneuerte Führung der mächtigen Ost-CDU, Kirchner, Diestel und de Maiziere, gegen den liberalen Spitzenpolitiker Viehweger. Aus alledem läßt sich ableiten, daß die politischen Veränderungen ab dem Herbst 1989 in der DDR ein verdienstvolles Werk des MfS gewesen und die drastische Verfolgung, welche diese Behörde und ihre Mitarbeiter seither erfahren, eigentlich ein Akt des Unrechts sei. Daraus aber folgte: Blutige Revolutionen fressen ihre Kinder. Friedliche Revolutionen fressen ihre Eltern.

97/98


 

Der ehemalige DDR-Wirtschaftsmanager Warzecha ist derzeit Mitarbeiter einer Consulting-Firma. In seinem Beitrag für eine in Berlin erscheinende Tageszeitung teilt er mit, die Arbeitsmarktsituation in den fünf neuen Bundesländern werde noch auf mehrere Jahre durch 2,5 Millionen Beschäftigungslose geprägt sein. Diese Vorhersage ist von allen mir bekannten die mit Abständen pessimistischste, sie wird glaubwürdig durch die wirtschaftspolitische Intimkenntnis ihres Urhebers. 

Ich versuche, mir die möglichen Folgen auszumalen: Weiterhin würden die jungen, flexiblen, ehrgeizigen Arbeitskräfte die ostdeutsche Region fliehen. Die Überalterung nähme zu. Investoren würden abgeschreckt außer durch die ökologischen Altlasten durch den Mangel an geeignetem Personal. Das gegenwärtige Elend schriebe sich damit fort. Die Schlagzeilen, die darauf reagieren, würden seltener, da der Golfkrieg die Aktualität der deutschen Probleme sowieso beschädigt hat und es außerdem langweilig wird, ständig nur die gleichen Inhalte zu transportieren. Nach einer Zeit der resultatlosen Hilfsmaßnahmen würde sich die Bundesregierung mit den Gegebenheiten dankbar abfinden. Die fünf neuen Länder gelten fortan als strukturschwache Gebiete, wie es sie in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte schon früher gegeben hat, im Emsland etwa oder in der Oberpfalz. Der Osten würde schließlich für Deutschland, was der Mezzogiorno für Italien ist: Endstation eines Produktivitäts- und Wohlstandsgefälles, deren wichtigstes Merkmal es ist, daß die dort herrschenden Zustände als unabänderlich gelten und es auch deswegen bleiben.

 

Der oberste militärische Befehlshaber in den fünf neuen Ländern rühmt die Problemlosigkeit, mit der bereits nach zwei Monaten Angehörige der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR, insgesamt mehr als sechzigtausend Mann, darunter weit über zehntausend Offiziere, in die Bundeswehr hatten integriert werden können. Er scheint diesen Vorgang tatsächlich für einen Erfolg zu halten.

 

Thomas Sindermann unterhält im Ostberliner Stadtteil Karow eine Auskunftei für Wirtschaftsfragen. Er besorgt Angaben über Rentabilität, Betriebs­organisation und Geschäftspolitik von Unternehmen und Managern in Ost und in West. Seine Firma erlebt eine derartige Konjunktur, daß er es sich leisten kann, Aufträge, die ihm unseriös erscheinen, rundweg abzulehnen. Vor den Ereignissen vom Herbst '89 war Thomas Sindermann Leiter der Mordkommission bei der Volkspolizei Berlin. Sein Vater, Horst Sindermann, war als SED-Politbüro-Mitglied, als zeitweiliger Ministerpräsident und Volkskammerpräsident Gastgeber unter anderem für Wirtschaftsprominenz aus der westlichen Welt, zu beidseitigem Nutzen. Horst Sindermann ist kürzlich gestorben. Die hochkarätigen Wirtschaftsleute besuchen jetzt seinen Sohn, zu beidseitigem Nutzen. So gesehen, hat sich weder für das Haus Sindermann noch für dessen Besucher irgend etwas geändert.

 

Die Freiheit hat viele Namen: Levi's, Wrangler, Lee, Pepe, Edwin. Demnächst werden die achtlos abgelegten Denim-Imitate made in GDR – so bleich und schlapp wie der späte Erich Mielke – als Sammlerstücke begehrt sein.« (H. C. Blumenberg)

99-100

#

 

www.detopia.de       ^^^^